Pandoras Tochter
Als Kind hatte Megan Angst, verrückt zu werden, denn ständig hörte sie Stimmen - die Stimmen der Toten. Bis zu dem Tag, als ihre Mutter starb, dem Tag, an dem die Stimmen für immer verstummten.
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Produktinformationen zu „Pandoras Tochter “
Als Kind hatte Megan Angst, verrückt zu werden, denn ständig hörte sie Stimmen - die Stimmen der Toten. Bis zu dem Tag, als ihre Mutter starb, dem Tag, an dem die Stimmen für immer verstummten.
Heute ist Megan Blair 27 Jahre alt, erfolgreiche Kinderärztin und froh, die Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben. Da wird aus heiterem Himmel ein Anschlag auf sie verübt. Megan erfährt, dass der tödliche "Unfall" ihrer Mutter damals in Wahrheit Mord war. CIA-Mann Neil Grady, der schon ihre Mutter kannte, bringt sie auf die Spur der Täter - ein Menschenhändlerring unter Führung des Schwerverbrechers Molino, der offensichtlich vor nichts zurückschreckt. Megan kann ihrem Schicksal nur entgehen, wenn sie ihre alte Gabe wiederentdeckt.
Lese-Probe zu „Pandoras Tochter “
Pandoras Tochter von Iris JohansenProlog
Stimmen.
Megan spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte, und
sie versuchte, die Angst auszublenden. Mama sollte
nichts merken. Mama war heute Nachmittag so fröhlich
und entspannt gewesen. Megan wollte ihr das nicht verderben.
»Warum so still?« Ihre Mutter begann, die Sachen
in den Picknickkorb zu packen. »Worüber denkst du
nach?«
Stimmen.
Megan suchte fieberhaft nach einer Antwort. »Ich
wünschte, Neal wäre mitgekommen. Hast du ihn nicht
eingeladen?«
»Nein, zum Kuckuck. Ich wollte einen Mutter-Tochter-
Nachmittag. Neal möchte immer das Geschehen
beherrschen.« Sie lächelte verschmitzt. »Er bekommt
immer deine ganze Aufmerksamkeit. Aber verübeln
kann ich dir das nicht. Als ich ihm das erste Mal begegnet
bin, erinnerte er mich an ein Porträt von einem
Renaissance-Prinzen, das ich einmal in einem Museum
in Florenz gesehen habe. Sehr elegant und ein wenig einschüchternd.«
Schalte diese Stimmen aus. Gütiger Gott, sie wünschte
wirklich, sie könnte sie verscheuchen. »An Neal ist nichts
einschüchternd. Wie kannst du so was sagen?«
»Hey, ich greife ihn ja nicht an. War nur ein Vergleich.«
Stimmen.
Worüber haben wir gesprochen?, überlegte Megan.
Konzentrier dich. Ach ja, stimmt - Neal. »Ich habe Neal
gern um mich. Er ist witzig.«
»Wenn er will. Aber ich bin froh, dass du ihn magst. Ich
mag ihn auch. Er ist mir ein guter Freund.« Ihr Lächeln
verblasste, während sie Megan musterte. »Du hörst mir
gar nicht zu. Was ist denn los, Kleine?«
»Nichts.«
»Megan!«
... mehr
»Stimmen«, flüsterte Megan. »Mir gefällt es hier nicht,
Mama. Ich höre Stimmen.«
»Unsinn.« Ihre Mutter wandte den Blick abrupt ab.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du dir das nur einbildest.
« Sie warf die Plastikbecher in den Korb. »Und
es gibt keinen Grund dafür, dass du dich hier unwohl
fühlst.« Sie setzte sich auf die Fersen und betrachtete die
untergehende Sonne, die den Baggersee unter ihnen in
ein goldenes Licht tauchte. »Hier ist es wunderschön.
Wir haben ein Dutzend Mal hier oben gepicknickt, und
du hast diese albernen Stimmen nie erwähnt. Hast du sie
schon früher an diesem Ort gehört?«
Megan nickte. »Aber du willst ja nicht, dass ich über
sie spreche.«
»Weil sie nicht existieren.« Sie streckte die Hände aus
und legte sie an Megans Wangen. »Und du sollst nicht
über Dinge reden, die es gar nicht gibt. Als du noch klein
warst, hat das nicht so viel ausgemacht. Doch mittlerweile
bist du fünfzehn, und die Leute achten mehr auf
das, was du sagst. Diese Sache muss unter uns beiden
bleiben.«
»Sonst halten mich die Leute für verrückt.« Megan
versuchte ein Lächeln. »Das kann ja auch nicht normal
sein. Vielleicht bin ich wirklich verrückt. Was meinst du,
Mama?«
»Selbstverständlich bist du das nicht.« Sie beugte sich
vor und hauchte Megan einen Kuss auf die Nase. »Wer
legt die Grenzen fest? Wer kann wirklich sagen, was normal
ist? Ich habe gehört, dass Komponisten ihre Musik
im Kopf hören, und alle Welt nennt sie Genies. Wahrscheinlich
wird sich diese Sache mit den Stimmen mit der
Zeit verlieren.«
»Das hast du schon gesagt, als ich sieben war.«
»Und mittlerweile hörst du sie nicht annähernd so oft
wie damals, oder?«
»Stimmt.«
»Und hast du nicht gesagt, dass sie nicht schreien,
sondern flüstern?«
Megan nickte.
»Siehst du? Das ist doch ein Fortschritt. Und bis du
einundzwanzig wirst, verschwinden sie ganz.«
Megan runzelte die Stirn und schlug zaghaft vor:
»Vielleicht ... sollte ich eine Therapie machen.«
»Nein«, wehrte die Mutter vehement ab. »Keine Ärzte.
Wir reden mit niemandem darüber, verstanden?«
Megan nickte, obwohl sie nicht verstand. Sie wusste
nur, dass es ihrer Mutter gar nicht recht war, wenn sie
über die Stimmen sprach. Vielleicht wollte sie einfach
nicht wahrhaben, dass ihre Tochter ... nicht normal war.
Okay, belass es dabei. Könnte ja auch sein, dass die einfache
Lösung des Problems, die ihre Mutter im Sinn hatte,
die richtige war. Megan wollte ihre Mutter auf keinen
Fall aufregen.
»Schau nicht so düster.« Ihre Mutter strich mit der
Fingerspitze über die zwei Linien auf Megans Stirn. »Du
bekommst noch Runzeln wie ich.«
»Du hast keine Runzeln. Du bist so hübsch.« Das
stimmte. Sarah Nathan war nicht im herkömmlichen
Sinne schön, aber ihr braunes Haar schimmerte im
Schein der untergehenden Sonne, und das charaktervolle
Gesicht strahlte Herzenswärme und Vitalität aus.
»Ich habe jede Menge Runzeln. Aber wenn man viel
lacht, dann verlieren sie sich in den Lachfältchen.« Sie
verzog das Gesicht. »Das solltest du dir zu Herzen nehmen,
meine kleine ernste Maus. Du lächelst nicht genug
und gibst mir dadurch das Gefühl, keine gute Mutter zu
sein.«
»Das stimmt doch gar nicht. Es gibt keine bessere
Mutter als dich. Und ich bin nicht immer ernst.«
»Okay, du bist nachdenklich.« Sie stand auf und zog
Megan auf die Füße. »Komm. Es wird bald dunkel.
Höchste Zeit, ins Cottage zurückzukehren. Du musst
morgen zur Schule, und ich hab viel zu tun.« Sie gab
Megan die Picknickdecke. »Wegen der Schule brauchst
du dir keine Sorgen zu machen. Du bist deiner Klasse
voraus. Weißt du, mir wäre es lieber, du würdest dich
weniger auf deinen Notendurchschnitt konzentrieren
und stattdessen mehr darauf achten, Spaß zu haben.«
»Ich habe Spaß.«
»Nicht genug. Streng dich ein bisschen mehr an. In
letzter Zeit erlebe ich dich nur ausgelassen, wenn du mit
Neal zusammen bist. Du bist jung. Das Leben vergeht
so schnell, dass die guten Zeiten hinter dir liegen, ehe
du dich's versiehst.« Sie lächelte. »Du wirst noch viel
Schönes erleben - den Abschlussball und enge Freundschaften,
die erste Liebe und all das.«
»O Gott!«
Sarah fuhr ihrer Tochter durchs Haar. »Freche Göre.
Zeig ein bisschen Gefühl.« Ihr Lächeln verschwand,
während sie den Pfad hinuntergingen. »Sind die Stimmen
weg?«
»Ja«, log Megan. Na ja, im Grunde war es keine
Lüge. Sie waren zwar nicht ganz weg, aber mittlerweile
hörte sie nur noch ein dumpfes Rauschen, wie eine
Meeresbrandung in der Ferne. Es hatte jedoch keinen
Sinn, ihre Mutter noch mehr zu beunruhigen, wenn
sie sich doch so sehr wünschte, dass die Stimmen verstummten.
»Ich sag dir doch, dass es mit der Zeit besser wird.«
Sie hakte sich bei Megan unter. »Ich scheine gerade eine
Glückssträhne zu haben, und du solltest nicht vergessen,
was ich dir über den Spaß im Leben gesagt habe.«
»Mama, ich bin nicht ...« Sie verstummte, weil sie
spürte, wie sich ihre Mutter anspannte. »Was ist los?«
»Nichts.«
Das entsprach nicht der Wahrheit. Etwas war geschehen.
Sarahs Miene sprach Bände.
Angst.
Megan folgte dem Blick ihrer Mutter zu dem Fichtenhain
am Fuße des Hügels.
Dort stand ein Mann und beobachtete sie.
»Wer ist das? Kennst du ihn?«
»Vielleicht.« Sarah holte tief Luft. »Ich rede besser mit
ihm. Geh du zurück zum Baggersee.«
Megan weigerte sich.
»Tu, was ich dir sage«, wies ihre Mutter sie scharf zurecht.
»Das hier ist meine Angelegenheit. Kennst du die
Höhle auf der anderen Seite des Berges? Bleib dort, bis
ich zu dir komme und dich hole.«
»Nein, ich komme mit dir.«
»Das wirst du nicht tun. Du gehst zu dieser Höhle,
und zwar sofort.«
Megan zögerte immer noch.
»Hör zu, Megan, ich komme zurecht. Ich muss nur
kurz unter vier Augen mit ihm sprechen.« Sie machte
sich auf den Weg. Ihre Stimme war wie ein Peitschenhieb:
»Los, verschwinde.«
»Okay, aber wenn du in zwanzig Minuten nicht zurück
bist, komme ich zu dir.« Megan machte kehrt und
lief den Weg zurück bergauf.
Das war nicht gut.
Egal, was ihre Mutter gesagt hatte, da stimmte etwas
nicht.
Töte den Bastard.
Neal Gradys Klinge schlitzte dem Mann die Kehle
auf, Blut spritzte. Neal schubste ihn weg, und er sank
zu Boden.
Er gönnte dem Mann keinen weiteren Blick, als er über
die Straße und durch das Wäldchen stürmte.
Er kam zu spät.
Grady fluchte, während er den Hang hinunterrutschte
und zu der Frau lief, die zusammengekrümmt am Fuße
des Hügels lag.
Tot?
Noch nicht, aber beinahe.
Er ging neben ihr auf die Knie; seine Augen brannten.
»Sarah, verdammt.«
Sarah öffnete langsam die Augen. »Hallo, Neal. Ich
bin froh ... du bist da. Aber ... du solltest eine Sterbende
nicht verfluchen.«
»Sei still. Spar dir die Kräfte. Vielleicht kann ich noch
etwas tun.«
Sie versuchte, den Kopf zu schütteln. »Nicht für mich,
das weißt du. Aber Megan ... Ich wollte ihn von ihr fernhalten.
Aber er hat sie gesehen. Er ... hat sie gesehen.
Und wird sie verfolgen.«
»Nein, das wird er nicht«, erwiderte er grimmig. »Ich
bin zu spät gekommen, um dich zu retten, aber nicht zu
spät für ihn. Ich habe dem Hurensohn die Kehle aufgeschlitzt.«
»Gut. Megan wird ... mir ist kalt, Neal. Ich darf noch
nicht sterben. Ich muss dir ...«
»Gütiger Gott, Sarah, du bist eine solche Närrin«, sagte
er mit bebender Stimme. »Ich hab dir schon vor sechs
Monaten geraten, von hier zu verschwinden. Du hättest
fliehen und Megan vor ihm verstecken sollen.«
»Ich hab mich sicher gefühlt und dachte, dass du dich
irrst. Ich wollte Megan nicht schon wieder irgendwo
anders hinbringen. Ich habe mich so bemüht, ihr ein
normales Leben zu bieten. Nicht so ein Leben wie meines
oder deines.« Sie holte scharf Luft. »Alles wird so ...
verschwommen. Ich hatte nicht erwartet, dass es so ist.
Ich ... habe Angst. Du kannst mir doch helfen, oder?«
Er nickte. »Ja, ich kann dir helfen.«
»Das dachte ich mir. Darf ich ... dich berühren?«
»Ja.« Er legte sich neben sie und nahm sie in den Arm.
»Entspann dich einfach, Sarah.«
»Das geht nicht. Noch nicht. Megan. Du musst Megan
helfen.«
»Um Himmels willen, Sarah, du hast sie nicht einmal
vorbereitet. Du hast sie belogen. Ich weiß nicht, ob ich
etwas für sie tun kann.«
»Versuch's.«
»Ich kann dir nichts versprechen. Du weißt, was passiert
ist, als du sie einmal allein gelassen hast.«
»Versuch's«, wiederholte sie. »Bitte, Neal.«
»Keine Versprechen.« Er strich ihr zärtlich über die
Wange. »Ich sehe, was ich machen kann.«
»Das weiß ich. Sie ist stark, Neal. Viel stärker als ich.
Sie hat eine Chance ... Du wirst auf sie aufpassen. Du ...
magst sie. Du hast ... meine Megan gern.«
»Ja. Aber jetzt sei still, und ruh dich aus.«
Sie schwieg nur einen kurzen Moment. »Neal, ich
bin ... keine Pandora.«
»Doch, das bist du«, flüsterte er. »Aber das spielt
jetzt keine Rolle. Halt dich an mir fest. Ich helfe dir, das
durchzustehen.«
»Das hatte ich gehofft.« Sie schmiegte sich an ihn. »Ja,
hilf mir ...«
Sie ergab sich ihrem Schicksal. Wärme ersetzte die
Kälte, Licht durchflutete die Dunkelheit. Gesunder Menschenverstand
statt Verrücktheit.
»Danke, Neal«, hauchte sie.
»Schsch, lass einfach los ...«
Megan schrie.
Der gequälte Laut zerriss Neal das Herz.
Verdammt, Sarah war ihm gerade entglitten, und Megan
spürte bereits den Verlust.
Schmerz.
Er schob Sarah sanft von sich und stand auf.
Ein quälender Stich. Er musste zu ihr, bevor sie sich
das Herz aus dem Leibe riss.
Bevor sie ihn zerfetzte.
Er musste sie finden.
Wo bist du, Megan?
Mehr Schmerz.
Kopflose Panik und Qual.
Er musste sie suchen.
Finden.
Ihr helfen.
Mama!
Megan kauerte an der Höhlenwand, als sie der Schmerz
durchfuhr.
Keine Pandora. Keine Pandora. Keine Pandora.
Stimmen. Geplapper. Schreie.
Nicht Mamas Stimme. Wo bist du, Mama?
Gegangen.
Die Stimmen waren noch da. Sie fielen über sie her,
schlugen sie, stachen auf sie ein.
Geht weg! Geht weg! Geht weg!
Hilf mir, Mama!
Mama war fort.
Panik machte sich breit. Sie war allein mit den Stim-
men, die an ihr rissen und sie schier umbrachten.
Wieder stieß sie einen Schrei aus. Hilf mir!
»Es gibt nur eine Möglichkeit, wie ich dir helfen kann,
Megan.«
Ein Mann stand in der Höhlenöffnung. Dunkel,
schlank, groß. War das derselbe Mann wie der, mit dem
ihre Mutter sprechen wollte?
Mama war fort und würde nie wiederkommen.
Von ihr gegangen.
Nein, dies war nicht der Fremde. Es war Neal Grady.
Erleichterung durchströmte sie. Neal würde ihr helfen.
Neal steht hinter jemandem. Stahl funkelt, als sein
Messer den Hals durchschneidet. Blut sprudelt ...
Mord.
Mama? Ist das Mamas Hals?
Nein!
Instinktiv warf sie sich gegen seine Knie und riss ihn
zu Boden.
Die Stimmen wurden wieder laut, und sie wand sich
in Qualen.
»Hör auf, mich zu bekämpfen«, sagte er heiser. »Ich
will dir nichts antun.«
Sie biss ihm ins Handgelenk.
»Mein Gott, Sarah hatte recht. Du bist viel stärker, als
sie es jemals war.«
Sie konnte ihn kaum verstehen, weil die Stimmen so
laut waren und an ihr zerrten.
Wehr dich gegen sie. Wehr dich gegen ihn.
Sie versuchte, zur Höhlenöffnung zu kriechen.
»Nein.« Er packte sie. »Es ist vorbei, Megan.«
Mama.
»Hör auf damit.« Sein Gesicht war schmerzverzerrt.
»Sie kann dir nicht mehr helfen. Und ich bin nicht sicher,
ob ich es kann.«
Mama.
»Mach das nicht. Ich hab ihr gesagt, dass ich nichts
versprechen kann ...«
Mama!
»Verdammt, Megan, du musst bei mir bleiben.« Er
schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht.
Finsternis.
Doch die Stimmen waren noch da, rissen an ihr, verschlangen
sie.
»Okay, ich mach das nicht länger mit«, flüsterte er.
»Du gewinnst, Megan. Oder vielleicht gewinnt Sarah.«
Er packte sie an den Armen und hielt sie fest. »Ich bringe
dich zum Schweigen. Kämpf nicht mit mir. Ich werde dir
nicht weh tun. Du wirst lediglich einschlafen, und ich
verjage die Stimmen.«
Sie öffnete die Augen und sah ihn benommen an.
»Was ...«
»Schsch.« Er strich ihr behutsam das Haar aus der
Stirn. »Du wolltest Hilfe. Ich gebe sie dir. Du wirst
dich nicht an die Stimmen, den Schmerz und all dies erinnern.
« Seine Lippen wurden schmal. »Ich wünschte,
ich hätte so viel Glück.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe
© 2007 by Johansen Publishing LLP
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2011 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Übersetzung: Ursula Walther
Umschlaggestaltung: Alexandra Dohse, München
www.grafikkiosk.de
Umschlagmotiv: Mauritius Images, Mittenwald
(© Wolfgang Weinhäupl; © Imagebroker)
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-672-8
»Stimmen«, flüsterte Megan. »Mir gefällt es hier nicht,
Mama. Ich höre Stimmen.«
»Unsinn.« Ihre Mutter wandte den Blick abrupt ab.
»Ich habe dir doch gesagt, dass du dir das nur einbildest.
« Sie warf die Plastikbecher in den Korb. »Und
es gibt keinen Grund dafür, dass du dich hier unwohl
fühlst.« Sie setzte sich auf die Fersen und betrachtete die
untergehende Sonne, die den Baggersee unter ihnen in
ein goldenes Licht tauchte. »Hier ist es wunderschön.
Wir haben ein Dutzend Mal hier oben gepicknickt, und
du hast diese albernen Stimmen nie erwähnt. Hast du sie
schon früher an diesem Ort gehört?«
Megan nickte. »Aber du willst ja nicht, dass ich über
sie spreche.«
»Weil sie nicht existieren.« Sie streckte die Hände aus
und legte sie an Megans Wangen. »Und du sollst nicht
über Dinge reden, die es gar nicht gibt. Als du noch klein
warst, hat das nicht so viel ausgemacht. Doch mittlerweile
bist du fünfzehn, und die Leute achten mehr auf
das, was du sagst. Diese Sache muss unter uns beiden
bleiben.«
»Sonst halten mich die Leute für verrückt.« Megan
versuchte ein Lächeln. »Das kann ja auch nicht normal
sein. Vielleicht bin ich wirklich verrückt. Was meinst du,
Mama?«
»Selbstverständlich bist du das nicht.« Sie beugte sich
vor und hauchte Megan einen Kuss auf die Nase. »Wer
legt die Grenzen fest? Wer kann wirklich sagen, was normal
ist? Ich habe gehört, dass Komponisten ihre Musik
im Kopf hören, und alle Welt nennt sie Genies. Wahrscheinlich
wird sich diese Sache mit den Stimmen mit der
Zeit verlieren.«
»Das hast du schon gesagt, als ich sieben war.«
»Und mittlerweile hörst du sie nicht annähernd so oft
wie damals, oder?«
»Stimmt.«
»Und hast du nicht gesagt, dass sie nicht schreien,
sondern flüstern?«
Megan nickte.
»Siehst du? Das ist doch ein Fortschritt. Und bis du
einundzwanzig wirst, verschwinden sie ganz.«
Megan runzelte die Stirn und schlug zaghaft vor:
»Vielleicht ... sollte ich eine Therapie machen.«
»Nein«, wehrte die Mutter vehement ab. »Keine Ärzte.
Wir reden mit niemandem darüber, verstanden?«
Megan nickte, obwohl sie nicht verstand. Sie wusste
nur, dass es ihrer Mutter gar nicht recht war, wenn sie
über die Stimmen sprach. Vielleicht wollte sie einfach
nicht wahrhaben, dass ihre Tochter ... nicht normal war.
Okay, belass es dabei. Könnte ja auch sein, dass die einfache
Lösung des Problems, die ihre Mutter im Sinn hatte,
die richtige war. Megan wollte ihre Mutter auf keinen
Fall aufregen.
»Schau nicht so düster.« Ihre Mutter strich mit der
Fingerspitze über die zwei Linien auf Megans Stirn. »Du
bekommst noch Runzeln wie ich.«
»Du hast keine Runzeln. Du bist so hübsch.« Das
stimmte. Sarah Nathan war nicht im herkömmlichen
Sinne schön, aber ihr braunes Haar schimmerte im
Schein der untergehenden Sonne, und das charaktervolle
Gesicht strahlte Herzenswärme und Vitalität aus.
»Ich habe jede Menge Runzeln. Aber wenn man viel
lacht, dann verlieren sie sich in den Lachfältchen.« Sie
verzog das Gesicht. »Das solltest du dir zu Herzen nehmen,
meine kleine ernste Maus. Du lächelst nicht genug
und gibst mir dadurch das Gefühl, keine gute Mutter zu
sein.«
»Das stimmt doch gar nicht. Es gibt keine bessere
Mutter als dich. Und ich bin nicht immer ernst.«
»Okay, du bist nachdenklich.« Sie stand auf und zog
Megan auf die Füße. »Komm. Es wird bald dunkel.
Höchste Zeit, ins Cottage zurückzukehren. Du musst
morgen zur Schule, und ich hab viel zu tun.« Sie gab
Megan die Picknickdecke. »Wegen der Schule brauchst
du dir keine Sorgen zu machen. Du bist deiner Klasse
voraus. Weißt du, mir wäre es lieber, du würdest dich
weniger auf deinen Notendurchschnitt konzentrieren
und stattdessen mehr darauf achten, Spaß zu haben.«
»Ich habe Spaß.«
»Nicht genug. Streng dich ein bisschen mehr an. In
letzter Zeit erlebe ich dich nur ausgelassen, wenn du mit
Neal zusammen bist. Du bist jung. Das Leben vergeht
so schnell, dass die guten Zeiten hinter dir liegen, ehe
du dich's versiehst.« Sie lächelte. »Du wirst noch viel
Schönes erleben - den Abschlussball und enge Freundschaften,
die erste Liebe und all das.«
»O Gott!«
Sarah fuhr ihrer Tochter durchs Haar. »Freche Göre.
Zeig ein bisschen Gefühl.« Ihr Lächeln verschwand,
während sie den Pfad hinuntergingen. »Sind die Stimmen
weg?«
»Ja«, log Megan. Na ja, im Grunde war es keine
Lüge. Sie waren zwar nicht ganz weg, aber mittlerweile
hörte sie nur noch ein dumpfes Rauschen, wie eine
Meeresbrandung in der Ferne. Es hatte jedoch keinen
Sinn, ihre Mutter noch mehr zu beunruhigen, wenn
sie sich doch so sehr wünschte, dass die Stimmen verstummten.
»Ich sag dir doch, dass es mit der Zeit besser wird.«
Sie hakte sich bei Megan unter. »Ich scheine gerade eine
Glückssträhne zu haben, und du solltest nicht vergessen,
was ich dir über den Spaß im Leben gesagt habe.«
»Mama, ich bin nicht ...« Sie verstummte, weil sie
spürte, wie sich ihre Mutter anspannte. »Was ist los?«
»Nichts.«
Das entsprach nicht der Wahrheit. Etwas war geschehen.
Sarahs Miene sprach Bände.
Angst.
Megan folgte dem Blick ihrer Mutter zu dem Fichtenhain
am Fuße des Hügels.
Dort stand ein Mann und beobachtete sie.
»Wer ist das? Kennst du ihn?«
»Vielleicht.« Sarah holte tief Luft. »Ich rede besser mit
ihm. Geh du zurück zum Baggersee.«
Megan weigerte sich.
»Tu, was ich dir sage«, wies ihre Mutter sie scharf zurecht.
»Das hier ist meine Angelegenheit. Kennst du die
Höhle auf der anderen Seite des Berges? Bleib dort, bis
ich zu dir komme und dich hole.«
»Nein, ich komme mit dir.«
»Das wirst du nicht tun. Du gehst zu dieser Höhle,
und zwar sofort.«
Megan zögerte immer noch.
»Hör zu, Megan, ich komme zurecht. Ich muss nur
kurz unter vier Augen mit ihm sprechen.« Sie machte
sich auf den Weg. Ihre Stimme war wie ein Peitschenhieb:
»Los, verschwinde.«
»Okay, aber wenn du in zwanzig Minuten nicht zurück
bist, komme ich zu dir.« Megan machte kehrt und
lief den Weg zurück bergauf.
Das war nicht gut.
Egal, was ihre Mutter gesagt hatte, da stimmte etwas
nicht.
Töte den Bastard.
Neal Gradys Klinge schlitzte dem Mann die Kehle
auf, Blut spritzte. Neal schubste ihn weg, und er sank
zu Boden.
Er gönnte dem Mann keinen weiteren Blick, als er über
die Straße und durch das Wäldchen stürmte.
Er kam zu spät.
Grady fluchte, während er den Hang hinunterrutschte
und zu der Frau lief, die zusammengekrümmt am Fuße
des Hügels lag.
Tot?
Noch nicht, aber beinahe.
Er ging neben ihr auf die Knie; seine Augen brannten.
»Sarah, verdammt.«
Sarah öffnete langsam die Augen. »Hallo, Neal. Ich
bin froh ... du bist da. Aber ... du solltest eine Sterbende
nicht verfluchen.«
»Sei still. Spar dir die Kräfte. Vielleicht kann ich noch
etwas tun.«
Sie versuchte, den Kopf zu schütteln. »Nicht für mich,
das weißt du. Aber Megan ... Ich wollte ihn von ihr fernhalten.
Aber er hat sie gesehen. Er ... hat sie gesehen.
Und wird sie verfolgen.«
»Nein, das wird er nicht«, erwiderte er grimmig. »Ich
bin zu spät gekommen, um dich zu retten, aber nicht zu
spät für ihn. Ich habe dem Hurensohn die Kehle aufgeschlitzt.«
»Gut. Megan wird ... mir ist kalt, Neal. Ich darf noch
nicht sterben. Ich muss dir ...«
»Gütiger Gott, Sarah, du bist eine solche Närrin«, sagte
er mit bebender Stimme. »Ich hab dir schon vor sechs
Monaten geraten, von hier zu verschwinden. Du hättest
fliehen und Megan vor ihm verstecken sollen.«
»Ich hab mich sicher gefühlt und dachte, dass du dich
irrst. Ich wollte Megan nicht schon wieder irgendwo
anders hinbringen. Ich habe mich so bemüht, ihr ein
normales Leben zu bieten. Nicht so ein Leben wie meines
oder deines.« Sie holte scharf Luft. »Alles wird so ...
verschwommen. Ich hatte nicht erwartet, dass es so ist.
Ich ... habe Angst. Du kannst mir doch helfen, oder?«
Er nickte. »Ja, ich kann dir helfen.«
»Das dachte ich mir. Darf ich ... dich berühren?«
»Ja.« Er legte sich neben sie und nahm sie in den Arm.
»Entspann dich einfach, Sarah.«
»Das geht nicht. Noch nicht. Megan. Du musst Megan
helfen.«
»Um Himmels willen, Sarah, du hast sie nicht einmal
vorbereitet. Du hast sie belogen. Ich weiß nicht, ob ich
etwas für sie tun kann.«
»Versuch's.«
»Ich kann dir nichts versprechen. Du weißt, was passiert
ist, als du sie einmal allein gelassen hast.«
»Versuch's«, wiederholte sie. »Bitte, Neal.«
»Keine Versprechen.« Er strich ihr zärtlich über die
Wange. »Ich sehe, was ich machen kann.«
»Das weiß ich. Sie ist stark, Neal. Viel stärker als ich.
Sie hat eine Chance ... Du wirst auf sie aufpassen. Du ...
magst sie. Du hast ... meine Megan gern.«
»Ja. Aber jetzt sei still, und ruh dich aus.«
Sie schwieg nur einen kurzen Moment. »Neal, ich
bin ... keine Pandora.«
»Doch, das bist du«, flüsterte er. »Aber das spielt
jetzt keine Rolle. Halt dich an mir fest. Ich helfe dir, das
durchzustehen.«
»Das hatte ich gehofft.« Sie schmiegte sich an ihn. »Ja,
hilf mir ...«
Sie ergab sich ihrem Schicksal. Wärme ersetzte die
Kälte, Licht durchflutete die Dunkelheit. Gesunder Menschenverstand
statt Verrücktheit.
»Danke, Neal«, hauchte sie.
»Schsch, lass einfach los ...«
Megan schrie.
Der gequälte Laut zerriss Neal das Herz.
Verdammt, Sarah war ihm gerade entglitten, und Megan
spürte bereits den Verlust.
Schmerz.
Er schob Sarah sanft von sich und stand auf.
Ein quälender Stich. Er musste zu ihr, bevor sie sich
das Herz aus dem Leibe riss.
Bevor sie ihn zerfetzte.
Er musste sie finden.
Wo bist du, Megan?
Mehr Schmerz.
Kopflose Panik und Qual.
Er musste sie suchen.
Finden.
Ihr helfen.
Mama!
Megan kauerte an der Höhlenwand, als sie der Schmerz
durchfuhr.
Keine Pandora. Keine Pandora. Keine Pandora.
Stimmen. Geplapper. Schreie.
Nicht Mamas Stimme. Wo bist du, Mama?
Gegangen.
Die Stimmen waren noch da. Sie fielen über sie her,
schlugen sie, stachen auf sie ein.
Geht weg! Geht weg! Geht weg!
Hilf mir, Mama!
Mama war fort.
Panik machte sich breit. Sie war allein mit den Stim-
men, die an ihr rissen und sie schier umbrachten.
Wieder stieß sie einen Schrei aus. Hilf mir!
»Es gibt nur eine Möglichkeit, wie ich dir helfen kann,
Megan.«
Ein Mann stand in der Höhlenöffnung. Dunkel,
schlank, groß. War das derselbe Mann wie der, mit dem
ihre Mutter sprechen wollte?
Mama war fort und würde nie wiederkommen.
Von ihr gegangen.
Nein, dies war nicht der Fremde. Es war Neal Grady.
Erleichterung durchströmte sie. Neal würde ihr helfen.
Neal steht hinter jemandem. Stahl funkelt, als sein
Messer den Hals durchschneidet. Blut sprudelt ...
Mord.
Mama? Ist das Mamas Hals?
Nein!
Instinktiv warf sie sich gegen seine Knie und riss ihn
zu Boden.
Die Stimmen wurden wieder laut, und sie wand sich
in Qualen.
»Hör auf, mich zu bekämpfen«, sagte er heiser. »Ich
will dir nichts antun.«
Sie biss ihm ins Handgelenk.
»Mein Gott, Sarah hatte recht. Du bist viel stärker, als
sie es jemals war.«
Sie konnte ihn kaum verstehen, weil die Stimmen so
laut waren und an ihr zerrten.
Wehr dich gegen sie. Wehr dich gegen ihn.
Sie versuchte, zur Höhlenöffnung zu kriechen.
»Nein.« Er packte sie. »Es ist vorbei, Megan.«
Mama.
»Hör auf damit.« Sein Gesicht war schmerzverzerrt.
»Sie kann dir nicht mehr helfen. Und ich bin nicht sicher,
ob ich es kann.«
Mama.
»Mach das nicht. Ich hab ihr gesagt, dass ich nichts
versprechen kann ...«
Mama!
»Verdammt, Megan, du musst bei mir bleiben.« Er
schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht.
Finsternis.
Doch die Stimmen waren noch da, rissen an ihr, verschlangen
sie.
»Okay, ich mach das nicht länger mit«, flüsterte er.
»Du gewinnst, Megan. Oder vielleicht gewinnt Sarah.«
Er packte sie an den Armen und hielt sie fest. »Ich bringe
dich zum Schweigen. Kämpf nicht mit mir. Ich werde dir
nicht weh tun. Du wirst lediglich einschlafen, und ich
verjage die Stimmen.«
Sie öffnete die Augen und sah ihn benommen an.
»Was ...«
»Schsch.« Er strich ihr behutsam das Haar aus der
Stirn. »Du wolltest Hilfe. Ich gebe sie dir. Du wirst
dich nicht an die Stimmen, den Schmerz und all dies erinnern.
« Seine Lippen wurden schmal. »Ich wünschte,
ich hätte so viel Glück.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe
© 2007 by Johansen Publishing LLP
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe
© 2011 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Übersetzung: Ursula Walther
Umschlaggestaltung: Alexandra Dohse, München
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Umschlagmotiv: Mauritius Images, Mittenwald
(© Wolfgang Weinhäupl; © Imagebroker)
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in the EU
ISBN 978-3-86800-672-8
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Bibliographische Angaben
- Autor: Iris Johansen
- 2011, 1, 427 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006729
- ISBN-13: 9783868006728
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