Oksa Pollock - Die Entschwundenen
Band 2
Oksa gigantisch! Der zweite Band ist noch spannender Wenn dein bester Freund in Gefahr ist, wirst du dein Leben aufs Spiel setzen, um ihn zu retten. Die zweite große Prüfung für Oksa Pollock beginnt ... Kaum sind Oksa und Gus gemeinsam Orthons Fängen...
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Produktinformationen zu „Oksa Pollock - Die Entschwundenen “
Klappentext zu „Oksa Pollock - Die Entschwundenen “
Oksa gigantisch! Der zweite Band ist noch spannender Wenn dein bester Freund in Gefahr ist, wirst du dein Leben aufs Spiel setzen, um ihn zu retten. Die zweite große Prüfung für Oksa Pollock beginnt ... Kaum sind Oksa und Gus gemeinsam Orthons Fängen entkommen, da verschwindet Gus plötzlich auf seltsame Weise. Bald wird klar, dass er in einem Gemälde gefangen wurde - und dass eigentlich Oksa das Opfer sein sollte. Gemeinsam mit den "Rette-sich-wer-kann" folgt Oksa Gus in das Gemälde, um ihn zu retten. Dort warten nicht nur gefährliche Abenteuer auf sie: Zugleich merkt Oksa, dass sie sich nicht nur zu Gus, sondern auch zu Tugdual hingezogen fühlt. Der zweite Band der packenden Abenteuerserie mit hinreißenden Figuren: Oksa, ihre Freunde und die liebenswerten, manchmal sehr verrückten Begleiter!
Lese-Probe zu „Oksa Pollock - Die Entschwundenen “
Oksa Pollock - Die Entschwundenen von Cendrine Wolf und Anne PlichotaEine Atempause von kurzer Dauer
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In verrutschten Uniformen und mit gelockerten Krawatten tobten die Schüler der St.-Proximus-Schule nach Herzenslust auf dem gepflastern Pausenhof herum und brachten ihre Freude mit ohrenbetäubendem Geschrei zum Ausdruck: Es war der letzte Schultag. Endlich! Auch Oksa Pollock und Gus Bellanger hatten den Ferien entgegengefiebert. Dieses Schuljahr hatte einfach kein Ende nehmen wollen. So viel war passiert in den vergangenen Monaten, angefangen bei der Enthüllung des Geheimnisses um Oksas Herkunft bis hin zur Vernichtung von McGraw alias Orthon, dem Erzfeind der Rette-sich-wer-kann. Es war nicht nur eine Zeit voller Entdeckungen, sondern auch voller Prüfungen gewesen. Oksa schüttelte den Kopf, um die düsteren Erinnerungen zu verscheuchen, und versuchte, ihren Freund zum Springbrunnen in der Mitte des gepflasterten Hofs zu zerren. Gus wehrte sich lachend.
»Glaub bloß nicht, ich hätte dich nicht durchschaut! Ich weiß ganz genau, was du vorhast«, sagte er. »Ein erfrischendes kleines Bad zur Feier des Tages, dagegen hast du doch wohl nichts einzuwenden!«, rief Oksa und zog Gus mit aller Kraft am Arm.
»Es mit Gewalt zu versuchen, bringt gar nichts. Hast du vergessen, dass mich nichts und niemand kleinkriegt?«
Dazu warf er seine langen schwarzen Haare mit gespielter Arroganz über die Schulter. Oksa ließ lachend seinen Arm los ... und stürzte der Länge nach gegen den Rand des Springbrunnens.
»Aua!«, schrie sie auf.
Ihre Bluse war am Ärmel schmutzig und zerrissen, und am Ellbogen bildete sich ein rötlicher Fleck.
»So ein Mist!«, schimpfte sie. »Schau bloß. Jetzt ist die ganze Bluse hinüber.«
Gus reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Als sie wieder auf den Beinen stand, bückte sie sich und hob ihre Umhängetasche auf.
»Kannst du die mal kurz für mich halten?«, sagte sie zu Gus. »Ich geh schnell auf die Toilette, um das abzuwaschen.«
»Hmm ... die magischen Utensilien der Jungen Huldvollen? Was für eine Ehre!«
Oksa lächelte, machte auf dem Absatz kehrt und ging auf den Kreuzgang aus grauem Stein zu. Gus schaute ihr nach, bis sie im Schatten der Treppe verschwunden war, die ins Innere des altehrwürdigen Gemäuers führte.
Zwanzig Minuten später saß Gus immer noch an derselben Stelle, den Rücken an den Rand des Springbrunnens gelehnt.
»Gus!«, rief ein strohblonder Junge. »Komm mit! Wir werfen ein paar Körbe!«
»Nein, danke, Merlin, ich warte auf Oksa.«
Aus Langeweile befühlte er die kleine Tasche und spürte unter dem Stoff einen runden, weichen Körper. Das Wackelkrakeel ... Wenn es mal bloß schön still hielt! Als hätte das kleine Geschöpf seine Gedanken lesen können, vermeldete es plötzlich:
»Kein Grund zur Sorge, junger Meister. Selbstbeherrschung ist meine Devise, denn, wie Ihr ja sicherlich wisst: Erregung und Überschwang sind die Feinde der Tarnung.«
Gus grinste über diesen exzentrischen Ratschlag. »Mensch, Oksa ... was treibst du denn bloß so lange?«, murmelte er wenig später.
»Ich kann Euch berichten, dass die Junge Huldvolle sich gegenwärtig bei den Waschbecken auf der Mädchentoilette im ersten Stock befindet, Entfernung exakt sechsundfünfzig Meter Luftlinie, Richtung Nordnordwest,«, meldete sich prompt das kleine Geschöpf mit gedämpfter Stimme aus dem Inneren der Tasche.
Gus lief bei der Vorstellung, jemand könnte diese eigenartige Unterhaltung mitbekommen haben, ein Schauder über den Rücken. Doch alle waren so sehr damit beschäftigt, sich auszutoben, dass niemand ihm Beachtung schenkte. Schließlich raffte er sich vom Boden auf und steuerte selbst die Treppe an.
Als er den Flur im ersten Stock entlangging, hörte er nur noch den gedämpft vom Hof heraufdringenden Lärm und das Geräusch seiner eigenen Schritte auf dem Steinfußboden. Ein komisches Gefühl überkam ihn, und ihm fielen die schrecklichen Ereignisse wieder ein, die sich hier vor vier Monaten zugetragen hatten ... Oksas Verwundung, der teuflische McGraw, Madame Crèvecoeur ... Als er am Chemiesaal vorbeikam, fiel sein Blick unwillkürlich auf die Tür. Im selben Augenblick hörte er einen Gesang. Einen tieftraurigen, langsamen Gesang, fast wie ein Weinen. Neugierig drückte er die Klinke herunter: Die Tür war offen. Gus ging in den Raum und sah sich um. Es war niemand da, und doch klang es, als ob direkt neben ihm jemand schluchzte. Er schaute in Oksas Tasche: Das Wackelkrakeel gab keinen Mucks von sich.
»Was ist das bloß? Was hat das zu bedeuten?«
Oksas Tasche an sich gedrückt, schritt er langsam den Chemiesaal ab. Er sah unter den Bänken nach, warf einen Blick in den angrenzenden Materialraum und dann in den Wandschrank. Nichts. Und doch hatte er die sanfte und zugleich eindringliche Klage immer noch deutlich im Ohr. Er hörte auf zu suchen, blieb mitten im Raum stehen und lauschte konzentriert. Jetzt konnte er aus dem Weinen, das ihn umgab, Worte heraushören, die allerdings nicht genau zu verstehen waren.
»Was sagen Sie? Wer sind Sie?«, stammelte er und blickte sich trotz wachsender Angst suchend um.
Eine Stimme drang an sein Ohr. Sie klang nah und fern zugleich.
»Ich bin hier, direkt vor dir. Ich brauche deine Hilfe! Bitte befreie mich ... bitte!«
Oksa hatte ihren Ärmel ausgewaschen und wollte gerade auf den Schulhof zurückkehren, als sie auf einmal das Geräusch eines Nebelhorns hörte.
»Na so was! Das klingt wie Gus' Handy!«
Als sie am Chemiesaal vorbeikam, wurde das Geräusch lauter, dann verstummte es plötzlich. Oksa blieb stehen, lauschte ein paar Augenblicke und lächelte. Sie hörte genau das, was sie erwartet hatte: Darth Vaders dumpfe Stimme verkündete, dass Gus eine Nachricht auf seiner Mailbox hatte. Also hatte sie sich nicht getäuscht. Ohne Zögern öffnete sie die Tür zum Chemiesaal und ging hinein.
»Gus? Bist du da?«
Keine Antwort. Oksa blickte sich um und schaute unter die Tische. Diese Art von Streichen passte zwar nicht zu Gus, aber man konnte ja nie wissen. Dann entdeckte sie das Mobiltelefon auf dem Fußboden.
»Wieso liegt denn sein Handy hier herum?«, fragte sie sich stirnrunzelnd.
Sie hob es auf, blickte sich noch einmal verdutzt um und verließ den Chemiesaal, um zu den anderen zurückzukehren.
„Habt ihr zufällig Gus gesehen?"
Zoé schaute auf, und ein besorgter Ausdruck huschte über ihr hübsches Gesicht. Um sie zu beruhigen, setzte Oksa rasch hinzu:
»So ein Schussel ... Sieh nur, er hat sein Handy verloren!«
In ihrer typisch stürmischen Art ergriff sie Zoé bei der Hand und zog sie mit sich.
»Komm mit, ich bin sicher, dass er sich irgendwo versteckt hat. Den stöbern wir schon auf, keine Sorge!«
Seit Zoé bei den Pollocks wohnte, erlebte Oksa zum ersten Mal in ihrem Leben das wunderbare Gefühl, eine Freundin zu haben. Eine echte Freundin. Anfangs hatte sie Mitleid empfunden angesichts dessen, was Zoé alles hatte durchmachen müssen, doch ihr Mitgefühl war bald einer echten Zuneigung gewichen, die sich als gegenseitig entpupte und von der beide Mädchen gleichermaßen überrascht waren. Inzwischen verband die beiden ein dunkles Geheimnis und schweißte sie aufs Engste zusammen.
»Der kann was erleben«, schimpfte Oksa.
Die beiden waren nach einer halben Stunde vergeblichen Suchens wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt und machten sich nun größere Sorgen, als sie sich eingestehen wollten. Es war schon später Nachmittag, und die Schüler verließen nach und nach das Schulgebäude.
»Du solltest zu Hause anrufen«, schlug Zoé vor. Auf ihrer Stirn stand eine Sorgenfalte, die Oksas banges Gefühl noch verstärkte.
Als Pierre Bellanger und Pavel Pollock auf dem Schulhof eintrafen, machten die Mädchen aus ihrer Angst keinen Hehl mehr. Fast eine Stunde lang suchten die vier jeden Winkel des Schulhauses ab.
»Er ist weder bei euch am Bigtoe Square noch bei uns zu Hause«, stellte Pierre fest, während er sein Handy zuklappte.
Dann schloss der Hausmeister die Tore der St.-Proximus-Schule, und sie mussten sich der unleugbaren Tatsache stellen: Gus war verschwunden. Die Ruhe der letzten paar Monate war offenbar nur eine kurze Verschnaufpause gewesen.
(...)
Gus kämpfte auf dem wurmstichigen Sims im Inneren des Gemäldes um sein Gleichgewicht. Vor ein paar Sekunden hatte er noch im Chemiesaal der St.-Proximus-Schule gestanden, vor diesem seltsamen Gemälde, aus dem eine ergreifend traurige, leidvolle Stimme erklungen war. Dann hatte ihn das eigenartige Porträt mit seinen verschwimmenden, tanzenden Lichtreflexen erfasst und eingesogen ... Genau. So unglaublich es klang, aber genau so war es passiert. Und jetzt war er auf der anderen Seite des Gemäldes, innen drin, und stand versteinert vor Angst auf dem schmalen Rand des Holzrahmens, der unter seinen Füßen zu bröckeln schien.
»Das Gemälde«, murmelte er. »Ich bin im Inneren des Gemäldes gelandet.«
Vor sich konnte er nur eine dunkle, unbewegliche Masse ausmachen, die ihm eine fürchterliche Angst einjagte. Der Rahmen des Gemäldes hatte so riesenhafte Ausmaße angenommen, dass er sich selbst darin auf einmal winzig klein vorkam. Er drehte sich vorsichtig um und reckte sich, um die straffe Leinwand zu berühren. Mit etwas Glück konnte er vielleicht wieder nach draußen gelangen und diesem Albtraum entkommen. Mit den Fingerspitzen erreichte er die Leinwand und stöhnte enttäuscht auf: Der Stoff hatte sich in einen Vorhang aus eisigem Nebel verwandelt, so wenig greifbar wie die Luft in einem Kühlraum. »Ist hier jemand?«, fragte er mit erstickter Stimme in das Dunkel hinein. »Kann mich jemand hören?«
Seine Stimme klang seltsam matt, als ob er sich in einem rundum ausgepolsterten Raum befände. Noch nie war ihm eine solche Stille begegnet. Er spürte, wie ein Stück Holz unter seinem Gewicht abbrach und fiel. Angespannt wartete er auf den Aufprall des Holzstückchens auf dem Boden, um ungefähr einschätzen zu können, wie tief das Dunkel unter ihm war. Die Sekunden verstrichen, zehn, zwanzig, dreißig, ohne dass auch nur das geringste Geräusch zu hören war. Die Tiefe unter ihm schien bodenlos zu sein. Gus schluckte mühsam. Er spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Ein Tropfen lief ihm von der Stirn ins Auge. Unwillkürlich hob er die Hand zum Gesicht, um sich das Auge zu reiben. Die Bewegung raubte ihm das Gleichgewicht, und es kam, was kommen musste: Seine Hände suchten vergeblich nach einem Halt, und mit einem Verzweiflungsschrei stürzte er ins Leere. (...)
Übersetzung: Bettina Bach und Lisa-Maria Rust
© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2011
In verrutschten Uniformen und mit gelockerten Krawatten tobten die Schüler der St.-Proximus-Schule nach Herzenslust auf dem gepflastern Pausenhof herum und brachten ihre Freude mit ohrenbetäubendem Geschrei zum Ausdruck: Es war der letzte Schultag. Endlich! Auch Oksa Pollock und Gus Bellanger hatten den Ferien entgegengefiebert. Dieses Schuljahr hatte einfach kein Ende nehmen wollen. So viel war passiert in den vergangenen Monaten, angefangen bei der Enthüllung des Geheimnisses um Oksas Herkunft bis hin zur Vernichtung von McGraw alias Orthon, dem Erzfeind der Rette-sich-wer-kann. Es war nicht nur eine Zeit voller Entdeckungen, sondern auch voller Prüfungen gewesen. Oksa schüttelte den Kopf, um die düsteren Erinnerungen zu verscheuchen, und versuchte, ihren Freund zum Springbrunnen in der Mitte des gepflasterten Hofs zu zerren. Gus wehrte sich lachend.
»Glaub bloß nicht, ich hätte dich nicht durchschaut! Ich weiß ganz genau, was du vorhast«, sagte er. »Ein erfrischendes kleines Bad zur Feier des Tages, dagegen hast du doch wohl nichts einzuwenden!«, rief Oksa und zog Gus mit aller Kraft am Arm.
»Es mit Gewalt zu versuchen, bringt gar nichts. Hast du vergessen, dass mich nichts und niemand kleinkriegt?«
Dazu warf er seine langen schwarzen Haare mit gespielter Arroganz über die Schulter. Oksa ließ lachend seinen Arm los ... und stürzte der Länge nach gegen den Rand des Springbrunnens.
»Aua!«, schrie sie auf.
Ihre Bluse war am Ärmel schmutzig und zerrissen, und am Ellbogen bildete sich ein rötlicher Fleck.
»So ein Mist!«, schimpfte sie. »Schau bloß. Jetzt ist die ganze Bluse hinüber.«
Gus reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Als sie wieder auf den Beinen stand, bückte sie sich und hob ihre Umhängetasche auf.
»Kannst du die mal kurz für mich halten?«, sagte sie zu Gus. »Ich geh schnell auf die Toilette, um das abzuwaschen.«
»Hmm ... die magischen Utensilien der Jungen Huldvollen? Was für eine Ehre!«
Oksa lächelte, machte auf dem Absatz kehrt und ging auf den Kreuzgang aus grauem Stein zu. Gus schaute ihr nach, bis sie im Schatten der Treppe verschwunden war, die ins Innere des altehrwürdigen Gemäuers führte.
Zwanzig Minuten später saß Gus immer noch an derselben Stelle, den Rücken an den Rand des Springbrunnens gelehnt.
»Gus!«, rief ein strohblonder Junge. »Komm mit! Wir werfen ein paar Körbe!«
»Nein, danke, Merlin, ich warte auf Oksa.«
Aus Langeweile befühlte er die kleine Tasche und spürte unter dem Stoff einen runden, weichen Körper. Das Wackelkrakeel ... Wenn es mal bloß schön still hielt! Als hätte das kleine Geschöpf seine Gedanken lesen können, vermeldete es plötzlich:
»Kein Grund zur Sorge, junger Meister. Selbstbeherrschung ist meine Devise, denn, wie Ihr ja sicherlich wisst: Erregung und Überschwang sind die Feinde der Tarnung.«
Gus grinste über diesen exzentrischen Ratschlag. »Mensch, Oksa ... was treibst du denn bloß so lange?«, murmelte er wenig später.
»Ich kann Euch berichten, dass die Junge Huldvolle sich gegenwärtig bei den Waschbecken auf der Mädchentoilette im ersten Stock befindet, Entfernung exakt sechsundfünfzig Meter Luftlinie, Richtung Nordnordwest,«, meldete sich prompt das kleine Geschöpf mit gedämpfter Stimme aus dem Inneren der Tasche.
Gus lief bei der Vorstellung, jemand könnte diese eigenartige Unterhaltung mitbekommen haben, ein Schauder über den Rücken. Doch alle waren so sehr damit beschäftigt, sich auszutoben, dass niemand ihm Beachtung schenkte. Schließlich raffte er sich vom Boden auf und steuerte selbst die Treppe an.
Als er den Flur im ersten Stock entlangging, hörte er nur noch den gedämpft vom Hof heraufdringenden Lärm und das Geräusch seiner eigenen Schritte auf dem Steinfußboden. Ein komisches Gefühl überkam ihn, und ihm fielen die schrecklichen Ereignisse wieder ein, die sich hier vor vier Monaten zugetragen hatten ... Oksas Verwundung, der teuflische McGraw, Madame Crèvecoeur ... Als er am Chemiesaal vorbeikam, fiel sein Blick unwillkürlich auf die Tür. Im selben Augenblick hörte er einen Gesang. Einen tieftraurigen, langsamen Gesang, fast wie ein Weinen. Neugierig drückte er die Klinke herunter: Die Tür war offen. Gus ging in den Raum und sah sich um. Es war niemand da, und doch klang es, als ob direkt neben ihm jemand schluchzte. Er schaute in Oksas Tasche: Das Wackelkrakeel gab keinen Mucks von sich.
»Was ist das bloß? Was hat das zu bedeuten?«
Oksas Tasche an sich gedrückt, schritt er langsam den Chemiesaal ab. Er sah unter den Bänken nach, warf einen Blick in den angrenzenden Materialraum und dann in den Wandschrank. Nichts. Und doch hatte er die sanfte und zugleich eindringliche Klage immer noch deutlich im Ohr. Er hörte auf zu suchen, blieb mitten im Raum stehen und lauschte konzentriert. Jetzt konnte er aus dem Weinen, das ihn umgab, Worte heraushören, die allerdings nicht genau zu verstehen waren.
»Was sagen Sie? Wer sind Sie?«, stammelte er und blickte sich trotz wachsender Angst suchend um.
Eine Stimme drang an sein Ohr. Sie klang nah und fern zugleich.
»Ich bin hier, direkt vor dir. Ich brauche deine Hilfe! Bitte befreie mich ... bitte!«
Oksa hatte ihren Ärmel ausgewaschen und wollte gerade auf den Schulhof zurückkehren, als sie auf einmal das Geräusch eines Nebelhorns hörte.
»Na so was! Das klingt wie Gus' Handy!«
Als sie am Chemiesaal vorbeikam, wurde das Geräusch lauter, dann verstummte es plötzlich. Oksa blieb stehen, lauschte ein paar Augenblicke und lächelte. Sie hörte genau das, was sie erwartet hatte: Darth Vaders dumpfe Stimme verkündete, dass Gus eine Nachricht auf seiner Mailbox hatte. Also hatte sie sich nicht getäuscht. Ohne Zögern öffnete sie die Tür zum Chemiesaal und ging hinein.
»Gus? Bist du da?«
Keine Antwort. Oksa blickte sich um und schaute unter die Tische. Diese Art von Streichen passte zwar nicht zu Gus, aber man konnte ja nie wissen. Dann entdeckte sie das Mobiltelefon auf dem Fußboden.
»Wieso liegt denn sein Handy hier herum?«, fragte sie sich stirnrunzelnd.
Sie hob es auf, blickte sich noch einmal verdutzt um und verließ den Chemiesaal, um zu den anderen zurückzukehren.
„Habt ihr zufällig Gus gesehen?"
Zoé schaute auf, und ein besorgter Ausdruck huschte über ihr hübsches Gesicht. Um sie zu beruhigen, setzte Oksa rasch hinzu:
»So ein Schussel ... Sieh nur, er hat sein Handy verloren!«
In ihrer typisch stürmischen Art ergriff sie Zoé bei der Hand und zog sie mit sich.
»Komm mit, ich bin sicher, dass er sich irgendwo versteckt hat. Den stöbern wir schon auf, keine Sorge!«
Seit Zoé bei den Pollocks wohnte, erlebte Oksa zum ersten Mal in ihrem Leben das wunderbare Gefühl, eine Freundin zu haben. Eine echte Freundin. Anfangs hatte sie Mitleid empfunden angesichts dessen, was Zoé alles hatte durchmachen müssen, doch ihr Mitgefühl war bald einer echten Zuneigung gewichen, die sich als gegenseitig entpupte und von der beide Mädchen gleichermaßen überrascht waren. Inzwischen verband die beiden ein dunkles Geheimnis und schweißte sie aufs Engste zusammen.
»Der kann was erleben«, schimpfte Oksa.
Die beiden waren nach einer halben Stunde vergeblichen Suchens wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt und machten sich nun größere Sorgen, als sie sich eingestehen wollten. Es war schon später Nachmittag, und die Schüler verließen nach und nach das Schulgebäude.
»Du solltest zu Hause anrufen«, schlug Zoé vor. Auf ihrer Stirn stand eine Sorgenfalte, die Oksas banges Gefühl noch verstärkte.
Als Pierre Bellanger und Pavel Pollock auf dem Schulhof eintrafen, machten die Mädchen aus ihrer Angst keinen Hehl mehr. Fast eine Stunde lang suchten die vier jeden Winkel des Schulhauses ab.
»Er ist weder bei euch am Bigtoe Square noch bei uns zu Hause«, stellte Pierre fest, während er sein Handy zuklappte.
Dann schloss der Hausmeister die Tore der St.-Proximus-Schule, und sie mussten sich der unleugbaren Tatsache stellen: Gus war verschwunden. Die Ruhe der letzten paar Monate war offenbar nur eine kurze Verschnaufpause gewesen.
(...)
Gus kämpfte auf dem wurmstichigen Sims im Inneren des Gemäldes um sein Gleichgewicht. Vor ein paar Sekunden hatte er noch im Chemiesaal der St.-Proximus-Schule gestanden, vor diesem seltsamen Gemälde, aus dem eine ergreifend traurige, leidvolle Stimme erklungen war. Dann hatte ihn das eigenartige Porträt mit seinen verschwimmenden, tanzenden Lichtreflexen erfasst und eingesogen ... Genau. So unglaublich es klang, aber genau so war es passiert. Und jetzt war er auf der anderen Seite des Gemäldes, innen drin, und stand versteinert vor Angst auf dem schmalen Rand des Holzrahmens, der unter seinen Füßen zu bröckeln schien.
»Das Gemälde«, murmelte er. »Ich bin im Inneren des Gemäldes gelandet.«
Vor sich konnte er nur eine dunkle, unbewegliche Masse ausmachen, die ihm eine fürchterliche Angst einjagte. Der Rahmen des Gemäldes hatte so riesenhafte Ausmaße angenommen, dass er sich selbst darin auf einmal winzig klein vorkam. Er drehte sich vorsichtig um und reckte sich, um die straffe Leinwand zu berühren. Mit etwas Glück konnte er vielleicht wieder nach draußen gelangen und diesem Albtraum entkommen. Mit den Fingerspitzen erreichte er die Leinwand und stöhnte enttäuscht auf: Der Stoff hatte sich in einen Vorhang aus eisigem Nebel verwandelt, so wenig greifbar wie die Luft in einem Kühlraum. »Ist hier jemand?«, fragte er mit erstickter Stimme in das Dunkel hinein. »Kann mich jemand hören?«
Seine Stimme klang seltsam matt, als ob er sich in einem rundum ausgepolsterten Raum befände. Noch nie war ihm eine solche Stille begegnet. Er spürte, wie ein Stück Holz unter seinem Gewicht abbrach und fiel. Angespannt wartete er auf den Aufprall des Holzstückchens auf dem Boden, um ungefähr einschätzen zu können, wie tief das Dunkel unter ihm war. Die Sekunden verstrichen, zehn, zwanzig, dreißig, ohne dass auch nur das geringste Geräusch zu hören war. Die Tiefe unter ihm schien bodenlos zu sein. Gus schluckte mühsam. Er spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Ein Tropfen lief ihm von der Stirn ins Auge. Unwillkürlich hob er die Hand zum Gesicht, um sich das Auge zu reiben. Die Bewegung raubte ihm das Gleichgewicht, und es kam, was kommen musste: Seine Hände suchten vergeblich nach einem Halt, und mit einem Verzweiflungsschrei stürzte er ins Leere. (...)
Übersetzung: Bettina Bach und Lisa-Maria Rust
© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 2011
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Autoren-Porträt von Anne Plichota, Cendrine Wolf
Cendrine Wolf wurde 1969 in Colmar im Elsass geboren. Sie absolvierte eine Sportlehrerausbildung und arbeitete einige Jahre mit Kindern, bevor sie Bibliothekarin in der Stadtbücherei von Straßburg wurde. Heute widmet sie sich als freie Autorin ganz ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Schreiben. Die Geschichten um das Zaubermädchen Oksa Pollock, die sie gemeinsam mit Anne Plichota erdacht und geschrieben hat, sind ihr erstes und überaus erfolgreiches literarisches Projekt.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Anne Plichota , Cendrine Wolf
- Altersempfehlung: Ab 10 Jahre
- 2011, 464 Seiten, Maße: 16,4 x 21,6 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Bettina Bach, Lisa Maria Rust
- Verlag: Oetinger
- ISBN-10: 3789145033
- ISBN-13: 9783789145032
- Erscheinungsdatum: 29.07.2011
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