Pampa Blues
Jugendroman. Ausgezeichnet mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis 2012. Nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2013, Kategorie Jugendbuch
Der 16-jährige Ben sitzt in dem verschlafenen Nest Wingroden fest, wo es nicht viel mehr gibt als eine Tankstelle, den Baggersee und die schöne Friseuse Anna. Als der Visionär Maslow Nachrichten von einem UFO verbreitet, um den Ort in eine Pilgerstätte zu...
lieferbar
versandkostenfrei
Buch (Kartoniert)
14.90 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Pampa Blues “
Klappentext zu „Pampa Blues “
Der 16-jährige Ben sitzt in dem verschlafenen Nest Wingroden fest, wo es nicht viel mehr gibt als eine Tankstelle, den Baggersee und die schöne Friseuse Anna. Als der Visionär Maslow Nachrichten von einem UFO verbreitet, um den Ort in eine Pilgerstätte zu verwandeln, taucht Lena mit ihrer Kamera auf. Maslows Plan scheint zu funktionieren. Doch dann treibt das UFO in den Nachbarort ab, Polizei und Presse kommen wegen eines Mordverdachts, Lena ist gar keine Journalistin - und Ben ist verliebt. In seinem ersten Jugendbuch beschwört Rolf Lappert irgendwo in der Pampa eine Schicksalsgemeinschaft aus schrägen Figuren. Mitten darin: der Held Ben, der die Probleme meistern muss, die das Erwachsenwerden und die erste Liebe mit sich bringen.
Lese-Probe zu „Pampa Blues “
Pampa Blues von Rolf Lappert1
... mehr
Ich hasse mein Leben. In drei Jahren werde ich zwanzig, das ist die Hälfte von vierzig. In acht Jahren ist Karl neunzig, und ich bin fünfundzwanzig und vielleicht noch immer hier. Mit ihm. Das will ich mir gar nicht erst vorstellen. Die Realität reicht mir völlig. Karl steht vor mir, splitternackt. Schaum liegt auf seinen knochigen Schultern wie Schnee. Er schlottert ein wenig, dabei ist es warm im Badezimmer. Der Spiegel hat sich beschlagen, unter der Decke hängen Dampfschwaden. Ich trockne Karl den Rücken ab, weil er das nicht mehr selber kann. Was Karl alles nicht mehr selber kann, würde ganze Bücher füllen. Karl schwankt und streckt die Arme nach der Wand aus. In fünfundsechzig Jahren bin ich so alt wie er jetzt.
»Hier, dein Gehänge kannst du dir selber abrubbeln«, sage ich und gebe ihm das Handtuch.
»Gehänge ist gut«, nuschelt Karl und kichert.
Manchmal versteht Karl alles, sogar schlüpfrige Sprüche. Dann ist sein Kopf ein altes Radio, in dem die verstaubten Röhren noch einmal aufglühen und auf Empfang gehen. Aber meistens reicht es gerade einmal für die einfachsten Sätze, an schlechten Tagen bloß für einzelne Wörter wie essen oder schlafen oder Kuchen. Mit Karl geht es bergab. Wenn sein Gehirn den Betrieb irgendwann völlig aufgibt, können wir uns überhaupt nicht mehr unterhalten. Ich weiß nicht, ob ich es vermissen werde.
Mit fünfzehn habe ich bei Karl eine Lehre als Gärtner angefangen. Meine Mutter hielt das für eine tolle Idee, aber das war nur eine Notlösung, die einfachste Art, mich nach dem Tod meines Vaters abzuschieben. Karl durfte eigentlich gar keine Lehrlinge mehr ausbilden. Sein Gehirn funktionierte damals zwar noch ziemlich tadellos, aber er war alt, hatte kaputte Knie und werkelte nur noch zum Vergnügen im Garten vor sich hin. Trotzdem schaffte es meine Mutter irgendwie, die Sache mit den Behörden zu regeln. Ich glaube, bei den vielen Schulabbrechern und arbeitslosen Jugendlichen, die es in der Gegend gibt, ist es den Beamten völlig egal, was ich hier so treibe. Hauptsache, ich bin versorgt, lungere nicht rum und nehme keine Drogen.
Karl brachte mir bei, wie man Blumenzwiebeln eingräbt, Rosenbüsche zurückschneidet und Setzlinge umtopft. Von ihm weiß ich, wie man gute Komposterde macht und Blattläuse loswird. Ich kann eine Stein-Nelke von einer Pfingst-Nelke unterscheiden und mit einer Felghacke ebenso gut umgehen wie mit einem Kreil. Was ich hier nicht gelernt habe, ist, wie die Welt da draußen funktioniert und wie sich ein nacktes Mädchen anfühlt.
Meine Mutter hat mich ein Jahr lang jeden Donnerstag in die Stadt zur Berufsschule gefahren, eine Stunde hin und eine zurück. Sie ist Sängerin. In der Zeit ist sie mit Tanzbands bei Partys, Firmenfeiern und Hochzeiten aufgetreten. Aber eigentlich ist meine Mutter Jazzsängerin. Sie tingelt mit einem Quartett durch die Clubs und Kneipen Europas. Piano, Saxophon, Bass, Schlagzeug und sie. Auf dem Pressefoto trägt sie ein langes schwarzes Kleid und schwarze Handschuhe, die bis zu den Ellbogen reichen. Ihre vier Musiker tragen Smokings und Fliegen, und alle lächeln in die Kamera. Unter dem Bild steht in geschwungener Schrift BETTY BLACK & THE EMERALD JAZZ BAND. Der Mädchenname meiner Mutter ist Passlack, Bettina Passlack. Sie fand, das klingt zu sehr nach Neuruppin und zu wenig nach New York. Schilling, den Namen meines Vaters, hat sie nie benutzt. In ihrem Pass steht: Bettina Schilling- Passlack, aber in der Musikszene kennt man sie nur unter ihrem Künstlernamen. Sie kommt viel rum, reist durch ganz Europa, von Palermo bis Helsinki, von Alicante bis Warschau. Für eine große Karriere hat es trotzdem nicht gereicht. Keine Ahnung, warum.
Vielleicht fehlt ihr der Ehrgeiz, der richtige Biss. Oder ein tüchtiger Manager. Oder ihre Stimme ist zu durchschnittlich. Und dann Jazz. Ich meine, wer hört sich so was überhaupt an? Nach dem Bad helfe ich Karl beim Anziehen, dann koche ich uns Mittagessen. Karl deckt den Tisch. Frau Wernicke, die Krankenpflegerin, die einmal pro Woche nach Karl sieht, hat mir gesagt, ich soll Karl kleine Aufgaben geben, damit sein Gehirn etwas zu tun hat. Eine von Karls Aufgaben ist es, dreimal täglich den Tisch zu decken.
Frau Wernicke sagt, das sei eine Art Training, um die geistige Leistungsfähigkeit zu steigern, aber in Karls Fall scheint die Sache nicht wirklich zu funktionieren. Meistens vergisst er etwas, einen Löffel, eine Tasse, beide Servietten. Oft liegen zwei Gabeln neben jedem Teller, aber keine Messer, oder er stellt Kaffeetassen hin statt Wassergläser. Manchmal steht er vor dem leeren Tisch und kann sich nicht erinnern, was er tun soll. Dann muss ich für ihn das Geschirr und Besteck rausnehmen und ihm alles zeigen. Wenn er einen be sonders schlechten Tag hat und fünf Minuten lang ratlos einen Löffel in den Händen dreht, setze ich ihn auf seinen Stuhl und lasse ihn Papierschnipsel machen. Das verlernt er nie. Heute hat Karl einen ziemlich guten Tag. Messer und Gabel sind zwar auf der falschen Seite, aber dafür hat er bis auf die Glasuntersetzer und die Servietten nichts vergessen. Er trägt schwarze Socken, eine weite graue Hose und ein weißes Hemd. Wenn er rasiert wäre, würde er direkt passabel aussehen. Ich hole die Servietten aus der Schublade, stopfe Karl eine in den Kragen und kremple seine Ärmel hoch.
»Danke«, sagt Karl. Im Durchschnitt bedankt er sich etwa zehntausendmal pro Tag bei mir, egal, ob ich ihm in die Pantoffeln helfe, Butter aufs Brot schmiere oder die Brille putze. »Guten Appetit«, sage ich. »Danke«, sagt Karl. Die Keksdose, die neben ihm auf dem Boden steht, ist voller daumennagelgroßer Schnipsel in zahllosen Blautönen. Wenn ich am Morgen unausgeschlafen oder am Abend vom Tag genervt bin und Karls Essgeräusche nicht hören will, sein Gepuste und Geschlürfe, sein Kauen und Schmatzen, drehe ich das Radio neben der Spüle an. Aber jetzt um die Mittagszeit läuft auf allen Sendern nur Mist, und ich lasse es bleiben.
»Wochenrückblick«, sagt Karl.
»Was?« Manchmal benutzt Karl Wörter, die ich vorher noch nie von ihm gehört habe. Dann bin ich immer völlig baff und muss daran denken, wie er mir früher immer Geschichten erzählt hat, als sein Gehirn noch kein bröseliger Schwamm war.
»Sagt Selma zu so was. Wochenrückblick.«
Karl kann sich einen Hut aufsetzen und mich drei Sekunden spä ter fragen, wo sein Hut ist. Aber ab und zu berühren sich in seinem Kopf ein paar Drähte, und eine Erinnerung blitzt auf, die jahrelang in einer Ecke verstaubt ist.
»Wir sind hier am Arsch der Welt, nicht am englischen Hof«, sage ich eine Spur zu schroff. Auch ich habe meine schlechten Tage. Heute ist einer. Am Morgen hatte Karl Leim in den Haaren, beim Frühstück ist ihm Eigelb auf die frisch gewaschene Pyjamahose getropft, und als er in die Badewanne sollte, hat er sich geweigert und wie ein kleines Kind aufgeführt. »Mir schmeckt's«, sagt Karl. Ironie und Zynismus prallen an ihm ab. Nur wenn ich ihn anschreie, zuckt er zusammen und sieht mich verdattert an. Dann tut es mir jedes Mal furchtbar leid, und ich entschuldige mich bei ihm und schäle ihm einen Apfel oder eine Mandarine.
»Na, da bin ja beruhigt«, sage ich. Ich kenne meine Großmutter bloß von Fotos. Sie hat Karl verlassen, bevor ich geboren wurde. Warum er ausgerechnet heute an sie denkt, ist mir schleierhaft. Den Ausdruck Wochenrückblick hat er bestimmt nicht erfunden. Das Mittagessen besteht aus Schnitzeln von gestern, Kohl von vorgestern, Reis vom Dienstag und Marmorkuchen von letzter Woche. Wochenrückblick scheint mir eine treffende Bezeichnung dafür zu sein.
»Vergiss deine Pillen nicht«, sage ich und schiebe ihm den Unterteller mit den Tabletten hin.
»Danke.« Karl legt sich eine Kapsel nach der andern auf die
Zunge und spült sie mit einem Schluck Wasser runter.
© Carl Hanser Verlag, München
Ich hasse mein Leben. In drei Jahren werde ich zwanzig, das ist die Hälfte von vierzig. In acht Jahren ist Karl neunzig, und ich bin fünfundzwanzig und vielleicht noch immer hier. Mit ihm. Das will ich mir gar nicht erst vorstellen. Die Realität reicht mir völlig. Karl steht vor mir, splitternackt. Schaum liegt auf seinen knochigen Schultern wie Schnee. Er schlottert ein wenig, dabei ist es warm im Badezimmer. Der Spiegel hat sich beschlagen, unter der Decke hängen Dampfschwaden. Ich trockne Karl den Rücken ab, weil er das nicht mehr selber kann. Was Karl alles nicht mehr selber kann, würde ganze Bücher füllen. Karl schwankt und streckt die Arme nach der Wand aus. In fünfundsechzig Jahren bin ich so alt wie er jetzt.
»Hier, dein Gehänge kannst du dir selber abrubbeln«, sage ich und gebe ihm das Handtuch.
»Gehänge ist gut«, nuschelt Karl und kichert.
Manchmal versteht Karl alles, sogar schlüpfrige Sprüche. Dann ist sein Kopf ein altes Radio, in dem die verstaubten Röhren noch einmal aufglühen und auf Empfang gehen. Aber meistens reicht es gerade einmal für die einfachsten Sätze, an schlechten Tagen bloß für einzelne Wörter wie essen oder schlafen oder Kuchen. Mit Karl geht es bergab. Wenn sein Gehirn den Betrieb irgendwann völlig aufgibt, können wir uns überhaupt nicht mehr unterhalten. Ich weiß nicht, ob ich es vermissen werde.
Mit fünfzehn habe ich bei Karl eine Lehre als Gärtner angefangen. Meine Mutter hielt das für eine tolle Idee, aber das war nur eine Notlösung, die einfachste Art, mich nach dem Tod meines Vaters abzuschieben. Karl durfte eigentlich gar keine Lehrlinge mehr ausbilden. Sein Gehirn funktionierte damals zwar noch ziemlich tadellos, aber er war alt, hatte kaputte Knie und werkelte nur noch zum Vergnügen im Garten vor sich hin. Trotzdem schaffte es meine Mutter irgendwie, die Sache mit den Behörden zu regeln. Ich glaube, bei den vielen Schulabbrechern und arbeitslosen Jugendlichen, die es in der Gegend gibt, ist es den Beamten völlig egal, was ich hier so treibe. Hauptsache, ich bin versorgt, lungere nicht rum und nehme keine Drogen.
Karl brachte mir bei, wie man Blumenzwiebeln eingräbt, Rosenbüsche zurückschneidet und Setzlinge umtopft. Von ihm weiß ich, wie man gute Komposterde macht und Blattläuse loswird. Ich kann eine Stein-Nelke von einer Pfingst-Nelke unterscheiden und mit einer Felghacke ebenso gut umgehen wie mit einem Kreil. Was ich hier nicht gelernt habe, ist, wie die Welt da draußen funktioniert und wie sich ein nacktes Mädchen anfühlt.
Meine Mutter hat mich ein Jahr lang jeden Donnerstag in die Stadt zur Berufsschule gefahren, eine Stunde hin und eine zurück. Sie ist Sängerin. In der Zeit ist sie mit Tanzbands bei Partys, Firmenfeiern und Hochzeiten aufgetreten. Aber eigentlich ist meine Mutter Jazzsängerin. Sie tingelt mit einem Quartett durch die Clubs und Kneipen Europas. Piano, Saxophon, Bass, Schlagzeug und sie. Auf dem Pressefoto trägt sie ein langes schwarzes Kleid und schwarze Handschuhe, die bis zu den Ellbogen reichen. Ihre vier Musiker tragen Smokings und Fliegen, und alle lächeln in die Kamera. Unter dem Bild steht in geschwungener Schrift BETTY BLACK & THE EMERALD JAZZ BAND. Der Mädchenname meiner Mutter ist Passlack, Bettina Passlack. Sie fand, das klingt zu sehr nach Neuruppin und zu wenig nach New York. Schilling, den Namen meines Vaters, hat sie nie benutzt. In ihrem Pass steht: Bettina Schilling- Passlack, aber in der Musikszene kennt man sie nur unter ihrem Künstlernamen. Sie kommt viel rum, reist durch ganz Europa, von Palermo bis Helsinki, von Alicante bis Warschau. Für eine große Karriere hat es trotzdem nicht gereicht. Keine Ahnung, warum.
Vielleicht fehlt ihr der Ehrgeiz, der richtige Biss. Oder ein tüchtiger Manager. Oder ihre Stimme ist zu durchschnittlich. Und dann Jazz. Ich meine, wer hört sich so was überhaupt an? Nach dem Bad helfe ich Karl beim Anziehen, dann koche ich uns Mittagessen. Karl deckt den Tisch. Frau Wernicke, die Krankenpflegerin, die einmal pro Woche nach Karl sieht, hat mir gesagt, ich soll Karl kleine Aufgaben geben, damit sein Gehirn etwas zu tun hat. Eine von Karls Aufgaben ist es, dreimal täglich den Tisch zu decken.
Frau Wernicke sagt, das sei eine Art Training, um die geistige Leistungsfähigkeit zu steigern, aber in Karls Fall scheint die Sache nicht wirklich zu funktionieren. Meistens vergisst er etwas, einen Löffel, eine Tasse, beide Servietten. Oft liegen zwei Gabeln neben jedem Teller, aber keine Messer, oder er stellt Kaffeetassen hin statt Wassergläser. Manchmal steht er vor dem leeren Tisch und kann sich nicht erinnern, was er tun soll. Dann muss ich für ihn das Geschirr und Besteck rausnehmen und ihm alles zeigen. Wenn er einen be sonders schlechten Tag hat und fünf Minuten lang ratlos einen Löffel in den Händen dreht, setze ich ihn auf seinen Stuhl und lasse ihn Papierschnipsel machen. Das verlernt er nie. Heute hat Karl einen ziemlich guten Tag. Messer und Gabel sind zwar auf der falschen Seite, aber dafür hat er bis auf die Glasuntersetzer und die Servietten nichts vergessen. Er trägt schwarze Socken, eine weite graue Hose und ein weißes Hemd. Wenn er rasiert wäre, würde er direkt passabel aussehen. Ich hole die Servietten aus der Schublade, stopfe Karl eine in den Kragen und kremple seine Ärmel hoch.
»Danke«, sagt Karl. Im Durchschnitt bedankt er sich etwa zehntausendmal pro Tag bei mir, egal, ob ich ihm in die Pantoffeln helfe, Butter aufs Brot schmiere oder die Brille putze. »Guten Appetit«, sage ich. »Danke«, sagt Karl. Die Keksdose, die neben ihm auf dem Boden steht, ist voller daumennagelgroßer Schnipsel in zahllosen Blautönen. Wenn ich am Morgen unausgeschlafen oder am Abend vom Tag genervt bin und Karls Essgeräusche nicht hören will, sein Gepuste und Geschlürfe, sein Kauen und Schmatzen, drehe ich das Radio neben der Spüle an. Aber jetzt um die Mittagszeit läuft auf allen Sendern nur Mist, und ich lasse es bleiben.
»Wochenrückblick«, sagt Karl.
»Was?« Manchmal benutzt Karl Wörter, die ich vorher noch nie von ihm gehört habe. Dann bin ich immer völlig baff und muss daran denken, wie er mir früher immer Geschichten erzählt hat, als sein Gehirn noch kein bröseliger Schwamm war.
»Sagt Selma zu so was. Wochenrückblick.«
Karl kann sich einen Hut aufsetzen und mich drei Sekunden spä ter fragen, wo sein Hut ist. Aber ab und zu berühren sich in seinem Kopf ein paar Drähte, und eine Erinnerung blitzt auf, die jahrelang in einer Ecke verstaubt ist.
»Wir sind hier am Arsch der Welt, nicht am englischen Hof«, sage ich eine Spur zu schroff. Auch ich habe meine schlechten Tage. Heute ist einer. Am Morgen hatte Karl Leim in den Haaren, beim Frühstück ist ihm Eigelb auf die frisch gewaschene Pyjamahose getropft, und als er in die Badewanne sollte, hat er sich geweigert und wie ein kleines Kind aufgeführt. »Mir schmeckt's«, sagt Karl. Ironie und Zynismus prallen an ihm ab. Nur wenn ich ihn anschreie, zuckt er zusammen und sieht mich verdattert an. Dann tut es mir jedes Mal furchtbar leid, und ich entschuldige mich bei ihm und schäle ihm einen Apfel oder eine Mandarine.
»Na, da bin ja beruhigt«, sage ich. Ich kenne meine Großmutter bloß von Fotos. Sie hat Karl verlassen, bevor ich geboren wurde. Warum er ausgerechnet heute an sie denkt, ist mir schleierhaft. Den Ausdruck Wochenrückblick hat er bestimmt nicht erfunden. Das Mittagessen besteht aus Schnitzeln von gestern, Kohl von vorgestern, Reis vom Dienstag und Marmorkuchen von letzter Woche. Wochenrückblick scheint mir eine treffende Bezeichnung dafür zu sein.
»Vergiss deine Pillen nicht«, sage ich und schiebe ihm den Unterteller mit den Tabletten hin.
»Danke.« Karl legt sich eine Kapsel nach der andern auf die
Zunge und spült sie mit einem Schluck Wasser runter.
© Carl Hanser Verlag, München
... weniger
Autoren-Porträt von Rolf Lappert
Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman Nach Hause schwimmen, 2010 der Roman Auf den Inseln des letzten Lichts, 2012 der Jugendroman Pampa Blues, 2015 der Roman über den Winter sowie 2020 sein neuer Roman Leben ist ein unregelmäßiges Verb.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rolf Lappert
- Altersempfehlung: Ab 14 Jahre
- 2012, 10. Aufl., 256 Seiten, Maße: 14,2 x 21,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446238956
- ISBN-13: 9783446238954
- Erscheinungsdatum: 02.02.2012
Rezension zu „Pampa Blues “
Dieses Buch ist ein ganz großes kleines literarisches Kunstwerk. Das heißt aber nicht, dass hier nur Leser angesprochen werden sollen, die anspruchsvolle Texte suchen. Ganz im Gegenteil, es wäre wunderbar, wenn sich viele junge Leser in Ben, dessen Geschichte hier erzählt wird, mit ihren geheimsten Sehnsüchten wiederfinden könnten. Ben lebt in der Provinz, und das meint in einem total verschlafenen Nest am Ende der Welt. Dieses Schicksal wünscht man jungen Leuten nicht unbedingt, und zu allem Überfluss lebt er dort mit seinem schwer dementen Großvater zusammen, der versorgt und umsorgt werden muss. Aber Ben ist ein junger Mann zum Verlieben - junge Mädchen sollten ihn als Vorbild für die zukünftigen Väter ihrer Kinder wählen -, denn er meistert seine Aufgabe mit liebender Großmut, und wer von den Jungs, die man so kennt, hat schon diese Qualität zu bieten? Vielleicht mehr, als man denkt, man muss dies nur an ihnen entdecken können, und genau das gelingt dem Autor dieses einzigartig menschlich erwärmenden Buches. Man darf sich nicht täuschen lassen, wenn im Klappentext von Ufos die Rede ist, und schon gar nicht davon, dass es um die Monotonie des Alltags in einem Dorf geht, das alles ist lediglich Kulisse. In Wahrheit geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Wahrheit des Lebens, und das in einer Sprache, dass man jeden Satz gerne mehrmals lesen möchte und dass man Ben und seine Freunde sehr gerne persönlich kennen lernen würde, um mit ihnen zusammen Ufos zu bauen und zu beobachten und sich dabei köstlich zu amüsieren über die Gutgläubigkeit anderer, die man glücklich machen kann, und ein wenig daran verdienen kann - zum Leben braucht man schließlich auch Geld. Leben ist eben niemals trostlos, wenn man es in seine Hände nimmt und es selbst im Nirgendwo so gestaltet, dass es zum großen Glück werden kann. Gabriele Hoffmann (Leanders Leseladen, Heidelberg)
Pressezitat
"Die Coming-of-Age-Story eines Halbwaisen, der sich aus der Einöde in ein abenteuerliches Leben sehnt. ... Die anfängliche Trübsinnigkeit wird niemals vollständig überwunden, sie lässt jedoch Raum für Hoffnungen und Neuanfänge - so wie ein guter Blues sein sollte." Simon Broll, Spiegel Online, 13.02.12"Lapperts Ben erzählt mit einer pointensicheren Lakonie und großer Zärtlichkeit. Ein mitreissender Roman mit Unterströmungen, einem reichen Geflecht an Motiven, die dem Text trotz wundersamem Happy End Abgründigkeit und Offenheit lassen." Christine Lötscher, Tages-Anzeiger, 13.02.12
"Rolf Lappert gelingt es, den lakonischen Realismus in eine leichte Schräglage zu bringen, nicht nur durch märchenhafte Zufälle, sondern auch durch den anrührenden Grossvater, die kauzigen Dorfbewohner und eine Liebesgeschichte, die Ben aus seiner inneren Lähmung erlöst. Am meisten jedoch durch eine Sprache, in der es Sätze gibt wie diese: Ihre Zunge berührt meine Lippen. Nicht lange. Ein paar Sekunden. Tausend Jahre. Viel zu kurz." Sieglinde Geisel, Neue Zürcher Zeitung, 07.03.12
"Ein wunderschöner Jugendroman. ... Der Blues, den die Pampa in dem Buch entwickelt, hat seine eigene Resonanz - ja, seinen eigenen Drive. Diese Provinz vibriert." Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung, 04.04.12
"Wiederholt wurden Lapperts Romane mit John Irvings Erzählstil verglichen. Auch hier bietet der Autor eine Fülle skurriler Episoden; ihm gelingt das Porträt eines Heranwachsenden zwischen Laisser-faire und Sehnsucht und eine Liebesgeschichte, die diesen ermutigt, seinen eigenen Weg zu gehen." Hans ten Doornkaat, Neue Zürcher Zeitung am Sonntag, 05.02.12
"Lesenswert." Björn Wirth, Frankfurter Rundschau, 13.03.12
"Dem Autor gelingt es, die Geschichte immer in der Schwebe zu halten, irgendwo zwischen Trauer, Galgenhumor, Melancholie und plötzlichen Hoffnungsschimmern." Hartmut el Kurdi, Die Zeit, 06.06.2012
"Ein Entwicklungsroman der besonderen Art." Hilde Elisabeth Menzel, Süddeutsche
Kommentar zu "Pampa Blues"
0 Gebrauchte Artikel zu „Pampa Blues“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Pampa Blues".
Kommentar verfassen