Nur ein Augenblick des Glücks
Roman. Deutsche Erstausgabe
Eine Mutter, die alles für ihr Kind tun würde, ein Vater, der eine fatale Entscheidung trifft, und ein Sohn, der nach der Wahrheit sucht
Als Justin Fisher mit Anfang dreißig in sein Elternhaus zurückkehrt, muss er die schmerzhafte...
Als Justin Fisher mit Anfang dreißig in sein Elternhaus zurückkehrt, muss er die schmerzhafte...
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Produktinformationen zu „Nur ein Augenblick des Glücks “
Eine Mutter, die alles für ihr Kind tun würde, ein Vater, der eine fatale Entscheidung trifft, und ein Sohn, der nach der Wahrheit sucht
Als Justin Fisher mit Anfang dreißig in sein Elternhaus zurückkehrt, muss er die schmerzhafte Erfahrung machen, dass all seine Kindheitserinnerungen Trugbilder waren. Im Haus seiner Eltern wohnen Fremde, seine Schwester erkennt ihn nicht wieder, und seine Eltern sind tot. Beim Besuch an ihrem Grab steht er plötzlich auch vor seinem eigenen Grabstein, und die Inschrift besagt, er sei als Dreijähriger verunglückt. Justin macht sich auf die Suche nach seiner wahren Vergangenheit, und nach und nach kommt ans Licht, was vor vielen Jahren im Haus der Fishers wirklich geschah ...
Als Justin Fisher mit Anfang dreißig in sein Elternhaus zurückkehrt, muss er die schmerzhafte Erfahrung machen, dass all seine Kindheitserinnerungen Trugbilder waren. Im Haus seiner Eltern wohnen Fremde, seine Schwester erkennt ihn nicht wieder, und seine Eltern sind tot. Beim Besuch an ihrem Grab steht er plötzlich auch vor seinem eigenen Grabstein, und die Inschrift besagt, er sei als Dreijähriger verunglückt. Justin macht sich auf die Suche nach seiner wahren Vergangenheit, und nach und nach kommt ans Licht, was vor vielen Jahren im Haus der Fishers wirklich geschah ...
Klappentext zu „Nur ein Augenblick des Glücks “
Eine Mutter, die alles für ihr Kind tun würde, ein Vater, der eine fatale Entscheidung trifft, und ein Sohn, der nach der Wahrheit sucht.Als Justin Fisher mit Anfang dreißig in sein Elternhaus zurückkehrt, muss er die schmerzhafte Erfahrung machen, dass all seine Kindheitserinnerungen Trugbilder waren. Im Haus seiner Eltern wohnen Fremde, seine Schwester erkennt ihn nicht wieder, und seine Eltern sind tot. Beim Besuch an ihrem Grab steht er plötzlich auch vor seinem eigenen Grabstein, und die Inschrift besagt, er sei als Dreijähriger verunglückt. Justin macht sich auf die Suche nach seiner wahren Vergangenheit, und nach und nach kommt ans Licht, was vor vielen Jahren im Haus der Fishers wirklich geschah.
Lese-Probe zu „Nur ein Augenblick des Glücks “
Nur ein Augenblick des Glücks von Dianne DixonJustin 822 Lima Street, Sommer 2005
Wenn wir für eine Weile in einer art Paradies leben wollen, dachte Justin, dann suchen wir uns Häuser wie das in der Lima Street. Wir suchen uns Sommerhäuser. orte, wo die Helligkeit durch Fenster fällt, die durch das Salz des Meeres getrübt sind - oder überzogen mit einer feinen Schicht Staub aus den Bergen -, was die Räume in ein leuchtendes und gleichzeitig diffuses Licht taucht; so wie die essenz einer kostbaren, verblassenden erinnerung. Wir suchen uns Häuser, wo Holzböden dank der Liebkosungen kleiner nackter Füße so glatt sind, dass sie sich wie warmer Samt anfühlen, und wo angenehme Brisen und Puzzlespiele die Zimmer füllen. Puzzlespiele, bei denen unweigerlich einzelne Teile fehlen. Weil er hier in der Lima Street ein Kind gewesen war, wusste Justin, dass das Haus all diese Qualitäten besaß: die warmen Böden und angenehmen Brisen - und die Puzzlespiele. Als er den Wagen zum Stehen brachte, griff amy nach seiner Hand. Rasch zog er sie fort. Sie sollte nicht merken, dass er zitterte.
»Möchtest du, dass ich mitkomme?«, fragte sie. »oder soll ich lieber warten?« er wollte beides. er wollte nichts von beidem. Und er sagte: »ich möchte, dass es morgen ist. oder eine Stunde später. ich will, dass es vorbei ist.«
... mehr
Vor mehr als einem Jahrzehnt hatte Justin aufgehört, sich mit diesem ort auseinanderzusetzen. Doch in all den Jahren, die dahingegangen waren, hatte er die einzelheiten niemals vergessen. Den parfümierten, süßlichen Duft des Kleiderschranks seiner Mutter. Die Kerbe im Fensterbrett seines Schlafzimmerfensters, die einem lächelnden Clownsgesicht ähnelte. Die Fischmuster auf den meergrünen Kacheln der Badezimmerwand.
außerdem erinnerte er sich an seine Familie. an seine Mutter Caroline - ihre tiefe klare Stimme und die Lieder, die sie ihm beigebracht hatte.an seine Schwestern Lissa und Julie, und an das Gefühl ängstlichen Vergnügens, wenn sie ihn auf der Schaukel im Park auf der anderen Straßenseite anschoben, höher und höher. Justin erinnerte sich auch, dass er seinen Vater laufen gesehen hatte;daran,wie schnell er sich fortbewegte. So schnell, dass kein kleiner Junge ihm je hätte folgen können.
Woran Justin sich nicht erinnerte,waren die Gründe,warum er so viel Zeit hatte vergehen lassen,ohne je in sein elternhaus zurückzukehren oder Kontakt mit den Menschen aufzunehmen, die dort lebten.Während der Zeit, die er auf dem College verbracht hatte und der darauffolgenden zehn Jahre, in denen er sich in den Hierarchien des Hotelmanagements rasch hochgearbeitet hatte,war er stets auf dieselbe oberflächliche antwort verfallen, sobald ihn jemand nach seiner Familie fragte: er gab nichts Substantielleres an, als dass sie in Kalifornien lebten und dass er sie gern hatte,ohne einen engeren Kontakt zu pflegen. Diese auskunft hatte er auch amy gegeben in jener kurzen,wirbelwindartigen Zeit, in der er um sie geworben hatte; und nichts anderes hatte er ihren eltern erzählt,als amy und er sie von ihren Hochzeitsplänen unterrichtet hatten.
es war eine Geschichte, die Justin zahllose Male wiederholt hatte. Und jedes Mal war ihm bewusst gewesen, dass er damit die entscheidung traf,seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. er wusste nur nicht warum.
»Justin,dieses Haus ist toll.« amys Stimme schien aus großer Ferne zu ihm durchzudringen. »es sieht aus wie ein altmodisches, abgelegenes Ferienhaus. Und trotzdem steht es hier, keine 20 Minuten von Los angeles entfernt.«
Sie hörten ein leises, keuchendes Geräusch. amy löste ihre aufmerksamkeit von dem Haus, drehte sich um und streckte die arme schnell zum Rücksitz aus - nach Zack. er wachte gerade von seinem nickerchen auf und versuchte nun energisch, sich aus seinem Kindersitz zu befreien.
etwas an amys flinken und flüssigen Bewegungen erinnerte Justin an das erste Mal, als er sie gesehen hatte. in London. Sie hatte die Lobby des Hotels in einem pfirsichfarbenen Kleid durchquert,und ihre Beine waren nackt und leicht gebräunt gewesen. Justin hatte sich auf der Stelle ausgemalt, wie es sein würde,sein Gesicht zwischen diese leicht gebräunten Beine zu legen; wie ihre Hitze sich anfühlte; ob ihre Farbe genau dem Pfirsichton ihres Kleides entspräche. Und ob der Geschmack dem Geschmack von Honig ähnelte.
Jetzt,in der Gegenwart,erfüllt von dieser merkwürdigen, irritierenden angst, wollte Justin nichts anderes, als seinen Kopf in amys Schoß zu legen. Bloß der Wärme und des Trostes wegen. Stattdessen stieg er aus dem Wagen. er ließ seine wartende Frau und sein Baby hinter sich zurück und näherte sich dem fremden ort,an dem er aufgewachsen war.
Als er die Stufen zur Veranda betrat,entdeckte er sein eigenes Spiegelbild in einem der großen Fenster zu beiden Seiten der Haustür.Was er sah, wirkte wie ein Schatten seiner selbst, der aus dem Haus herausschaute. es fühlte sich an, als würde die Zeit mit halber Geschwindigkeit über ihn hinwegschwappen, immer langsamer werden und schließlich in sich zusammenfallen.Über die breite Veranda mit den Korbmöbeln zu gehen, kam ihm surreal vor.
er zögerte einen Moment und dachte über das rotierende Kaleidoskop von ereignissen nach, die ihn unerwartet zurück in die Lima Street gebracht hatten. amy war nach London gekommen,um in dem Hotel,das er managte,eine Hochzeitsfeier zu besuchen; er hatte sich auf der Stelle verliebt und sie in Windeseile geheiratet; noch in der Hochzeitsnacht war Zack gezeugt worden; und am Tag, an dem Zack sechs Monate alt wurde,war das angebot des Hotels in Santa Monica gekommen. Und einige Wochen darauf, vor acht Tagen,genau gesagt,waren sie in Los angeles gelandet. er hatte amy sagen hören:»Justin,jetzt wo du zurück in Kalifornien bist,musst du dich als erstes mit deinen eltern und deinen Schwestern in Verbindung setzen. es ist wichtig. Für Zack. ich will, dass er seine Familie kennen lernt.«
Wäre es allein Justins entscheidung gewesen, dann hätte es viel länger gedauert, bis er hierher zurückgekehrt wäre, vielleicht ein Leben lang.
er legte seine Hand auf die Klingel neben der Haustür und hörte beinahe sofort das Klicken des Schlosses. Dann wurde die Tür von einem asiatisch aussehenden Mädchen im Teenageralter geöffnet. Der anblick dieses Mädchens in knappem T-Shirt,enger Jeans und einer roten Baseball-Kappe irritierte ihn. Sie wirkte völlig ungezwungen, hier, an der Haustür seiner eltern. Um seine Stimme in den Griff zu bekommen, räusperte er sich. »Mister Fisher oder seine Frau ... ist einer von ihnen zu Hause?«
Die ausdruckslose Miene,mit der das Mädchen ihn musterte, brachte ihn nun völlig aus dem Gleichgewicht.er hatte das Gefühl, sich erklären zu müssen. »ich bin ihr Sohn«, sagte er.
»Tut mir leid, hier gibt's niemanden, der Fisher heißt.« Das Mädchen zuckte die Schultern und schloss die Tür.
Justin hätte niemals damit gerechnet, dass seine Mutter oder der Rest der Familie nicht in diesem Haus wohnen könnten. Die Vorstellung, dass sie hier nicht mehr lebten, betäubte ihn geradezu.
es dauerte mehrere Minuten, ehe er sich von der geschlossenen Tür abwandte. er hatte beinahe den Bürgersteig erreicht, als sie sich erneut öffnete und das Mädchen ihm hinterherrief: »Warten Sie! Meine Mom sagt, dass die Leute,von denen wir das Haus gekauft haben ... der Vater, der alte Mann, der hier wohnte, er hieß Fisher. Sie sagt, sie hat seine neue adresse, zu der er gezogen ist. nachdem er hier ausgezogen ist.«
Das Ziel von Justins merkwürdiger Heimkehr war also nicht mehr das Haus in der Lima Street.
˜ ˜ ˜
Das altenpflegeheim war in einem kompakten Gebäude aus Beton untergebracht. innen roch es durchdringend nach Desinfektionsmitteln,Bohnerwachs und Verfall;überall sausten Schwestern in hellen Uniformen herum,und über allem lag die abstoßende atmosphäre der verstohlenen,irgendwie unschicklichen anstrengung,es mit dem Tod höchstpersönlich aufnehmen zu wollen.
Seit dem augenblick, in dem Justin durch den Haupteingang getreten war, kribbelte seine Haut. er spürte eine gewisse erleichterung,amy und Zack nach Hause gebracht zu haben, bevor er hierhergekommen war.
er hatte schon mehrere Minuten am empfang gestanden, ohne dass die angestellte es für nötig gehalten hätte, ihr angeregtes Telefongespräch zu unterbrechen und notiz von ihm zu nehmen. auf dem Schreibtisch neben ihrem ellbogen stand eine Schneekugel,die Justin nun anhob,um sie dann demonstrativ fallen zu lassen. Sie landete mit einem gewaltigen Knall.
Die empfangsdame schaute zu ihm auf; die Verblüffung in ihrer Miene wich sofort einem befangenen,leicht flirtenden Gesichtsausdruck. Justin registrierte diese Reaktion oft bei Frauen, die ihn zum ersten Mal sahen. Schon als Teenager war sie ihm aufgefallen, ohne dass er sich darum weiter Gedanken gemacht hätte. er hatte es immer eilig gehabt.
Die Highschool hatte er als Überflieger hinter sich ge- bracht.Wenige Tage nach seinem abschluss war er in Boston eingetroffen, hatte sich im Büro der Universität gemeldet, die für die auszahlung seines Stipendium nötigen Formulare unterschrieben und schließlich ein halbes Zimmer in einem drückend heißen apartment gemietet, in dem Ratten und Reggae den Ton angaben. Kurz darauf hatte er sich einen Job als Page in einem schicken, kleinen Hotel besorgt.
Justin hatte dunkles Haar und grüne augen. er war eins achtundachtzig, schmal, breitschultrig - er hatte den Körperbau eines Schwimmers und wenn er lächelte die andeutung eines Grübchens. Damals in Boston hatte sein aussehen bei den weiblichen Hotelgästen dieselbe Reaktion hervorgerufen wie heute.Die empfangsdame des Krankenhauses errötete und sagte: »Kann ich ihnen helfen?«
»Robert Fisher«, sagte Justin. »ich bin sein Sohn. ich möchte ihn besuchen.«
Die empfangsdame wandte den Blick gerade lange genug ab, um die informationen auf ihrem Bildschirm aufnehmen zu können.als sie ihn wieder anschaute, wirkte sie nervös: »Wissen Sie was ... ich denke, Sie sollten mit der Verwaltungschefin sprechen. ich werde sie ausrufen lassen. Sie können in ihrem Büro warten.« Sie deutete ans andere ende eines langen Korridors.Dessen Wände waren kahl und hatten die Farbe von Schnee; entlang beider Seiten zogen sich Reihen offener Türen, deren Rahmen in einem glänzenden Schwarz mit goldgelben Kanten gestrichen waren. auf diese Weise ähnelte der Gang einer ansonsten schmucklosen Kunstgalerie, die alle aufmerksamkeit auf die massiven, goldgerahmten Bilder lenkte.
Justin wandte sich vom empfang ab und betrat den Korridor. Hinter einer der offenen Türen lag eine alte Frau auf einem hohen, schmalen Bett. Die Haut an ihrem spindeldürren Körper war bläulich-weiß. ein komatöser Überrest, gezeichnet durch den unweigerlichen Verfall der eigenen existenz. ihr anblick ließ Justin schaudern.
er wandte sich ab.Durch eine andere Tür entdeckte er einen alten Mann.Groß und sehr kräftig gebaut.ein Mensch, der vielleicht einmal Truppen kommandiert oder Stahl für Hängebrücken geschweißt hatte, jetzt aber als Schatten seiner selbst auf der Kante eines Krankenhausbettes saß.Tief schlafend. Seine Beine waren geöffnet, sein Krankenhaushemd klaffte auseinander.Der letzte Rest seiner Würde war im Schwinden begriffen.
Justin hatte das Gefühl, als müsse er ersticken. Das Mädchen mit der roten Baseballkappe musste sich geirrt haben. Unmöglich,dass sich sein Vater inmitten dieser ansammlung menschlicher Wracks aufhielt. Vor seinem inneren auge sah Justin ihn mit Julie und Lissa, wie er die Mädchen mühelos hochhob und durch die Luft sausen ließ. ein derart vitaler und starker Mann gehörte nicht an einen ort wie diesen. Dies war ein Wartezimmer für den Tod.
Mit wenigen schnellen Schritten erreichte Justin das ende des Gangs und trat ins Büro der Verwaltungschefin. es war klein und unaufgeräumt und, zu Justins erleichterung, leer. er musste allein sein. er musste, im wahrsten Sinne des Wortes, wieder Luft bekommen.
er spürte Panik in sich aufsteigen. Mit einem Mal wurde ihm klar,dass er auf diesen Moment nicht vorbereitet war.es blieben zu viele fehlende Teilchen - zu viele unvollständige informationen. er hatte keine ahnung, wo seine Mutter sich aufhielt; und er konnte sich nicht einmal deutlich das Gesicht seines Vaters in erinnerung rufen.
innerhalb kürzester Zeit fühlte er sich in dem engen, stickigen Büro wie in einem Käfig.
er stand auf und zog seine Schlüssel aus der Tasche. als er den Raum gerade verlassen wollte, betrat die Leiterin der Krankenhausverwaltung das Zimmer. Sie war eine Frau ohne besondere Merkmale und trug Kleidung in unterschiedlichen Beigetönen. »es tut mir leid, dass ich Sie warten lassen musste«,sagte sie.»Sie sind also Mr.Fishers Sohn?«
Das erscheinen der Frau hatte jegliche aussicht auf eine schnelle Flucht zunichtegemacht. Justin war gefangen.
»Wir wussten nicht, dass Mr. Fisher einen Sohn hatte.« Die Verwaltungschefin schaute auf ihre Hände und schien sie mit merkwürdiger intensität zu mustern.Schließlich sagte sie:»ihr Vater ist verstorben.Vor zwei Wochen.er hatte einen zweiten, sehr heftigen Schlaganfall. Hat ihre Familie Sie denn nicht informiert?«
Der Raum schien zu schwanken und sich gefährlich auf eine Seite zu neigen, wie ein Boot, das von einer heimtückischen Welle getroffen wird. es herrschte Stille, bis Justin irgendwann seine eigene Stimme hörte und sich wunderte, wie ruhig und sachlich sie klang: »ich war im ausland«, sagte er.»Bis letzte Woche habe ich in London gelebt.ich habe meine Familie sehr lange nicht gesehen.«
»Wie schrecklich, nach Hause zu kommen und mit solch einer nachricht konfrontiert zu werden.« Die Frau nahm etwas von einem Regal neben ihrem Schreibtisch. Sie betrachtete Justin mit ehrlicher Sympathie und sagte:»Wir haben ein paar Dinge aufgehoben, die ihrem Vater gehörten. ich wollte sie schon mit der Post schicken.«
Sie reichte Justin ein kleines Paket. auf der Vorderseite klebte ein sorgfältig ausgefülltes adressetikett.
˜ ˜ ˜
Die Türen des Pflegeheims schlossen sich hinter ihm, und Justin war wieder auf dem Parkplatz. Zwei angestellte des Krankenhauses, ein Mann und ein hübsches Mädchen, waren damit beschäftigt,eine fahrbare Krankentrage - mitsamt ihrem in einem Leichensack mit Reißverschluss steckenden Patienten - in aller Gemütsruhe in einem Leichenwagen zu verstauen. Lachend unterhielten sie sich dabei. Mit einer schnellen Bewegung schälte das Mädchen einen ihrer Latexhandschuhe von der Hand und warf ihn kunstvoll in Richtung eines in der nähe stehenden abfalleimers, und in einem eleganten Bogen segelte er hinein.Sie vollführte einen kleinen Siegestanz und erklärte:»Du schuldest mir eine einladung zu Starbucks.« Sie lachte, und ihr Begleiter klatschte sie ab.Weniger als eine Stunde war vergangen,seit Justin auf diesem Parkplatz angekommen war. ein Zeitraum, in dem
Man einen Vater verlieren oder eine Tasse Kaffee gewinnen konnte;in dem eine innere Welt zusammenbrechen konnte, während die außenwelt davon völlig unberührt blieb.
Statt zu seinem Wagen zu gehen,setzte Justin sich auf eine Bank und wartete, bis der Leichenwagen abgefahren war. auch lange danach blieb er einfach sitzen. Mit dem kleinen, sorgfältig beschrifteten Paket auf dem Schoß. Mehrere PKWs kamen an und fuhren wieder davon. Dann ein Lieferwagen. Und ein fetter Mann auf einer Harley. Zwei alte Damen in einem uralten,ruckelnden Cadillac.ein schlaksiger Junge auf einem Skateboard und eine Gruppe eiswaffeln essender Mädchen schlenderten auf dem Bürgersteig vorbei. ein eichhörnchen balancierte auf einer Stromleitung hin und her und stieß dabei wild keckernde Laute aus. Und Justin blieb einfach sitzen.
er wiederholte es wieder und wieder in Gedanken: die Tatsache, dass sein Vater tot war. er wusste, dass er von erinnerungen überschwemmt und von Trauer erfüllt sein sollte. Doch es wollte sich keine Flut von erinnerungen einstellen und keine Traurigkeit. nur eine art erschrecken - eine Gewissheit, die ihn frösteln ließ, eine Gewissheit, dass die splitternde Tür zu einer lange verschlossenen Kammer leise, aber unaufhaltsam geöffnet wurde.
˜ ˜ ˜
Die adresse auf dem Paket, das man ihm im Krankenhaus gegeben hatte,lag ungefähr 15 Kilometer südlich von Sierra Madre und der Lima Street entfernt.eigentlich hätte er den Weg mühelos finden sollen, doch er fuhr durch eine ihm völlig unvertraute Gegend. in diesem Labyrinth aus kurvigen Straßen, saftigem Gras und prächtigen Häusern fühlte er sich verloren. Schließlich passierte er ein ortsschild. einen einfachen Steinsockel, gekrönt von einer Betonurne, die von Blumen und Blättern überquoll. am Fuß des Sockels standen in hübschen bronzenen Buchstaben die Worte »San Marino«.
Wie dieses ortsschild präsentierte sich auch die Stadt selbst in einer Mischung aus Zurückhaltung und Ungezwungenheit. eine südkalifornische Stadt, deren Straßen nach englischen Märtyrern benannt waren und deren Häuser in einer Fülle von toskanischen Fliesen schwelgten.
Das Haus, nach dem Justin suchte, stand oberhalb eines terrassenförmig angelegten Rasens. eine blonde Frau in einem blauen arbeitshemd und einer mit Lehmflecken übersäten Jeans grub neben der auffahrt energisch ein Blumenbeet um.
Bei ihrem anblick füllten sich Justins augen mit Tränen. irgendwo in dieser Fremden erkannte er das kleine Mädchen wieder, das einmal seine Schwester gewesen war. er drehte das Seitenfenster herunter und konnte nur sagen: »Waren Sie früher einmal Lissa Fisher?«
Die Frau stützte sich auf ihren Spaten und sah zu, wie Justin aus dem Wagen stieg. »Kenne ich Sie?« Sie zeigte ein warmes Lächeln,zupfte eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und hinterließ dabei eine Spur erde auf ihrer Wange.ein bedrohliches Schwindelgefühl überkam Justin - wie bei einem beängstigenden freien Fall. er wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus.
er konnte sehen, dass sein Schweigen die Frau irritierte. Sie zog ihren Spaten ein Stück zurück,so als wolle sie gehen.
»ich war in der Lima Street«, sagte er schnell. »ich dachte, Mom und Dad würden immer noch dort wohnen,aber ...« Plötzlich strömten die Worte nur so aus seinem Mund, beinahe zusammenhanglos.»im Pflegeheim hat man mir gesagt, was mit Dad passiert ist. Sie hatten noch einige von seinen Sachen.Sie wollten dir alles schicken,aber ich dachte,wenn ich sie einfach mitbringe,wäre es vielleicht ein guter Weg ... wieder ... Kontakt aufzunehmen und ...«
Die Frau war schon dabei, den Rückzug anzutreten. Sie hielt den Spaten schützend vor sich. Und trat ein paar Schritte zurück. »Wer sind Sie?«
»Lissa, ich bin dein Bruder. ich bin Justin.«
ihre Stimme klang wütend. Und ein wenig ängstlich. »Wer auch immer Sie sind, welches Spiel Sie auch treiben, ich will, dass Sie von meinem Grundstück verschwinden. Und zwar sofort.«
Sie wandte sich um und flüchtete ins Haus. Das Zuschlagen der Haustür hallte nach wie ein Pistolenschuss.
˜ ˜ ˜
Die Zurückweisung seiner Schwester war derart scharf und kompromisslos gewesen,dass sie Justin bis ins Mark erschüttert hatte. Sie hatte ihn in seine alte Gewohnheit zurückgestoßen, sämtliche Gedanken an seine Vergangenheit hinter eine Mauer zu verbannen.
nach seiner Rückkehr aus San Marino hatte er versucht, sich ganz auf seinen neuen Job zu konzentrieren. Und auf amy und Zack.
Doch es war ihm nicht gelungen, die quälenden Fragen über seine Familie zu ignorieren, die seine Rückkehr in die Lima Street aufgeworfen hatte.an diesem Morgen schließlich war ihm das fortdauernde Fehlen jeglicher antworten auf diese Fragen zu viel geworden. er hatte im Pflegeheim angerufen, um den namen des Friedhofs zu erfragen, auf dem sein Vater begraben lag.
nun schritt Justin durch ein Labyrinth verstreut liegender Grabsteine. Die meisten von ihnen waren beschädigt und standen schief; kein einziger ragte mehr als 60 Zentimeter über das ungleichmäßig wachsende Gras des Friedhofs.
es war September. Dank der Santa-ana-Winde breiteten sich in den Hügeln Waldbrände aus.Die Temperatur erinnerte an ein Treibhaus, und der Geruch von asche hing in der Luft.
als Justin sich dem Grab seines Vaters näherte, fühlte er sich benommen und hohl.
es hatte nichts mit der Hitze oder den Bränden zu tun. Dafür umso mehr mit dem, was ihn an der Grabstelle erwartete.
er trat nicht auf einen einzelnen Grabstein zu, sondern gleich auf drei.
Der neueste war der seines Vaters: »Robert William Fisher ... 14.Dezember 1940 - 16.april 2005.«
Die inschrift auf dem nächsten Stein lautete: »Caroline Conwyn Fisher ... 1. Mai 1940 - 31. oktober 2004.« es war der Grabstein seiner Mutter. ein tiefer Schmerz durchzuckte Justin,der beinahe unerträglich war.ein Stück seines Herzens war ihm herausgerissen worden.
als er sich dem dritten Stein zuwandte,standen Tränen in seinen augen. Dieser Stein war kleiner und weitaus stärker verwittert als die beiden anderen. er brauchte eine Weile, ehe er die inschrift deutlich entziffern konnte:
»Thomas Justin Fisher 21. September 1972 - 20. Februar 1976 in den Herzen derer zu leben, die wir lieben, heißt niemals zu sterben.«
Justin war gekommen, um das Grab seines Vaters zu suchen. Und hatte außerdem das Grab seiner Mutter gefunden. Und sein eigenes.
˜ ˜ ˜
Die entdeckung eines Grabsteins mit seinem eigenen namen war derart makaber gewesen, derart unbegreiflich, dass Justin nicht gewusst hatte, was er tun oder fühlen sollte. natürlich war er nach Hause gefahren und hatte amy alles erzählt. Danach aber hatte er erklärt, er wolle nicht weiter darüber sprechen.
inzwischen war es november, nur wenige Wochen vor Thanksgiving, und Justin war zu Hause. entschlossen, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.er saß am Rand eines Clubsessels und badete im Sonnenlicht.
auf dem Verandaboden zu Justins Füßen beschäftigte sich Zack mit den vom Wind herangewehten Blütenblättern einer weißen Rose, die von ihrem Strauch abgefallen war. Vorsichtig sammelte er Blatt für Blatt auf und legte jedes einzelne feierlich in Justins ausgestreckte Hand.
Zacks nachdenklicher Blick, ohne jedes Blinzeln, machte Justin nervös. er fragte sich, was genau es war, das sein Sohn von ihm wollte. erwartete Zack, dass er diese verstreuten Reste auf magische art und Weise in eine taufrische weiße Rose verwandelte,die in ihrer ganzen ursprünglichen Perfektion neu erstrahlte? oder wollte Zack bloß sicher sein, dass, wenn er seine eigene Hand ausstreckte, sein Vater schlicht und einfach für ihn da war? Stark und offen und aufmerksam?
Justin hatte keine ahnung, was Zack erwartete oder was er dachte. Zack war fremdes Territorium: er war ein Baby, und Justin fühlte sich etwas unbehaglich in der wortlosen, schwer zu entschlüsselnden Welt von Babys. Doch außerdem war Zack sein Sohn. ihn einfach nur anzuschauen - die schläfrigen braunen augen und das honigblonde Haar zu sehen, die ihn so stark an amy erinnerten; das Grübchen zu betrachten,das stets in Zacks Wange auftauchte,wenn er lächelte, jenes Grübchen, das seinem eigenen ähnelte - dies alles löste einen Sturm von Liebe und Beschützerinstinkt in ihm aus, die stärker waren als jedes Gefühl, das Justin zuvor erlebt hatte.
Gerade ließ Zack das letzte Rosenblatt in Justins Hand fallen.er schmiegte sich an ein Bein seines Vaters und gähnte. Justin hob ihn hoch. er lehnte sich zurück, schloss die augen und legte Zacks warmen, leichten Körper auf seine Brust. in diesem Moment war Justin bewusst, dass er ohne zu zögern sein Leben für diesen kleinen Jungen hergeben würde - und dass er ohne zu zögern das Leben eines jeden auslöschen würde, der es wagte, dem Jungen etwas anzutun.
Die Zärtlichkeit dieses augenblicks war das einzige, an das Justin denken wollte; das einzige, an das zu denken er sich gestattete.
˜ ˜ ˜
»Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?« Die Frage galt Justin,doch der Blick des Verkäufers war auf etwas gerichtet, das sich am anderen ende des Geschäfts befand.Justin warf seine american-express-Karte auf den Ladentisch, und dort landete sie neben zwei Flaschen Wein, die er bereits dort abgestellt hatte.
Sein gemeinsames nickerchen mit Zack hatte den größten Teil des nachmittags in anspruch genommen,sodass die Zeit langsam knapp wurde. Ungeduldig wandte er sich um und folgte dem hypnotisierten Blick des Verkäufers. am Ständer mit den Magazinen stand ein Mädchen. ihr Gesicht war hinter dem langen rotbraunen Haar verborgen, ansonsten aber gaben ihr bauchfreies Top und der kurze Rock den Blick auf eine Menge von ihr frei. Sie war schön, und angesichts einer schönen Frau durchlief Justin jedes Mal eine Woge von Vergnügen;ein instinktives aufflammen von Freude,wie er sie in ähnlicher Weise auch beim anblick eines nagelneuen PS-starken autos oder eines perfekt geschlagenen Baseballs empfand. Dies waren Momente, in denen Justin Kunst und anmut zu erkennen glaubte.
Während der ein oder zwei Sekunden, in denen er das Mädchen anschaute, vergaß er für einen Moment den nebel, der sein Leben umhüllte.
Der Verkäufer tippte die beiden Weinflaschen ein:»Wow. Du Mol. Das ist wirklich ein herausragender Chardonnay.«
»Meine Schwiegereltern kommen zum abendessen«, erklärte Justin.
»ihre Familie scheint sich für die guten Dinge des Lebens zu interessieren.« Der Verkäufer reichte Justin den Kassenbon und verstaute die beiden Flaschen vorsichtig in einer Tüte.
»ich mag die guten Dinge und mein Schwiegervater die teuren. in diesem Fall bekommen wir beide, was wir brauchen. « Justin nahm den Wein und wandte sich zur Tür,während der Verkäufer wieder das Mädchen mit dem rotbraunen Haar anstarrte.
Beim Verlassen des Geschäfts stieß Justin beinahe mit einem Mann und einer Frau zusammen, die das Geschäft gerade betraten.
Der Mann warf ihm einen zweiten Blick zu. ein Lächeln ging über sein Gesicht. »Justin Fisher. Mein Gott, wie groß sind die Chancen, Urlaub in den USa zu machen und dir plötzlich über den Weg zu laufen?« er sprach mit einem steifen britischen akzent. »Wie gefällt es dir in der Heimat, alter Junge?«
Justin hatte nicht die geringste ahnung, wen er vor sich hatte, und dieser Umstand frustrierte ihn. Solange er zurückdenken konnte, hatte er sich stets mit der Unfähigkeit herumgeplagt,die Gesichter anderer Menschen wiederzuerkennen. Unzählige Male war er in peinliche Situationen geraten, in denen er sich mit jemandem unterhielt oder gar eine fröhliche Vertrautheit vortäuschte, während er sich in Wirklichkeit verzweifelt darüber klar zu werden versuchte, mit wem er es eigentlich zu tun hatte. Sein Mangel an erinnerung konnte so weit gehen, dass er bei geschäftlichen Terminen stundenlang mit Menschen zusammensaß, die ihm dann wenige Tage später bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße wie völlig Fremde erschienen.
»Schatz,das ist der große Justin Fisher.« Der Mann lächelte seine Begleiterin an und wandte sich dann wieder Justin zu. »Das ist Fiona, meine Frau. ich bin mir nicht sicher, ob ihr euch schon einmal begegnet seid.«
in der Zehntelsekunde, in der Justin über seine antwort nachdachte, kam ihm die Frau glücklicherweise zur Hilfe. »nein«,sagte sie.»Das sind wir nicht.aber Trevor spricht oft von ihnen, Justin. er hat die Treffen mit eurer Clique nach der arbeit am Cadogan Square immer sehr genossen.«
Justin lachte. nicht, weil er sich amüsierte, sondern aus purer erleichterung. Der Mann war Manager eines Hotels in London gewesen, das Justins Hotel genau gegenüberlag. »Schön, dich zu sehen,Trevor.Wenn ich das nächste Mal in england bin, müssen wir uns unbedingt treffen. es tut mir leid, dass ich nicht noch ein bisschen bleiben und mit euch plaudern kann,aber meine Frau und ich haben heute abend
Deutsch von Stefan Lux
Copyright © der deutschsprachigen ausgabe 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag,München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Vor mehr als einem Jahrzehnt hatte Justin aufgehört, sich mit diesem ort auseinanderzusetzen. Doch in all den Jahren, die dahingegangen waren, hatte er die einzelheiten niemals vergessen. Den parfümierten, süßlichen Duft des Kleiderschranks seiner Mutter. Die Kerbe im Fensterbrett seines Schlafzimmerfensters, die einem lächelnden Clownsgesicht ähnelte. Die Fischmuster auf den meergrünen Kacheln der Badezimmerwand.
außerdem erinnerte er sich an seine Familie. an seine Mutter Caroline - ihre tiefe klare Stimme und die Lieder, die sie ihm beigebracht hatte.an seine Schwestern Lissa und Julie, und an das Gefühl ängstlichen Vergnügens, wenn sie ihn auf der Schaukel im Park auf der anderen Straßenseite anschoben, höher und höher. Justin erinnerte sich auch, dass er seinen Vater laufen gesehen hatte;daran,wie schnell er sich fortbewegte. So schnell, dass kein kleiner Junge ihm je hätte folgen können.
Woran Justin sich nicht erinnerte,waren die Gründe,warum er so viel Zeit hatte vergehen lassen,ohne je in sein elternhaus zurückzukehren oder Kontakt mit den Menschen aufzunehmen, die dort lebten.Während der Zeit, die er auf dem College verbracht hatte und der darauffolgenden zehn Jahre, in denen er sich in den Hierarchien des Hotelmanagements rasch hochgearbeitet hatte,war er stets auf dieselbe oberflächliche antwort verfallen, sobald ihn jemand nach seiner Familie fragte: er gab nichts Substantielleres an, als dass sie in Kalifornien lebten und dass er sie gern hatte,ohne einen engeren Kontakt zu pflegen. Diese auskunft hatte er auch amy gegeben in jener kurzen,wirbelwindartigen Zeit, in der er um sie geworben hatte; und nichts anderes hatte er ihren eltern erzählt,als amy und er sie von ihren Hochzeitsplänen unterrichtet hatten.
es war eine Geschichte, die Justin zahllose Male wiederholt hatte. Und jedes Mal war ihm bewusst gewesen, dass er damit die entscheidung traf,seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. er wusste nur nicht warum.
»Justin,dieses Haus ist toll.« amys Stimme schien aus großer Ferne zu ihm durchzudringen. »es sieht aus wie ein altmodisches, abgelegenes Ferienhaus. Und trotzdem steht es hier, keine 20 Minuten von Los angeles entfernt.«
Sie hörten ein leises, keuchendes Geräusch. amy löste ihre aufmerksamkeit von dem Haus, drehte sich um und streckte die arme schnell zum Rücksitz aus - nach Zack. er wachte gerade von seinem nickerchen auf und versuchte nun energisch, sich aus seinem Kindersitz zu befreien.
etwas an amys flinken und flüssigen Bewegungen erinnerte Justin an das erste Mal, als er sie gesehen hatte. in London. Sie hatte die Lobby des Hotels in einem pfirsichfarbenen Kleid durchquert,und ihre Beine waren nackt und leicht gebräunt gewesen. Justin hatte sich auf der Stelle ausgemalt, wie es sein würde,sein Gesicht zwischen diese leicht gebräunten Beine zu legen; wie ihre Hitze sich anfühlte; ob ihre Farbe genau dem Pfirsichton ihres Kleides entspräche. Und ob der Geschmack dem Geschmack von Honig ähnelte.
Jetzt,in der Gegenwart,erfüllt von dieser merkwürdigen, irritierenden angst, wollte Justin nichts anderes, als seinen Kopf in amys Schoß zu legen. Bloß der Wärme und des Trostes wegen. Stattdessen stieg er aus dem Wagen. er ließ seine wartende Frau und sein Baby hinter sich zurück und näherte sich dem fremden ort,an dem er aufgewachsen war.
Als er die Stufen zur Veranda betrat,entdeckte er sein eigenes Spiegelbild in einem der großen Fenster zu beiden Seiten der Haustür.Was er sah, wirkte wie ein Schatten seiner selbst, der aus dem Haus herausschaute. es fühlte sich an, als würde die Zeit mit halber Geschwindigkeit über ihn hinwegschwappen, immer langsamer werden und schließlich in sich zusammenfallen.Über die breite Veranda mit den Korbmöbeln zu gehen, kam ihm surreal vor.
er zögerte einen Moment und dachte über das rotierende Kaleidoskop von ereignissen nach, die ihn unerwartet zurück in die Lima Street gebracht hatten. amy war nach London gekommen,um in dem Hotel,das er managte,eine Hochzeitsfeier zu besuchen; er hatte sich auf der Stelle verliebt und sie in Windeseile geheiratet; noch in der Hochzeitsnacht war Zack gezeugt worden; und am Tag, an dem Zack sechs Monate alt wurde,war das angebot des Hotels in Santa Monica gekommen. Und einige Wochen darauf, vor acht Tagen,genau gesagt,waren sie in Los angeles gelandet. er hatte amy sagen hören:»Justin,jetzt wo du zurück in Kalifornien bist,musst du dich als erstes mit deinen eltern und deinen Schwestern in Verbindung setzen. es ist wichtig. Für Zack. ich will, dass er seine Familie kennen lernt.«
Wäre es allein Justins entscheidung gewesen, dann hätte es viel länger gedauert, bis er hierher zurückgekehrt wäre, vielleicht ein Leben lang.
er legte seine Hand auf die Klingel neben der Haustür und hörte beinahe sofort das Klicken des Schlosses. Dann wurde die Tür von einem asiatisch aussehenden Mädchen im Teenageralter geöffnet. Der anblick dieses Mädchens in knappem T-Shirt,enger Jeans und einer roten Baseball-Kappe irritierte ihn. Sie wirkte völlig ungezwungen, hier, an der Haustür seiner eltern. Um seine Stimme in den Griff zu bekommen, räusperte er sich. »Mister Fisher oder seine Frau ... ist einer von ihnen zu Hause?«
Die ausdruckslose Miene,mit der das Mädchen ihn musterte, brachte ihn nun völlig aus dem Gleichgewicht.er hatte das Gefühl, sich erklären zu müssen. »ich bin ihr Sohn«, sagte er.
»Tut mir leid, hier gibt's niemanden, der Fisher heißt.« Das Mädchen zuckte die Schultern und schloss die Tür.
Justin hätte niemals damit gerechnet, dass seine Mutter oder der Rest der Familie nicht in diesem Haus wohnen könnten. Die Vorstellung, dass sie hier nicht mehr lebten, betäubte ihn geradezu.
es dauerte mehrere Minuten, ehe er sich von der geschlossenen Tür abwandte. er hatte beinahe den Bürgersteig erreicht, als sie sich erneut öffnete und das Mädchen ihm hinterherrief: »Warten Sie! Meine Mom sagt, dass die Leute,von denen wir das Haus gekauft haben ... der Vater, der alte Mann, der hier wohnte, er hieß Fisher. Sie sagt, sie hat seine neue adresse, zu der er gezogen ist. nachdem er hier ausgezogen ist.«
Das Ziel von Justins merkwürdiger Heimkehr war also nicht mehr das Haus in der Lima Street.
˜ ˜ ˜
Das altenpflegeheim war in einem kompakten Gebäude aus Beton untergebracht. innen roch es durchdringend nach Desinfektionsmitteln,Bohnerwachs und Verfall;überall sausten Schwestern in hellen Uniformen herum,und über allem lag die abstoßende atmosphäre der verstohlenen,irgendwie unschicklichen anstrengung,es mit dem Tod höchstpersönlich aufnehmen zu wollen.
Seit dem augenblick, in dem Justin durch den Haupteingang getreten war, kribbelte seine Haut. er spürte eine gewisse erleichterung,amy und Zack nach Hause gebracht zu haben, bevor er hierhergekommen war.
er hatte schon mehrere Minuten am empfang gestanden, ohne dass die angestellte es für nötig gehalten hätte, ihr angeregtes Telefongespräch zu unterbrechen und notiz von ihm zu nehmen. auf dem Schreibtisch neben ihrem ellbogen stand eine Schneekugel,die Justin nun anhob,um sie dann demonstrativ fallen zu lassen. Sie landete mit einem gewaltigen Knall.
Die empfangsdame schaute zu ihm auf; die Verblüffung in ihrer Miene wich sofort einem befangenen,leicht flirtenden Gesichtsausdruck. Justin registrierte diese Reaktion oft bei Frauen, die ihn zum ersten Mal sahen. Schon als Teenager war sie ihm aufgefallen, ohne dass er sich darum weiter Gedanken gemacht hätte. er hatte es immer eilig gehabt.
Die Highschool hatte er als Überflieger hinter sich ge- bracht.Wenige Tage nach seinem abschluss war er in Boston eingetroffen, hatte sich im Büro der Universität gemeldet, die für die auszahlung seines Stipendium nötigen Formulare unterschrieben und schließlich ein halbes Zimmer in einem drückend heißen apartment gemietet, in dem Ratten und Reggae den Ton angaben. Kurz darauf hatte er sich einen Job als Page in einem schicken, kleinen Hotel besorgt.
Justin hatte dunkles Haar und grüne augen. er war eins achtundachtzig, schmal, breitschultrig - er hatte den Körperbau eines Schwimmers und wenn er lächelte die andeutung eines Grübchens. Damals in Boston hatte sein aussehen bei den weiblichen Hotelgästen dieselbe Reaktion hervorgerufen wie heute.Die empfangsdame des Krankenhauses errötete und sagte: »Kann ich ihnen helfen?«
»Robert Fisher«, sagte Justin. »ich bin sein Sohn. ich möchte ihn besuchen.«
Die empfangsdame wandte den Blick gerade lange genug ab, um die informationen auf ihrem Bildschirm aufnehmen zu können.als sie ihn wieder anschaute, wirkte sie nervös: »Wissen Sie was ... ich denke, Sie sollten mit der Verwaltungschefin sprechen. ich werde sie ausrufen lassen. Sie können in ihrem Büro warten.« Sie deutete ans andere ende eines langen Korridors.Dessen Wände waren kahl und hatten die Farbe von Schnee; entlang beider Seiten zogen sich Reihen offener Türen, deren Rahmen in einem glänzenden Schwarz mit goldgelben Kanten gestrichen waren. auf diese Weise ähnelte der Gang einer ansonsten schmucklosen Kunstgalerie, die alle aufmerksamkeit auf die massiven, goldgerahmten Bilder lenkte.
Justin wandte sich vom empfang ab und betrat den Korridor. Hinter einer der offenen Türen lag eine alte Frau auf einem hohen, schmalen Bett. Die Haut an ihrem spindeldürren Körper war bläulich-weiß. ein komatöser Überrest, gezeichnet durch den unweigerlichen Verfall der eigenen existenz. ihr anblick ließ Justin schaudern.
er wandte sich ab.Durch eine andere Tür entdeckte er einen alten Mann.Groß und sehr kräftig gebaut.ein Mensch, der vielleicht einmal Truppen kommandiert oder Stahl für Hängebrücken geschweißt hatte, jetzt aber als Schatten seiner selbst auf der Kante eines Krankenhausbettes saß.Tief schlafend. Seine Beine waren geöffnet, sein Krankenhaushemd klaffte auseinander.Der letzte Rest seiner Würde war im Schwinden begriffen.
Justin hatte das Gefühl, als müsse er ersticken. Das Mädchen mit der roten Baseballkappe musste sich geirrt haben. Unmöglich,dass sich sein Vater inmitten dieser ansammlung menschlicher Wracks aufhielt. Vor seinem inneren auge sah Justin ihn mit Julie und Lissa, wie er die Mädchen mühelos hochhob und durch die Luft sausen ließ. ein derart vitaler und starker Mann gehörte nicht an einen ort wie diesen. Dies war ein Wartezimmer für den Tod.
Mit wenigen schnellen Schritten erreichte Justin das ende des Gangs und trat ins Büro der Verwaltungschefin. es war klein und unaufgeräumt und, zu Justins erleichterung, leer. er musste allein sein. er musste, im wahrsten Sinne des Wortes, wieder Luft bekommen.
er spürte Panik in sich aufsteigen. Mit einem Mal wurde ihm klar,dass er auf diesen Moment nicht vorbereitet war.es blieben zu viele fehlende Teilchen - zu viele unvollständige informationen. er hatte keine ahnung, wo seine Mutter sich aufhielt; und er konnte sich nicht einmal deutlich das Gesicht seines Vaters in erinnerung rufen.
innerhalb kürzester Zeit fühlte er sich in dem engen, stickigen Büro wie in einem Käfig.
er stand auf und zog seine Schlüssel aus der Tasche. als er den Raum gerade verlassen wollte, betrat die Leiterin der Krankenhausverwaltung das Zimmer. Sie war eine Frau ohne besondere Merkmale und trug Kleidung in unterschiedlichen Beigetönen. »es tut mir leid, dass ich Sie warten lassen musste«,sagte sie.»Sie sind also Mr.Fishers Sohn?«
Das erscheinen der Frau hatte jegliche aussicht auf eine schnelle Flucht zunichtegemacht. Justin war gefangen.
»Wir wussten nicht, dass Mr. Fisher einen Sohn hatte.« Die Verwaltungschefin schaute auf ihre Hände und schien sie mit merkwürdiger intensität zu mustern.Schließlich sagte sie:»ihr Vater ist verstorben.Vor zwei Wochen.er hatte einen zweiten, sehr heftigen Schlaganfall. Hat ihre Familie Sie denn nicht informiert?«
Der Raum schien zu schwanken und sich gefährlich auf eine Seite zu neigen, wie ein Boot, das von einer heimtückischen Welle getroffen wird. es herrschte Stille, bis Justin irgendwann seine eigene Stimme hörte und sich wunderte, wie ruhig und sachlich sie klang: »ich war im ausland«, sagte er.»Bis letzte Woche habe ich in London gelebt.ich habe meine Familie sehr lange nicht gesehen.«
»Wie schrecklich, nach Hause zu kommen und mit solch einer nachricht konfrontiert zu werden.« Die Frau nahm etwas von einem Regal neben ihrem Schreibtisch. Sie betrachtete Justin mit ehrlicher Sympathie und sagte:»Wir haben ein paar Dinge aufgehoben, die ihrem Vater gehörten. ich wollte sie schon mit der Post schicken.«
Sie reichte Justin ein kleines Paket. auf der Vorderseite klebte ein sorgfältig ausgefülltes adressetikett.
˜ ˜ ˜
Die Türen des Pflegeheims schlossen sich hinter ihm, und Justin war wieder auf dem Parkplatz. Zwei angestellte des Krankenhauses, ein Mann und ein hübsches Mädchen, waren damit beschäftigt,eine fahrbare Krankentrage - mitsamt ihrem in einem Leichensack mit Reißverschluss steckenden Patienten - in aller Gemütsruhe in einem Leichenwagen zu verstauen. Lachend unterhielten sie sich dabei. Mit einer schnellen Bewegung schälte das Mädchen einen ihrer Latexhandschuhe von der Hand und warf ihn kunstvoll in Richtung eines in der nähe stehenden abfalleimers, und in einem eleganten Bogen segelte er hinein.Sie vollführte einen kleinen Siegestanz und erklärte:»Du schuldest mir eine einladung zu Starbucks.« Sie lachte, und ihr Begleiter klatschte sie ab.Weniger als eine Stunde war vergangen,seit Justin auf diesem Parkplatz angekommen war. ein Zeitraum, in dem
Man einen Vater verlieren oder eine Tasse Kaffee gewinnen konnte;in dem eine innere Welt zusammenbrechen konnte, während die außenwelt davon völlig unberührt blieb.
Statt zu seinem Wagen zu gehen,setzte Justin sich auf eine Bank und wartete, bis der Leichenwagen abgefahren war. auch lange danach blieb er einfach sitzen. Mit dem kleinen, sorgfältig beschrifteten Paket auf dem Schoß. Mehrere PKWs kamen an und fuhren wieder davon. Dann ein Lieferwagen. Und ein fetter Mann auf einer Harley. Zwei alte Damen in einem uralten,ruckelnden Cadillac.ein schlaksiger Junge auf einem Skateboard und eine Gruppe eiswaffeln essender Mädchen schlenderten auf dem Bürgersteig vorbei. ein eichhörnchen balancierte auf einer Stromleitung hin und her und stieß dabei wild keckernde Laute aus. Und Justin blieb einfach sitzen.
er wiederholte es wieder und wieder in Gedanken: die Tatsache, dass sein Vater tot war. er wusste, dass er von erinnerungen überschwemmt und von Trauer erfüllt sein sollte. Doch es wollte sich keine Flut von erinnerungen einstellen und keine Traurigkeit. nur eine art erschrecken - eine Gewissheit, die ihn frösteln ließ, eine Gewissheit, dass die splitternde Tür zu einer lange verschlossenen Kammer leise, aber unaufhaltsam geöffnet wurde.
˜ ˜ ˜
Die adresse auf dem Paket, das man ihm im Krankenhaus gegeben hatte,lag ungefähr 15 Kilometer südlich von Sierra Madre und der Lima Street entfernt.eigentlich hätte er den Weg mühelos finden sollen, doch er fuhr durch eine ihm völlig unvertraute Gegend. in diesem Labyrinth aus kurvigen Straßen, saftigem Gras und prächtigen Häusern fühlte er sich verloren. Schließlich passierte er ein ortsschild. einen einfachen Steinsockel, gekrönt von einer Betonurne, die von Blumen und Blättern überquoll. am Fuß des Sockels standen in hübschen bronzenen Buchstaben die Worte »San Marino«.
Wie dieses ortsschild präsentierte sich auch die Stadt selbst in einer Mischung aus Zurückhaltung und Ungezwungenheit. eine südkalifornische Stadt, deren Straßen nach englischen Märtyrern benannt waren und deren Häuser in einer Fülle von toskanischen Fliesen schwelgten.
Das Haus, nach dem Justin suchte, stand oberhalb eines terrassenförmig angelegten Rasens. eine blonde Frau in einem blauen arbeitshemd und einer mit Lehmflecken übersäten Jeans grub neben der auffahrt energisch ein Blumenbeet um.
Bei ihrem anblick füllten sich Justins augen mit Tränen. irgendwo in dieser Fremden erkannte er das kleine Mädchen wieder, das einmal seine Schwester gewesen war. er drehte das Seitenfenster herunter und konnte nur sagen: »Waren Sie früher einmal Lissa Fisher?«
Die Frau stützte sich auf ihren Spaten und sah zu, wie Justin aus dem Wagen stieg. »Kenne ich Sie?« Sie zeigte ein warmes Lächeln,zupfte eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und hinterließ dabei eine Spur erde auf ihrer Wange.ein bedrohliches Schwindelgefühl überkam Justin - wie bei einem beängstigenden freien Fall. er wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus.
er konnte sehen, dass sein Schweigen die Frau irritierte. Sie zog ihren Spaten ein Stück zurück,so als wolle sie gehen.
»ich war in der Lima Street«, sagte er schnell. »ich dachte, Mom und Dad würden immer noch dort wohnen,aber ...« Plötzlich strömten die Worte nur so aus seinem Mund, beinahe zusammenhanglos.»im Pflegeheim hat man mir gesagt, was mit Dad passiert ist. Sie hatten noch einige von seinen Sachen.Sie wollten dir alles schicken,aber ich dachte,wenn ich sie einfach mitbringe,wäre es vielleicht ein guter Weg ... wieder ... Kontakt aufzunehmen und ...«
Die Frau war schon dabei, den Rückzug anzutreten. Sie hielt den Spaten schützend vor sich. Und trat ein paar Schritte zurück. »Wer sind Sie?«
»Lissa, ich bin dein Bruder. ich bin Justin.«
ihre Stimme klang wütend. Und ein wenig ängstlich. »Wer auch immer Sie sind, welches Spiel Sie auch treiben, ich will, dass Sie von meinem Grundstück verschwinden. Und zwar sofort.«
Sie wandte sich um und flüchtete ins Haus. Das Zuschlagen der Haustür hallte nach wie ein Pistolenschuss.
˜ ˜ ˜
Die Zurückweisung seiner Schwester war derart scharf und kompromisslos gewesen,dass sie Justin bis ins Mark erschüttert hatte. Sie hatte ihn in seine alte Gewohnheit zurückgestoßen, sämtliche Gedanken an seine Vergangenheit hinter eine Mauer zu verbannen.
nach seiner Rückkehr aus San Marino hatte er versucht, sich ganz auf seinen neuen Job zu konzentrieren. Und auf amy und Zack.
Doch es war ihm nicht gelungen, die quälenden Fragen über seine Familie zu ignorieren, die seine Rückkehr in die Lima Street aufgeworfen hatte.an diesem Morgen schließlich war ihm das fortdauernde Fehlen jeglicher antworten auf diese Fragen zu viel geworden. er hatte im Pflegeheim angerufen, um den namen des Friedhofs zu erfragen, auf dem sein Vater begraben lag.
nun schritt Justin durch ein Labyrinth verstreut liegender Grabsteine. Die meisten von ihnen waren beschädigt und standen schief; kein einziger ragte mehr als 60 Zentimeter über das ungleichmäßig wachsende Gras des Friedhofs.
es war September. Dank der Santa-ana-Winde breiteten sich in den Hügeln Waldbrände aus.Die Temperatur erinnerte an ein Treibhaus, und der Geruch von asche hing in der Luft.
als Justin sich dem Grab seines Vaters näherte, fühlte er sich benommen und hohl.
es hatte nichts mit der Hitze oder den Bränden zu tun. Dafür umso mehr mit dem, was ihn an der Grabstelle erwartete.
er trat nicht auf einen einzelnen Grabstein zu, sondern gleich auf drei.
Der neueste war der seines Vaters: »Robert William Fisher ... 14.Dezember 1940 - 16.april 2005.«
Die inschrift auf dem nächsten Stein lautete: »Caroline Conwyn Fisher ... 1. Mai 1940 - 31. oktober 2004.« es war der Grabstein seiner Mutter. ein tiefer Schmerz durchzuckte Justin,der beinahe unerträglich war.ein Stück seines Herzens war ihm herausgerissen worden.
als er sich dem dritten Stein zuwandte,standen Tränen in seinen augen. Dieser Stein war kleiner und weitaus stärker verwittert als die beiden anderen. er brauchte eine Weile, ehe er die inschrift deutlich entziffern konnte:
»Thomas Justin Fisher 21. September 1972 - 20. Februar 1976 in den Herzen derer zu leben, die wir lieben, heißt niemals zu sterben.«
Justin war gekommen, um das Grab seines Vaters zu suchen. Und hatte außerdem das Grab seiner Mutter gefunden. Und sein eigenes.
˜ ˜ ˜
Die entdeckung eines Grabsteins mit seinem eigenen namen war derart makaber gewesen, derart unbegreiflich, dass Justin nicht gewusst hatte, was er tun oder fühlen sollte. natürlich war er nach Hause gefahren und hatte amy alles erzählt. Danach aber hatte er erklärt, er wolle nicht weiter darüber sprechen.
inzwischen war es november, nur wenige Wochen vor Thanksgiving, und Justin war zu Hause. entschlossen, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.er saß am Rand eines Clubsessels und badete im Sonnenlicht.
auf dem Verandaboden zu Justins Füßen beschäftigte sich Zack mit den vom Wind herangewehten Blütenblättern einer weißen Rose, die von ihrem Strauch abgefallen war. Vorsichtig sammelte er Blatt für Blatt auf und legte jedes einzelne feierlich in Justins ausgestreckte Hand.
Zacks nachdenklicher Blick, ohne jedes Blinzeln, machte Justin nervös. er fragte sich, was genau es war, das sein Sohn von ihm wollte. erwartete Zack, dass er diese verstreuten Reste auf magische art und Weise in eine taufrische weiße Rose verwandelte,die in ihrer ganzen ursprünglichen Perfektion neu erstrahlte? oder wollte Zack bloß sicher sein, dass, wenn er seine eigene Hand ausstreckte, sein Vater schlicht und einfach für ihn da war? Stark und offen und aufmerksam?
Justin hatte keine ahnung, was Zack erwartete oder was er dachte. Zack war fremdes Territorium: er war ein Baby, und Justin fühlte sich etwas unbehaglich in der wortlosen, schwer zu entschlüsselnden Welt von Babys. Doch außerdem war Zack sein Sohn. ihn einfach nur anzuschauen - die schläfrigen braunen augen und das honigblonde Haar zu sehen, die ihn so stark an amy erinnerten; das Grübchen zu betrachten,das stets in Zacks Wange auftauchte,wenn er lächelte, jenes Grübchen, das seinem eigenen ähnelte - dies alles löste einen Sturm von Liebe und Beschützerinstinkt in ihm aus, die stärker waren als jedes Gefühl, das Justin zuvor erlebt hatte.
Gerade ließ Zack das letzte Rosenblatt in Justins Hand fallen.er schmiegte sich an ein Bein seines Vaters und gähnte. Justin hob ihn hoch. er lehnte sich zurück, schloss die augen und legte Zacks warmen, leichten Körper auf seine Brust. in diesem Moment war Justin bewusst, dass er ohne zu zögern sein Leben für diesen kleinen Jungen hergeben würde - und dass er ohne zu zögern das Leben eines jeden auslöschen würde, der es wagte, dem Jungen etwas anzutun.
Die Zärtlichkeit dieses augenblicks war das einzige, an das Justin denken wollte; das einzige, an das zu denken er sich gestattete.
˜ ˜ ˜
»Haben Sie alles gefunden, was Sie brauchen?« Die Frage galt Justin,doch der Blick des Verkäufers war auf etwas gerichtet, das sich am anderen ende des Geschäfts befand.Justin warf seine american-express-Karte auf den Ladentisch, und dort landete sie neben zwei Flaschen Wein, die er bereits dort abgestellt hatte.
Sein gemeinsames nickerchen mit Zack hatte den größten Teil des nachmittags in anspruch genommen,sodass die Zeit langsam knapp wurde. Ungeduldig wandte er sich um und folgte dem hypnotisierten Blick des Verkäufers. am Ständer mit den Magazinen stand ein Mädchen. ihr Gesicht war hinter dem langen rotbraunen Haar verborgen, ansonsten aber gaben ihr bauchfreies Top und der kurze Rock den Blick auf eine Menge von ihr frei. Sie war schön, und angesichts einer schönen Frau durchlief Justin jedes Mal eine Woge von Vergnügen;ein instinktives aufflammen von Freude,wie er sie in ähnlicher Weise auch beim anblick eines nagelneuen PS-starken autos oder eines perfekt geschlagenen Baseballs empfand. Dies waren Momente, in denen Justin Kunst und anmut zu erkennen glaubte.
Während der ein oder zwei Sekunden, in denen er das Mädchen anschaute, vergaß er für einen Moment den nebel, der sein Leben umhüllte.
Der Verkäufer tippte die beiden Weinflaschen ein:»Wow. Du Mol. Das ist wirklich ein herausragender Chardonnay.«
»Meine Schwiegereltern kommen zum abendessen«, erklärte Justin.
»ihre Familie scheint sich für die guten Dinge des Lebens zu interessieren.« Der Verkäufer reichte Justin den Kassenbon und verstaute die beiden Flaschen vorsichtig in einer Tüte.
»ich mag die guten Dinge und mein Schwiegervater die teuren. in diesem Fall bekommen wir beide, was wir brauchen. « Justin nahm den Wein und wandte sich zur Tür,während der Verkäufer wieder das Mädchen mit dem rotbraunen Haar anstarrte.
Beim Verlassen des Geschäfts stieß Justin beinahe mit einem Mann und einer Frau zusammen, die das Geschäft gerade betraten.
Der Mann warf ihm einen zweiten Blick zu. ein Lächeln ging über sein Gesicht. »Justin Fisher. Mein Gott, wie groß sind die Chancen, Urlaub in den USa zu machen und dir plötzlich über den Weg zu laufen?« er sprach mit einem steifen britischen akzent. »Wie gefällt es dir in der Heimat, alter Junge?«
Justin hatte nicht die geringste ahnung, wen er vor sich hatte, und dieser Umstand frustrierte ihn. Solange er zurückdenken konnte, hatte er sich stets mit der Unfähigkeit herumgeplagt,die Gesichter anderer Menschen wiederzuerkennen. Unzählige Male war er in peinliche Situationen geraten, in denen er sich mit jemandem unterhielt oder gar eine fröhliche Vertrautheit vortäuschte, während er sich in Wirklichkeit verzweifelt darüber klar zu werden versuchte, mit wem er es eigentlich zu tun hatte. Sein Mangel an erinnerung konnte so weit gehen, dass er bei geschäftlichen Terminen stundenlang mit Menschen zusammensaß, die ihm dann wenige Tage später bei einer zufälligen Begegnung auf der Straße wie völlig Fremde erschienen.
»Schatz,das ist der große Justin Fisher.« Der Mann lächelte seine Begleiterin an und wandte sich dann wieder Justin zu. »Das ist Fiona, meine Frau. ich bin mir nicht sicher, ob ihr euch schon einmal begegnet seid.«
in der Zehntelsekunde, in der Justin über seine antwort nachdachte, kam ihm die Frau glücklicherweise zur Hilfe. »nein«,sagte sie.»Das sind wir nicht.aber Trevor spricht oft von ihnen, Justin. er hat die Treffen mit eurer Clique nach der arbeit am Cadogan Square immer sehr genossen.«
Justin lachte. nicht, weil er sich amüsierte, sondern aus purer erleichterung. Der Mann war Manager eines Hotels in London gewesen, das Justins Hotel genau gegenüberlag. »Schön, dich zu sehen,Trevor.Wenn ich das nächste Mal in england bin, müssen wir uns unbedingt treffen. es tut mir leid, dass ich nicht noch ein bisschen bleiben und mit euch plaudern kann,aber meine Frau und ich haben heute abend
Deutsch von Stefan Lux
Copyright © der deutschsprachigen ausgabe 2010 by Wilhelm Goldmann Verlag,München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Dianne Dixon
Dianne Dixon ist Drehbuchautorin und lebt in Los Angeles. Sie war bereits zweimal für den Emmy nominiert, gewann einen Humanitas Award für ihre Fernseharbeit und unterrichtete als Gastdozentin Kreatives Schreiben an einem der Claremont Colleges in Kalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dianne Dixon
- 2010, 314 Seiten, Maße: 12 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Lux, Stefan
- Übersetzer: Stefan Lux
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442471923
- ISBN-13: 9783442471928
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