Rache verjährt nicht
Roman. Deutsche Erstausgabe
Wolf Hadda hat alles verloren: seine Familie, seinen Reichtum, seinen guten Ruf. Obwohl er seine Unschuld immer beteuerte, wurde er zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Doch nun ist er frei und hat nur eines im Sinn: Er will sich an denjenigen rächen, die sich gegen ihn verschworen haben...
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Produktinformationen zu „Rache verjährt nicht “
Wolf Hadda hat alles verloren: seine Familie, seinen Reichtum, seinen guten Ruf. Obwohl er seine Unschuld immer beteuerte, wurde er zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Doch nun ist er frei und hat nur eines im Sinn: Er will sich an denjenigen rächen, die sich gegen ihn verschworen haben...
Klappentext zu „Rache verjährt nicht “
Wolf Hadda hat alles verloren: seine Familie, seinen Reichtum, seinen guten Ruf. Obwohl er seine Unschuld beteuert, wird er zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Seine Freunde haben sich von dem einst so erfolgreichen und beliebten Geschäftsmann abgewandt, seine Frau ist mit seinem Anwalt durchgebrannt. Er ahnt, wem er dies zu verdanken hat. Noch sitzt er im Gefängnis, doch bald wird er entlassen werden ... Als Wolf nach sieben Jahren endlich aus dem Gefängnis freikommt, hat er nur eines im Sinn: Er will sich an denjenigen rächen, die sich gegen ihn verschworen haben. Er kehrt zurück in die abgelegenen Wälder von Cumbria in Nordengland, wo einst alles begann. Kurz darauf wird einer von Wolfs alten Feinden ermordet aufgefunden. Alva Ozigbo, Wolfs Gefängnispsychiaterin, ahnt, was er im Schilde führt und stellt eigene Nachforschungen an. Bald kommt sie den Intrigen, die Wolf zu Fall brachten, auf die Spur. Doch wird es ihr auch gelingen, seine Rachepläne zu vereiteln? Ein atemberaubendes Katz-und-Maus-Spiel beginnt ...
Lese-Probe zu „Rache verjährt nicht “
Rache verjährt nicht von Reginald HillPROLOG
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1
Sommer 1963: Profumo in Ungnade gefallen; Ward tot; die Beatles mit ihrem Album Please Please Me auf Platz eins; Martin Luther King hat seinen Traum; der von JFK wird nicht mehr lange währen; der Kalte Krieg erreicht Tiefsttemperaturen; der frische Wind des Wandels weht immer stärker durch das koloniale Afrika, und seine kräftigen Böen sind schon bis zum »Tor der Tränen« im britisch kontrollierten Aden zu spüren.
Aber die Gefahr terroristischer Anschläge ist noch nicht so groß, dass sie einen elfjährigen englischen Jungen daran hindern könnte, seine Sommerferien dort zu genießen, ehe er wieder zur Schule muss.
Ein paar Einschränkungen gibt es jedoch. Sein Diplomatenvater, der um die wachsende Bedrohung durch die Nationale Befreiungsfront weiß, lässt ihn nicht mehr nach Lust und Laune herumstromern, sondern setzt ihm strikte Grenzen und besteht darauf, dass er stets von Ahmed begleitet wird, einem jungen jemenitischen Gärtner und Handwerker, der sehr an dem Kleinen hängt.
Wenn Ahmed bei ihm ist, fühlt er sich rundherum sicher, und als ein verbeulter und staubiger Morris Oxford neben ihnen hält, die hintere Tür einladend geöffnet, wundert er sich, als sein Freund ihn zum Einsteigen drängt, hat aber keine Angst.
Auf der Rückbank sitzen bereits zwei Männer. Der Junge wird zwischen Ahmed und einem stämmigen glatzköpfigen Mann, der nach Schweiß und billigem Tabak riecht, eingeklemmt.
Das Auto braust davon. Bald haben sie eine der Grenzen erreicht, die sein Vater ihnen gesetzt hat. Der Junge sieht Ahmed fragend an, doch schon fahren sie in eine der weniger gepflegten Gegenden der Stadt.
Er ist allerdings nicht zum ersten Mal hier. Ein Jahr zuvor, als die Zeiten noch einigermaßen sicher waren, hat er gehört, wie ein britischer Beamter die Hauptstraße des Viertels als »Straße der tausend Arschlöcher« bezeichnete, und daraufhin hat er Ahmed überredet, ihn mit dorthin zu nehmen. Die fragliche Straße war eine ziemliche Enttäuschung und lieferte dem Jungen keine Erklärung für ihren spaßigen Namen. Als er von Ahmed wissen wollte, warum die Straße so genannt wurde, grinste der nur und antwortete: »Zu jung. Später vielleicht, wenn du älter bist!«
Jetzt biegt der Morris genau in diese Straße ein, wird langsamer und hat kaum angehalten, als der Junge auch schon von dem Glatzkopf nach draußen bugsiert und in einen Hauseingang gestoßen wird.
Trotzdem ist er nicht so erschrocken, dass er nicht die Hausnummer 19 an der Wand neben der Tür registriert hätte.
Er wird eine Treppe hinaufgetragen und in einen Raum gebracht, in dem sich keinerlei Möbel, dafür aber viele Männer befinden. Man wirft ihn in einer Ecke zu Boden. Er versucht, Ahmed anzusprechen. Der junge Mann schüttelt ungehalten den Kopf und weicht von da an seinen Blicken aus.
Nach etwa zehn Minuten kommt ein weiterer Mann herein. Er trägt einen europäischen Anzug und scheint wichtig zu sein. Die anderen verstummen.
Der Neuankömmling bleibt vor dem Jungen stehen und beugt sich herab, um ihm ins Gesicht zu schauen.
»Also, Junge«, sagt er. »Du bist der Sohn des Meisterspions.« »Nein, Sir«, entgegnet er. »Mein Vater ist der britische Handelsattaché.«
Der Mann lacht.
»Als ich so alt war wie du, wusste ich, wer mein Vater ist«, sagt er. »Komm, wir reden mit ihm und finden heraus, wie viel du ihm wert bist.«
Er wird von dem Glatzkopf auf die Beine gezerrt und in ein anderes Zimmer gebracht, wo ein Telefon steht.
Der Mann in dem Anzug wählt eine Nummer, der Junge hört, wie er den Namen seines Vaters ausspricht. Nach einer kurzen Pause sagt der Mann: »Hören Sie zu. Ich spreche für die Befreiungsfront des Südjemen. Wir haben Ihren Sohn. Er wird kurz mit Ihnen reden, damit Sie wissen, dass wir nicht bluffen.«
Er winkt, und der Junge wird nach vorne geschoben.
Der Mann sagte: »Sprich mit deinem Vater, damit er weiß, dass du es bist«, und hält dem Jungen den Hörer hin. Der Junge singt: »Mille ani undeviginti.«
Der Mann reißt ihm den Hörer aus der Hand und packt den Jungen am Hals.
»Was hast du gesagt?«, schreit er.
»Sie haben doch gesagt, er muss wissen, dass ich es bin«, stottert der Junge. »Das ist ein Lied, das wir oft zusammen singen, über die Ziege von Paddy McGinty. Fragen Sie ihn, er wird's Ihnen erklären.«
Der Mann spricht ins Telefon. »Was hat es mit diesem Ginty und der Ziege auf sich?«
Was auch immer er hört, es scheint ihn zu beruhigen, und auf ein Nicken des Mannes hin wird der Junge zurück in das erste Zimmer gestoßen.
Er kauert sich in eine Ecke. Männer kommen und gehen, ohne ihn zu beachten. Die Atmosphäre ist zuversichtlich, als liefe alles nach Plan. Ahmed, der viele Umarmungen und anerkennendes Schulterklopfen bekommt, sieht ihn noch immer nicht an. Dem Jungen wird zunehmend bange.
Dann ertönt von unten plötzlich Lärm.
Zuerst das Splittern von Holz, als würde eine verschlossene Tür eingetreten, dann Schreie und Rufe, fast unmittelbar gefolgt von knallenden Pistolenschüssen.
Alle Männer stürzen nach draußen. Allein gelassen, sieht sich der Junge nach einem Versteck um, aber es gibt keins. Das einzige Fenster des Raumes ist selbst für einen Elfjährigen zu klein, um sich hindurchzuquetschen.
Der Krach wird lauter, kommt näher. Die Tür fliegt auf. Der Glatzkopf stürmt mit einer Pistole in der Hand herein. Der Junge lässt sich zu Boden fallen. Der Mann brüllt irgendwas Unverständliches und zielt mit der Waffe. Ehe er abdrücken kann, taucht Ahmed hinter ihm auf und springt ihm auf den Rücken. Ein Schuss löst sich. Die Kugel schlägt zwischen den gespreizten Beinen des Jungen in den Boden.
Die beiden Männer kämpfen kurz miteinander. Wieder kracht ein Schuss.
Und der Glatzkopf sackt gegen die Wand, die Hände auf den Bauch gedrückt. Blut quillt zwischen den Fingern hervor.
Ahmed bleibt vor ihm stehen, hält die Pistole umklammert. Jetzt endlich blickt er den Jungen an, und er versucht zu lächeln, aber es gelingt ihm nicht ganz. Dann wendet er sich der Tür zu, die während des Kampfes zugefallen ist.
Der Junge ruft: »Ahmed, warte!«
Doch der junge Jemenit hat die Tür bereits geöffnet.
Kaum macht er einen Schritt über die Schwelle, wird er auch schon von einem Kugelhagel, der ihm die Brust zerfetzt, zurück ins Zimmer geschleudert.
Als er auf dem Boden liegt, treffen sich ihre Blicke noch ein letztes Mal. Und jetzt erreicht das Lächeln Ahmeds Lippen. Dann stirbt er.
Erst als sich die Arme seines Vaters um ihn schließen, lässt der Junge endlich seinen Tränen freien Lauf.
Sein Vater sagt: »Das hast du gut gemacht, du hast einen kühlen Kopf bewahrt. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, was? Und hab ich dir nicht immer gesagt, dass es dir eines Tages nützen würde, wenn du deine Lateinhausaufgaben machst?«
Zwei Jahre später wird eine Autobombe der FLOSY seinen Vater töten, so dass der Junge keine Gelegenheit mehr hat, ihn als Erwachsener zu fragen, was die Rebellen für das Leben seines Sohnes von ihm verlangt hatten.
Oder wie die Antwort des Vaters gelautet hätte, wenn sein kindlicher Verstand nicht so findig gewesen wäre, ihm die Straße und die Nummer des Hauses zu verraten, in dem er festgehalten wurde.
Aber ehe er wieder in die Schule musste, konnte er ihn fragen, wie es denn möglich war, dass sein Freund Ahmed, der ihn so sehr geliebt hatte, dass er sein eigenes Leben für ihn opferte, ihn überhaupt erst in eine so gefährliche Lage gebracht hatte.
Und sein Vater hatte geantwortet: »Wenn Liebe gegen grimmige Not antritt, gibt es meist nur einen Sieger.«
Damals hatte er nicht verstanden, was sein Vater meinte. Aber später sollte es ihm klar werden.
Herbst 1989: die Welt in Aufruhr; die Berliner Mauer fällt; Chris Reas Album The Road to Hell steht auf Platz eins der britischen Charts; die westlichen Industriestaaten beobachten mit angehaltenem Atem die sich überschlagenden Ereignisse, die zur Befreiung Osteuropas und dem Ende des Kalten Krieges führen werden.
In einem Wald in Cumbria sitzt ein Mann auf einer von den Strahlen der Mittagssonne gesprenkelten Lichtung schlaff gegen eine verwachsene Eberesche gelehnt. Sein verwittertes Gesicht ist tief gezeichnet von den Gedanken, die ihm durch den gesenkten Kopf kreisen, die Augen sind starr, aber blick-los auf die ungeöffnete Thermosflasche und die Sandwichdose zwischen seinen Füßen gerichtet. Ein kleines Stück entfernt steht ein zweiter Mann und beobachtet ihn. Sein langes braunes Haar ist wolfsgrau gesträhnt, in seinem besorgten Gesicht liegt Mitgefühl, es offen zu zeigen, wäre sinnlos, wie er weiß. Auch ein junges Mädchen im Hintergrund betrachtet den sitzenden Mann mit starrem Blick, doch ihre Miene ist weit schwerer zu deuten. Und auf das weite Waldland, über das der Wind nahezu unaufhörlich seine Musik rauschen lässt und wo im Unterholz das Pizzicato knackender Zweige erklingt, senkt sich eine Stille, als würden selbst die Bäume und der Himmel und die Berge ringsum den Atem anhalten, weil sie fürchten, jemanden in seiner Trauer zu stören.
Dreihundert Meilen weiter südlich, in einem Ostlondoner Parkhaus, brechen fünf junge Burschen, die wahrscheinlich nicht mal mit der Wimper zucken würden, wenn Jesus Christus in einem Feuerwagen auf dem Dach von St. Paul's landete, ein Auto auf.
Aber sie haben das einmal zu oft gemacht, und plötzlich schießen überall um sie herum Polizisten aus dem Boden, als hätte jemand Drachenzähne gesät. Die Jungen stieben auseinander, müssen aber feststellen, dass ihnen jeder Fluchtweg versperrt ist.
Nur einer ergibt sich nicht. Er läuft auf eine drei Meter hohe Betonwand zu, in der ganz oben eine gut dreißig Zentimeter große Lücke klafft. Zum Erstaunen der Polizisten huscht er wie eine Eidechse die Wand hinauf. Und dann schiebt er sich zu ihrem Entsetzen durch die Lücke und verschwindet.
Sie sind auf der fünften Ebene, und hinter der Lücke geht es fast zwanzig Meter senkrecht in die Tiefe.
Die Polizisten geben ihren wartenden Kollegen über Funk durch, sie sollen zur Rückseite des Parkhauses gehen und die Leiche sichern.
Wenige Minuten später antworten sie - keine Leiche am Fuße der Mauer, bloß ein junger Bursche, der weglaufen wollte, sobald er sie kommen sah.
Auf dem Revier gibt er sich als John Smith aus, achtzehn Jahre alt, ohne festen Wohnsitz.
Danach verstummt er und sagt kein Wort mehr.
Sie nehmen seine Fingerabdrücke. Er ist nicht in der Kar-
tei.
Seine Komplizen behaupten, ihn noch nie gesehen zu haben. Sie behaupten auch, einander noch nie gesehen zu haben. Einer von ihnen ist so zugedröhnt, dass er nicht weiß, ob er sich selbst je gesehen hat.
Zwei sind eindeutig minderjährig. Ein Sozialarbeiter wird hinzugezogen, der bei ihrer Vernehmung anwesend ist. Die anderen beiden haben Vorstrafen. Sie sind achtzehn und neunzehn Jahre alt. Der Pflichtverteidiger kümmert sich um sie.
Die Polizisten sind nicht sicher, ob John Smiths Altersangabe stimmt, und der Junge hat irgendwas an sich, eine schwer definierbare Aura von Liebenswürdigkeit, was sie veranlasst, dem Pflichtverteidiger ihre Zweifel mitzuteilen.
Gleich zu Beginn seines Gesprächs mit Smith weist er ihn darauf hin, dass er als Minderjähriger anders behandelt werden würde, wahrscheinlich mit einer milden Strafe ohne Freiheitsentzug davonkäme. Smith bleibt bei seiner Aussage und verweigert jegliche weiteren Auskünfte über seine Herkunft, wenngleich er eindeutig mit nordenglischem Akzent spricht.
Der Verteidiger vermutet, dass Smith deshalb seinen Namen und sein Alter verfälscht, weil er seine Familie aus der Sache raushalten will. Er hofft, dem Jungen die Wahrheit entlocken zu können, indem er ihm die Folgen, die ihm für sein Delikt nach Erwachsenenstrafrecht blühen, drastisch ausmalt, doch als er sich die Beweislage gegen ihn genauer ansieht, muss er feststellen, dass die ziemlich mager ist. Eine Identifizierung anhand der unscharfen Aufnahmen von Überwachungskameras in dem dämmrig beleuchteten Parkhaus ist mehr als fragwürdig. Und könnte denn wirklich jemand die glatte Außenmauer heruntergeklettert sein, wie die Polizisten behaupten, und noch dazu in weniger als einer Minute?
Während sie sich unterhalten, entspannt sich der Junge, solange keine Fragen nach seiner Herkunft gestellt werden, und der Verteidiger spürt, wie er sich für seinen jungen Mandanten zu erwärmen beginnt. Auf dem Nachhauseweg fährt er an dem Parkhaus vorbei, um die Außenmauer zu fotografieren und zu dokumentieren, wie glatt sie ist. Am nächsten Tag zeigt er das Foto dem Jungen, der offensichtlich gerührt ist von so viel Engagement, dann jedoch panisch reagiert, als er erfährt, dass er noch am Vormittag einem Richter vorgeführt werden soll. Der Verteidiger beruhigt ihn, handelt es sich doch
bloß um einen Beweisaufnahmetermin, nicht um einen Strafprozess, er warnt ihn jedoch vor, dass er als Volljähriger ohne festen Wohnsitz mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Untersuchungshaft bleiben wird.
Und genau so kommt es auch. Als der Junge weggeführt wird, sagt der Verteidiger, es bestehe kein Grund zur Sorge und er werde am Nachmittag im Untersuchungsgefängnis vorbeischauen. Aber er hat noch andere Dinge zu erledigen, die ihn bis in den späten Abend in Anspruch nehmen. Als er auf dem Nachhauseweg ist, fällt ihm der Junge wieder ein, und er beruhigt sein schlechtes Gewissen mit dem Gedanken, dass eine Nacht im Untersuchungsgefängnis, ohne ein freundliches Gesicht zu sehen, vielleicht genau das Richtige ist, um Smith zur Vernunft zu bringen.
Er erzählt seiner Frau von dem Jungen. Sie blickt ihn verblüfft an. Normalerweise baut er keine emotionale Bindung zu dem kriminellen Gesindel auf, aus dem seine Mandantschaft üblicherweise besteht.
Er ist müde und geht früh schlafen. Als seine Frau ihn in den frühen Morgenstunden flüsternd weckt, weil sie glaubt, es würde jemand versuchen, durchs Wohnzimmerfenster einzusteigen, denkt er, sie muss einen Albtraum gehabt haben, denn schließlich liegt ihre Wohnung im zehnten Stock eines Hochhauses.
Aber als er ins Wohnzimmer geht und das Licht anmacht, kauert die Gestalt eines Mannes draußen auf dem schmalen Fenstersims.
Nein, kein Mann. Ein Junge. John Smith.
Der Verteidiger sagt seiner Frau, dass alles in Ordnung sei, öffnet das Fenster und lässt Smith herein.
»Sie haben gesagt, Sie würden kommen«, sagt der Junge halb weinerlich, halb vorwurfsvoll.
»Wie bist du aus dem Gefängnis entwischt?«, fragt der Verteidiger. »Und wie hast du mich gefunden?«
»Durch ein Fenster«, sagt der Junge. »Und die Adresse von Ihrer Kanzlei stand auf der Visitenkarte, die Sie mir gegeben haben, also bin ich durch ein Oberlicht eingestiegen und hab rumgesucht, bis ich Ihre Privatanschrift gefunden hab. Ich hab hinterher aufgeräumt, alles wieder in Ordnung gebracht.«
Seine Frau, die die Unterhaltung interessiert verfolgt hat, lässt das Brotmesser in ihrer Hand sinken und sagt: »Ich mach uns Tee.«
Sie kommt mit einer Kanne Tee und einem großen Biskuitkuchen zurück, den Smith im Verlauf der folgenden Stunde verputzt. In dieser einen Stunde holt sie mehr aus dem Jungen heraus als ihr Mann und die Polizei mit vereinten Kräften in zwei Tagen.
Als sie das Gefühl hat, nicht mehr erfahren zu können, sagt sie: »Jetzt bringen wir dich lieber wieder zurück.«
Der Junge blickt verstört, und sie beruhigt ihn: »Mein Mann sorgt dafür, dass die Anklage gegen dich fallen gelassen wird, ganz bestimmt. Aber aus der U-Haft fliehen, das geht nicht, deshalb musst du wieder im Untersuchungsgefängnis sein, wenn sie zum Wecken kommen.«
»Wir können da nicht einfach an die Tür klopfen«, wendet ihr Ehemann ein.
»Natürlich nicht. Du kannst doch so wieder reinkommen, wie du rausgekommen bist, nicht wahr, mein Lieber?«
Der Junge nickt, und eine halbe Stunde später sitzt das Ehepaar im Auto und beobachtet aus der Ferne, wie ein Schatten die Außenmauer des Untersuchungsgefängnisses hinaufläuft.
»Netter Kerl«, sagt die Frau. »Du hattest schon immer eine gute Menschenkenntnis. Wenn du ihn da rausgeholt hast,
bringst du ihn mit nach Hause, bis wir uns überlegt haben, wie es für ihn weitergeht.«
»Nach Hause!«, echot der Verteidiger. »Zu uns nach Hause?«
»Wohin denn sonst?«
»Hör mal, ich mag den Jungen, aber ich hab nicht vor, ihn zu adoptieren!«
»Ich auch nicht«, sagt seine Frau. »Aber irgendwas müssen wir für ihn tun. Was soll er denn sonst machen? Weiter Autos knacken oder am King's Cross seinen Hintern verkaufen?«
Also zieht Smith ins Gästezimmer seines Verteidigers, nachdem das Verfahren eingestellt worden ist.
Aber nicht für lange.
Die Ehefrau sagt: »Ich hab in der Kapelle von ihm erzählt. JC sagt, er würde ihn gern kennenlernen.«
Der Verteidiger verzieht das Gesicht: »Da wäre King's Cross vielleicht die bessere Alternative.«
»Nein, da liegst du falsch. So was passiert nicht, wenn er einen Jungen unter seine Fittiche nimmt. Außerdem braucht der Junge einen Job, und an wen könnten wir uns sonst wenden?«
Das Treffen findet in einem Pub statt, nachdem der mittägliche Ansturm abgeflaut ist. Zunächst sagt der Junge nicht viel, aber zwei große Bier und das entspannte, unaufdringliche Verhalten des Mannes, JC, lösen ihm allmählich die Zunge. So sehr, dass er keinen Hehl macht aus seiner Abneigung gegen das Singen von Kirchenliedern und das Schütteln von Klingelbeuteln und überhaupt jede andere Tätigkeit, die ihm durch das Wort Kapelle in den Sinn gekommen ist.
Der Mann sagt: »Ich vermute, dir schwebt irgendwas vor, das mehr mit körperlicher Arbeit und freier Natur zu tun hat, was? Also lass hören. Was kannst du sonst noch außer senkrechte Wände rauf- und runterlaufen?«
Der Junge überlegt und antwortet dann: »Ich kann Bäume fällen.«
JC lacht.
»Ein Holzfäller! Tja, wie's der Zufall will, hat die Kapelle einen weitläufigen Garten, der gepflegt werden muss, und von Zeit zu Zeit käme uns da ein flinker Holzfäller sehr gelegen. Ich will sehen, was ich tun kann.«
Der Junge und die Frau wechseln Blicke und lächeln einander an.
Und der Mann, JC, beobachtet sie und setzt ebenfalls ein wohlwollendes Lächeln auf.
Übersetzung: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
© der deutschen Ausgabe: Suhrkamp Verlag Berlin Suhrkamp Taschenbuch Verlag
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Sommer 1963: Profumo in Ungnade gefallen; Ward tot; die Beatles mit ihrem Album Please Please Me auf Platz eins; Martin Luther King hat seinen Traum; der von JFK wird nicht mehr lange währen; der Kalte Krieg erreicht Tiefsttemperaturen; der frische Wind des Wandels weht immer stärker durch das koloniale Afrika, und seine kräftigen Böen sind schon bis zum »Tor der Tränen« im britisch kontrollierten Aden zu spüren.
Aber die Gefahr terroristischer Anschläge ist noch nicht so groß, dass sie einen elfjährigen englischen Jungen daran hindern könnte, seine Sommerferien dort zu genießen, ehe er wieder zur Schule muss.
Ein paar Einschränkungen gibt es jedoch. Sein Diplomatenvater, der um die wachsende Bedrohung durch die Nationale Befreiungsfront weiß, lässt ihn nicht mehr nach Lust und Laune herumstromern, sondern setzt ihm strikte Grenzen und besteht darauf, dass er stets von Ahmed begleitet wird, einem jungen jemenitischen Gärtner und Handwerker, der sehr an dem Kleinen hängt.
Wenn Ahmed bei ihm ist, fühlt er sich rundherum sicher, und als ein verbeulter und staubiger Morris Oxford neben ihnen hält, die hintere Tür einladend geöffnet, wundert er sich, als sein Freund ihn zum Einsteigen drängt, hat aber keine Angst.
Auf der Rückbank sitzen bereits zwei Männer. Der Junge wird zwischen Ahmed und einem stämmigen glatzköpfigen Mann, der nach Schweiß und billigem Tabak riecht, eingeklemmt.
Das Auto braust davon. Bald haben sie eine der Grenzen erreicht, die sein Vater ihnen gesetzt hat. Der Junge sieht Ahmed fragend an, doch schon fahren sie in eine der weniger gepflegten Gegenden der Stadt.
Er ist allerdings nicht zum ersten Mal hier. Ein Jahr zuvor, als die Zeiten noch einigermaßen sicher waren, hat er gehört, wie ein britischer Beamter die Hauptstraße des Viertels als »Straße der tausend Arschlöcher« bezeichnete, und daraufhin hat er Ahmed überredet, ihn mit dorthin zu nehmen. Die fragliche Straße war eine ziemliche Enttäuschung und lieferte dem Jungen keine Erklärung für ihren spaßigen Namen. Als er von Ahmed wissen wollte, warum die Straße so genannt wurde, grinste der nur und antwortete: »Zu jung. Später vielleicht, wenn du älter bist!«
Jetzt biegt der Morris genau in diese Straße ein, wird langsamer und hat kaum angehalten, als der Junge auch schon von dem Glatzkopf nach draußen bugsiert und in einen Hauseingang gestoßen wird.
Trotzdem ist er nicht so erschrocken, dass er nicht die Hausnummer 19 an der Wand neben der Tür registriert hätte.
Er wird eine Treppe hinaufgetragen und in einen Raum gebracht, in dem sich keinerlei Möbel, dafür aber viele Männer befinden. Man wirft ihn in einer Ecke zu Boden. Er versucht, Ahmed anzusprechen. Der junge Mann schüttelt ungehalten den Kopf und weicht von da an seinen Blicken aus.
Nach etwa zehn Minuten kommt ein weiterer Mann herein. Er trägt einen europäischen Anzug und scheint wichtig zu sein. Die anderen verstummen.
Der Neuankömmling bleibt vor dem Jungen stehen und beugt sich herab, um ihm ins Gesicht zu schauen.
»Also, Junge«, sagt er. »Du bist der Sohn des Meisterspions.« »Nein, Sir«, entgegnet er. »Mein Vater ist der britische Handelsattaché.«
Der Mann lacht.
»Als ich so alt war wie du, wusste ich, wer mein Vater ist«, sagt er. »Komm, wir reden mit ihm und finden heraus, wie viel du ihm wert bist.«
Er wird von dem Glatzkopf auf die Beine gezerrt und in ein anderes Zimmer gebracht, wo ein Telefon steht.
Der Mann in dem Anzug wählt eine Nummer, der Junge hört, wie er den Namen seines Vaters ausspricht. Nach einer kurzen Pause sagt der Mann: »Hören Sie zu. Ich spreche für die Befreiungsfront des Südjemen. Wir haben Ihren Sohn. Er wird kurz mit Ihnen reden, damit Sie wissen, dass wir nicht bluffen.«
Er winkt, und der Junge wird nach vorne geschoben.
Der Mann sagte: »Sprich mit deinem Vater, damit er weiß, dass du es bist«, und hält dem Jungen den Hörer hin. Der Junge singt: »Mille ani undeviginti.«
Der Mann reißt ihm den Hörer aus der Hand und packt den Jungen am Hals.
»Was hast du gesagt?«, schreit er.
»Sie haben doch gesagt, er muss wissen, dass ich es bin«, stottert der Junge. »Das ist ein Lied, das wir oft zusammen singen, über die Ziege von Paddy McGinty. Fragen Sie ihn, er wird's Ihnen erklären.«
Der Mann spricht ins Telefon. »Was hat es mit diesem Ginty und der Ziege auf sich?«
Was auch immer er hört, es scheint ihn zu beruhigen, und auf ein Nicken des Mannes hin wird der Junge zurück in das erste Zimmer gestoßen.
Er kauert sich in eine Ecke. Männer kommen und gehen, ohne ihn zu beachten. Die Atmosphäre ist zuversichtlich, als liefe alles nach Plan. Ahmed, der viele Umarmungen und anerkennendes Schulterklopfen bekommt, sieht ihn noch immer nicht an. Dem Jungen wird zunehmend bange.
Dann ertönt von unten plötzlich Lärm.
Zuerst das Splittern von Holz, als würde eine verschlossene Tür eingetreten, dann Schreie und Rufe, fast unmittelbar gefolgt von knallenden Pistolenschüssen.
Alle Männer stürzen nach draußen. Allein gelassen, sieht sich der Junge nach einem Versteck um, aber es gibt keins. Das einzige Fenster des Raumes ist selbst für einen Elfjährigen zu klein, um sich hindurchzuquetschen.
Der Krach wird lauter, kommt näher. Die Tür fliegt auf. Der Glatzkopf stürmt mit einer Pistole in der Hand herein. Der Junge lässt sich zu Boden fallen. Der Mann brüllt irgendwas Unverständliches und zielt mit der Waffe. Ehe er abdrücken kann, taucht Ahmed hinter ihm auf und springt ihm auf den Rücken. Ein Schuss löst sich. Die Kugel schlägt zwischen den gespreizten Beinen des Jungen in den Boden.
Die beiden Männer kämpfen kurz miteinander. Wieder kracht ein Schuss.
Und der Glatzkopf sackt gegen die Wand, die Hände auf den Bauch gedrückt. Blut quillt zwischen den Fingern hervor.
Ahmed bleibt vor ihm stehen, hält die Pistole umklammert. Jetzt endlich blickt er den Jungen an, und er versucht zu lächeln, aber es gelingt ihm nicht ganz. Dann wendet er sich der Tür zu, die während des Kampfes zugefallen ist.
Der Junge ruft: »Ahmed, warte!«
Doch der junge Jemenit hat die Tür bereits geöffnet.
Kaum macht er einen Schritt über die Schwelle, wird er auch schon von einem Kugelhagel, der ihm die Brust zerfetzt, zurück ins Zimmer geschleudert.
Als er auf dem Boden liegt, treffen sich ihre Blicke noch ein letztes Mal. Und jetzt erreicht das Lächeln Ahmeds Lippen. Dann stirbt er.
Erst als sich die Arme seines Vaters um ihn schließen, lässt der Junge endlich seinen Tränen freien Lauf.
Sein Vater sagt: »Das hast du gut gemacht, du hast einen kühlen Kopf bewahrt. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, was? Und hab ich dir nicht immer gesagt, dass es dir eines Tages nützen würde, wenn du deine Lateinhausaufgaben machst?«
Zwei Jahre später wird eine Autobombe der FLOSY seinen Vater töten, so dass der Junge keine Gelegenheit mehr hat, ihn als Erwachsener zu fragen, was die Rebellen für das Leben seines Sohnes von ihm verlangt hatten.
Oder wie die Antwort des Vaters gelautet hätte, wenn sein kindlicher Verstand nicht so findig gewesen wäre, ihm die Straße und die Nummer des Hauses zu verraten, in dem er festgehalten wurde.
Aber ehe er wieder in die Schule musste, konnte er ihn fragen, wie es denn möglich war, dass sein Freund Ahmed, der ihn so sehr geliebt hatte, dass er sein eigenes Leben für ihn opferte, ihn überhaupt erst in eine so gefährliche Lage gebracht hatte.
Und sein Vater hatte geantwortet: »Wenn Liebe gegen grimmige Not antritt, gibt es meist nur einen Sieger.«
Damals hatte er nicht verstanden, was sein Vater meinte. Aber später sollte es ihm klar werden.
Herbst 1989: die Welt in Aufruhr; die Berliner Mauer fällt; Chris Reas Album The Road to Hell steht auf Platz eins der britischen Charts; die westlichen Industriestaaten beobachten mit angehaltenem Atem die sich überschlagenden Ereignisse, die zur Befreiung Osteuropas und dem Ende des Kalten Krieges führen werden.
In einem Wald in Cumbria sitzt ein Mann auf einer von den Strahlen der Mittagssonne gesprenkelten Lichtung schlaff gegen eine verwachsene Eberesche gelehnt. Sein verwittertes Gesicht ist tief gezeichnet von den Gedanken, die ihm durch den gesenkten Kopf kreisen, die Augen sind starr, aber blick-los auf die ungeöffnete Thermosflasche und die Sandwichdose zwischen seinen Füßen gerichtet. Ein kleines Stück entfernt steht ein zweiter Mann und beobachtet ihn. Sein langes braunes Haar ist wolfsgrau gesträhnt, in seinem besorgten Gesicht liegt Mitgefühl, es offen zu zeigen, wäre sinnlos, wie er weiß. Auch ein junges Mädchen im Hintergrund betrachtet den sitzenden Mann mit starrem Blick, doch ihre Miene ist weit schwerer zu deuten. Und auf das weite Waldland, über das der Wind nahezu unaufhörlich seine Musik rauschen lässt und wo im Unterholz das Pizzicato knackender Zweige erklingt, senkt sich eine Stille, als würden selbst die Bäume und der Himmel und die Berge ringsum den Atem anhalten, weil sie fürchten, jemanden in seiner Trauer zu stören.
Dreihundert Meilen weiter südlich, in einem Ostlondoner Parkhaus, brechen fünf junge Burschen, die wahrscheinlich nicht mal mit der Wimper zucken würden, wenn Jesus Christus in einem Feuerwagen auf dem Dach von St. Paul's landete, ein Auto auf.
Aber sie haben das einmal zu oft gemacht, und plötzlich schießen überall um sie herum Polizisten aus dem Boden, als hätte jemand Drachenzähne gesät. Die Jungen stieben auseinander, müssen aber feststellen, dass ihnen jeder Fluchtweg versperrt ist.
Nur einer ergibt sich nicht. Er läuft auf eine drei Meter hohe Betonwand zu, in der ganz oben eine gut dreißig Zentimeter große Lücke klafft. Zum Erstaunen der Polizisten huscht er wie eine Eidechse die Wand hinauf. Und dann schiebt er sich zu ihrem Entsetzen durch die Lücke und verschwindet.
Sie sind auf der fünften Ebene, und hinter der Lücke geht es fast zwanzig Meter senkrecht in die Tiefe.
Die Polizisten geben ihren wartenden Kollegen über Funk durch, sie sollen zur Rückseite des Parkhauses gehen und die Leiche sichern.
Wenige Minuten später antworten sie - keine Leiche am Fuße der Mauer, bloß ein junger Bursche, der weglaufen wollte, sobald er sie kommen sah.
Auf dem Revier gibt er sich als John Smith aus, achtzehn Jahre alt, ohne festen Wohnsitz.
Danach verstummt er und sagt kein Wort mehr.
Sie nehmen seine Fingerabdrücke. Er ist nicht in der Kar-
tei.
Seine Komplizen behaupten, ihn noch nie gesehen zu haben. Sie behaupten auch, einander noch nie gesehen zu haben. Einer von ihnen ist so zugedröhnt, dass er nicht weiß, ob er sich selbst je gesehen hat.
Zwei sind eindeutig minderjährig. Ein Sozialarbeiter wird hinzugezogen, der bei ihrer Vernehmung anwesend ist. Die anderen beiden haben Vorstrafen. Sie sind achtzehn und neunzehn Jahre alt. Der Pflichtverteidiger kümmert sich um sie.
Die Polizisten sind nicht sicher, ob John Smiths Altersangabe stimmt, und der Junge hat irgendwas an sich, eine schwer definierbare Aura von Liebenswürdigkeit, was sie veranlasst, dem Pflichtverteidiger ihre Zweifel mitzuteilen.
Gleich zu Beginn seines Gesprächs mit Smith weist er ihn darauf hin, dass er als Minderjähriger anders behandelt werden würde, wahrscheinlich mit einer milden Strafe ohne Freiheitsentzug davonkäme. Smith bleibt bei seiner Aussage und verweigert jegliche weiteren Auskünfte über seine Herkunft, wenngleich er eindeutig mit nordenglischem Akzent spricht.
Der Verteidiger vermutet, dass Smith deshalb seinen Namen und sein Alter verfälscht, weil er seine Familie aus der Sache raushalten will. Er hofft, dem Jungen die Wahrheit entlocken zu können, indem er ihm die Folgen, die ihm für sein Delikt nach Erwachsenenstrafrecht blühen, drastisch ausmalt, doch als er sich die Beweislage gegen ihn genauer ansieht, muss er feststellen, dass die ziemlich mager ist. Eine Identifizierung anhand der unscharfen Aufnahmen von Überwachungskameras in dem dämmrig beleuchteten Parkhaus ist mehr als fragwürdig. Und könnte denn wirklich jemand die glatte Außenmauer heruntergeklettert sein, wie die Polizisten behaupten, und noch dazu in weniger als einer Minute?
Während sie sich unterhalten, entspannt sich der Junge, solange keine Fragen nach seiner Herkunft gestellt werden, und der Verteidiger spürt, wie er sich für seinen jungen Mandanten zu erwärmen beginnt. Auf dem Nachhauseweg fährt er an dem Parkhaus vorbei, um die Außenmauer zu fotografieren und zu dokumentieren, wie glatt sie ist. Am nächsten Tag zeigt er das Foto dem Jungen, der offensichtlich gerührt ist von so viel Engagement, dann jedoch panisch reagiert, als er erfährt, dass er noch am Vormittag einem Richter vorgeführt werden soll. Der Verteidiger beruhigt ihn, handelt es sich doch
bloß um einen Beweisaufnahmetermin, nicht um einen Strafprozess, er warnt ihn jedoch vor, dass er als Volljähriger ohne festen Wohnsitz mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Untersuchungshaft bleiben wird.
Und genau so kommt es auch. Als der Junge weggeführt wird, sagt der Verteidiger, es bestehe kein Grund zur Sorge und er werde am Nachmittag im Untersuchungsgefängnis vorbeischauen. Aber er hat noch andere Dinge zu erledigen, die ihn bis in den späten Abend in Anspruch nehmen. Als er auf dem Nachhauseweg ist, fällt ihm der Junge wieder ein, und er beruhigt sein schlechtes Gewissen mit dem Gedanken, dass eine Nacht im Untersuchungsgefängnis, ohne ein freundliches Gesicht zu sehen, vielleicht genau das Richtige ist, um Smith zur Vernunft zu bringen.
Er erzählt seiner Frau von dem Jungen. Sie blickt ihn verblüfft an. Normalerweise baut er keine emotionale Bindung zu dem kriminellen Gesindel auf, aus dem seine Mandantschaft üblicherweise besteht.
Er ist müde und geht früh schlafen. Als seine Frau ihn in den frühen Morgenstunden flüsternd weckt, weil sie glaubt, es würde jemand versuchen, durchs Wohnzimmerfenster einzusteigen, denkt er, sie muss einen Albtraum gehabt haben, denn schließlich liegt ihre Wohnung im zehnten Stock eines Hochhauses.
Aber als er ins Wohnzimmer geht und das Licht anmacht, kauert die Gestalt eines Mannes draußen auf dem schmalen Fenstersims.
Nein, kein Mann. Ein Junge. John Smith.
Der Verteidiger sagt seiner Frau, dass alles in Ordnung sei, öffnet das Fenster und lässt Smith herein.
»Sie haben gesagt, Sie würden kommen«, sagt der Junge halb weinerlich, halb vorwurfsvoll.
»Wie bist du aus dem Gefängnis entwischt?«, fragt der Verteidiger. »Und wie hast du mich gefunden?«
»Durch ein Fenster«, sagt der Junge. »Und die Adresse von Ihrer Kanzlei stand auf der Visitenkarte, die Sie mir gegeben haben, also bin ich durch ein Oberlicht eingestiegen und hab rumgesucht, bis ich Ihre Privatanschrift gefunden hab. Ich hab hinterher aufgeräumt, alles wieder in Ordnung gebracht.«
Seine Frau, die die Unterhaltung interessiert verfolgt hat, lässt das Brotmesser in ihrer Hand sinken und sagt: »Ich mach uns Tee.«
Sie kommt mit einer Kanne Tee und einem großen Biskuitkuchen zurück, den Smith im Verlauf der folgenden Stunde verputzt. In dieser einen Stunde holt sie mehr aus dem Jungen heraus als ihr Mann und die Polizei mit vereinten Kräften in zwei Tagen.
Als sie das Gefühl hat, nicht mehr erfahren zu können, sagt sie: »Jetzt bringen wir dich lieber wieder zurück.«
Der Junge blickt verstört, und sie beruhigt ihn: »Mein Mann sorgt dafür, dass die Anklage gegen dich fallen gelassen wird, ganz bestimmt. Aber aus der U-Haft fliehen, das geht nicht, deshalb musst du wieder im Untersuchungsgefängnis sein, wenn sie zum Wecken kommen.«
»Wir können da nicht einfach an die Tür klopfen«, wendet ihr Ehemann ein.
»Natürlich nicht. Du kannst doch so wieder reinkommen, wie du rausgekommen bist, nicht wahr, mein Lieber?«
Der Junge nickt, und eine halbe Stunde später sitzt das Ehepaar im Auto und beobachtet aus der Ferne, wie ein Schatten die Außenmauer des Untersuchungsgefängnisses hinaufläuft.
»Netter Kerl«, sagt die Frau. »Du hattest schon immer eine gute Menschenkenntnis. Wenn du ihn da rausgeholt hast,
bringst du ihn mit nach Hause, bis wir uns überlegt haben, wie es für ihn weitergeht.«
»Nach Hause!«, echot der Verteidiger. »Zu uns nach Hause?«
»Wohin denn sonst?«
»Hör mal, ich mag den Jungen, aber ich hab nicht vor, ihn zu adoptieren!«
»Ich auch nicht«, sagt seine Frau. »Aber irgendwas müssen wir für ihn tun. Was soll er denn sonst machen? Weiter Autos knacken oder am King's Cross seinen Hintern verkaufen?«
Also zieht Smith ins Gästezimmer seines Verteidigers, nachdem das Verfahren eingestellt worden ist.
Aber nicht für lange.
Die Ehefrau sagt: »Ich hab in der Kapelle von ihm erzählt. JC sagt, er würde ihn gern kennenlernen.«
Der Verteidiger verzieht das Gesicht: »Da wäre King's Cross vielleicht die bessere Alternative.«
»Nein, da liegst du falsch. So was passiert nicht, wenn er einen Jungen unter seine Fittiche nimmt. Außerdem braucht der Junge einen Job, und an wen könnten wir uns sonst wenden?«
Das Treffen findet in einem Pub statt, nachdem der mittägliche Ansturm abgeflaut ist. Zunächst sagt der Junge nicht viel, aber zwei große Bier und das entspannte, unaufdringliche Verhalten des Mannes, JC, lösen ihm allmählich die Zunge. So sehr, dass er keinen Hehl macht aus seiner Abneigung gegen das Singen von Kirchenliedern und das Schütteln von Klingelbeuteln und überhaupt jede andere Tätigkeit, die ihm durch das Wort Kapelle in den Sinn gekommen ist.
Der Mann sagt: »Ich vermute, dir schwebt irgendwas vor, das mehr mit körperlicher Arbeit und freier Natur zu tun hat, was? Also lass hören. Was kannst du sonst noch außer senkrechte Wände rauf- und runterlaufen?«
Der Junge überlegt und antwortet dann: »Ich kann Bäume fällen.«
JC lacht.
»Ein Holzfäller! Tja, wie's der Zufall will, hat die Kapelle einen weitläufigen Garten, der gepflegt werden muss, und von Zeit zu Zeit käme uns da ein flinker Holzfäller sehr gelegen. Ich will sehen, was ich tun kann.«
Der Junge und die Frau wechseln Blicke und lächeln einander an.
Und der Mann, JC, beobachtet sie und setzt ebenfalls ein wohlwollendes Lächeln auf.
Übersetzung: Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
© der deutschen Ausgabe: Suhrkamp Verlag Berlin Suhrkamp Taschenbuch Verlag
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Autoren-Porträt von Reginald Hill
Reginald Hill, geboren 1936, wuchs in Cumbria in Nordengland auf. Er ist einer der bekanntesten Krimiautoren Großbritanniens und wurde für sein Werk mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem prestigevollen Dagger Award der britischen Crime Writers' Association für sein Lebenswerk. Hill starb im Jahr 2012.
Ulrike Wasel, geboren 1955 in Bergneustadt, studierte Anglistik, Amerikanistik und Romanistik. Sie ist seit 1991 hauptberuflich als Übersetzerin tätig.
Bibliographische Angaben
- Autor: Reginald Hill
- 2012, 3. Aufl., 683 Seiten, Maße: 13,5 x 21,4 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung:Wasel, Ulrike; Timmermann, Klaus
- Übersetzer: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
- Verlag: Suhrkamp
- ISBN-10: 351846390X
- ISBN-13: 9783518463901
Rezension zu „Rache verjährt nicht “
"Reginald Hills feiner kluger Krimi Rache verjährt nicht führt ein großes Intrigenspiel auf."Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau 16.12.2012
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