Reisen im Skriptorium
"Reisen im Skriptorium" ist ein raffiniertes Vexierspiel, finten- und voltenreich, brillant und kunstvoll. Begeben Sie sich mit Paul Auster auf die Reise in einen Teufelskreis der Phantasie.
Reisen im Skriptoriumvon Paul Auster
LESEPROBE
Der alte Mann sitzt auf der Kante des schmalenBetts, die Hände gespreizt auf den Knien, den Kopf gesenkt, undstarrt den Fußboden an. Er hat keine Ahnung, dass unmittelbar über ihm in derDecke eine Kamera eingebaut ist. Der Verschluss klickt lautlos einmal proSekunde, sodass mit jeder Umdrehung der Erde sechsundachtzigtausendvierhundertFotos gemacht werden. Wüsste er, dass er beobachtet wird, würde das auch nichtsändern. Seine Gedanken sind woanders, gestrandet hei den Chimären in seinemKopf, während er eine Antwort auf die Frage sucht, die ihn nicht mehr loslässt.
Wer ist er? Was tut er hier? Wannist er angekommen, und wie lange wird er bleiben? Mit etwas Glück wird die Zeites uns allen weisen. Fürs Erste haben wir nur die Aufgabe, die Bilder möglichstaufmerksam zu betrachten und uns jedweder voreiligen Schlussfolgerung zuenthalten.
In dem Raum befindet sich eine Reihevon Gegenständen, und an jedem ist ein Stück weißes Klebeband befestigt, aufdas in Blockbuchstaben ein einzelnes Wort geschrieben ist. Am Nachttisch stehtzum Beispiel das Wort TISCH. An der Lampe das Wort LAMPE. Sogar an der Wand,die strenggenommen kein Gegenstand ist, klebt einStreifen mit der Aufschrift WAND. Der alte Mann blickt kurz auf, sieht denKlebstreifen an der Wand und spricht mit leiser Stimme das Wort Wand. Zudiesem Zeitpunkt kann man nicht wissen, ob er das Wort von dem Klebstreifenabliest oder einfach die Wand selbst meint. Es könnte sein, dass er das Lesenverlernt hat, aber Dinge noch als das erkennt, was sie sind, und sie bei ihremNamen nennen kann, oder aber umgekehrt, dass er die Fähigkeit verloren hat,Dinge als das zu erkennen, was sie sind, aber noch lesen kann.
Er trägt einen blau-gelb gestreiftenBaumwollpyjama, seine Füße stecken in schwarzen Lederpantoffeln. Ihm ist nichtganz klar, wo er sich befindet. In dem Raum, ja, aber in welchem Gebäude liegtder Raum? In einem Haus? In einer Klinik? In einem Gefängnis? Er kann sichnicht erinnern, seit wann er hier ist und was für Umstände seine Verlegung andiesen Ort herbeigeführt haben. Vielleicht war er schon immer hier; vielleichtlebt er hier schon seit dem Tag seiner Geburt. Er weiß nur, sein Herz ist voneinem unerbittlichen Schuldgefühl erfüllt. Zugleich kann er sich des Eindrucksnicht erwehren, Opfer einer furchtbaren Ungerechtigkeit zu sein.
Der Raum hat ein Fenster, aber dieJalousie ist zugezogen, und soweit er sich erinnern kann, hat er noch nichthinausgesehen. Das Gleiche gilt für die Tür und ihren weißen Porzellanknauf.Ist er eingeschlossen, oder kann er kommen und gehen, wie er will? Diese Fragemuss er erst noch untersuchen - denn wie oben im ersten Absatz festgestellt,sind seine Gedanken woanders, treiben in der Vergangenheit, wandern unter denPhantomen umher, die sich in seinem Kopf drängen, immer auf der Suche nacheiner Antwort auf die Frage, die ihn nicht loslässt.
Die Bilder lügen nicht, erzählenaber auch nicht die ganze Geschichte. Sie protokollieren lediglich das Vergehender Zeit, bilden nur das Äußere ab. Das Alter des Mannes zum Beispiel lässtsich anhand der leicht unscharfen Schwarzweißbilder kaum bestimmen. Die einzigeeinigermaßen sichere Aussage ist die, dass er nicht jung ist, aber das Wort altist ein dehnbarer Begriff und kann für jeden zwischen sechzig und hundertgelten. Wir wollen daher nicht mehr von einem alten Mann sprechen unddie Person in dem Raum künftig als Mr. Blank bezeichnen. Ein Vorname wird fürsErste nicht nötig sein.
Schließlich steht Mr. Blank von demBett auf, hält kurz inne, um sein Gleichgewicht zu finden, und schlurft dann zudein Schreibtisch am anderen Ende des Raums. Er ist müde, als sei er gerade auszu kurzem, unruhigem Schlaf erwacht, und als die Sohlen seiner Pantoffeln überden nackten Holzboden schaben, erinnert ihn dieses Geräusch anSchmirgelpapier. Aus weiter Ferne, von jenseits des Raums, von jenseits desGebäudes, in dem der Raum sich befindet, hört er den undeutlichen Schreieines Vogels - einer Krähe vielleicht, einer Möwe vielleicht, er kann es nichtsagen.
r. Blank lässt sich auf dem Stuhlvor dem Schreibtisch nieder. Es ist ein außerordentlich bequemer Stuhl,befindet er; weiches braunes Leder und breite Armlehnen, die reichlich Platzfür seine Ellbogen und Unterarme bieten, ganz zu schweigen von einem unsichtbarenFedermechanismus, der ihm erlaubt, nach Belieben vor und zurück zu schaukeln,und genau damit fängt er an, sobald er sich hingesetzt hat. Das Schaukeln wirktberuhigend auf ihn, und während Mr. Blank sich dein angenehmenSchwingen hingibt, kommen ihm Erinnerungen an das Schaukelpferd inseinem Zimmer, als er ein kleiner Junge war, und von neuem durchlebt er einigeder Phantasiereisen. die er auf diesem Pferd zu unternehmen pflegte, dessenName Whitey war und das für den jungen Mr. Blank keinweiß angemaltes Stück Holz, sondern ein Lebewesen, ein echtes Pferd gewesenwar.
Nach diesem kurzen Ausflug in seinefrühe Kindheit steigt ihm wieder die Angst in die Kehle. Mit matter Stimmespricht er vor sich hin: Ich darf das nicht geschehen lassen. Dann beugt ersich vor, um die Papiere und Fotografien zu untersuchen, die in ordentlichenStapeln auf der Mahagoniplatte des Schreibtischs liegen. Als Erstes nimmt erdie Bilder, drei Dutzend zwanzig mal fünf und zwanzig Zentimeter großeSchwarzweißporträts von Männern und Frauen verschiedener Hautfarben und Lebensalter.Das oberste Foto zeigt eine junge Frau Anfang zwanzig. Ihr dunkles Haar ist kurzgeschoren, und in ihren Augen, die starr in die Kamerablicken, liegt ein gespannter, gequälter Ausdruck. Sie steht auf der Straße, inirgendeiner Stadt, vielleicht in Italien oder Frankreich, denn hinter ihr siehtman eine mittelalterliche Kirche, und da die Frau mit Schal und Wollmantelbekleidet ist, darf man annehmen, dass das Bild im Winter aufgenommen wurde.Mr. Blank sieht der jungen Frau angestrengt in die Augen und versucht sich zuerinnern, wer sie ist. Nach etwa zwanzig Sekunden hört er sich ein einzigesWort flüstern: Anna. Eine Aufwallung überwältigender Liebe durchflutet ihn. Erfragt sich, ob er nicht einst mit Anna verheiratet war oder ob er nicht vielleichtein Bildnis seiner Tochter betrachtet. Kaum hat er das gedacht, attackiert ihneine erneute Woge von Schuldgefühlen, und er weiß, Anna ist tot. Schlimmer noch,er vermutet, dass er für ihren Tod verantwortlich ist. Es könnte sogar sein,sagt er sich, dass er sie umgebracht hat.
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© Rowohlt Verlag
Übersetzung: Werner Schmitz
- Autor: Paul Auster
- 2007, 1. Auflage, 176 Seiten, Maße: 13 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Werner Schmitz
- Verlag: Rowohlt, Hamburg
- ISBN-10: 3498000748
- ISBN-13: 9783498000745
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