Oberinspektor Chen Band 3: Schwarz auf Rot
Oberinspektor Chens dritter Fall
Oberinspektor Chen erhält ein Angebot, dem er nicht widerstehen kann: Für den Großinvestor Gu soll er die Projektbeschreibung eines
Neubaukomplexes in Shanghai ins Englische übersetzen. Doch kaum wendet er sich dem lukrativen Auftrag zu, geschieht ein...
Neubaukomplexes in Shanghai ins Englische übersetzen. Doch kaum wendet er sich dem lukrativen Auftrag zu, geschieht ein...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Oberinspektor Chen Band 3: Schwarz auf Rot “
Oberinspektor Chen erhält ein Angebot, dem er nicht widerstehen kann: Für den Großinvestor Gu soll er die Projektbeschreibung eines
Neubaukomplexes in Shanghai ins Englische übersetzen. Doch kaum wendet er sich dem lukrativen Auftrag zu, geschieht ein Mord. Das Opfer: Eine Dissidentin, die einen zur Landarbeit verbannten Dichter geliebt hatte. Nach dessen Tod schrieb sie einen Roman, der rasch verboten wurde. Das bringt Chen auf eine literarische Fährte.
Neubaukomplexes in Shanghai ins Englische übersetzen. Doch kaum wendet er sich dem lukrativen Auftrag zu, geschieht ein Mord. Das Opfer: Eine Dissidentin, die einen zur Landarbeit verbannten Dichter geliebt hatte. Nach dessen Tod schrieb sie einen Roman, der rasch verboten wurde. Das bringt Chen auf eine literarische Fährte.
Klappentext zu „Oberinspektor Chen Band 3: Schwarz auf Rot “
Oberinspektor Chen erhält ein Angebot, dem er nicht widerstehen kann: Für den Großkapitalisten Gu soll er die Projektbeschreibung zu einem riesigen Neubaukomplex in Shanghai ins Englische übersetzen. Doch kaum wendet sich Chen dem lukrativen Auftrag zu, geschieht ein Mord.Die Ermordete galt als Dissidentin, die einen zur Landarbeit verbannten Dichter geliebt und nach dessen Tod einen viel beachteten und rasch verbotenen Roman geschrieben hatte. Das bringt Chen auf eine literarische Fährte ..."Qiu Xiaolongs Kriminalromane sind fremdartig schön. Man hat das seltene Gefühl, China plötzlich verstehen zu können." (Andreas Ammer, Bayerischer Rundfunk)
Lese-Probe zu „Oberinspektor Chen Band 3: Schwarz auf Rot “
Aus dem Amerikanischen von Susanne HornfeckHauptwachtmeister Yu stand vor der schwarzlackierten, soliden Eichentür des Vordereingangs und berührte den glänzenden Messingklopfer, der dieses shikumen-Haus offenbar schon seit seiner Errichtung zierte.
"Das Gebäude hat zwei Eingänge", erklärte Alter Liang. "Die Vordertür kann man von innen verriegeln. Normalerweise wird nach neun Uhr abends abgeschlossen. Und dann gibt es noch den Hintereingang, der auf eine kleine Seitengasse führt."
Für Hauptwachtmeister Yu, der nicht erwähnt hatte, daß er selbst seit vielen Jahren in einem ähnlichen Gebäude wohnte, war diese Erklärung unnötig, doch er hörte geduldig zu. Sie überquerten den Hof und gelangten in die Gemeinschaftsküche. In diesem Raum drängten sich die Kohleherde von zwölf und mehr Familien, samt Geschirr, Reihen von Briketts und abgeteilten Wandschränken. Yu zählte fünfzehn Herde. Am hinteren Ende der Küche befand sich eine Treppe, die sich insofern von der in seinem Haus unterschied, als man auf dem Absatz einen weiteren Raum abgeteilt hatte. Dieses zwischen Parterre und erstem Stock gelegene tingzijian galt allgemein als eines der schlechtesten Zimmer in einem shikumen-Haus.
"Gehen wir hinauf in Yins Zimmer. Aber seien Sie vorsichtig, Hauptwachtmeister, die Stufen sind sehr schmal. Ist das nicht ein Zufall", fuhr Alter Liang fort, "daß in den dreißiger Jahren so mancher Schriftsteller in einem solchen Kämmerchen hauste? Ich erinnere mich, daß man sogar von 'Treppenkammerliteratur' sprach, wenn die Autoren sehr arm waren. In unserem Viertel hat vor 1949 ein berühmter tingzijian-Autor gelebt, aber mir fällt sein Name nicht ein."
Yu konnte ihm auch nicht weiterhelfen, meinte aber, den Begriff schon einmal gehört zu haben. Er fragte sich, wie diese Schriftsteller sich bei all dem Getrappel auf der Treppe konzentrieren konnten.
"Sie haben eine Menge gelesen", sagte Yu, mittlerweile überzeugt, daß der Nachbarschaftspolizist nicht nur ein unermüdlicher
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Redner, sondern auch ein Meister der Abschweifung war.
Die Tür war versiegelt. Alter Liang wollte gerade den Papierkleber entfernen, als die vorwurfsvolle Stimme einer Bewohnerin ertönte: "Genosse Alter Liang, Sie müssen kommen und uns helfen. Dieser herzlose Mann hat seiner Familie seit über zwei Monaten nicht einen Yuan gegeben."
Ein Familienkrach, vermutete Yu. Das kam ihm gerade recht. "Sie brauchen mich nicht zu begleiten, Alter Liang", sagte Yu. "Sie haben so viele andere Pflichten. Das hier wird ohnehin eine Weile dauern. Anschließend sollten wir uns mit dem Nachbarschaftskomitee zusammensetzen. Könnten Sie das arrangieren?"
"Wie wäre es um zwölf Uhr im Büro?" fragte Alter Liang. "Aber bevor ich Sie verlasse, Hauptwachtmeister Yu: Hier ist ein ausführlicher Bericht über den Tatort. Insgesamt drei Seiten."
Yu überflog den Bericht, während er, auf dem Treppenabsatz stehend, den Alten Liang in der Gemeinschaftsküche verschwinden sah.
In der Akte, die er im Bus gelesen hatte, war der Tatort mit einem Satz als "praktisch unbrauchbar" bezeichnet worden. Kaum etwas in Yins Zimmer war unberührt geblieben; das lag an der Art und Weise, wie der Leichnam entdeckt worden war. Ein Assistent, der zusammen mit Doktor Xia Fingerabdrücke nehmenwollte, sagte, aus der Vielzahl an Abdrücken und Schmierern auf allen Oberflächen seien so gut wie keine Schlüsse zu ziehen.
Der Bericht lautete folgendermaßen:
Am Morgen des 7. Februar war Lanlan, eine Bewohnerin aus dem ersten Stock des Ostflügels, etwa um drei Viertel sieben vom Gemüsemarkt zurückgekehrt. Als sie die Treppe hinaufging, kam sie an Yins Zimmer vorbei. Normalerweise war deren Tür geschlossen. Es war bekannt, daß Yin früh am Morgen im Volkspark Tai-Chi übte und in der Regel nicht vor acht Uhr zurückkam. Doch an diesem Morgen stand die Tür ein wenig offen. Es ging sie zwar nichts an, aber Lanlan registrierte es, weil es ungewöhnlich war. Sie bückte sich, um ihren Schuh zuzubinden, und spähte durch den Türspalt. Dabei bemerkte sie etwas, das wie ein umgekippter Stuhl aussah. Sie klopfte, stieß nach kurzem Warten vorsichtig die Tür auf und sah Yin, ein weißes Kissen neben dem Gesicht, am Boden liegen. Sie ist krank, war Lanlans erster Gedanke, oder ohnmächtig aus dem Bett gefallen. Rasch trat sie ins Zimmer, massierte bei Yin den Nothilfepunkt über der Oberlippe und rief nach Hilfe. Sofort tauchten sieben oder acht Leute auf. Einer spritzte kaltes Wasser auf Yins Gesicht, einer fühlte ihren Puls, ein anderer rannte, um den Krankenwagen zu rufen. Dann erst bemerkten sie, daß Yin nicht mehr atmete und daß mehrere Schubladen herausgezogen und durchwühlt worden waren. Noch mehr Menschen drängten in das winzige Zimmer. Als ihnen endlich klar wurde, daß hier ein Verbrechen geschehen war, hatten sie fast alles im Raum angefaßt.
Schließlich traf Alter Liang mit dem Nachbarschaftskomitee ein, doch auch das trug kaum zur Bewahrung des Tatorts bei. Ein Mitglied ging sogar so weit, das Kissen aufs Bett zurückzulegen und alle Schubladen wieder in die Schränke zu schieben.
Eines wurde in dem Bericht nicht erwähnt. Laut Parteisekretär Li war kurz nach Eintreffen des Alten Liang auch die Staatssicherheit am Tatort erschienen und hatte das Zimmer gründlich durchsucht. Auch sie hätten sich an die Regeln halten und Handschuhe tragen müssen, doch danach hatte Li nicht gefragt. Er wußte auch nicht, was sie mit ihrer Durchsuchung bezweckt hatten. Bei einer Dissidentin und Schriftstellerin war das Auftauchen der Staatssicherheit allerdings kaum verwunderlich. Außerdem war das Präsidium angewiesen worden, die Behörde über den Fortgang der Ermittlungen auf dem laufenden zu halten.
Yu strich sich nachdenklich übers Kinn, legte den Bericht in die Kladde zurück und entfernte das Siegel an der Tür. Der Raum, den er betrat, war ein schmuckloser, schäbiger kleiner Würfel. Wie bereits aus dem Bericht hervorging, deutete nichts auf einen Kampf hin, zumindest hatten sich keine Spuren davon erhalten. Einen Tag nach dem Mord und gemäß allem, was er gerade gelesen hatte, machte sich Hauptwachtmeister Yu keine Hoffnungen, irgend etwas zu finden.
Das Mobiliar schien Yin nach ihrem Auszug aus dem Wohnheim angeschafft zu haben. Es war typisch für die Achtziger; dunkelbraune, schlichte, funktionale Möbel in brauchbarem Zustand; ein einzelnes Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank mit großem Spiegel an der Tür, ein Sofa mit verblichenem rotem Bezug und ein Hocker, der auch als Nachttisch gedient haben mochte.
In einem Aschenbecher auf dem Tisch entdeckte er mehrere Zigarettenkippen. Braune Filter, eine amerikanische Marke namens "More". Eine Art Schreibmaschine stand ebenfalls auf dem Tisch. Ein Computer war es jedenfalls nicht, da war sich Yu sicher. Vielleicht eine elektrische Schreibmaschine.
In einem kleinen Wandschränkchen fand er mehrere Dosen mit Teeblättern, ein Glas Nestle's löslicher Kaffee, ein paar grobe Keramikschalen, ein Bündel Eßstäbchen in einem aus einer Wurzel geschnitzten Behälter, eine Tasse und ein Glas. Offenbar hatte sie hier kaum Gäste empfangen.
Das Bett war ordentlich gemacht, vermutlich von einem ihrer Nachbarn. Unter dem Laken gab es keine Matratze; sie hatte auf den harten Holzplanken geschlafen. Die vergilbte, mit Baumwolle gestopfte Steppdecke mußte bereits vier oder fünf Jahre alt sein und war an vielen Stellen geflickt. Sie fühlte sich starr an unter seiner Berührung. Das Kissen, das keinen Bezug hatte, war im Vergleich zur Steppdecke relativ weiß.
Dann wandte er sich den Schubladen zu. Die oberste enthielt Quittungen von verschiedenen Geschäften, unbenutzte Briefumschläge und ein Reisemagazin. In der zweiten waren Notizbücher, ein Block, ein Stapel Papier und ein Bündel Briefe, von denen einige englische Absender trugen. Der Inhalt der dritten war gut durchmischt: ein kleines Sortiment an Modeschmuck - vielleicht ein Souvenir ihres Hongkong-Aufenthalts -, eine Shanghai-Uhr mit Lederarmband und eine Halskette mit irgendeinem exotischen Tierknochen.
Der Inhalt des Kleiderschranks bestätigte seine Erwartungen. Die Kleidung war in tristen Farben gehalten, konventionell und meist von billiger Qualität. Die einzige Ausnahme bildete ein weißes Wollkleid, das nicht unbedingt teuer, aber dennoch aus gutem Stoff war.
Auf dem Bücherregal standen chinesische und englische Wörterbücher, die Geschichte der Han-Dynastie in mehreren Bänden, Ausgewählte Werke von Deng Xiaoping, sowie mehrere Exemplare von Tod eines chinesischen Professors und von Ausgewählte Gedichte von Yang Bing. Außerdem sah er einen Stapel alter Illustrierten, einige davon aus den vierziger und fünfziger Jahren, zwischen deren Seiten Lesezeichen hervorschauten.
Schließlich fand er ein altmodisches Photoalbum, auf dessen schwarzen Pappeseiten die Aufnahmen mit kleinen Aluminiumsternchen festgehalten wurden. Die ersten Seiten enthielten ausschließlich Schwarzweißphotos. Einige zeigten Yin als kleines Mädchen mit einem Pferdeschwanz. Dann folgten Farbaufnahmen von Yin mit dem roten Halstuch: eine junge Pionierin, die auf dem Schulhof der Flagge mit den Sternen salutiert. Auf einem handkolorierten Photo stand sie glücklich lächelnd zwischen einem weißhaarigen Mann und einer mageren kleinen Frau, vermutlich ihren Eltern, auf dem Volksplatz.
Er wandte sich einer Aufnahme zu, die 1967 oder 1968, also in den Anfangsjahren der Kulturrevolution, entstanden sein mußte. Darauf trug Yin die rote Armbinde und hielt eine Rede auf einer Bühne, in deren Hintergrund vor rotem Samtvorhang eine Reihe hoher Regierungsvertreter saßen. Sie war die Vertreterin der Roten Garden bei einer nationalen Studentenkonferenz gewesen, doch trotz ihres politischen Ranges wirkte sie wie ein unerfahrenes Mädchen. Ihr Gesicht war nicht wirklich jung, aber von jugendlicher Leidenschaft belebt. Das Ganze sah aus wie ein Plakat der Roten Garden, das er einmal gesehen hatte. Die folgenden beiden Seiten dokumentierten die glanzvollsten Momente ihrer politischen Karriere. Ein Photo zeigte sie am Tisch mit hohen Parteifunktionären bei einer Konferenz in der Verbotenen Stadt.
Doch dann schien es eine Lücke zu geben. Nicht daß Photos gefehlt hätten, aber es gab einen abrupten Sprung von der jungen Rotgardistin zu der Frau mittleren Alters, die man im Türrahmen der Kaderschule stehen sah. Es war, als wäre sie mit dem Umblättern einer einzigen Seite um zwanzig Jahre gealtert.
Als Yu das Album zuklappte, war es Zeit für sein Treffen mit dem Nachbarschaftskomitee.
Das Komitee war ursprünglich der verlängerte Arm der lokalen Polizeidienststelle gewesen, zuständig für alles, was außerhalb der jeweiligen "Arbeitseinheiten" der Leute lag. Es organisierte wöchentliche politische Schulungen, überprüfte die Anzahl der in einem Gebäude wohnenden Mieter, bot Tagesbetreuung für Kinder an, teilte die Geburtenquoten zu, schlichtete Streitigkeiten unter Nachbarn und kontrollierte die Anwohner permanent. Das Komitee war berechtigt, über jeden Anwohner Bericht zu erstatten, und solche Berichte fanden Eingang in die vertrauliche Personalakte, die bei der Polizei über jeden einzelnen geführt wurde und dem Staat jederzeit eine effektive Kontrolle seiner Bürger erlaubte.
Doch wie bei so vielen anderen Institutionen hatte sich in den vergangenen Jahren auch die Rolle des Nachbarschaftskomitees gewandelt, obgleich die Sicherheit im Wohnviertel nach wie vor zu seinen Hauptaufgaben gehörte. Man hatte bestimmt ein scharfes Auge auf jemanden wie Yin gehabt. Außerdem könnte Yu vermutlich Informationen über etwaige verdächtige Anwohner bekommen.
Als Hauptwachtmeister Yu das Büro betrat, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß Alter Liang ein Arbeitsessen organisiert hatte. Sechs Essensbehälter aus Plastik waren in der Tischmitte aufgereiht; sie enthielten die Spezialität einer nahe gelegenen Hühnerbraterei. Außer Yu und dem Alten Liang waren vier Mitglieder des Nachbarschaftskomitees anwesend und saßen bereits mit gezückten Eßstäbchen da.
"Das Drei-Gelb-Huhn ist nicht schlecht - gelbe Federn, gelber Schnabel, gelbe Füße. Natürlich aus Pudong, garantierte Freilandhaltung, das ist ein himmelweiter Unterschied zu diesen Hühnchen aus Massenbetrieben", erläuterte Alter Liang und nahm ebenfalls die Stäbchen zur Hand.
Die Tür war versiegelt. Alter Liang wollte gerade den Papierkleber entfernen, als die vorwurfsvolle Stimme einer Bewohnerin ertönte: "Genosse Alter Liang, Sie müssen kommen und uns helfen. Dieser herzlose Mann hat seiner Familie seit über zwei Monaten nicht einen Yuan gegeben."
Ein Familienkrach, vermutete Yu. Das kam ihm gerade recht. "Sie brauchen mich nicht zu begleiten, Alter Liang", sagte Yu. "Sie haben so viele andere Pflichten. Das hier wird ohnehin eine Weile dauern. Anschließend sollten wir uns mit dem Nachbarschaftskomitee zusammensetzen. Könnten Sie das arrangieren?"
"Wie wäre es um zwölf Uhr im Büro?" fragte Alter Liang. "Aber bevor ich Sie verlasse, Hauptwachtmeister Yu: Hier ist ein ausführlicher Bericht über den Tatort. Insgesamt drei Seiten."
Yu überflog den Bericht, während er, auf dem Treppenabsatz stehend, den Alten Liang in der Gemeinschaftsküche verschwinden sah.
In der Akte, die er im Bus gelesen hatte, war der Tatort mit einem Satz als "praktisch unbrauchbar" bezeichnet worden. Kaum etwas in Yins Zimmer war unberührt geblieben; das lag an der Art und Weise, wie der Leichnam entdeckt worden war. Ein Assistent, der zusammen mit Doktor Xia Fingerabdrücke nehmenwollte, sagte, aus der Vielzahl an Abdrücken und Schmierern auf allen Oberflächen seien so gut wie keine Schlüsse zu ziehen.
Der Bericht lautete folgendermaßen:
Am Morgen des 7. Februar war Lanlan, eine Bewohnerin aus dem ersten Stock des Ostflügels, etwa um drei Viertel sieben vom Gemüsemarkt zurückgekehrt. Als sie die Treppe hinaufging, kam sie an Yins Zimmer vorbei. Normalerweise war deren Tür geschlossen. Es war bekannt, daß Yin früh am Morgen im Volkspark Tai-Chi übte und in der Regel nicht vor acht Uhr zurückkam. Doch an diesem Morgen stand die Tür ein wenig offen. Es ging sie zwar nichts an, aber Lanlan registrierte es, weil es ungewöhnlich war. Sie bückte sich, um ihren Schuh zuzubinden, und spähte durch den Türspalt. Dabei bemerkte sie etwas, das wie ein umgekippter Stuhl aussah. Sie klopfte, stieß nach kurzem Warten vorsichtig die Tür auf und sah Yin, ein weißes Kissen neben dem Gesicht, am Boden liegen. Sie ist krank, war Lanlans erster Gedanke, oder ohnmächtig aus dem Bett gefallen. Rasch trat sie ins Zimmer, massierte bei Yin den Nothilfepunkt über der Oberlippe und rief nach Hilfe. Sofort tauchten sieben oder acht Leute auf. Einer spritzte kaltes Wasser auf Yins Gesicht, einer fühlte ihren Puls, ein anderer rannte, um den Krankenwagen zu rufen. Dann erst bemerkten sie, daß Yin nicht mehr atmete und daß mehrere Schubladen herausgezogen und durchwühlt worden waren. Noch mehr Menschen drängten in das winzige Zimmer. Als ihnen endlich klar wurde, daß hier ein Verbrechen geschehen war, hatten sie fast alles im Raum angefaßt.
Schließlich traf Alter Liang mit dem Nachbarschaftskomitee ein, doch auch das trug kaum zur Bewahrung des Tatorts bei. Ein Mitglied ging sogar so weit, das Kissen aufs Bett zurückzulegen und alle Schubladen wieder in die Schränke zu schieben.
Eines wurde in dem Bericht nicht erwähnt. Laut Parteisekretär Li war kurz nach Eintreffen des Alten Liang auch die Staatssicherheit am Tatort erschienen und hatte das Zimmer gründlich durchsucht. Auch sie hätten sich an die Regeln halten und Handschuhe tragen müssen, doch danach hatte Li nicht gefragt. Er wußte auch nicht, was sie mit ihrer Durchsuchung bezweckt hatten. Bei einer Dissidentin und Schriftstellerin war das Auftauchen der Staatssicherheit allerdings kaum verwunderlich. Außerdem war das Präsidium angewiesen worden, die Behörde über den Fortgang der Ermittlungen auf dem laufenden zu halten.
Yu strich sich nachdenklich übers Kinn, legte den Bericht in die Kladde zurück und entfernte das Siegel an der Tür. Der Raum, den er betrat, war ein schmuckloser, schäbiger kleiner Würfel. Wie bereits aus dem Bericht hervorging, deutete nichts auf einen Kampf hin, zumindest hatten sich keine Spuren davon erhalten. Einen Tag nach dem Mord und gemäß allem, was er gerade gelesen hatte, machte sich Hauptwachtmeister Yu keine Hoffnungen, irgend etwas zu finden.
Das Mobiliar schien Yin nach ihrem Auszug aus dem Wohnheim angeschafft zu haben. Es war typisch für die Achtziger; dunkelbraune, schlichte, funktionale Möbel in brauchbarem Zustand; ein einzelnes Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Schrank mit großem Spiegel an der Tür, ein Sofa mit verblichenem rotem Bezug und ein Hocker, der auch als Nachttisch gedient haben mochte.
In einem Aschenbecher auf dem Tisch entdeckte er mehrere Zigarettenkippen. Braune Filter, eine amerikanische Marke namens "More". Eine Art Schreibmaschine stand ebenfalls auf dem Tisch. Ein Computer war es jedenfalls nicht, da war sich Yu sicher. Vielleicht eine elektrische Schreibmaschine.
In einem kleinen Wandschränkchen fand er mehrere Dosen mit Teeblättern, ein Glas Nestle's löslicher Kaffee, ein paar grobe Keramikschalen, ein Bündel Eßstäbchen in einem aus einer Wurzel geschnitzten Behälter, eine Tasse und ein Glas. Offenbar hatte sie hier kaum Gäste empfangen.
Das Bett war ordentlich gemacht, vermutlich von einem ihrer Nachbarn. Unter dem Laken gab es keine Matratze; sie hatte auf den harten Holzplanken geschlafen. Die vergilbte, mit Baumwolle gestopfte Steppdecke mußte bereits vier oder fünf Jahre alt sein und war an vielen Stellen geflickt. Sie fühlte sich starr an unter seiner Berührung. Das Kissen, das keinen Bezug hatte, war im Vergleich zur Steppdecke relativ weiß.
Dann wandte er sich den Schubladen zu. Die oberste enthielt Quittungen von verschiedenen Geschäften, unbenutzte Briefumschläge und ein Reisemagazin. In der zweiten waren Notizbücher, ein Block, ein Stapel Papier und ein Bündel Briefe, von denen einige englische Absender trugen. Der Inhalt der dritten war gut durchmischt: ein kleines Sortiment an Modeschmuck - vielleicht ein Souvenir ihres Hongkong-Aufenthalts -, eine Shanghai-Uhr mit Lederarmband und eine Halskette mit irgendeinem exotischen Tierknochen.
Der Inhalt des Kleiderschranks bestätigte seine Erwartungen. Die Kleidung war in tristen Farben gehalten, konventionell und meist von billiger Qualität. Die einzige Ausnahme bildete ein weißes Wollkleid, das nicht unbedingt teuer, aber dennoch aus gutem Stoff war.
Auf dem Bücherregal standen chinesische und englische Wörterbücher, die Geschichte der Han-Dynastie in mehreren Bänden, Ausgewählte Werke von Deng Xiaoping, sowie mehrere Exemplare von Tod eines chinesischen Professors und von Ausgewählte Gedichte von Yang Bing. Außerdem sah er einen Stapel alter Illustrierten, einige davon aus den vierziger und fünfziger Jahren, zwischen deren Seiten Lesezeichen hervorschauten.
Schließlich fand er ein altmodisches Photoalbum, auf dessen schwarzen Pappeseiten die Aufnahmen mit kleinen Aluminiumsternchen festgehalten wurden. Die ersten Seiten enthielten ausschließlich Schwarzweißphotos. Einige zeigten Yin als kleines Mädchen mit einem Pferdeschwanz. Dann folgten Farbaufnahmen von Yin mit dem roten Halstuch: eine junge Pionierin, die auf dem Schulhof der Flagge mit den Sternen salutiert. Auf einem handkolorierten Photo stand sie glücklich lächelnd zwischen einem weißhaarigen Mann und einer mageren kleinen Frau, vermutlich ihren Eltern, auf dem Volksplatz.
Er wandte sich einer Aufnahme zu, die 1967 oder 1968, also in den Anfangsjahren der Kulturrevolution, entstanden sein mußte. Darauf trug Yin die rote Armbinde und hielt eine Rede auf einer Bühne, in deren Hintergrund vor rotem Samtvorhang eine Reihe hoher Regierungsvertreter saßen. Sie war die Vertreterin der Roten Garden bei einer nationalen Studentenkonferenz gewesen, doch trotz ihres politischen Ranges wirkte sie wie ein unerfahrenes Mädchen. Ihr Gesicht war nicht wirklich jung, aber von jugendlicher Leidenschaft belebt. Das Ganze sah aus wie ein Plakat der Roten Garden, das er einmal gesehen hatte. Die folgenden beiden Seiten dokumentierten die glanzvollsten Momente ihrer politischen Karriere. Ein Photo zeigte sie am Tisch mit hohen Parteifunktionären bei einer Konferenz in der Verbotenen Stadt.
Doch dann schien es eine Lücke zu geben. Nicht daß Photos gefehlt hätten, aber es gab einen abrupten Sprung von der jungen Rotgardistin zu der Frau mittleren Alters, die man im Türrahmen der Kaderschule stehen sah. Es war, als wäre sie mit dem Umblättern einer einzigen Seite um zwanzig Jahre gealtert.
Als Yu das Album zuklappte, war es Zeit für sein Treffen mit dem Nachbarschaftskomitee.
Das Komitee war ursprünglich der verlängerte Arm der lokalen Polizeidienststelle gewesen, zuständig für alles, was außerhalb der jeweiligen "Arbeitseinheiten" der Leute lag. Es organisierte wöchentliche politische Schulungen, überprüfte die Anzahl der in einem Gebäude wohnenden Mieter, bot Tagesbetreuung für Kinder an, teilte die Geburtenquoten zu, schlichtete Streitigkeiten unter Nachbarn und kontrollierte die Anwohner permanent. Das Komitee war berechtigt, über jeden Anwohner Bericht zu erstatten, und solche Berichte fanden Eingang in die vertrauliche Personalakte, die bei der Polizei über jeden einzelnen geführt wurde und dem Staat jederzeit eine effektive Kontrolle seiner Bürger erlaubte.
Doch wie bei so vielen anderen Institutionen hatte sich in den vergangenen Jahren auch die Rolle des Nachbarschaftskomitees gewandelt, obgleich die Sicherheit im Wohnviertel nach wie vor zu seinen Hauptaufgaben gehörte. Man hatte bestimmt ein scharfes Auge auf jemanden wie Yin gehabt. Außerdem könnte Yu vermutlich Informationen über etwaige verdächtige Anwohner bekommen.
Als Hauptwachtmeister Yu das Büro betrat, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß Alter Liang ein Arbeitsessen organisiert hatte. Sechs Essensbehälter aus Plastik waren in der Tischmitte aufgereiht; sie enthielten die Spezialität einer nahe gelegenen Hühnerbraterei. Außer Yu und dem Alten Liang waren vier Mitglieder des Nachbarschaftskomitees anwesend und saßen bereits mit gezückten Eßstäbchen da.
"Das Drei-Gelb-Huhn ist nicht schlecht - gelbe Federn, gelber Schnabel, gelbe Füße. Natürlich aus Pudong, garantierte Freilandhaltung, das ist ein himmelweiter Unterschied zu diesen Hühnchen aus Massenbetrieben", erläuterte Alter Liang und nahm ebenfalls die Stäbchen zur Hand.
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Autoren-Porträt von Xiaolong Qiu
Qiu, XiaolongQiu Xiaolong wurde 1953 in Shanghai geboren. Er arbeitete als Übersetzer, veröffentlichte Lyrik und Literaturkritiken. Seit 1988 lebt er in den USA, wo er seit 1994 chinesische Sprache und Literatur lehrt. Seine Krimis um Oberinspektor Chen erscheinen bei Zsolnay, zuletzt Blut und rote Seide (2009), Tödliches Wasser (2011) und 99 Särge (2014).2016 ist der neue Band Schakale in Shanghai erschienen.
Hornfeck, Susanne
Susanne Hornfeck übersetzte neben Qiu Xiaolong u.a. Ha Jin, Jonathan Spence und Eileen Chang. Sie hat drei Jugendbücher und mehrere Sachbücher über China veröffentlicht.
Bibliographische Angaben
- Autor: Xiaolong Qiu
- 2005, 304 Seiten, Maße: 13,3 x 21,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Hornfeck, Susanne
- Übersetzer: Susanne Hornfeck
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552053514
- ISBN-13: 9783552053519
- Erscheinungsdatum: 08.08.2005
Rezension zu „Oberinspektor Chen Band 3: Schwarz auf Rot “
"Eine unterhaltsame Lektüre." Manuel Brug, Die Welt, 27.08.2005 "Chens dritter Fall ist hochpoetisch, kulinarisch und menschlich - ein chinesisch inspiriertes Lesevergnügen." Sonja Lüthi Ihle, Tages-Anzeiger Zürich, 06.09.2005
Kommentar zu "Oberinspektor Chen Band 3: Schwarz auf Rot"
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