Pestmasken
Ein spannender Roman voller Dramatik über Freundschaft, Verweiflung und Hoffnung vor dem Hintergrund der Pestepidemie in mittelalterlichen Köln.
Köln im Mittelalter: Die junge Novizin Ketlin lernt kurz vor Ausbruch...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Pestmasken “
Ein spannender Roman voller Dramatik über Freundschaft, Verweiflung und Hoffnung vor dem Hintergrund der Pestepidemie in mittelalterlichen Köln.
Köln im Mittelalter: Die junge Novizin Ketlin lernt kurz vor Ausbruch der großen Pestepidemie den Apothekerlehrling Jacob kennen. Zwischen den beiden entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Doch dann bricht der Schwarze Tod mit einer unvorhersehbaren Wucht über die Stadt herein und zerstört jegliche bestehende Ordnung. Die beiden wollen aus Angst und in der Hoffnung auf ein besseres Leben aus der Stadt fliehen. Aber die Stadttore werden geschlossen und für die beiden scheint ein Entkommen aus der Todesfalle unmöglich. Werden Sie einen Weg finden, zu fliehen?
Klappentext zu „Pestmasken “
Köln, 1348: Kurz vor Ausbruch einer verheerenden Pestepidemie lernt die junge Novizin Ketlin den jüdischen Apothekerlehrling Jacob kennen und es entspinnt sich eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen. Als der Schwarze Tod die Stadt trotz aller Vorkehrungen heimsucht, geraten sie in die Wirren einer zusammenberechenden sozialen Ordnung. Getrieben von Angst und der vagen Hoffnung, anderswo ein besseres Leben zu finden, wollen sie Köln verlassen, doch die Stadttore sind geschlossen, die Stadt wird zur Todesfalle, aus der es kein Entkommen mehr gibt.
Lese-Probe zu „Pestmasken “
Pestmasken von Claudia KernProlog
In letzter Zeit denke ich oft an den Toten im Weiher. Die Erinnerung ist so lebendig wie ein Traum, aus dem man mitten in der Nacht hochschreckt.
Es war der erste frostfreie Tag des Jahres, und ich stand hinter der Scheune und sah zu, wie ihn unser Knecht Michael aus dem Wasser zog. Ich spürte das feuchte Gras unter den dünnen Sohlen meiner Lederschuhe, die kleinen Steine dazwischen, und hörte das Knirschen des Eises auf dem Weiher.
Der Tote konnte noch nicht lange im Wasser gelegen haben. Die Fische hatten seine Augen gefressen und seine Lippen, aber ich erkannte ihn an der langen Narbe auf der Stirn. Es war Utz. Ich wusste nicht mehr, woher die Narbe stammte, nur noch, dass er eines Abends an unserer Tür gestanden hatte, gestützt von seinen Töchtern Erika und Anne, und meine Mutter um Hilfe bat. Sie hatte das Blut von seinem Gesicht gewaschen, die Wunde mit der Nadel, mit der sie sonst meine Kleider stopfte, genäht und ihm einen Kräutersud gekocht. Sie wusste viel über solche Dinge, über Wunden und Kräuter, Wehwehchen und wie man sie lindert. Heute glaube ich, dass man uns nur deshalb nicht aus dem Dorf jagte.
Michael zog Utz mit seiner Angel aus dem Weiher. Wir waren allein. Mutter war schon vor dem Morgengrauen zum Markt nach Coellen aufgebrochen, um Stoff für meinen neuen Rock zu kaufen.
Sie sagte, ich würde schneller wachsen als das Unkraut in den Beeten. Wäre sie zuhause gewesen, hätte sie mich weggeschickt, hätte mich davon abgehalten, in das aufgeschwemmte grinsende Gesicht zu blicken, von dem Wasser wie Tränen ins Gras tropfte. Aber sie war nicht zuhause. Und so stand ich am Weiher, die Enden des Stricks, der meinen zu kurzen Rock zusammenhielt, um die Finger geschlungen und sah zu, wie Michael den Umhang des Toten über dessen Gesicht ausbreitete.
»Gott sei deiner Seele gnädig, Utz«, sagte er
... mehr
und wischte sich die nassen Hände an der Hose ab.
Ich runzelte die Stirn, verstand nicht, wieso er so traurig klang. »Hat Gott ihn nicht ins Wasser gestoßen?«, fragte ich.
Michael musterte mich, dachte wohl darüber nach, wie viel ich
von dem mitbekommen hatte, was geschehen war. »Weshalb sollte
Gott etwas so Schreckliches tun?«
Ich streckte den Arm aus und zeigte auf den Weg, der vor unserem Haus verlief und durch das ganze Dorf führte. An seinem Ende, hinter Brombeerhecken und flachen Hüttendächern, ragten schwarz verkohlte Balken empor. »Deshalb.«
»Und was glaubst du, ist da passiert?«
Ich zögerte. Uns Kindern hatte man erzählt, Räuber wären in der Nacht vor Utz' Hütte aufgetaucht, aber wir wussten es besser, hatten die letzten Tage damit verbracht, uns unsere eigene Geschichte zusammengereimt aus dem, was die Erwachsenen sich zuflüsterten, wenn sie glaubten, allein zu sein. Es war nicht schwer gewesen, schließlich wurde seit jener Nacht über nichts anderes im Dorf geredet.
»Ich glaube«, sagte ich, »dass Utz seine Familie erschlagen hat, weil er hungrig war und sie ihm alles wegaßen. Und dann wollte er zu unserem Haus, aber weil wir immer beten und zur Messe gehen, hat Gott ihn in den Weiher geworfen.«
Ärger zog wie eine Wolke über Michaels Gesicht, verschwand dann aber wieder. »Du bist zu jung und zu ... « Er unterbrach sich.
Damals wusste ich nicht, was er sagen wollte, doch heute kann ich es mir denken.
»... um das zu verstehen«, fuhr er fort. »Utz war ein guter, anständiger Mann. Du solltest für ihn beten, nicht über ihn tratschen.« Er warf einen kurzen Blick auf den Toten unter dem Umhang, als würde er von ihm Zustimmung erwarten. »Utz hat sein Weib und seine Kinder geliebt. Mehr musst du nicht wissen.«
Michael hob seine Angel auf und wandte sich ab.
»Dann waren es doch Räuber?«
Er blieb stehen. Einen Moment lang sagte er nichts, aber ich sah, wie sich seine Hand fester um die Angel schloss. Dann drehte er sich zu mir um. Der Ärger war in sein faltiges, raues Gesicht zurückgekehrt. »Weißt du, was Hunger heißt, Kind? Weißt du, was es heißt, morgens aufzuwachen und deine Kinder vor Hunger schreien zu hören? Wenn du das letzte Huhn geschlachtet und die Saat für das Frühjahr aufgegessen hast und dein Feld brachliegen muss?«
Er machte einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück. Noch nie hatte ich Michael so wütend gesehen.
»Du und deine Mutter, mit euren zwei Mahlzeiten am Tag und einem Stall voller Ziegen, ihr wisst nichts. Ihr werdet nie verstehen, dass ein Mann einen Stein in die Hand nimmt und seinen Kindern und seinem Weib den Schädel einschlägt, weil er es nicht ertragen kann, sie verhungern zu sehen! Aber Gott versteht es - ist mir scheißegal, was die Pfaffen dazu sagen! Gott weiß, dass Utz das Richtige getan hat.«
Ich senkte den Kopf, um Michaels Blick auszuweichen. Ohne es zu merken, hatte ich den Strick so eng um die Hand geschlungen, dass sich meine Finger weiß gefärbt hatten. Ich versuchte mir vorzustellen, was Utz gefühlt haben musste, aber es gelang mir nicht.
»Warum hat er Mutter nicht um Essen gebeten?«
Michael antwortete nicht. Es wurde so still, dass ich die Bauern auf ihren Feldern reden hörte. Dann lachte er kurz und trocken, schüttelte den Kopf und ließ mich allein mit dem Toten zurück.
Utz hatte gefragt, das verstand ich damals schon, auch wenn ich es mir nicht eingestand. Ich erzählte niemandem davon, weder Mutter noch den anderen Kindern noch dem Priester, der zwei Wochen später zum ersten Mal nach dem Winter ins Dorf kam und die Toten segnete, die das Frühjahr nicht mehr erlebt hatten.
Mit der Zeit erholte sich das Dorf von der Tat. Die Hütte, die Utz angezündet hatte, wurde durch eine neue ersetzt, und frisches Saatgut ging auf seinem Feld auf. Die Erwachsenen begannen über anderes zu reden, über Geburten und Krankheiten, das Wetter und die kleinen Skandale im Dorf. Doch ab und zu, wenn wir Kinder unbeachtet zwischen ihnen spielten, hörte ich jemanden sagen: »Er hat das Richtige getan«, und ich wusste immer, wer damit gemeint war.
So ging es bis zu dem Tag, an dem die Schausteller kamen.
Kapitel 1
Es war der Oktober im Jahr 1347.
»Holt euer Weibsvolk rein! Die Schausteller kommen!«
Knuts Stimme hallte durch den Regen, überschlug sich b einahe vor Aufregung. Neben mir meckerten die Ziegen. Ich legte die Holzschaufel weg, mit der ich ihren Stall hatte säubern wollen, schlug die Kapuze meines Umhangs hoch und trat nach draußen.
»Schausteller!«, rief Knut. Die Brombeerhecke, die neben unserer Hütte am Weg wuchs, war in den letzten Jahren so dicht geworden, dass ich ihn nur hören, aber nicht sehen konnte. Neugierig ging ich auf den Klang seiner Stimme zu.
Ich war nicht die Einzige, das bemerkte ich, als die Hecke mir nicht mehr die Sicht nahm. Auch aus den anderen Hütten traten Menschen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Die letzte Ernte war vor Tagen eingeholt worden, es gab kaum noch Arbeit auf den Feldern. Die Männer nutzten die Gelegenheit, um sich ein paar Pfennige beim Steinebrechen oder Holzhacken zu verdienen, während die Frauen zuhause blieben und das Gemüse für den Winter einlegten. Sie dürsteten ebenso nach Abwechslung wie ich.
»Schausteller!«
Knut tauchte zwischen einigen Hütten und Hühnerställen auf, sprang über die Deichsel eines Karrens hinweg und lief auf den Weg. Matsch spritzte an seinen teuren Lederstiefeln empor. Als er all die Frauen und Mädchen vor den Hütten sah, blieb er stehen.
Die Kapuze seines Umhangs war ihm beim Lauf vom Kopf gerutscht. Regenwasser tropfte ihm aus den Haaren. Er stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete uns missbilligend.
»Schausteller«, wiederholte er zwischen zwei keuchenden Atemzügen. »Habt ihr mich nicht gehört? Bringt euch in Sicherheit.«
»Ach, halt die Klappe, Knut«, sagte ich so laut, dass es jeder im Dorf hören konnte. Einige lachten, Knut natürlich nicht. Er und ich waren im selben Jahr geboren worden, aber er benahm sich immer noch wie ein Kind. Sein Vater, Bauer Josef, der reichste Mann im Dorf und in Abwesenheit des Fronherrn unser Vorsteher, pflegte zu sagen, Gott habe ihn für seine Sünden mit einem ältesten Sohn bestraft, der nicht einmal zum Ziegenhüten tauge.
Knut sah mich an, öffnete den Mund, als wolle er zu einer Antwort ansetzen, schloss ihn aber direkt wieder und schüttelte nur stumm den Kopf. Sein Gesicht war so rund und hell wie der Mond, seine Lippen voll wie die eines Mädchens. Hinter seinem Rücken nannten wir ihn »Knutine«.
»Ihr werdet schon sehen«, sagte er, als er die Daumen hinter den Gürtel hakte und sich abwandte. »Vorlautes Weibsvolk.«
Die letzten Worte flüsterte er, aber ich verstand sie trotzdem.
Else und Erna, Töchter eines Tagelöhners, die mir gegenüber vor ihrer kleinen Hütte standen, sahen mich erwartungsvoll an. Ich hob die Schultern, wollte Knut nicht noch mehr provozieren. Schon öfter hatte er sich bei seinem Vater über jemanden im Dorf beschwert, auch über mich. Mutter mochte es nicht, wenn ich bei denen, die über uns standen, unangenehm auffiel.
Das Quietschen von Wagenrädern und das Knallen einer Peitsche unterbrachen meine Gedanken. Ich trat auf den Weg und rückte die Kapuze meines Umhangs zurecht, sodass sie Haar und Stirn bedeckte. Auch die anderen Frauen und Mädchen tasteten nach ihren Kopfbedeckungen. Einige Mütter ergriffen die Hände ihrer Kinder und wichen zurück, als der erste Ochsenkarren ins Dorf rollte.
Zwei Männer, verborgen unter schweren, schlammbespritzten Umhängen, gingen vor ihm her. Einer trug einen langen Stecken, von dem eine tote Krähe hing. Der andere schwankte hin und her wie ein Betrunkener. Auf dem Kutschbock saß ein dritter, ebenfalls verhüllter Mann. Hinter ihm stapelten sich Kisten und Säcke unter einer Plane aus Segeltuch. Kleinere Kisten hingen an den Seiten des Karrens. Er wirkte überladen, die Holzräder gruben sich tief in den Matsch.
Ein zweiter Ochsenkarren folgte dem ersten. Die Menschen, die neben und vor ihm gingen, konnte ich nicht erkennen. Sie hatten ihre Umhänge geschlossen, selbst ob es sich um Männer oder Frauen handelte, blieb mir verborgen. Meine Selbstsicherheit verflog, wurde ersetzt durch eine ängstliche Unruhe, als mir klar wurde, dass es außer Knut und einigen Greisen keinen Mann im Dorf gab. Nur wenige Male in meinem Leben hatte ich den Vater, den ich nie hatte, vermisst, doch in diesem Augenblick wünschte ich mir, er würde aus der Hütte treten und sich der unheimlichen Prozession stellen.
Die Karren rollten nacheinander durch das Dorf. Es waren insgesamt vier, alle so überladen wie der erste. Eine der Gestalten, die sie begleiteten, zog eine Flöte hervor und begann darauf zu spielen. Es war eine düstere, schwerfällig klingende Melodie, als würde ein Toter an uns vorbeigetragen. Die Gestalten bewegten sich schleppend und langsam wie Kranke oder Geister. Keiner von ihnen sagte etwas, ich hörte nur das klagende Pfeifen der Flöte und das rhythmische Klirren der Schellen, das sich nun daruntermischte. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre ins Haus gelaufen, aber mein Stolz hielt mich davon ab. Solange die anderen nicht die Türen hinter sich zuschlugen, würde auch ich meine Angst nicht zeigen, aber sobald der erste ...
»Flieht!« Knut sprang durch eine Lücke in der Brombeerhecke und verschwand hinter den Hühnerställen. Aus den Augen winkeln beobachtete ich die Frauen vor ihren Hütten. Keine von ihnen folgte ihm. Niemand tat ja, was Knut sagte. Es war wie ein ungeschriebenes Gesetz.
Auch ich blieb stehen, obwohl mein Herz mit jedem Schritt, den die Fremden ins Dorf taten, schneller klopfte. Es war ein kleines Dorf, gerade mal ein Dutzend Häuser, und die Ochsenwagen nahmen nun fast seine gesamte Länge ein. Es fühlte sich an, als habe eine Armee, der wir nichts entgegenzusetzen hatten, uns erobert.
Die Melodie der Flöte änderte sich. Es geschah so unauffällig, dass ich es erst bemerkte, als auch der Takt der Schellen schneller wurde und die Gaukler im Rhythmus zu nicken begannen. Ihre Kapuzen wippten dabei auf und ab.
Und dann, mit einem Ruck, warf der, den ich für ihren Anführer hielt - der Mann mit dem seltsamen Wanderstab -, den Kopf in den Nacken und lachte. Die Kapuze rutschte ihm in den Nacken. Ich blickte in ein braun gebranntes, hageres Gesicht mit scharf geschnittenen Zügen und hohen Wangenknochen. Seine Haut war mit teils schwarzen, teils blau verblassten Linien durchzogen, Tätowierungen, die auf mich beinahe magisch wirkten.
Aus tiefblauen Augen warf er einen Blick über die versammelten Frauen und Kinder. Auch mich sah er einen Moment lang an. Als er sprach, war es so, als würde er seine Worte nur an mich richten.
»Hat eure Angst euch die Kehlen zugeschnürt?«, rief er. »Dachtet ihr, wir bringen den Tod?«
Auch seine Begleiter schlugen die Kapuzen zurück. Ich blickte in die Gesichter von Männer und Frauen, von denen viele kaum älter als ich waren. Doch sie wirkten älter, so wie die Lehrlinge, die manchmal auf ihren Wanderungen durch unser Dorf kamen.
Der Anführer der Gaukler hob seinen Stab und ließ ihn kreisen, bis die Krähe, die darin hing, zu fliegen schien.
»Dann freut euch nun!«, rief er. »Freut euch, denn wir bringen das Leben, den Tanz und das Spiel!«
Auf einmal hatten alle Gaukler Instrumente in der Hand, Flöten und Lauten und Trommeln. Sie begannen darauf zu spielen, fröhlich und so schnell, dass sich meine Füße ohne mein Zutun zu bewegen begannen.
Frauen lachten, Kinder nahmen sich bei den Händen und tanzten zwischen Ochsenkarren und aufgescheuchten Hühnern, als sich ihre Angst mit einem Mal auflöste wie ein dunkler Traum beim ersten Sonnenstrahl. Wir alle kannten das Lied, das die Gaukler angestimmt hatten, und sangen die Strophen mit. Es ging darin um einen armen Tagelöhner, der die Tochter des reichsten Bauern der ganzen Gegend zu seiner Frau machen will. Wir sangen es oft bei der Arbeit.
Ich nahm einige der kleineren Kinder bei der Hand und tanzte mit ihnen. Die Gaukler hatten ihre Ochsenkarren angehalten, tanzten und sangen mit uns, während sie auf ihren Instrumenten spielten. Unsere Stimmung war ausgelassen, spiegelte die Erleichterung wider, die wir nach dem unheimlichen Auftritt spürten. Ich glaube nicht, dass wir uns ohne diese Furcht so gefreut hätten.
Meine Füße wirbelten Matsch und kleine Steine auf, der lange Wollrock, den ich trug, schlug bei jeder Drehung gegen meine Schenkel, das Haar hing mir ins Gesicht. Ich begann zu schwitzen, die Wolle stach und brannte auf meiner Haut, aber ich tanzte weiter. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass der Mann mit dem Wanderstab als Einziger nicht mit uns tanzte, sondern auf der Deichsel des vordersten Ochsenkarrens stand und uns beobachtete.
Soll er doch, dachte ich. Er sieht nichts Unanständiges ...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Ich runzelte die Stirn, verstand nicht, wieso er so traurig klang. »Hat Gott ihn nicht ins Wasser gestoßen?«, fragte ich.
Michael musterte mich, dachte wohl darüber nach, wie viel ich
von dem mitbekommen hatte, was geschehen war. »Weshalb sollte
Gott etwas so Schreckliches tun?«
Ich streckte den Arm aus und zeigte auf den Weg, der vor unserem Haus verlief und durch das ganze Dorf führte. An seinem Ende, hinter Brombeerhecken und flachen Hüttendächern, ragten schwarz verkohlte Balken empor. »Deshalb.«
»Und was glaubst du, ist da passiert?«
Ich zögerte. Uns Kindern hatte man erzählt, Räuber wären in der Nacht vor Utz' Hütte aufgetaucht, aber wir wussten es besser, hatten die letzten Tage damit verbracht, uns unsere eigene Geschichte zusammengereimt aus dem, was die Erwachsenen sich zuflüsterten, wenn sie glaubten, allein zu sein. Es war nicht schwer gewesen, schließlich wurde seit jener Nacht über nichts anderes im Dorf geredet.
»Ich glaube«, sagte ich, »dass Utz seine Familie erschlagen hat, weil er hungrig war und sie ihm alles wegaßen. Und dann wollte er zu unserem Haus, aber weil wir immer beten und zur Messe gehen, hat Gott ihn in den Weiher geworfen.«
Ärger zog wie eine Wolke über Michaels Gesicht, verschwand dann aber wieder. »Du bist zu jung und zu ... « Er unterbrach sich.
Damals wusste ich nicht, was er sagen wollte, doch heute kann ich es mir denken.
»... um das zu verstehen«, fuhr er fort. »Utz war ein guter, anständiger Mann. Du solltest für ihn beten, nicht über ihn tratschen.« Er warf einen kurzen Blick auf den Toten unter dem Umhang, als würde er von ihm Zustimmung erwarten. »Utz hat sein Weib und seine Kinder geliebt. Mehr musst du nicht wissen.«
Michael hob seine Angel auf und wandte sich ab.
»Dann waren es doch Räuber?«
Er blieb stehen. Einen Moment lang sagte er nichts, aber ich sah, wie sich seine Hand fester um die Angel schloss. Dann drehte er sich zu mir um. Der Ärger war in sein faltiges, raues Gesicht zurückgekehrt. »Weißt du, was Hunger heißt, Kind? Weißt du, was es heißt, morgens aufzuwachen und deine Kinder vor Hunger schreien zu hören? Wenn du das letzte Huhn geschlachtet und die Saat für das Frühjahr aufgegessen hast und dein Feld brachliegen muss?«
Er machte einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück. Noch nie hatte ich Michael so wütend gesehen.
»Du und deine Mutter, mit euren zwei Mahlzeiten am Tag und einem Stall voller Ziegen, ihr wisst nichts. Ihr werdet nie verstehen, dass ein Mann einen Stein in die Hand nimmt und seinen Kindern und seinem Weib den Schädel einschlägt, weil er es nicht ertragen kann, sie verhungern zu sehen! Aber Gott versteht es - ist mir scheißegal, was die Pfaffen dazu sagen! Gott weiß, dass Utz das Richtige getan hat.«
Ich senkte den Kopf, um Michaels Blick auszuweichen. Ohne es zu merken, hatte ich den Strick so eng um die Hand geschlungen, dass sich meine Finger weiß gefärbt hatten. Ich versuchte mir vorzustellen, was Utz gefühlt haben musste, aber es gelang mir nicht.
»Warum hat er Mutter nicht um Essen gebeten?«
Michael antwortete nicht. Es wurde so still, dass ich die Bauern auf ihren Feldern reden hörte. Dann lachte er kurz und trocken, schüttelte den Kopf und ließ mich allein mit dem Toten zurück.
Utz hatte gefragt, das verstand ich damals schon, auch wenn ich es mir nicht eingestand. Ich erzählte niemandem davon, weder Mutter noch den anderen Kindern noch dem Priester, der zwei Wochen später zum ersten Mal nach dem Winter ins Dorf kam und die Toten segnete, die das Frühjahr nicht mehr erlebt hatten.
Mit der Zeit erholte sich das Dorf von der Tat. Die Hütte, die Utz angezündet hatte, wurde durch eine neue ersetzt, und frisches Saatgut ging auf seinem Feld auf. Die Erwachsenen begannen über anderes zu reden, über Geburten und Krankheiten, das Wetter und die kleinen Skandale im Dorf. Doch ab und zu, wenn wir Kinder unbeachtet zwischen ihnen spielten, hörte ich jemanden sagen: »Er hat das Richtige getan«, und ich wusste immer, wer damit gemeint war.
So ging es bis zu dem Tag, an dem die Schausteller kamen.
Kapitel 1
Es war der Oktober im Jahr 1347.
»Holt euer Weibsvolk rein! Die Schausteller kommen!«
Knuts Stimme hallte durch den Regen, überschlug sich b einahe vor Aufregung. Neben mir meckerten die Ziegen. Ich legte die Holzschaufel weg, mit der ich ihren Stall hatte säubern wollen, schlug die Kapuze meines Umhangs hoch und trat nach draußen.
»Schausteller!«, rief Knut. Die Brombeerhecke, die neben unserer Hütte am Weg wuchs, war in den letzten Jahren so dicht geworden, dass ich ihn nur hören, aber nicht sehen konnte. Neugierig ging ich auf den Klang seiner Stimme zu.
Ich war nicht die Einzige, das bemerkte ich, als die Hecke mir nicht mehr die Sicht nahm. Auch aus den anderen Hütten traten Menschen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Die letzte Ernte war vor Tagen eingeholt worden, es gab kaum noch Arbeit auf den Feldern. Die Männer nutzten die Gelegenheit, um sich ein paar Pfennige beim Steinebrechen oder Holzhacken zu verdienen, während die Frauen zuhause blieben und das Gemüse für den Winter einlegten. Sie dürsteten ebenso nach Abwechslung wie ich.
»Schausteller!«
Knut tauchte zwischen einigen Hütten und Hühnerställen auf, sprang über die Deichsel eines Karrens hinweg und lief auf den Weg. Matsch spritzte an seinen teuren Lederstiefeln empor. Als er all die Frauen und Mädchen vor den Hütten sah, blieb er stehen.
Die Kapuze seines Umhangs war ihm beim Lauf vom Kopf gerutscht. Regenwasser tropfte ihm aus den Haaren. Er stemmte die Hände in die Hüften und betrachtete uns missbilligend.
»Schausteller«, wiederholte er zwischen zwei keuchenden Atemzügen. »Habt ihr mich nicht gehört? Bringt euch in Sicherheit.«
»Ach, halt die Klappe, Knut«, sagte ich so laut, dass es jeder im Dorf hören konnte. Einige lachten, Knut natürlich nicht. Er und ich waren im selben Jahr geboren worden, aber er benahm sich immer noch wie ein Kind. Sein Vater, Bauer Josef, der reichste Mann im Dorf und in Abwesenheit des Fronherrn unser Vorsteher, pflegte zu sagen, Gott habe ihn für seine Sünden mit einem ältesten Sohn bestraft, der nicht einmal zum Ziegenhüten tauge.
Knut sah mich an, öffnete den Mund, als wolle er zu einer Antwort ansetzen, schloss ihn aber direkt wieder und schüttelte nur stumm den Kopf. Sein Gesicht war so rund und hell wie der Mond, seine Lippen voll wie die eines Mädchens. Hinter seinem Rücken nannten wir ihn »Knutine«.
»Ihr werdet schon sehen«, sagte er, als er die Daumen hinter den Gürtel hakte und sich abwandte. »Vorlautes Weibsvolk.«
Die letzten Worte flüsterte er, aber ich verstand sie trotzdem.
Else und Erna, Töchter eines Tagelöhners, die mir gegenüber vor ihrer kleinen Hütte standen, sahen mich erwartungsvoll an. Ich hob die Schultern, wollte Knut nicht noch mehr provozieren. Schon öfter hatte er sich bei seinem Vater über jemanden im Dorf beschwert, auch über mich. Mutter mochte es nicht, wenn ich bei denen, die über uns standen, unangenehm auffiel.
Das Quietschen von Wagenrädern und das Knallen einer Peitsche unterbrachen meine Gedanken. Ich trat auf den Weg und rückte die Kapuze meines Umhangs zurecht, sodass sie Haar und Stirn bedeckte. Auch die anderen Frauen und Mädchen tasteten nach ihren Kopfbedeckungen. Einige Mütter ergriffen die Hände ihrer Kinder und wichen zurück, als der erste Ochsenkarren ins Dorf rollte.
Zwei Männer, verborgen unter schweren, schlammbespritzten Umhängen, gingen vor ihm her. Einer trug einen langen Stecken, von dem eine tote Krähe hing. Der andere schwankte hin und her wie ein Betrunkener. Auf dem Kutschbock saß ein dritter, ebenfalls verhüllter Mann. Hinter ihm stapelten sich Kisten und Säcke unter einer Plane aus Segeltuch. Kleinere Kisten hingen an den Seiten des Karrens. Er wirkte überladen, die Holzräder gruben sich tief in den Matsch.
Ein zweiter Ochsenkarren folgte dem ersten. Die Menschen, die neben und vor ihm gingen, konnte ich nicht erkennen. Sie hatten ihre Umhänge geschlossen, selbst ob es sich um Männer oder Frauen handelte, blieb mir verborgen. Meine Selbstsicherheit verflog, wurde ersetzt durch eine ängstliche Unruhe, als mir klar wurde, dass es außer Knut und einigen Greisen keinen Mann im Dorf gab. Nur wenige Male in meinem Leben hatte ich den Vater, den ich nie hatte, vermisst, doch in diesem Augenblick wünschte ich mir, er würde aus der Hütte treten und sich der unheimlichen Prozession stellen.
Die Karren rollten nacheinander durch das Dorf. Es waren insgesamt vier, alle so überladen wie der erste. Eine der Gestalten, die sie begleiteten, zog eine Flöte hervor und begann darauf zu spielen. Es war eine düstere, schwerfällig klingende Melodie, als würde ein Toter an uns vorbeigetragen. Die Gestalten bewegten sich schleppend und langsam wie Kranke oder Geister. Keiner von ihnen sagte etwas, ich hörte nur das klagende Pfeifen der Flöte und das rhythmische Klirren der Schellen, das sich nun daruntermischte. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre ins Haus gelaufen, aber mein Stolz hielt mich davon ab. Solange die anderen nicht die Türen hinter sich zuschlugen, würde auch ich meine Angst nicht zeigen, aber sobald der erste ...
»Flieht!« Knut sprang durch eine Lücke in der Brombeerhecke und verschwand hinter den Hühnerställen. Aus den Augen winkeln beobachtete ich die Frauen vor ihren Hütten. Keine von ihnen folgte ihm. Niemand tat ja, was Knut sagte. Es war wie ein ungeschriebenes Gesetz.
Auch ich blieb stehen, obwohl mein Herz mit jedem Schritt, den die Fremden ins Dorf taten, schneller klopfte. Es war ein kleines Dorf, gerade mal ein Dutzend Häuser, und die Ochsenwagen nahmen nun fast seine gesamte Länge ein. Es fühlte sich an, als habe eine Armee, der wir nichts entgegenzusetzen hatten, uns erobert.
Die Melodie der Flöte änderte sich. Es geschah so unauffällig, dass ich es erst bemerkte, als auch der Takt der Schellen schneller wurde und die Gaukler im Rhythmus zu nicken begannen. Ihre Kapuzen wippten dabei auf und ab.
Und dann, mit einem Ruck, warf der, den ich für ihren Anführer hielt - der Mann mit dem seltsamen Wanderstab -, den Kopf in den Nacken und lachte. Die Kapuze rutschte ihm in den Nacken. Ich blickte in ein braun gebranntes, hageres Gesicht mit scharf geschnittenen Zügen und hohen Wangenknochen. Seine Haut war mit teils schwarzen, teils blau verblassten Linien durchzogen, Tätowierungen, die auf mich beinahe magisch wirkten.
Aus tiefblauen Augen warf er einen Blick über die versammelten Frauen und Kinder. Auch mich sah er einen Moment lang an. Als er sprach, war es so, als würde er seine Worte nur an mich richten.
»Hat eure Angst euch die Kehlen zugeschnürt?«, rief er. »Dachtet ihr, wir bringen den Tod?«
Auch seine Begleiter schlugen die Kapuzen zurück. Ich blickte in die Gesichter von Männer und Frauen, von denen viele kaum älter als ich waren. Doch sie wirkten älter, so wie die Lehrlinge, die manchmal auf ihren Wanderungen durch unser Dorf kamen.
Der Anführer der Gaukler hob seinen Stab und ließ ihn kreisen, bis die Krähe, die darin hing, zu fliegen schien.
»Dann freut euch nun!«, rief er. »Freut euch, denn wir bringen das Leben, den Tanz und das Spiel!«
Auf einmal hatten alle Gaukler Instrumente in der Hand, Flöten und Lauten und Trommeln. Sie begannen darauf zu spielen, fröhlich und so schnell, dass sich meine Füße ohne mein Zutun zu bewegen begannen.
Frauen lachten, Kinder nahmen sich bei den Händen und tanzten zwischen Ochsenkarren und aufgescheuchten Hühnern, als sich ihre Angst mit einem Mal auflöste wie ein dunkler Traum beim ersten Sonnenstrahl. Wir alle kannten das Lied, das die Gaukler angestimmt hatten, und sangen die Strophen mit. Es ging darin um einen armen Tagelöhner, der die Tochter des reichsten Bauern der ganzen Gegend zu seiner Frau machen will. Wir sangen es oft bei der Arbeit.
Ich nahm einige der kleineren Kinder bei der Hand und tanzte mit ihnen. Die Gaukler hatten ihre Ochsenkarren angehalten, tanzten und sangen mit uns, während sie auf ihren Instrumenten spielten. Unsere Stimmung war ausgelassen, spiegelte die Erleichterung wider, die wir nach dem unheimlichen Auftritt spürten. Ich glaube nicht, dass wir uns ohne diese Furcht so gefreut hätten.
Meine Füße wirbelten Matsch und kleine Steine auf, der lange Wollrock, den ich trug, schlug bei jeder Drehung gegen meine Schenkel, das Haar hing mir ins Gesicht. Ich begann zu schwitzen, die Wolle stach und brannte auf meiner Haut, aber ich tanzte weiter. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass der Mann mit dem Wanderstab als Einziger nicht mit uns tanzte, sondern auf der Deichsel des vordersten Ochsenkarrens stand und uns beobachtete.
Soll er doch, dachte ich. Er sieht nichts Unanständiges ...
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Autoren-Porträt von Claudia Kern
Claudia Kern ist Mitbegründerin des Science-Fiction-Magazins "Space View", das sie mehrere Jahre als Chefredakteurin betreute und für das sie auch heute noch eine regelmäßige Kolumne schreibt. 1999 war sie als Serienredakteurin für ProSieben tätig und zog danach als hauptberufliche Autorin zurück nach Bonn. Claudia Kern hat einige Sachbücher zu Fernsehserien verfasst, schreibt Film- und TV-Kritiken und entwirft Stories und Dialoge für Computerspiele. Inzwischen lebt und arbeitet Claudia Kern in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Claudia Kern
- 448 Seiten, Maße: 14,7 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863651170
- ISBN-13: 9783863651176
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