Reckless - Steinernes Fleisch
Band 1
Den aktuellen Roman der Bestsellerautorin gibt's nur bei uns so günstig!
Jacob Reckless kennt sie, die Welt hinter dem Spiegel. Genau deswegen hat er auch immer versucht, sie vor seinem Bruder Will geheimzuhalten. Denn in jenem...
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Produktinformationen zu „Reckless - Steinernes Fleisch “
Den aktuellen Roman der Bestsellerautorin gibt's nur bei uns so günstig!
Jacob Reckless kennt sie, die Welt hinter dem Spiegel. Genau deswegen hat er auch immer versucht, sie vor seinem Bruder Will geheimzuhalten. Denn in jenem Reich auf der anderen Seite verbergen sich tödliche Gefahren. Doch nun ist Will seinem Bruder gefolgt und nachdem er von einem Goyle angegriffen wurde, droht er, zu Jade zu versteinern.
Jacob weiß: Es gibt nur eine Möglichkeit, seinen Bruder zu retten. Er muss die Feen finden, denn nur sie können das Steinerne Fleisch aufhalten. Also macht er sich zusammen mit der Gestaltwandlerin Fuchs auf die gefährliche Reise.
"Früher hat Cornelia gefunkelt, jetzt glitzert sie!"
NEUE RUHR ZEITUNG
Lese-Probe zu „Reckless - Steinernes Fleisch “
Reckless - Steinernes Fleisch von Cornelia Funke1
ES WAR EINMAL
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Die Nacht atmete in der Wohnung wie ein dunkles Tier. Das Ticken einer Uhr. Das Knarren der Holz-
dielen, als er sich aus dem Zimmer schob - alles ertrank in ihrer Stille. Aber Jacob liebte die Nacht. Er spürte ihre Dunkelheit wie ein Versprechen auf der Haut. Wie einen Mantel, der aus Freiheit und Gefahr gewebt war.
Draußen ließen die grellen Lichter der Stadt die Sterne verblassen und die große Wohnung war stickig von der Traurigkeit seiner Mutter. Sie wachte nicht auf, als Jacob in ihr Zimmer schlich und die Nachttischschublade aufzog. Der Schlüssel lag gleich neben den Pillen, die sie schlafen ließen. Das Metall schmiegte sich kühl in seine Hand, als er wieder auf den dunklen Flur hinaustrat.
Im Zimmer seines Bruders brannte wie immer noch Licht - Will hatte Angst im Dunkeln -, und Jacob überzeugte sich, dass er fest schlief, bevor er das Arbeitszimmer ihres Vaters aufschloss. Ihre Mutter hatte es nicht mehr betreten, seit er verschwunden war, doch Jacob stahl sich nicht zum ersten Mal hinein, um dort nach den Antworten zu suchen, die sie ihm nicht geben wollte.
Es sah immer noch so aus, als hätte John Reckless erst vor einer Stunde und nicht vor mehr als einem Jahr zuletzt an seinem Schreibtisch gesessen. Über dem Stuhl hing die Strickjacke, die er oft getragen hatte, und ein benutzter Teebeutel vertrocknete auf einem Teller neben dem Kalender, der die Wochen eines vergangenes Jahres zeigte.
Komm zurück! Jacob schrieb es mit dem Finger auf die beschlagenen Fenster, auf den staubigen Schreibtisch und die Scheiben des Glasschranks, in dem immer noch die alten Pistolen lagen, die sein Vater gesammelt hatte. Aber das Zimmer war still und leer und er war zwölf und hatte keinen Vater mehr. Jacob trat gegen die Schubladen, die er schon so viele Nächte vergebens durchsucht hatte, zerrte in stummer Wut Bücher und Zeitschriften aus den Regalen und riss die Flugzeugmodelle herunter, die über dem Schreibtisch hingen, voll Scham über den Stolz, den er empfunden hatte, als er eins davon mit rotem Lack hatte bepinseln dürfen.
Komm zurück! Er wollte es durch die Straßen schreien, die sieben Stockwerke tiefer Schneisen aus Licht zwischen die Häuserblocks schnitten, und in die tausend Fenster, die leuchtende Quadrate aus der Nacht stanzten.
Das Blatt Papier fiel aus einem Buch über Flugzeugtriebwerke, und Jacob hob es nur auf, weil er die Handschrift darauf für die seines Vaters hielt. Aber er erkannte seinen Irrtum schnell. Symbole und Gleichungen, die Skizze eines Pfaus, eine Sonne, zwei Monde. Nichts davon machte Sinn. Bis auf einen Satz, den er auf der Rückseite des Blattes fand.
DER SPIEGEL ÖFFNET SICH NUR FÜR DEN, DER SICH SELBST NICHT SIEHT.
Jacob wandte sich um und sein Spiegelbild erwiderte seinen Blick.
Der Spiegel. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sein Vater ihn aufgehängt hatte. Wie ein schimmerndes Auge hing er zwischen den Bücherregalen. Ein Abgrund aus Glas, in dem sich verzerrt all das spiegelte, was John Reckless zurückgelassen hatte: sein Schreibtisch, die alten Pistolen, seine Bücher - und sein ältester Sohn.
Das Glas war so uneben, dass man sich kaum darin erkannte, und dunkler als das anderer Spiegel, aber die Rosenranken, die sich über den silbernen Rahmen wanden, sahen so echt aus, als würden sie im nächsten Moment welken.
DER SPIEGEL ÖFFNET SICH NUR FÜR DEN, DER SICH SELBST NICHT SIEHT.
Jacob schloss die Augen.
Er kehrte dem Spiegel den Rücken zu.
Tastete hinter dem Rahmen nach irgendeinem Schloss oder Riegel.
Nichts.
Er blickte immer wieder nur seinem eigenen Spiegelbild in die Augen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff.
Seine Hand war kaum groß genug, um das verzerrte Abbild seines Gesichts zu verdecken, aber das Glas schmiegte sich an seine Finger, als hätte es auf sie gewartet, und plötzlich war der Raum, den er hinter sich im Spiegel sah, nicht mehr das Zimmer seines Vaters.
Jacob drehte sich um.
Durch zwei schmale Fenster fiel Mondlicht auf graue Mauern, und seine nackten Füße standen auf Holzdielen, die mit Eichelschalen und abgenagten Vogelknochen bedeckt waren. Der Raum war größer als das Zimmer seines Vaters und über ihm hingen Spinnweben wie Schleier im Gebälk eines Daches.
Wo war er? Das Mondlicht malte ihm Flecken auf die Haut, als er auf eines der Fenster zutrat. An dem rauen Sims klebten die blutigen Federn eines Vogels, und tief unter sich sah er verbrannte Mauern und schwarze Hügel, in denen ein paar verlorene Lichter glimmten. Er war in einem Turm. Verschwunden das Häusermeer und die erleuchteten Straßen. Alles, was er kannte, war fort, und zwischen den Sternen standen zwei Monde, von denen der kleinere rot wie eine rostige Münze war.
Jacob blickte sich zu dem Spiegel um und sah darin die Angst auf dem eigenen Gesicht. Aber Angst war ein Gefühl, das ihm schon immer gefallen hatte. Sie lockte an dunkle Orte, durch verbotene Türen und weit fort von ihm selbst. Sogar die Sehnsucht nach seinem Vater ertrank in ihr.
Es gab keine Tür in den grauen Mauern, nur eine Luke im Boden. Als Jacob sie öffnete, sah er die Reste einer verbrannten Treppe, die in der Dunkelheit verschwand, und für einen Augenblick glaubte er unter sich einen winzigen Mann an den Steinen hinaufklettern zu sehen. Aber ein Scharren ließ ihn herum- fahren.
Spinnweben fielen auf ihn herab und etwas sprang ihm mit einem heiseren Knurren in den Nacken. Es klang wie ein Tier, doch das verzerrte Gesicht, das die Zähne nach seiner Kehle bleckte, war so bleich und faltig wie das eines alten Mannes. Er war sehr viel kleiner als Jacob und mager wie eine Heuschrecke. Seine Kleider schienen aus Spinnweben gemacht, das graue Haar hing ihm bis zur Hüfte, und als Jacob seinen dürren Hals packte, gruben sich gelbe Zähne tief in seine Hand. Mit einem Aufschrei stieß er den Angreifer von seiner Schulter und stolperte auf den Spiegel zu. Der Spinnenmann kam erneut auf die Füße und sprang ihm nach, während er sich Jacobs Blut von den Lippen leckte, doch bevor er ihn erreichte, presste Jacob schon die unverletzte Hand auf sein verängstigtes Gesicht. Die dürre Gestalt verschwand ebenso wie die grauen Mauern und er sah hinter sich wieder den Schreibtisch seines Vaters.
»Jacob?«
Die Stimme seines Bruders drang kaum durch das Klopfen seines Herzens. Jacob rang nach Atem und wich vor dem Spiegel zurück.
»Jake, bist du da drin?«
Er zog sich den Ärmel über die zerbissene Hand und öffnete die Tür.
Wills Augen waren weit vor Angst. Er hatte wieder schlecht geträumt. Kleiner Bruder. Will folgte Jacob wie ein junger Hund und Jacob beschützte Will auf dem Schulhof und im Park. Und verzieh ihm manchmal sogar, dass ihre Mutter ihn mehr liebte.
»Mam sagt, wir sollen nicht in das Zimmer.«
»Seit wann tue ich, was Mam sagt? Wenn du mich verrätst, nehme ich dich nie wieder mit in den Park.«
Jacob glaubte, das Glas des Spiegels wie Eis im Nacken zu spüren. Will lugte an ihm vorbei, aber er senkte den Kopf, als Jacob die Tür hinter sich zuzog. Will war vorsichtig, wo sein Bruder leichtsinnig, sanft, wo er aufbrausend, ruhig, wo er rastlos war. Als Jacob nach seiner Hand griff, bemerkte Will das Blut an seinen Fingern und blickte ihn fragend an, aber Jacob zog ihn wortlos zu seinem Zimmer zurück.
Was der Spiegel ihm gezeigt hatte, gehörte ihm. Nur ihm.
2
ZWÖLF JAHRE SPÄTER
Die Sonne stand schon tief über den Mauern der Ruine, aber Will schlief immer noch, erschöpft von
den Schmerzen, die ihn seit Tagen schüttelten.
Ein Fehler, Jacob, nach all den Jahren der Vorsicht. Er richtete sich auf und deckte Will mit seinem Mantel zu.
All die Jahre, in denen er eine ganze Welt sein Eigen genannt hatte. All die Jahre, in denen aus der fremden Welt das Zuhause geworden war. Vorbei. Schon mit fünfzehn hatte Jacob sich für Wochen hinter den Spiegel gestohlen. Mit sechzehn hatte er nicht einmal mehr die Monate gezählt und trotzdem hatte er sein Geheimnis bewahrt. Bis er es einmal zu eilig gehabt hatte. Hör auf, Jacob. Es ist nicht mehr zu ändern.
Die Kratzwunden am Hals seines Bruders waren gut verheilt, aber am linken Unterarm zeigte sich schon der Stein. Die blassgrünen Adern trieben bis hinunter zur Hand und schimmerten in Wills Haut wie polierter Marmor.
Ein Fehler nur.
Jacob lehnte sich gegen eine der verrußten Säulen und blickte hinauf zu dem Turm, in dem der Spiegel stand. Er war nie hindurchgegangen, ohne sich zu vergewissern, dass Will und seine Mutter schliefen. Aber seit ihrem Tod gab es auf der anderen Seite nur noch ein leeres Zimmer mehr, und er hatte es nicht erwarten können, die Hand wieder auf das dunkle Glas zu pressen und fortzukommen. Weit fort.
Ungeduld, Jacob. Nenne es beim Namen. Eine deiner hervorstechendsten Eigenschaften.
Er sah immer noch Wills Gesicht hinter sich im Spiegel auftauchen, verzerrt von dem dunklen Glas. »Wo willst du hin, Jacob?« Ein Nachtflug nach Boston, eine Reise nach Europa, es hatte viele Ausreden im Lauf der Jahre gegeben. Jacob war ein ebenso einfallsreicher Lügner, wie sein Vater es gewesen war. Doch diesmal hatte seine Hand sich schon auf das kühle Glas gepresst - und natürlich hatte Will es ihm nachgetan.
Kleiner Bruder.
»Er riecht schon wie sie.«
Fuchs löste sich aus den Schatten, die die zerstörten Mauern warfen. Ihr Fell war so rot, als hätte der Herbst es ihr gefärbt, und am Hinterlauf sah man noch die Narben, die die Falle hinterlassen hatte. Fünf Jahre war es her, dass Jacob sie daraus befreit hatte, und seither wich die Füchsin ihm nicht von der Seite.
Sie bewachte seinen Schlaf, warnte ihn vor Gefahren, die seine stumpfen Menschensinne nicht wahrnahmen, und gab Rat, den man besser befolgte.
Ein Fehler.
Jacob trat durch den Torbogen, in dessen verbogenen Angeln immer noch die verkohlten Reste des Schlossportals hingen. Auf der Treppe davor sammelte ein Heinzel Eicheln von den zersprungenen Stufen. Er huschte hastig davon, als Jacobs Schatten auf ihn fiel. Spitznasig und rotäugig, in Hosen und Hemden, die sie aus gestohlenen Menschenkleidern nähten - die Ruine wimmelte von ihnen.
»Schick ihn zurück! Deshalb sind wir hergekommen, oder?« Die Ungeduld in Fuchs' Stimme war nicht zu überhören.
Aber Jacob schüttelte den Kopf. »Es war falsch, ihn hierher zu bringen. Es gibt nichts auf der anderen Seite, das ihm helfen könnte.«
Jacob hatte Fuchs von der Welt erzählt, aus der er kam, aber sie wollte nicht wirklich davon hören. Ihr reichte, was sie wusste: dass es der Ort war, an den er allzu oft verschwand und mit Erinnerungen zurückkam, die ihm wie Schatten folgten.
»Und? Was glaubst du, was hier mit ihm passieren wird?«
Fuchs sprach es nicht aus, doch Jacob wusste, was sie dachte. In dieser Welt erschlugen Männer ihre eigenen Söhne, sobald sie den Stein in ihrer Haut entdeckten.
Er blickte hinunter auf die roten Dächer, die sich am Fuß des Schlosshügels in der Dämmerung verloren. In Schwanstein flammten die ersten Lichter auf. Die Stadt sah von fern aus wie eines der Bilder, die man auf Lebkuchendosen druckte, aber seit ein paar Jahren durchzogen Eisenbahngleise die Hügel dahinter, und aus Fabrikschornsteinen stieg grauer Rauch in den Abendhimmel. Die Welt auf der anderen Seite des Spiegels wollte erwachsen werden. Aber das Steinerne Fleisch, das seinem Bruder wuchs, hatten nicht mechanische Webstühle oder andere moderne Errungenschaften gesät, sondern der alte Zauber, der in ihren Hügeln und Wäldern hauste.
Ein Goldrabe landete auf den zersprungenen Fliesen. Jacob scheuchte ihn fort, bevor er Will einen seiner finsteren Flüche zukrächzen konnte.
Sein Bruder stöhnte im Schlaf. Die Menschenhaut machte dem Stein nicht kampflos Platz und Jacob spürte den Schmerz wie seinen eigenen. Nur aus Liebe zu seinem Bruder war er immer wieder in die andere Welt zurückgekehrt, auch wenn seine Besuche von Jahr zu Jahr seltener geworden waren. Ihre Mutter hatte geweint und ihm mit der Fürsorge gedroht, ohne je zu ahnen, wohin er verschwand, aber Will hatte ihm die Arme um den Hals geschlungen und gefragt, was er ihm mitgebracht hatte. Heinzelschuhe, die Mütze eines Däumlings, einen Knopf aus Elfenglas, ein Stück schuppige Wassermannhaut - Will hatte Jacobs Mitbringsel unter dem Bett versteckt und die Geschichten, die er ihm dazu erzählte, schon bald für Märchen gehalten, die er nur für ihn erfand.
Nun wusste er, dass sie alle wahr waren.
Jacob zog ihm den Mantel über den entstellten Arm. Am Himmel waren schon die zwei Monde zu sehen.
»Pass auf ihn auf, Fuchs.« Er erhob sich. »Ich bin bald zurück.«
»Wo willst du hin? Jacob!« Die Füchsin sprang ihm in den Weg. »Es kann ihm niemand mehr helfen!«
»Wir werden sehen.« Er schob sie beiseite. »Sorg dafür, dass Will nicht in den Turm hinaufgeht.«
Sie blickte ihm nach, als er die Treppe hinunterstieg. Die einzigen Stiefelabdrücke auf den vermoosten Stufen waren seine eigenen. Kein Mensch kam hierher. Die Ruine galt als verflucht und Jacob hatte schon Dutzende von Geschichten über ihren Untergang gehört. Aber nach all den Jahren wusste er immer noch nicht, wer den Spiegel in ihrem Turm hinterlassen hatte. Ebenso wenig, wie er je herausgefunden hatte, wohin sein Vater verschwunden war.
Ein Däumling sprang ihm in den Kragen. Jacob bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor er ihm das Medaillon vom Hals riss, das er trug. An jedem anderen Tag wäre er dem kleinen Dieb auf der Stelle gefolgt. Däumlinge horteten beachtliche Schätze in den hohlen Bäumen, in denen sie hausten. Doch er hatte schon viel zu viel Zeit verloren.
Ein Fehler, Jacob.
Er würde ihn wiedergutmachen. Aber Fuchs' Worte folgten ihm, während er den steilen Hang hinunterstieg.
Es kann ihm niemand mehr helfen.
Wenn sie recht hatte, würde er schon bald keinen Bruder mehr haben. Weder in dieser noch in der anderen Welt.
Ein Fehler.
3
GOYL
Das Feld, über das Hentzau mit seinen Soldaten ritt, roch immer noch nach Blut. Der Regen hatte
die Gräben mit schlammigem Wasser gefüllt, und hinter den Mauern, die beide Seiten zur Deckung errich- tet hatten, war der Boden bedeckt mit herrenlosen Flinten und zerschossenen Helmen. Kami'en hatte die Pferde- und Menschenleichen verbrennen lassen, bevor sie zu verwesen begannen, aber die gefallenen Goyl lagen noch dort, wo sie gestorben waren. Schon in wenigen Tagen würden sie nicht mehr von den Steinen zu unterscheiden sein, die aus der zertretenen Erde ragten, und die Köpfe derer, die in vorderster Linie gekämpft hatten, waren, wie es Goylsitte war, in die Hauptfestung gebracht worden.
Noch eine Schlacht. Hentzau war sie leid, aber diese würde hoffentlich für eine Weile die letzte gewesen sein. Die Kaiserin war endlich bereit zu verhandeln und selbst Kami'en wollte Frieden. Hentzau presste sich die Hand vors Gesicht, als der Wind Asche von der Anhöhe herabwehte, auf der sie die Leichen verbrannt hatten. Sechs Jahre über der Erde, sechs Jahre ohne schützenden Fels zwischen ihm und der Sonne. Die Augen schmerzten ihm von all dem Tageslicht, und die Luft wurde mit jedem Tag kälter und machte seine Haut spröde wie Muschelkalk. Hentzaus Haut glich braunem Jaspis. Nicht die feinste Farbe, die ein Goyl haben konnte. Er war der erste Jaspisgoyl, der je in die obersten Militärränge aufgestiegen war, aber die Goyl hatten vor Kami'en auch noch nie einen König gehabt, und Hentzau gefiel seine Haut. Jaspis war eine wesentlich bessere Tarnfarbe als Onyx oder Mondstein.
Kami'en hatte unweit des Schlachtfelds Quartier bezogen, im Jagdschloss eines kaiserlichen Generals, der, wie die meisten seiner Offiziere, gefallen war. Die Wachen vor dem zerstörten Tor salutierten, als Hentzau auf sie zuritt. Den Bluthund des Königs nannten sie ihn, seinen Jaspisschatten. Hentzau diente Kami'en schon, seit sie gemeinsam die anderen Anführer bekämpft hatten. Zwei Jahre hatten sie gebraucht, um sie alle zu töten, aber danach hatten die Goyl zum ersten Mal einen König gehabt.
Die Straße, die vom Tor zum Schloss hinaufführte, war gesäumt von marmorweißen Statuen, und während Hentzau an ihnen vorbeiritt, amüsierte er sich nicht zum ersten Mal darüber, dass Menschen ihre Götter und Helden durch Abbilder aus Stein verewigten, während sie seinesgleichen für ihre Haut verabscheuten. Selbst die Weichhäute mussten es zugeben. Stein war das Einzige, was blieb.
Die Fenster des Schlosses waren zugemauert, wie die Goyl es bei allen Gebäuden taten, die sie besetzten, doch erst auf der Treppe, die in die Vorratskeller hinabführte, umgab Hentzau end- lich die wohltuende Dunkelheit, die man unter der Erde fand. Nur wenige Gaslampen erleuchteten die Gewölbe, die nun statt Vorräten und verstaubten Jagdtrophäen den Generalstab des Königs der Goyl beherbergten.
Kami'en. Sein Name bedeutete in ihrer Sprache nichts anderes als Stein. Sein Vater hatte eine der untersten Städte befehligt, aber Väter zählten bei ihnen nicht viel. Die Mütter zogen sie auf, und mit neun war ein Goyl erwachsen und auf sich gestellt. Die meisten erkundeten danach die Untere Welt auf der Suche nach unentdeckten Höhlen, bis selbst steinerne Haut die Hitze dort nicht länger ertrug. Doch Kami'en hatte immer nur die Obere Welt interessiert. Er hatte lange in einer der Höhlenstädte gelebt, die sie über der Oberfläche gebaut hatten, weil es in den unteren Städten zu voll wurde, und dort zwei Menschenangriffe überlebt. Danach hatte er begonnen, ihre Waffen und Kriegstechniken zu studieren, und sich in ihre Städte und Militärlager geschlichen. Mit neunzehn hatte er ihre erste Stadt er- obert.
Als die Leibwachen Hentzau hereinwinkten, stand Kami'en vor der Karte, die seine Eroberungen und die Positionen seiner Gegner zeigte. Die Figuren, die ihre Truppen verkörperten, hatte er nach seiner ersten gewonnenen Schlacht anfertigen lassen. Soldaten, Kanoniere, Scharfschützen, Reiterfiguren für die Kavallerie. Die Goyl waren aus Karneol, die Kaiserlichen aus Silber, Lothringen trug Gold, die Armeen im Osten Kupfer und Albions Truppen marschierten in Elfenbein. Kami'en blickte auf sie herab, als suchte er nach einem Weg, sie alle gemeinsam zu schlagen. Er trug Schwarz, wie immer, wenn er die Uniform ablegte, und seine rote Haut schien noch mehr als sonst aus Feuer gemacht. Nie zuvor war Karneol die Hautfarbe eines Anführers gewesen. Bei den Goyl war Onyx die Farbe der Fürsten.
Kami'ens Geliebte trug wie immer Grün, Schichten aus smaragdfarbenem Samt, die sie einhüllten wie die Blätter einer Blüte. Selbst die schönste Goylfrau verblasste neben ihr wie ein Kiesel neben geschliffenem Mondstein, aber Hentzau verbot seinen Soldaten immer wieder, sie anzusehen. Nicht umsonst gab es all die Geschichten über Feen, die Männer mit einem Blick in Disteln oder hilflos zappelnde Fische verwandelten. Ihre Schönheit war Spinnengift. Das Wasser hatte sie und ihre Schwestern geboren, und Hentzau fürchtete sie ebenso sehr wie die Meere, die an den Steinen der Welt nagten.
Die Fee streifte ihn nur mit einem Blick, als er eintrat. Die Dunkle Fee. Selbst ihre eigenen Schwestern hatten sie verstoßen. Es hieß, dass sie Gedanken lesen konnte, aber Hentzau glaubte das nicht. Sie hätte ihn längst getötet für all das, was er über sie dachte.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Die Nacht atmete in der Wohnung wie ein dunkles Tier. Das Ticken einer Uhr. Das Knarren der Holz-
dielen, als er sich aus dem Zimmer schob - alles ertrank in ihrer Stille. Aber Jacob liebte die Nacht. Er spürte ihre Dunkelheit wie ein Versprechen auf der Haut. Wie einen Mantel, der aus Freiheit und Gefahr gewebt war.
Draußen ließen die grellen Lichter der Stadt die Sterne verblassen und die große Wohnung war stickig von der Traurigkeit seiner Mutter. Sie wachte nicht auf, als Jacob in ihr Zimmer schlich und die Nachttischschublade aufzog. Der Schlüssel lag gleich neben den Pillen, die sie schlafen ließen. Das Metall schmiegte sich kühl in seine Hand, als er wieder auf den dunklen Flur hinaustrat.
Im Zimmer seines Bruders brannte wie immer noch Licht - Will hatte Angst im Dunkeln -, und Jacob überzeugte sich, dass er fest schlief, bevor er das Arbeitszimmer ihres Vaters aufschloss. Ihre Mutter hatte es nicht mehr betreten, seit er verschwunden war, doch Jacob stahl sich nicht zum ersten Mal hinein, um dort nach den Antworten zu suchen, die sie ihm nicht geben wollte.
Es sah immer noch so aus, als hätte John Reckless erst vor einer Stunde und nicht vor mehr als einem Jahr zuletzt an seinem Schreibtisch gesessen. Über dem Stuhl hing die Strickjacke, die er oft getragen hatte, und ein benutzter Teebeutel vertrocknete auf einem Teller neben dem Kalender, der die Wochen eines vergangenes Jahres zeigte.
Komm zurück! Jacob schrieb es mit dem Finger auf die beschlagenen Fenster, auf den staubigen Schreibtisch und die Scheiben des Glasschranks, in dem immer noch die alten Pistolen lagen, die sein Vater gesammelt hatte. Aber das Zimmer war still und leer und er war zwölf und hatte keinen Vater mehr. Jacob trat gegen die Schubladen, die er schon so viele Nächte vergebens durchsucht hatte, zerrte in stummer Wut Bücher und Zeitschriften aus den Regalen und riss die Flugzeugmodelle herunter, die über dem Schreibtisch hingen, voll Scham über den Stolz, den er empfunden hatte, als er eins davon mit rotem Lack hatte bepinseln dürfen.
Komm zurück! Er wollte es durch die Straßen schreien, die sieben Stockwerke tiefer Schneisen aus Licht zwischen die Häuserblocks schnitten, und in die tausend Fenster, die leuchtende Quadrate aus der Nacht stanzten.
Das Blatt Papier fiel aus einem Buch über Flugzeugtriebwerke, und Jacob hob es nur auf, weil er die Handschrift darauf für die seines Vaters hielt. Aber er erkannte seinen Irrtum schnell. Symbole und Gleichungen, die Skizze eines Pfaus, eine Sonne, zwei Monde. Nichts davon machte Sinn. Bis auf einen Satz, den er auf der Rückseite des Blattes fand.
DER SPIEGEL ÖFFNET SICH NUR FÜR DEN, DER SICH SELBST NICHT SIEHT.
Jacob wandte sich um und sein Spiegelbild erwiderte seinen Blick.
Der Spiegel. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem sein Vater ihn aufgehängt hatte. Wie ein schimmerndes Auge hing er zwischen den Bücherregalen. Ein Abgrund aus Glas, in dem sich verzerrt all das spiegelte, was John Reckless zurückgelassen hatte: sein Schreibtisch, die alten Pistolen, seine Bücher - und sein ältester Sohn.
Das Glas war so uneben, dass man sich kaum darin erkannte, und dunkler als das anderer Spiegel, aber die Rosenranken, die sich über den silbernen Rahmen wanden, sahen so echt aus, als würden sie im nächsten Moment welken.
DER SPIEGEL ÖFFNET SICH NUR FÜR DEN, DER SICH SELBST NICHT SIEHT.
Jacob schloss die Augen.
Er kehrte dem Spiegel den Rücken zu.
Tastete hinter dem Rahmen nach irgendeinem Schloss oder Riegel.
Nichts.
Er blickte immer wieder nur seinem eigenen Spiegelbild in die Augen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er begriff.
Seine Hand war kaum groß genug, um das verzerrte Abbild seines Gesichts zu verdecken, aber das Glas schmiegte sich an seine Finger, als hätte es auf sie gewartet, und plötzlich war der Raum, den er hinter sich im Spiegel sah, nicht mehr das Zimmer seines Vaters.
Jacob drehte sich um.
Durch zwei schmale Fenster fiel Mondlicht auf graue Mauern, und seine nackten Füße standen auf Holzdielen, die mit Eichelschalen und abgenagten Vogelknochen bedeckt waren. Der Raum war größer als das Zimmer seines Vaters und über ihm hingen Spinnweben wie Schleier im Gebälk eines Daches.
Wo war er? Das Mondlicht malte ihm Flecken auf die Haut, als er auf eines der Fenster zutrat. An dem rauen Sims klebten die blutigen Federn eines Vogels, und tief unter sich sah er verbrannte Mauern und schwarze Hügel, in denen ein paar verlorene Lichter glimmten. Er war in einem Turm. Verschwunden das Häusermeer und die erleuchteten Straßen. Alles, was er kannte, war fort, und zwischen den Sternen standen zwei Monde, von denen der kleinere rot wie eine rostige Münze war.
Jacob blickte sich zu dem Spiegel um und sah darin die Angst auf dem eigenen Gesicht. Aber Angst war ein Gefühl, das ihm schon immer gefallen hatte. Sie lockte an dunkle Orte, durch verbotene Türen und weit fort von ihm selbst. Sogar die Sehnsucht nach seinem Vater ertrank in ihr.
Es gab keine Tür in den grauen Mauern, nur eine Luke im Boden. Als Jacob sie öffnete, sah er die Reste einer verbrannten Treppe, die in der Dunkelheit verschwand, und für einen Augenblick glaubte er unter sich einen winzigen Mann an den Steinen hinaufklettern zu sehen. Aber ein Scharren ließ ihn herum- fahren.
Spinnweben fielen auf ihn herab und etwas sprang ihm mit einem heiseren Knurren in den Nacken. Es klang wie ein Tier, doch das verzerrte Gesicht, das die Zähne nach seiner Kehle bleckte, war so bleich und faltig wie das eines alten Mannes. Er war sehr viel kleiner als Jacob und mager wie eine Heuschrecke. Seine Kleider schienen aus Spinnweben gemacht, das graue Haar hing ihm bis zur Hüfte, und als Jacob seinen dürren Hals packte, gruben sich gelbe Zähne tief in seine Hand. Mit einem Aufschrei stieß er den Angreifer von seiner Schulter und stolperte auf den Spiegel zu. Der Spinnenmann kam erneut auf die Füße und sprang ihm nach, während er sich Jacobs Blut von den Lippen leckte, doch bevor er ihn erreichte, presste Jacob schon die unverletzte Hand auf sein verängstigtes Gesicht. Die dürre Gestalt verschwand ebenso wie die grauen Mauern und er sah hinter sich wieder den Schreibtisch seines Vaters.
»Jacob?«
Die Stimme seines Bruders drang kaum durch das Klopfen seines Herzens. Jacob rang nach Atem und wich vor dem Spiegel zurück.
»Jake, bist du da drin?«
Er zog sich den Ärmel über die zerbissene Hand und öffnete die Tür.
Wills Augen waren weit vor Angst. Er hatte wieder schlecht geträumt. Kleiner Bruder. Will folgte Jacob wie ein junger Hund und Jacob beschützte Will auf dem Schulhof und im Park. Und verzieh ihm manchmal sogar, dass ihre Mutter ihn mehr liebte.
»Mam sagt, wir sollen nicht in das Zimmer.«
»Seit wann tue ich, was Mam sagt? Wenn du mich verrätst, nehme ich dich nie wieder mit in den Park.«
Jacob glaubte, das Glas des Spiegels wie Eis im Nacken zu spüren. Will lugte an ihm vorbei, aber er senkte den Kopf, als Jacob die Tür hinter sich zuzog. Will war vorsichtig, wo sein Bruder leichtsinnig, sanft, wo er aufbrausend, ruhig, wo er rastlos war. Als Jacob nach seiner Hand griff, bemerkte Will das Blut an seinen Fingern und blickte ihn fragend an, aber Jacob zog ihn wortlos zu seinem Zimmer zurück.
Was der Spiegel ihm gezeigt hatte, gehörte ihm. Nur ihm.
2
ZWÖLF JAHRE SPÄTER
Die Sonne stand schon tief über den Mauern der Ruine, aber Will schlief immer noch, erschöpft von
den Schmerzen, die ihn seit Tagen schüttelten.
Ein Fehler, Jacob, nach all den Jahren der Vorsicht. Er richtete sich auf und deckte Will mit seinem Mantel zu.
All die Jahre, in denen er eine ganze Welt sein Eigen genannt hatte. All die Jahre, in denen aus der fremden Welt das Zuhause geworden war. Vorbei. Schon mit fünfzehn hatte Jacob sich für Wochen hinter den Spiegel gestohlen. Mit sechzehn hatte er nicht einmal mehr die Monate gezählt und trotzdem hatte er sein Geheimnis bewahrt. Bis er es einmal zu eilig gehabt hatte. Hör auf, Jacob. Es ist nicht mehr zu ändern.
Die Kratzwunden am Hals seines Bruders waren gut verheilt, aber am linken Unterarm zeigte sich schon der Stein. Die blassgrünen Adern trieben bis hinunter zur Hand und schimmerten in Wills Haut wie polierter Marmor.
Ein Fehler nur.
Jacob lehnte sich gegen eine der verrußten Säulen und blickte hinauf zu dem Turm, in dem der Spiegel stand. Er war nie hindurchgegangen, ohne sich zu vergewissern, dass Will und seine Mutter schliefen. Aber seit ihrem Tod gab es auf der anderen Seite nur noch ein leeres Zimmer mehr, und er hatte es nicht erwarten können, die Hand wieder auf das dunkle Glas zu pressen und fortzukommen. Weit fort.
Ungeduld, Jacob. Nenne es beim Namen. Eine deiner hervorstechendsten Eigenschaften.
Er sah immer noch Wills Gesicht hinter sich im Spiegel auftauchen, verzerrt von dem dunklen Glas. »Wo willst du hin, Jacob?« Ein Nachtflug nach Boston, eine Reise nach Europa, es hatte viele Ausreden im Lauf der Jahre gegeben. Jacob war ein ebenso einfallsreicher Lügner, wie sein Vater es gewesen war. Doch diesmal hatte seine Hand sich schon auf das kühle Glas gepresst - und natürlich hatte Will es ihm nachgetan.
Kleiner Bruder.
»Er riecht schon wie sie.«
Fuchs löste sich aus den Schatten, die die zerstörten Mauern warfen. Ihr Fell war so rot, als hätte der Herbst es ihr gefärbt, und am Hinterlauf sah man noch die Narben, die die Falle hinterlassen hatte. Fünf Jahre war es her, dass Jacob sie daraus befreit hatte, und seither wich die Füchsin ihm nicht von der Seite.
Sie bewachte seinen Schlaf, warnte ihn vor Gefahren, die seine stumpfen Menschensinne nicht wahrnahmen, und gab Rat, den man besser befolgte.
Ein Fehler.
Jacob trat durch den Torbogen, in dessen verbogenen Angeln immer noch die verkohlten Reste des Schlossportals hingen. Auf der Treppe davor sammelte ein Heinzel Eicheln von den zersprungenen Stufen. Er huschte hastig davon, als Jacobs Schatten auf ihn fiel. Spitznasig und rotäugig, in Hosen und Hemden, die sie aus gestohlenen Menschenkleidern nähten - die Ruine wimmelte von ihnen.
»Schick ihn zurück! Deshalb sind wir hergekommen, oder?« Die Ungeduld in Fuchs' Stimme war nicht zu überhören.
Aber Jacob schüttelte den Kopf. »Es war falsch, ihn hierher zu bringen. Es gibt nichts auf der anderen Seite, das ihm helfen könnte.«
Jacob hatte Fuchs von der Welt erzählt, aus der er kam, aber sie wollte nicht wirklich davon hören. Ihr reichte, was sie wusste: dass es der Ort war, an den er allzu oft verschwand und mit Erinnerungen zurückkam, die ihm wie Schatten folgten.
»Und? Was glaubst du, was hier mit ihm passieren wird?«
Fuchs sprach es nicht aus, doch Jacob wusste, was sie dachte. In dieser Welt erschlugen Männer ihre eigenen Söhne, sobald sie den Stein in ihrer Haut entdeckten.
Er blickte hinunter auf die roten Dächer, die sich am Fuß des Schlosshügels in der Dämmerung verloren. In Schwanstein flammten die ersten Lichter auf. Die Stadt sah von fern aus wie eines der Bilder, die man auf Lebkuchendosen druckte, aber seit ein paar Jahren durchzogen Eisenbahngleise die Hügel dahinter, und aus Fabrikschornsteinen stieg grauer Rauch in den Abendhimmel. Die Welt auf der anderen Seite des Spiegels wollte erwachsen werden. Aber das Steinerne Fleisch, das seinem Bruder wuchs, hatten nicht mechanische Webstühle oder andere moderne Errungenschaften gesät, sondern der alte Zauber, der in ihren Hügeln und Wäldern hauste.
Ein Goldrabe landete auf den zersprungenen Fliesen. Jacob scheuchte ihn fort, bevor er Will einen seiner finsteren Flüche zukrächzen konnte.
Sein Bruder stöhnte im Schlaf. Die Menschenhaut machte dem Stein nicht kampflos Platz und Jacob spürte den Schmerz wie seinen eigenen. Nur aus Liebe zu seinem Bruder war er immer wieder in die andere Welt zurückgekehrt, auch wenn seine Besuche von Jahr zu Jahr seltener geworden waren. Ihre Mutter hatte geweint und ihm mit der Fürsorge gedroht, ohne je zu ahnen, wohin er verschwand, aber Will hatte ihm die Arme um den Hals geschlungen und gefragt, was er ihm mitgebracht hatte. Heinzelschuhe, die Mütze eines Däumlings, einen Knopf aus Elfenglas, ein Stück schuppige Wassermannhaut - Will hatte Jacobs Mitbringsel unter dem Bett versteckt und die Geschichten, die er ihm dazu erzählte, schon bald für Märchen gehalten, die er nur für ihn erfand.
Nun wusste er, dass sie alle wahr waren.
Jacob zog ihm den Mantel über den entstellten Arm. Am Himmel waren schon die zwei Monde zu sehen.
»Pass auf ihn auf, Fuchs.« Er erhob sich. »Ich bin bald zurück.«
»Wo willst du hin? Jacob!« Die Füchsin sprang ihm in den Weg. »Es kann ihm niemand mehr helfen!«
»Wir werden sehen.« Er schob sie beiseite. »Sorg dafür, dass Will nicht in den Turm hinaufgeht.«
Sie blickte ihm nach, als er die Treppe hinunterstieg. Die einzigen Stiefelabdrücke auf den vermoosten Stufen waren seine eigenen. Kein Mensch kam hierher. Die Ruine galt als verflucht und Jacob hatte schon Dutzende von Geschichten über ihren Untergang gehört. Aber nach all den Jahren wusste er immer noch nicht, wer den Spiegel in ihrem Turm hinterlassen hatte. Ebenso wenig, wie er je herausgefunden hatte, wohin sein Vater verschwunden war.
Ein Däumling sprang ihm in den Kragen. Jacob bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor er ihm das Medaillon vom Hals riss, das er trug. An jedem anderen Tag wäre er dem kleinen Dieb auf der Stelle gefolgt. Däumlinge horteten beachtliche Schätze in den hohlen Bäumen, in denen sie hausten. Doch er hatte schon viel zu viel Zeit verloren.
Ein Fehler, Jacob.
Er würde ihn wiedergutmachen. Aber Fuchs' Worte folgten ihm, während er den steilen Hang hinunterstieg.
Es kann ihm niemand mehr helfen.
Wenn sie recht hatte, würde er schon bald keinen Bruder mehr haben. Weder in dieser noch in der anderen Welt.
Ein Fehler.
3
GOYL
Das Feld, über das Hentzau mit seinen Soldaten ritt, roch immer noch nach Blut. Der Regen hatte
die Gräben mit schlammigem Wasser gefüllt, und hinter den Mauern, die beide Seiten zur Deckung errich- tet hatten, war der Boden bedeckt mit herrenlosen Flinten und zerschossenen Helmen. Kami'en hatte die Pferde- und Menschenleichen verbrennen lassen, bevor sie zu verwesen begannen, aber die gefallenen Goyl lagen noch dort, wo sie gestorben waren. Schon in wenigen Tagen würden sie nicht mehr von den Steinen zu unterscheiden sein, die aus der zertretenen Erde ragten, und die Köpfe derer, die in vorderster Linie gekämpft hatten, waren, wie es Goylsitte war, in die Hauptfestung gebracht worden.
Noch eine Schlacht. Hentzau war sie leid, aber diese würde hoffentlich für eine Weile die letzte gewesen sein. Die Kaiserin war endlich bereit zu verhandeln und selbst Kami'en wollte Frieden. Hentzau presste sich die Hand vors Gesicht, als der Wind Asche von der Anhöhe herabwehte, auf der sie die Leichen verbrannt hatten. Sechs Jahre über der Erde, sechs Jahre ohne schützenden Fels zwischen ihm und der Sonne. Die Augen schmerzten ihm von all dem Tageslicht, und die Luft wurde mit jedem Tag kälter und machte seine Haut spröde wie Muschelkalk. Hentzaus Haut glich braunem Jaspis. Nicht die feinste Farbe, die ein Goyl haben konnte. Er war der erste Jaspisgoyl, der je in die obersten Militärränge aufgestiegen war, aber die Goyl hatten vor Kami'en auch noch nie einen König gehabt, und Hentzau gefiel seine Haut. Jaspis war eine wesentlich bessere Tarnfarbe als Onyx oder Mondstein.
Kami'en hatte unweit des Schlachtfelds Quartier bezogen, im Jagdschloss eines kaiserlichen Generals, der, wie die meisten seiner Offiziere, gefallen war. Die Wachen vor dem zerstörten Tor salutierten, als Hentzau auf sie zuritt. Den Bluthund des Königs nannten sie ihn, seinen Jaspisschatten. Hentzau diente Kami'en schon, seit sie gemeinsam die anderen Anführer bekämpft hatten. Zwei Jahre hatten sie gebraucht, um sie alle zu töten, aber danach hatten die Goyl zum ersten Mal einen König gehabt.
Die Straße, die vom Tor zum Schloss hinaufführte, war gesäumt von marmorweißen Statuen, und während Hentzau an ihnen vorbeiritt, amüsierte er sich nicht zum ersten Mal darüber, dass Menschen ihre Götter und Helden durch Abbilder aus Stein verewigten, während sie seinesgleichen für ihre Haut verabscheuten. Selbst die Weichhäute mussten es zugeben. Stein war das Einzige, was blieb.
Die Fenster des Schlosses waren zugemauert, wie die Goyl es bei allen Gebäuden taten, die sie besetzten, doch erst auf der Treppe, die in die Vorratskeller hinabführte, umgab Hentzau end- lich die wohltuende Dunkelheit, die man unter der Erde fand. Nur wenige Gaslampen erleuchteten die Gewölbe, die nun statt Vorräten und verstaubten Jagdtrophäen den Generalstab des Königs der Goyl beherbergten.
Kami'en. Sein Name bedeutete in ihrer Sprache nichts anderes als Stein. Sein Vater hatte eine der untersten Städte befehligt, aber Väter zählten bei ihnen nicht viel. Die Mütter zogen sie auf, und mit neun war ein Goyl erwachsen und auf sich gestellt. Die meisten erkundeten danach die Untere Welt auf der Suche nach unentdeckten Höhlen, bis selbst steinerne Haut die Hitze dort nicht länger ertrug. Doch Kami'en hatte immer nur die Obere Welt interessiert. Er hatte lange in einer der Höhlenstädte gelebt, die sie über der Oberfläche gebaut hatten, weil es in den unteren Städten zu voll wurde, und dort zwei Menschenangriffe überlebt. Danach hatte er begonnen, ihre Waffen und Kriegstechniken zu studieren, und sich in ihre Städte und Militärlager geschlichen. Mit neunzehn hatte er ihre erste Stadt er- obert.
Als die Leibwachen Hentzau hereinwinkten, stand Kami'en vor der Karte, die seine Eroberungen und die Positionen seiner Gegner zeigte. Die Figuren, die ihre Truppen verkörperten, hatte er nach seiner ersten gewonnenen Schlacht anfertigen lassen. Soldaten, Kanoniere, Scharfschützen, Reiterfiguren für die Kavallerie. Die Goyl waren aus Karneol, die Kaiserlichen aus Silber, Lothringen trug Gold, die Armeen im Osten Kupfer und Albions Truppen marschierten in Elfenbein. Kami'en blickte auf sie herab, als suchte er nach einem Weg, sie alle gemeinsam zu schlagen. Er trug Schwarz, wie immer, wenn er die Uniform ablegte, und seine rote Haut schien noch mehr als sonst aus Feuer gemacht. Nie zuvor war Karneol die Hautfarbe eines Anführers gewesen. Bei den Goyl war Onyx die Farbe der Fürsten.
Kami'ens Geliebte trug wie immer Grün, Schichten aus smaragdfarbenem Samt, die sie einhüllten wie die Blätter einer Blüte. Selbst die schönste Goylfrau verblasste neben ihr wie ein Kiesel neben geschliffenem Mondstein, aber Hentzau verbot seinen Soldaten immer wieder, sie anzusehen. Nicht umsonst gab es all die Geschichten über Feen, die Männer mit einem Blick in Disteln oder hilflos zappelnde Fische verwandelten. Ihre Schönheit war Spinnengift. Das Wasser hatte sie und ihre Schwestern geboren, und Hentzau fürchtete sie ebenso sehr wie die Meere, die an den Steinen der Welt nagten.
Die Fee streifte ihn nur mit einem Blick, als er eintrat. Die Dunkle Fee. Selbst ihre eigenen Schwestern hatten sie verstoßen. Es hieß, dass sie Gedanken lesen konnte, aber Hentzau glaubte das nicht. Sie hätte ihn längst getötet für all das, was er über sie dachte.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Cornelia Funke
Bibliographische Angaben
- Autor: Cornelia Funke
- 346 Seiten, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 15 x 21 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008144
- ISBN-13: 9783868008142
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