Psychopathen
Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann
Ein provozierender Blick auf die hellen und dunklen Seiten der Psychopathen.
Es hat schon etwas Verstörendes, wenn Kevin Dutton hier aufzeigt, wieviele Eigenschaften jeder "normale" Mensch mit einem Psychopathen teilt. Sie...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Psychopathen “
Ein provozierender Blick auf die hellen und dunklen Seiten der Psychopathen.
Es hat schon etwas Verstörendes, wenn Kevin Dutton hier aufzeigt, wieviele Eigenschaften jeder "normale" Mensch mit einem Psychopathen teilt. Sie haben Charme, sind unerschrocken und risikofreudig. Sie können harte Entscheidungen treffen, sich auf ein Ziel konzentrieren. Sind Sie ein Psychopath?
Klappentext zu „Psychopathen “
Sind Sie ein Psychopath?Natürlich sind Sie kein Psychopath. Vielleicht sind Sie eine Führungskraft oder ein sehr spiritueller Mensch. Sie haben Charme, Sie sind unerschrocken und risikofreudig, können harte Entscheidungen treffen. Sie sind sehr aufmerksam und können sich gut auf ein Ziel konzentrieren. Sie werden feststellen, dass das Eigenschaften sind, die Sie mit Psychopathen teilen. Selbstredend sind diese Eigenschaften nützlich, wenn man ein Serienmörder werden will. Aber auch im Gerichtssaal, in der Wirtschaft oder im OP. Oder im Leben eines Heiligen. Jede Medaille hat zwei Seiten.
"Eine meisterhafte, sehr lesbare und unterhaltsame Darstellung der Psychopathie und ihrer Manifestationen im Alltag. Manche seiner Ideen werden kontrovers diskutiert werden, aber es ist ein höchst anregendes Buch für alle, die die 'psychopathische' Welt, in der sie leben, besser verstehen wollen." Prof. Dr. Robert Hare, Erfinder der Psychopathy Checklist
Lese-Probe zu „Psychopathen “
Psychopathen von Kevin DuttonVorwort
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Mein alter Herr war ein Psychopath. Es klingt etwas seltsam, das jetzt, im Nachhinein, zu sagen. Aber er war einer. Definitiv. Er war charmant, unerschrocken und skrupellos (aber nie gewalttätig). Gewissensfragen ließen ihn völlig kalt. Er hat niemanden umgebracht. Aber ein paar Treffer hat er schon gelandet. Gut, dass Gene nicht alles sind, oder?
Mein Vater war unglaublich gut darin, genau das zu bekommen, was er wollte. Oft durch eine lässig hingeworfene Bemerkung. Oder durch eine einzige vielsagende Geste. Die Leute sagten immer, er sehe aus wie Del Boy, eine der Hauptfiguren in der sehr populären englischen Sitcom ›Only Fools and Horses‹, eine sehr selbstbewusste und unbekümmerte Persönlichkeit, die lügt, dass sich die Balken biegen. Es stimmt, mein Vater sah aus wie er und war auch so. Außerdem war er ebenfalls Markthändler, genau wie Del Boy. Die Sendung hätte ein Dutton- Familienvideo sein können.
Einmal half ich ihm dabei, auf dem Petticoat Lane Market im Londoner East End eine Ladung Taschenkalender zu verhökern. Ich war zehn und hätte an dem Tag eigentlich in der Schule sein müssen. Die Taschenkalender waren eine Art Sammlerstück. Sie enthielten nämlich nur 11 Monate.
»Das kannst du nicht machen!«, protestierte ich. »Da ist doch gar kein Januar drin.«
»Weiß ich«, sagte er. »Deshalb habe ich ja auch deinen Geburtstag vergessen.«
Dann legte er los: »Leute, das ist eine einmalige Gelegenheit, an Taschenkalender zu kommen, in denen nur 11 Monate drin sind. Ich mache ein Sonderangebot. Ihr kriegt zwei für den Preis von einem, und im nächsten Jahr dann einen mit einem Extramonat kostenlos dazu.«
Wir haben den ganzen Kram verkauft.
Ich habe immer gedacht, dass mein Vater die ideale Persönlichkeit für den modernen Lebensstil hatte. Ich habe nie gesehen, dass er in Panik geriet. Er hat nie seinen klaren Kopf verloren. Er ist nie in Wut geraten. Und für all das gab es wahrhaftig genügend Anlässe.
»Es heißt, die Ängstlichkeit der Leute stamme noch aus den Zeiten, als man sich gegen Raubtiere verteidigen musste, um zu überleben«, sagte er einmal zu mir. »Aber sag mir bloß, mein Junge, siehst du hier irgendwo einen Säbelzahntiger um die Ecken streichen?«
Natürlich habe ich keinen Säbelzahntiger gesehen. Es gab in der Gegend zwar ein paar Schlangen, aber jeder wusste, wo sie sich befanden.
Lange dachte ich, dieses Bonmot meines Vaters sei auch nichts anderes als seine übliche Handelsware. Nicht viel dahinter. So, wie der ganze andere Krempel, den er erstaunlicherweise immer an den Mann brachte. Aber heute, viele Jahre später, ist mir klar, dass eine tiefe biologische Wahrheit in dem lag, was der alte Fuchs von sich gab. De facto hat er damit knapp und präzise die Einstellung beschrieben, die moderne Evolutionspsychologen einnehmen. Wir Menschen, so scheint es, haben unsere Angstreaktion tatsächlich als Überlebensmechanismus entwickelt, um uns vor natürlichen Feinden zu schützen. Affen, deren Amygdala, das Gefühlssortierbüro des Gehirns, nicht richtig arbeitet, tun sehr dumme Dinge. Sie versuchen zum Beispiel, Kobras vom Boden aufzuheben.
Jahrmillionen später, in einer Welt, in der nicht um jede Ecke wilde Tiere kommen, kann dieses Angstsystem überempfindlich sein - wie ein nervöser Autofahrer, der den Fuß immer über der Bremse hält. Es kann auf Gefahren reagieren, die gar nicht wirklich existieren, und dafür sorgen, dass wir unlogische und unvernünftige Entscheidungen treffen.
»Im Pleistozän gab es keine Aktien«, sagt George Loewenstein, Professor für Wirtschaft und Psychologie an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. »Doch der Mensch ist pathologisch risikoscheu. Viele Mechanismen, die unsere Emotionen steuern, passen eigentlich nicht in die moderne Welt.«
Ich ziehe die Version meines Vaters vor.
Die Feststellung, dass moderne Menschen pathologisch risikoscheu sind, bedeutet selbstredend nicht, dass das immer schon ein Problem war. Man kann sogar so argumentieren, dass zum Beispiel diejenigen von uns, die unter einer richtigen Angststörung leiden, einfach zu viel von etwas haben, was eigentlich eine gute Sache ist. In den Frühzeiten der Menschheit, so meinen Evolutionsbiologen, konnte es in einer feindlichen Umwelt ausschlaggebend sein, wenn man hyperwachsam war. Aus diesem Blickwinkel betrachtet konnte Ängstlichkeit zweifellos ein wichtiger Anpassungsvorteil sein. Je empfindsamer man im Hinblick auf das Geraschel im Unterholz war, desto wahrscheinlicher war es, dass man selbst, die eigene Familie und Sippe am Leben blieben. Auch heutzutage sind ängstliche Menschen besser als andere in der Lage, eine Gefahr früh zu erkennen. Wenn man auf einem Bildschirm unter lauter heiteren oder neutralen Gesichtern ein einziges ärgerliches zeigt, dann erkennen das ängstliche Leute viel schneller als diejenigen, die nicht ängstlich sind. Das kann recht hilfreich sind, wenn ein schneller Rückzug vonnöten ist, weil man sich zufällig allein in dunkler Nacht in einer unbekannten Gegend befindet.
Es ist keine ganz neue Beobachtung, dass psychische Störungen generell auch von Nutzen sein können, dass sie manchmal ganz eigenartige, außergewöhnliche Vorteile mit sich bringen. Wie schon Aristoteles vor mehr als 2400 Jahren feststellte: »Es gibt kein Genie ohne einen Hauch von Wahnsinn.« Vielen Menschen ist diese Verbindung zwischen Genie und Wahnsinn ziemlich präsent aufgrund enorm erfolgreicher Filme wie ›Rain Man‹ oder ›A Beautiful Mind‹, in denen es um Autismus und Schizophrenie geht. In dem Buch ›Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte‹ berichtet der Neurologe und Psychiater Oliver Sacks von seiner berühmten Begegnung mit den Zwillingen John und Michael, beide total autistisch. Sie warendamals 26 und lebten in einer Anstalt. Als eine Schachtel Zündhölzer auf den Boden fiel und der Inhalt sich verteilte, riefen beide gleichzeitig »111«. Sacks sammelte die Zündhölzer ein und fing an zu zählen.
Auch das allseits bekannte Stereotyp vom brillanten, aber »gequälten« Künstler ist nicht ganz unbegründet. Der Maler Vincent van Gogh, der Tänzer Vaslav Nijinsky und John Nash, der Vater der »Spieltheorie«, waren alle psychotisch. Ist das ein Zufall? Nicht, wenn man Szabolcs Kéri glauben darf, Forscher an der Semmelweis-Universität in Budapest. Er scheint ein genetisches Muster entdeckt zu haben, bei dem sich beides, Schizophrenie und Kreativität verbinden. Er hat herausgefunden, dass Menschen mit zwei Kopien einer speziellen DNS-Kombination eines Gens namens Neuregulin 1, einer Variante, die man mit psychotischen Eigenschaften verbindet, aber auch mit einem schlechten Gedächtnis und Empfindlichkeit gegenüber Kritik, im Durchschnitt eine signifikant höhere Kreativität entwickeln als diejenigen, die nur eine oder gar keine Kopie haben. Menschen, die nur eine Kopie davon haben, sind immer noch durchschnittlich kreativer als diejenigen ohne.
Auch eine Depression kann Vorteile haben. Neuere Forschungen legen nahe, dass wir besser denken, wenn wir niedergeschlagen sind, weil sich die Aufmerksamkeit und die Fähigkeit zur Problemlösung steigern. Joe Forgas, Psychologieprofessor an der University von New South Wales, hat ein geniales Experiment erfunden. Er platzierte Schnickschnack, allerhand Spielzeugsoldaten, Plastiktiere und Spielzeugautos an der Kasse eines kleinen Schreibwarengeschäfts in Sydney. Wenn die Kunden herauskamen, testete er ihr Gedächtnis, indem er sie bat, so viele wie möglich von diesen Gegenständen aufzuzählen. Aber die Sache hatte noch einen Dreh. Wenn das Wetter schlecht war, lief Verdis ›Requiem‹ im Hintergrund. Wenn es schön war, wurden die Kunden mit den Klängen von Gilbert und Sullivan traktiert.
Die Ergebnisse hätten eindeutiger nicht sein können. Kunden, die auf schlechte Stimmung konditioniert waren, erinnerten sich an fast vier Mal so viele Gegenstände. Der Regen hatte auf ihre Stimmung gedrückt, die Musik auch, und diese Stimmung hatte dafür gesorgt, dass sie viel aufmerksamer waren. Und was ist die Moral von der Geschichte? Bei gutem Wetter sollte man das Wechselgeld besonders genau nachzählen.
Wenn man die verschiedenen psychischen Störungen im Hinblick darauf betrachtet, welche Vorteile sie bringen, wo Silberstreifen am Horizont und psychologische Trostpreise zu finden sind, dann stellt man fest, es gibt kaum eine, bei der das - zumindest auf die eine oder andere Art - nicht der Fall ist. Sie sind zwangsneurotisch? Dann werden Sie nie aus Versehen den Herd anlassen. Sie sind paranoid? Ihnen wird es nicht passieren, dass Sie das Kleingedruckte überlesen. In der Tat sind Furcht und Trauer - Angst und Depression - zwei der fünf grundlegenden Gefühle, die es in allen Kulturen gibt und die wir nahezu alle irgendwann erleben. Aber es gibt eine Ausnahme, eine Gruppe von Menschen, die diese beiden Emotionen nicht kennen, gleichgültig, wie schwierig und anstrengend die Umstände sind: Psychopathen. Ein Psychopath würde sich nicht einmal dann Sorgen machen, wenn er den Herd definitiv angelassen hätte. Sehen Sie da einen Silberstreif am Horizont?
Wenn Sie einem Psychopathen eine solche Frage stellen, wird er Sie wohl in den meisten Fällen verständnislos anblicken, als ob Sie derjenige sind, der verrückt ist. Warum? Für einen Psychopathen gibt es so etwas wie Wolken am Himmel gar nicht, sondern nur Silberstreifen. Die schlichte Beobachtung, dass ein Jahr aus zwölf und nicht aus elf Monaten besteht, machte den Plan, diese Taschenkalender verkaufen zu wollen, eigentlich zu einer Schnapsidee. Nicht so für meinen Vater. Ganz im Gegenteil. Er machte ein Verkaufsargument daraus.
Damit steht er nicht alleine da. Und liegt auch keineswegs falsch, werden manche sagen. Im Verlauf meiner Forschungen habe ich eine ganze Reihe von Psychopathen getroffen, in allen Lebensbereichen - nicht nur, um das klarzustellen, in meiner Familie. Hinter Gefängnistüren bin ich auch Hannibal-Lecterund Ted-Bundy-Typen begegnet: gnaden- und gewissenlosen Spitzenpsychopathen, denen man das ziemlich rasch anmerkt, ohne weiter nachfragen zu müssen. Aber ich habe auch Psychopathen getroffen, die weit davon entfernt sind, die Gesellschaft zu zerstören, sondern ihr stattdessen durch ihre Kaltblütigkeit und Entschlossenheit dienen, sie schützen und bereichern: Chirurgen, Soldaten, Geheimdienstleute, Unternehmer - und, wie ich zu behaupten wage, Anwälte. »Mach nicht einen auf großspurig, egal, wie gut du bist. Die Leute sollten dich nicht kommen sehen«, rät Al Pacino als Chef einer einflussreichen Anwaltskanzlei in dem Film ›Im Auftrag des Teufels‹. »Das ist der Trick, mein Guter. Mach dich klein. Mach den Hinterwäldler, den Idioten, den Aussätzigen, den Langweiler. Schau mich an - ich bin vom ersten Tag an unterschätzt worden.« Pacino spielte den Teufel. Und traf mit dieser Bemerkung den Nagel auf den Kopf. Wenn es eine Sache gibt, die Psychopathen verbindet, dann ist es die Fähigkeit, ganz normal und unauffällig zu wirken. Doch hinter dieser brillant getarnten Fassade schlägt das Herz eines Säbelzahntigers.
Wie mir ein ziemlich erfolgreicher junger Anwalt auf der Terrasse seines Penthouses mit Blick auf die Themse sagte: »Tief in mir lauert ein Serienmörder. Aber ich halte ihn bei Laune mit Koks, Formel 1, One-Night-Stands und brillanten Kreuzverhören. «
Ganz vorsichtig bewegte ich mich von der Brüstung weg.
Diese luftige Begegnung mit dem jungen Anwalt, der mich später mit seinem Schnellboot auf der Themse zurück ins Hotel brachte, illustriert in gewisser Weise eine Theorie, die ich über Psychopathen habe. Wir sind so fasziniert von ihnen, weil wir fasziniert sind von Illusionen, von Dingen, die auf den ersten Blick ganz normal erscheinen, sich bei näherer Betrachtung aber als etwas ganz anderes herausstellen. Amyciaea lineatipes ist eine Spinnenart, die genauso aussieht wie die Ameisen, die sie gerne frisst. Ihre Opfer erkennen erst, wenn es zu spät ist, dass sie Charaktere nicht wirklich gut beurteilen können. Viele Menschen, die ich interviewen konnte, kennen dieses Gefühl nur zu gut. Und das sind noch diejenigen, die Glück gehabt haben.
Werfen Sie einen Blick auf das folgende Bild. Wie viele Fußbälle sehen Sie? Sechs? Schauen Sie noch einmal genau hin. Immer noch sechs?
So ist das auch mit Psychopathen. Sie haben eine makellose Tarnung. Nach außen hin sind sie sympathisch, charmant, charismatisch. Dadurch werden wir von ihrem »wahren Gesicht« abgelenkt, sehen nicht, dass sich eine Anomalie dahinter versteckt, und fühlen uns von ihrer hypnotischen Präsenz angezogen.
Klinisch betrachtet ist Psychopathie eine Form der Persönlichkeitsstörung. Aber wie Angst, Depression und andere psychische Störungen kann sie gelegentlich anpassungsfähig sein. Psychopathen wie der Teufel Al Pacino und sein prächtiger Londoner Zögling können auch gut für uns sein, zumindest in Maßen. Wir werden sehen, dass Psychopathen eine Reihe von Eigenschaften haben, von denen persönliche Anziehungskraft und ein Talent zur Verstellung nur das Startpaket sind, die nicht nur am Arbeitsplatz, sondern im Alltag generell von Nutzen sein können, vorausgesetzt, man kann damit umgehen. Psychopathie ist wie Sonneneinstrahlung. Wenn man zu viel davon abbekommt, ist sie gefährlich. Aber bei einem vernünftigen Umgang hat sie einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden und die Lebensqualität.
Im Folgenden werden wir diese Eigenschaften genauer betrachten. Und erfahren, dass wir unser Leben dramatisch verändern können, wenn wir die eine oder andere von ihnen in unsere eigene psychologische Ausrüstung integrieren. Selbstverständlich liegt es mir fern, die Handlungen von Psychopathen zu glorifizieren. Das wäre ja so, als würde man ein kognitives Melanom glorifizieren, eine Art Persönlichkeitskrebs. Aber es gibt Hinweise darauf, dass ihre Eigenschaften in kleinen Dosen erstaunliche Vorzüge haben können.
Einige davon kenne ich aus eigener Erfahrung. Die Jahre vergingen, mein Vater zog sich aus dem Handel zurück. Die Götter meinten es nicht mehr besonders gut mit ihm. Und das, obwohl er seinerseits überhaupt nicht wählerisch gewesen war. Auf der Ladefläche seines dreirädrigen Kleintransporters hatten Buddha-Figuren und gerahmte Koranverse genauso ihren Platz gefunden wie Madonnen und Herz-Jesu-Darstellungen. Er bekam Parkinson. Früher hatte er es geschafft, einen Koffer in zehn Sekunden zu packen, eine Fähigkeit, die sich oft als sehrpraktisch erwiesen hatte. In beängstigend kurzer Zeit konnte er nicht mal mehr stehen, ohne dass man ihn von beiden Seiten stützte. »Früher haben das die Bullen gemacht«, sagte er gerne. Aber sein größter Moment kam zweifellos nach seinem Tod. Zumindest wurde ich erst darauf aufmerksam, als er bereits gestorben war. Eines Abends, nicht lange nach der Beerdigung, sah ich seine Sachen durch. In einer Schublade stieß ich auf ein Notizbuch. Die Notizen stammten von den verschiedenen Pflegekräften, die meinen Vater in den letzten Monaten betreut hatten. Obwohl ihn so ziemlich alle davon abbringen wollten, war es meinem Dad gelungen, die letzte Zeit seines Lebens zu Hause zu verbringen. Es war eine Art Pflegetagebuch.
Das Erste, was mir daran auffiel, war, wie gewissenhaft und sorgfältig die Einträge waren. Eindeutig von weiblicher Hand. Je mehr ich las, desto klarer wurde mir, wie wenig Abwechslung es in Vaters letzten Tagen auf Erden gegeben hatte, wie öde und monoton dieser letzte Abschnitt am Marktstand seines Lebens gewesen sein musste. Den Eindruck hat er mir natürlich nie vermittelt, wenn ich bei ihm hereinschneite. Die Parkinson-Erkrankung machte ihn zwar bewegungsunfähig, aber sein Kopf war bis zum Schluss in Ordnung.
Aber jetzt dämmerte mir, wie es wirklich gewesen war:
»Mr. Dutton um 7.30 aus dem Bett geholt.«
»Mr. Dutton rasiert.«
»Mr. Dutton ein Gurkensandwich gemacht.«
»Mr. Dutton eine Tasse Tee gemacht.«
Und so weiter und so fort. Ad infinitum.
Bald wurde mir langweilig und ich begann querzulesen. Da stach mir plötzlich etwas ins Auge. Auf einem Blatt stand in zittrigen krummen Großbuchstaben: »MR. DUTTON HAT IM FLUR RAD GESCHLAGEN.« Und ein paar Seiten später: »MR. DUTTON HAT AUF DEM BALKON EINE STRIPSHOW HINGELEGT.«
Irgendetwas sagte mir, da hat er wohl gelogen. Typisch für ihn. Schließlich hatte er es das ganze Leben so gehalten.
Aber die Spielregeln hatten sich geändert. Und hinter diesem Quatsch ließ sich eine höhere Wahrheit erkennen. Die Geschichte eines Mannes, dessen Seele unter Beschuss stand, dessen Schaltkreise und Synapsen hoffnungslos und gnadenlos geschlagen waren. Der aber dennoch bis zum Schluss kämpfte, mit unbändiger Respektlosigkeit gegenüber allem und jedem.
Radschlagen und Strip-Shows waren allemal besser als Rasuren und Gurkensandwiches. Was machte es schon, wenn das alles nur Unsinn war?
Übersetzung: Ursula Pesch
© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
Mein alter Herr war ein Psychopath. Es klingt etwas seltsam, das jetzt, im Nachhinein, zu sagen. Aber er war einer. Definitiv. Er war charmant, unerschrocken und skrupellos (aber nie gewalttätig). Gewissensfragen ließen ihn völlig kalt. Er hat niemanden umgebracht. Aber ein paar Treffer hat er schon gelandet. Gut, dass Gene nicht alles sind, oder?
Mein Vater war unglaublich gut darin, genau das zu bekommen, was er wollte. Oft durch eine lässig hingeworfene Bemerkung. Oder durch eine einzige vielsagende Geste. Die Leute sagten immer, er sehe aus wie Del Boy, eine der Hauptfiguren in der sehr populären englischen Sitcom ›Only Fools and Horses‹, eine sehr selbstbewusste und unbekümmerte Persönlichkeit, die lügt, dass sich die Balken biegen. Es stimmt, mein Vater sah aus wie er und war auch so. Außerdem war er ebenfalls Markthändler, genau wie Del Boy. Die Sendung hätte ein Dutton- Familienvideo sein können.
Einmal half ich ihm dabei, auf dem Petticoat Lane Market im Londoner East End eine Ladung Taschenkalender zu verhökern. Ich war zehn und hätte an dem Tag eigentlich in der Schule sein müssen. Die Taschenkalender waren eine Art Sammlerstück. Sie enthielten nämlich nur 11 Monate.
»Das kannst du nicht machen!«, protestierte ich. »Da ist doch gar kein Januar drin.«
»Weiß ich«, sagte er. »Deshalb habe ich ja auch deinen Geburtstag vergessen.«
Dann legte er los: »Leute, das ist eine einmalige Gelegenheit, an Taschenkalender zu kommen, in denen nur 11 Monate drin sind. Ich mache ein Sonderangebot. Ihr kriegt zwei für den Preis von einem, und im nächsten Jahr dann einen mit einem Extramonat kostenlos dazu.«
Wir haben den ganzen Kram verkauft.
Ich habe immer gedacht, dass mein Vater die ideale Persönlichkeit für den modernen Lebensstil hatte. Ich habe nie gesehen, dass er in Panik geriet. Er hat nie seinen klaren Kopf verloren. Er ist nie in Wut geraten. Und für all das gab es wahrhaftig genügend Anlässe.
»Es heißt, die Ängstlichkeit der Leute stamme noch aus den Zeiten, als man sich gegen Raubtiere verteidigen musste, um zu überleben«, sagte er einmal zu mir. »Aber sag mir bloß, mein Junge, siehst du hier irgendwo einen Säbelzahntiger um die Ecken streichen?«
Natürlich habe ich keinen Säbelzahntiger gesehen. Es gab in der Gegend zwar ein paar Schlangen, aber jeder wusste, wo sie sich befanden.
Lange dachte ich, dieses Bonmot meines Vaters sei auch nichts anderes als seine übliche Handelsware. Nicht viel dahinter. So, wie der ganze andere Krempel, den er erstaunlicherweise immer an den Mann brachte. Aber heute, viele Jahre später, ist mir klar, dass eine tiefe biologische Wahrheit in dem lag, was der alte Fuchs von sich gab. De facto hat er damit knapp und präzise die Einstellung beschrieben, die moderne Evolutionspsychologen einnehmen. Wir Menschen, so scheint es, haben unsere Angstreaktion tatsächlich als Überlebensmechanismus entwickelt, um uns vor natürlichen Feinden zu schützen. Affen, deren Amygdala, das Gefühlssortierbüro des Gehirns, nicht richtig arbeitet, tun sehr dumme Dinge. Sie versuchen zum Beispiel, Kobras vom Boden aufzuheben.
Jahrmillionen später, in einer Welt, in der nicht um jede Ecke wilde Tiere kommen, kann dieses Angstsystem überempfindlich sein - wie ein nervöser Autofahrer, der den Fuß immer über der Bremse hält. Es kann auf Gefahren reagieren, die gar nicht wirklich existieren, und dafür sorgen, dass wir unlogische und unvernünftige Entscheidungen treffen.
»Im Pleistozän gab es keine Aktien«, sagt George Loewenstein, Professor für Wirtschaft und Psychologie an der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. »Doch der Mensch ist pathologisch risikoscheu. Viele Mechanismen, die unsere Emotionen steuern, passen eigentlich nicht in die moderne Welt.«
Ich ziehe die Version meines Vaters vor.
Die Feststellung, dass moderne Menschen pathologisch risikoscheu sind, bedeutet selbstredend nicht, dass das immer schon ein Problem war. Man kann sogar so argumentieren, dass zum Beispiel diejenigen von uns, die unter einer richtigen Angststörung leiden, einfach zu viel von etwas haben, was eigentlich eine gute Sache ist. In den Frühzeiten der Menschheit, so meinen Evolutionsbiologen, konnte es in einer feindlichen Umwelt ausschlaggebend sein, wenn man hyperwachsam war. Aus diesem Blickwinkel betrachtet konnte Ängstlichkeit zweifellos ein wichtiger Anpassungsvorteil sein. Je empfindsamer man im Hinblick auf das Geraschel im Unterholz war, desto wahrscheinlicher war es, dass man selbst, die eigene Familie und Sippe am Leben blieben. Auch heutzutage sind ängstliche Menschen besser als andere in der Lage, eine Gefahr früh zu erkennen. Wenn man auf einem Bildschirm unter lauter heiteren oder neutralen Gesichtern ein einziges ärgerliches zeigt, dann erkennen das ängstliche Leute viel schneller als diejenigen, die nicht ängstlich sind. Das kann recht hilfreich sind, wenn ein schneller Rückzug vonnöten ist, weil man sich zufällig allein in dunkler Nacht in einer unbekannten Gegend befindet.
Es ist keine ganz neue Beobachtung, dass psychische Störungen generell auch von Nutzen sein können, dass sie manchmal ganz eigenartige, außergewöhnliche Vorteile mit sich bringen. Wie schon Aristoteles vor mehr als 2400 Jahren feststellte: »Es gibt kein Genie ohne einen Hauch von Wahnsinn.« Vielen Menschen ist diese Verbindung zwischen Genie und Wahnsinn ziemlich präsent aufgrund enorm erfolgreicher Filme wie ›Rain Man‹ oder ›A Beautiful Mind‹, in denen es um Autismus und Schizophrenie geht. In dem Buch ›Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte‹ berichtet der Neurologe und Psychiater Oliver Sacks von seiner berühmten Begegnung mit den Zwillingen John und Michael, beide total autistisch. Sie warendamals 26 und lebten in einer Anstalt. Als eine Schachtel Zündhölzer auf den Boden fiel und der Inhalt sich verteilte, riefen beide gleichzeitig »111«. Sacks sammelte die Zündhölzer ein und fing an zu zählen.
Auch das allseits bekannte Stereotyp vom brillanten, aber »gequälten« Künstler ist nicht ganz unbegründet. Der Maler Vincent van Gogh, der Tänzer Vaslav Nijinsky und John Nash, der Vater der »Spieltheorie«, waren alle psychotisch. Ist das ein Zufall? Nicht, wenn man Szabolcs Kéri glauben darf, Forscher an der Semmelweis-Universität in Budapest. Er scheint ein genetisches Muster entdeckt zu haben, bei dem sich beides, Schizophrenie und Kreativität verbinden. Er hat herausgefunden, dass Menschen mit zwei Kopien einer speziellen DNS-Kombination eines Gens namens Neuregulin 1, einer Variante, die man mit psychotischen Eigenschaften verbindet, aber auch mit einem schlechten Gedächtnis und Empfindlichkeit gegenüber Kritik, im Durchschnitt eine signifikant höhere Kreativität entwickeln als diejenigen, die nur eine oder gar keine Kopie haben. Menschen, die nur eine Kopie davon haben, sind immer noch durchschnittlich kreativer als diejenigen ohne.
Auch eine Depression kann Vorteile haben. Neuere Forschungen legen nahe, dass wir besser denken, wenn wir niedergeschlagen sind, weil sich die Aufmerksamkeit und die Fähigkeit zur Problemlösung steigern. Joe Forgas, Psychologieprofessor an der University von New South Wales, hat ein geniales Experiment erfunden. Er platzierte Schnickschnack, allerhand Spielzeugsoldaten, Plastiktiere und Spielzeugautos an der Kasse eines kleinen Schreibwarengeschäfts in Sydney. Wenn die Kunden herauskamen, testete er ihr Gedächtnis, indem er sie bat, so viele wie möglich von diesen Gegenständen aufzuzählen. Aber die Sache hatte noch einen Dreh. Wenn das Wetter schlecht war, lief Verdis ›Requiem‹ im Hintergrund. Wenn es schön war, wurden die Kunden mit den Klängen von Gilbert und Sullivan traktiert.
Die Ergebnisse hätten eindeutiger nicht sein können. Kunden, die auf schlechte Stimmung konditioniert waren, erinnerten sich an fast vier Mal so viele Gegenstände. Der Regen hatte auf ihre Stimmung gedrückt, die Musik auch, und diese Stimmung hatte dafür gesorgt, dass sie viel aufmerksamer waren. Und was ist die Moral von der Geschichte? Bei gutem Wetter sollte man das Wechselgeld besonders genau nachzählen.
Wenn man die verschiedenen psychischen Störungen im Hinblick darauf betrachtet, welche Vorteile sie bringen, wo Silberstreifen am Horizont und psychologische Trostpreise zu finden sind, dann stellt man fest, es gibt kaum eine, bei der das - zumindest auf die eine oder andere Art - nicht der Fall ist. Sie sind zwangsneurotisch? Dann werden Sie nie aus Versehen den Herd anlassen. Sie sind paranoid? Ihnen wird es nicht passieren, dass Sie das Kleingedruckte überlesen. In der Tat sind Furcht und Trauer - Angst und Depression - zwei der fünf grundlegenden Gefühle, die es in allen Kulturen gibt und die wir nahezu alle irgendwann erleben. Aber es gibt eine Ausnahme, eine Gruppe von Menschen, die diese beiden Emotionen nicht kennen, gleichgültig, wie schwierig und anstrengend die Umstände sind: Psychopathen. Ein Psychopath würde sich nicht einmal dann Sorgen machen, wenn er den Herd definitiv angelassen hätte. Sehen Sie da einen Silberstreif am Horizont?
Wenn Sie einem Psychopathen eine solche Frage stellen, wird er Sie wohl in den meisten Fällen verständnislos anblicken, als ob Sie derjenige sind, der verrückt ist. Warum? Für einen Psychopathen gibt es so etwas wie Wolken am Himmel gar nicht, sondern nur Silberstreifen. Die schlichte Beobachtung, dass ein Jahr aus zwölf und nicht aus elf Monaten besteht, machte den Plan, diese Taschenkalender verkaufen zu wollen, eigentlich zu einer Schnapsidee. Nicht so für meinen Vater. Ganz im Gegenteil. Er machte ein Verkaufsargument daraus.
Damit steht er nicht alleine da. Und liegt auch keineswegs falsch, werden manche sagen. Im Verlauf meiner Forschungen habe ich eine ganze Reihe von Psychopathen getroffen, in allen Lebensbereichen - nicht nur, um das klarzustellen, in meiner Familie. Hinter Gefängnistüren bin ich auch Hannibal-Lecterund Ted-Bundy-Typen begegnet: gnaden- und gewissenlosen Spitzenpsychopathen, denen man das ziemlich rasch anmerkt, ohne weiter nachfragen zu müssen. Aber ich habe auch Psychopathen getroffen, die weit davon entfernt sind, die Gesellschaft zu zerstören, sondern ihr stattdessen durch ihre Kaltblütigkeit und Entschlossenheit dienen, sie schützen und bereichern: Chirurgen, Soldaten, Geheimdienstleute, Unternehmer - und, wie ich zu behaupten wage, Anwälte. »Mach nicht einen auf großspurig, egal, wie gut du bist. Die Leute sollten dich nicht kommen sehen«, rät Al Pacino als Chef einer einflussreichen Anwaltskanzlei in dem Film ›Im Auftrag des Teufels‹. »Das ist der Trick, mein Guter. Mach dich klein. Mach den Hinterwäldler, den Idioten, den Aussätzigen, den Langweiler. Schau mich an - ich bin vom ersten Tag an unterschätzt worden.« Pacino spielte den Teufel. Und traf mit dieser Bemerkung den Nagel auf den Kopf. Wenn es eine Sache gibt, die Psychopathen verbindet, dann ist es die Fähigkeit, ganz normal und unauffällig zu wirken. Doch hinter dieser brillant getarnten Fassade schlägt das Herz eines Säbelzahntigers.
Wie mir ein ziemlich erfolgreicher junger Anwalt auf der Terrasse seines Penthouses mit Blick auf die Themse sagte: »Tief in mir lauert ein Serienmörder. Aber ich halte ihn bei Laune mit Koks, Formel 1, One-Night-Stands und brillanten Kreuzverhören. «
Ganz vorsichtig bewegte ich mich von der Brüstung weg.
Diese luftige Begegnung mit dem jungen Anwalt, der mich später mit seinem Schnellboot auf der Themse zurück ins Hotel brachte, illustriert in gewisser Weise eine Theorie, die ich über Psychopathen habe. Wir sind so fasziniert von ihnen, weil wir fasziniert sind von Illusionen, von Dingen, die auf den ersten Blick ganz normal erscheinen, sich bei näherer Betrachtung aber als etwas ganz anderes herausstellen. Amyciaea lineatipes ist eine Spinnenart, die genauso aussieht wie die Ameisen, die sie gerne frisst. Ihre Opfer erkennen erst, wenn es zu spät ist, dass sie Charaktere nicht wirklich gut beurteilen können. Viele Menschen, die ich interviewen konnte, kennen dieses Gefühl nur zu gut. Und das sind noch diejenigen, die Glück gehabt haben.
Werfen Sie einen Blick auf das folgende Bild. Wie viele Fußbälle sehen Sie? Sechs? Schauen Sie noch einmal genau hin. Immer noch sechs?
So ist das auch mit Psychopathen. Sie haben eine makellose Tarnung. Nach außen hin sind sie sympathisch, charmant, charismatisch. Dadurch werden wir von ihrem »wahren Gesicht« abgelenkt, sehen nicht, dass sich eine Anomalie dahinter versteckt, und fühlen uns von ihrer hypnotischen Präsenz angezogen.
Klinisch betrachtet ist Psychopathie eine Form der Persönlichkeitsstörung. Aber wie Angst, Depression und andere psychische Störungen kann sie gelegentlich anpassungsfähig sein. Psychopathen wie der Teufel Al Pacino und sein prächtiger Londoner Zögling können auch gut für uns sein, zumindest in Maßen. Wir werden sehen, dass Psychopathen eine Reihe von Eigenschaften haben, von denen persönliche Anziehungskraft und ein Talent zur Verstellung nur das Startpaket sind, die nicht nur am Arbeitsplatz, sondern im Alltag generell von Nutzen sein können, vorausgesetzt, man kann damit umgehen. Psychopathie ist wie Sonneneinstrahlung. Wenn man zu viel davon abbekommt, ist sie gefährlich. Aber bei einem vernünftigen Umgang hat sie einen positiven Einfluss auf das Wohlbefinden und die Lebensqualität.
Im Folgenden werden wir diese Eigenschaften genauer betrachten. Und erfahren, dass wir unser Leben dramatisch verändern können, wenn wir die eine oder andere von ihnen in unsere eigene psychologische Ausrüstung integrieren. Selbstverständlich liegt es mir fern, die Handlungen von Psychopathen zu glorifizieren. Das wäre ja so, als würde man ein kognitives Melanom glorifizieren, eine Art Persönlichkeitskrebs. Aber es gibt Hinweise darauf, dass ihre Eigenschaften in kleinen Dosen erstaunliche Vorzüge haben können.
Einige davon kenne ich aus eigener Erfahrung. Die Jahre vergingen, mein Vater zog sich aus dem Handel zurück. Die Götter meinten es nicht mehr besonders gut mit ihm. Und das, obwohl er seinerseits überhaupt nicht wählerisch gewesen war. Auf der Ladefläche seines dreirädrigen Kleintransporters hatten Buddha-Figuren und gerahmte Koranverse genauso ihren Platz gefunden wie Madonnen und Herz-Jesu-Darstellungen. Er bekam Parkinson. Früher hatte er es geschafft, einen Koffer in zehn Sekunden zu packen, eine Fähigkeit, die sich oft als sehrpraktisch erwiesen hatte. In beängstigend kurzer Zeit konnte er nicht mal mehr stehen, ohne dass man ihn von beiden Seiten stützte. »Früher haben das die Bullen gemacht«, sagte er gerne. Aber sein größter Moment kam zweifellos nach seinem Tod. Zumindest wurde ich erst darauf aufmerksam, als er bereits gestorben war. Eines Abends, nicht lange nach der Beerdigung, sah ich seine Sachen durch. In einer Schublade stieß ich auf ein Notizbuch. Die Notizen stammten von den verschiedenen Pflegekräften, die meinen Vater in den letzten Monaten betreut hatten. Obwohl ihn so ziemlich alle davon abbringen wollten, war es meinem Dad gelungen, die letzte Zeit seines Lebens zu Hause zu verbringen. Es war eine Art Pflegetagebuch.
Das Erste, was mir daran auffiel, war, wie gewissenhaft und sorgfältig die Einträge waren. Eindeutig von weiblicher Hand. Je mehr ich las, desto klarer wurde mir, wie wenig Abwechslung es in Vaters letzten Tagen auf Erden gegeben hatte, wie öde und monoton dieser letzte Abschnitt am Marktstand seines Lebens gewesen sein musste. Den Eindruck hat er mir natürlich nie vermittelt, wenn ich bei ihm hereinschneite. Die Parkinson-Erkrankung machte ihn zwar bewegungsunfähig, aber sein Kopf war bis zum Schluss in Ordnung.
Aber jetzt dämmerte mir, wie es wirklich gewesen war:
»Mr. Dutton um 7.30 aus dem Bett geholt.«
»Mr. Dutton rasiert.«
»Mr. Dutton ein Gurkensandwich gemacht.«
»Mr. Dutton eine Tasse Tee gemacht.«
Und so weiter und so fort. Ad infinitum.
Bald wurde mir langweilig und ich begann querzulesen. Da stach mir plötzlich etwas ins Auge. Auf einem Blatt stand in zittrigen krummen Großbuchstaben: »MR. DUTTON HAT IM FLUR RAD GESCHLAGEN.« Und ein paar Seiten später: »MR. DUTTON HAT AUF DEM BALKON EINE STRIPSHOW HINGELEGT.«
Irgendetwas sagte mir, da hat er wohl gelogen. Typisch für ihn. Schließlich hatte er es das ganze Leben so gehalten.
Aber die Spielregeln hatten sich geändert. Und hinter diesem Quatsch ließ sich eine höhere Wahrheit erkennen. Die Geschichte eines Mannes, dessen Seele unter Beschuss stand, dessen Schaltkreise und Synapsen hoffnungslos und gnadenlos geschlagen waren. Der aber dennoch bis zum Schluss kämpfte, mit unbändiger Respektlosigkeit gegenüber allem und jedem.
Radschlagen und Strip-Shows waren allemal besser als Rasuren und Gurkensandwiches. Was machte es schon, wenn das alles nur Unsinn war?
Übersetzung: Ursula Pesch
© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe: Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Kevin Dutton
Dutton, KevinKevin Dutton ist promovierter Psychologe und Professor am Calleva Research Centre for Evolution and Human Science der Universität Oxford. Er ist Mitglied der Royal Society of Medicine und der Society for the Scientific Study of Psychopathy. Zahlreiche Veröffentlichungen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kevin Dutton
- 2013, 320 Seiten, Maße: 13,5 x 21 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Pesch, Ursula
- Übersetzer: Ursula Pesch
- Verlag: DTV
- ISBN-10: 3423249757
- ISBN-13: 9783423249751
- Erscheinungsdatum: 01.05.2013
Rezension zu „Psychopathen “
"Ein hoch interessantes Buch!"HNA Frankenberger Allgemeine 26. Mai 2013
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