Richard von Weizsäcker
Mit der Macht der Moral
Das Leben Richard von Weizsäckers, aus persönlicher Nähe beschrieben
Richard von Weizsäcker hat als Regierender Bürgermeister von Berlin und als Bundespräsident deutsche Geschichte geschrieben. In einem von Sympathie...
Richard von Weizsäcker hat als Regierender Bürgermeister von Berlin und als Bundespräsident deutsche Geschichte geschrieben. In einem von Sympathie...
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Produktinformationen zu „Richard von Weizsäcker “
Das Leben Richard von Weizsäckers, aus persönlicher Nähe beschrieben
Richard von Weizsäcker hat als Regierender Bürgermeister von Berlin und als Bundespräsident deutsche Geschichte geschrieben. In einem von Sympathie getragenen Porträt stellt sein Wegbegleiter und ehemaliger Mitarbeiter Friedbert Pflüger die prägenden Ereignisse und großen Themen im Leben des über alle Parteigrenzen hinweg hoch geachteten Politikers vor.
Bis heute ist Richard von Weizsäcker einer der beliebtesten und angesehensten deutschen Politiker. Als Regierender Bürgermeister des geteilten Berlins und danach als Bundespräsident, in dessen Amtszeit (1984 bis 1994) der Fall der Mauer und das Ende des Kalten Kriegs fielen, stand er lange Zeit im Mittelpunkt des deutsch-deutschen Geschehens. Wie kaum ein anderer Politiker hat Weizsäcker das Bild Deutschlands im Ausland geprägt und die deutsche und europäische Einigung begleitet und gestaltet.
Kenntnisreich porträtiert Friedbert Pflüger den Menschen und Politiker Richard von Weizsäcker, und er zeigt auf, was für den großen Staatsmann zu den Leitthemen seines Lebens wurde: die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, die Zusammengehörigkeit der Menschen in den beiden deutschen Staaten sowie die Kritik am Parteienstaat und die Überwindung der Politik- und Parteiverdrossenheit vieler Bürger.
Richard von Weizsäcker hat als Regierender Bürgermeister von Berlin und als Bundespräsident deutsche Geschichte geschrieben. In einem von Sympathie getragenen Porträt stellt sein Wegbegleiter und ehemaliger Mitarbeiter Friedbert Pflüger die prägenden Ereignisse und großen Themen im Leben des über alle Parteigrenzen hinweg hoch geachteten Politikers vor.
Bis heute ist Richard von Weizsäcker einer der beliebtesten und angesehensten deutschen Politiker. Als Regierender Bürgermeister des geteilten Berlins und danach als Bundespräsident, in dessen Amtszeit (1984 bis 1994) der Fall der Mauer und das Ende des Kalten Kriegs fielen, stand er lange Zeit im Mittelpunkt des deutsch-deutschen Geschehens. Wie kaum ein anderer Politiker hat Weizsäcker das Bild Deutschlands im Ausland geprägt und die deutsche und europäische Einigung begleitet und gestaltet.
Kenntnisreich porträtiert Friedbert Pflüger den Menschen und Politiker Richard von Weizsäcker, und er zeigt auf, was für den großen Staatsmann zu den Leitthemen seines Lebens wurde: die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, die Zusammengehörigkeit der Menschen in den beiden deutschen Staaten sowie die Kritik am Parteienstaat und die Überwindung der Politik- und Parteiverdrossenheit vieler Bürger.
Klappentext zu „Richard von Weizsäcker “
Das Leben Richard von Weizsäckers, aus persönlicher Nähe beschriebenRichard von Weizsäcker hat als Regierender Bürgermeister von Berlin und als Bundespräsident deutsche Geschichte geschrieben. In einem von Sympathie getragenen Porträt stellt sein Wegbegleiter und ehemaliger Mitarbeiter Friedbert Pflüger die prägenden Ereignisse und großen Themen im Leben des über alle Parteigrenzen hinweg hoch geachteten Politikers vor.
Bis heute ist Richard von Weizsäcker einer der beliebtesten und angesehensten deutschen Politiker. Als Regierender Bürgermeister des geteilten Berlins und danach als Bundespräsident, in dessen Amtszeit (1984 bis 1994) der Fall der Mauer und das Ende des Kalten Kriegs fielen, stand er lange Zeit im Mittelpunkt des deutsch-deutschen Geschehens. Wie kaum ein anderer Politiker hat Weizsäcker das Bild Deutschlands im Ausland geprägt und die deutsche und europäische Einigung begleitet und gestaltet.
Kenntnisreich porträtiert Friedbert Pflüger den Menschen und Politiker Richard von Weizsäcker, und er zeigt auf, was für den großen Staatsmann zu den Leitthemen seines Lebens wurde: die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, die Zusammengehörigkeit der Menschen in den beiden deutschen Staaten sowie die Kritik am Parteienstaat und die Überwindung der Politik- und Parteiverdrossenheit vieler Bürger.
"Pflügers Buch bietet viele interessante Einblicke. (...) er liefert keine umfassende Biografie, sondern interessante Schlaglichter, die in ihrer Gesamtheit ein gutes Bild von Weizsäcker geben." -- Rheinischer Merkur
"Höchst informativ." -- Welt Online, 27.05.10
"Ein von Sympathie getragenes Porträt." -- paperpress.org, Juni 2010
"Höchst informativ." -- Welt Online, 27.05.10
"Ein von Sympathie getragenes Porträt." -- paperpress.org, Juni 2010
Lese-Probe zu „Richard von Weizsäcker “
Richard von Weizsäcker von Friedbert Pflüger Einleitung
Am 12. November 1989, drei Tage nach dem Fall der Mauer,
besucht Bundespräsident Richard von Weizsäcker einen
Abendmahl-Gottesdienst in der Berliner Gedächtniskirche.
Es herrscht ein großes Gedränge, unzählige Menschen aus
beiden Teilen der Stadt schieben sich in die Bänke, sitzen,
hocken und stehen dicht an dicht. Am Ende der Andacht
bittet Landesbischof Martin Kruse den Bundespräsidenten
um ein Grußwort an die Gemeinde. Es wird eine kurze
Ansprache, in der Richard von Weizsäcker seine lebhafte
Freude zum Ausdruck bringt, aber auch die ernsten Sorgen
benennt, die ihn in jenen Tagen bewegen: Er verbindet die
überwältigenden Ereignisse der vergangenen Stunden nun
mit dem, was er in seinem bisherigen Leben gelernt hat
und was im Laufe der Jahre die Leitschnur seiner politischen
Überzeugung geworden ist. Wer sich dem Politiker
und Menschen Richard von Weizsäcker nähern will, sollte
bei der Rede in der Gedächtniskirche beginnen.
»Wie lange haben wir in Berlin gehofft und gewartet,
gemeinsam aus Ost und West einen Gottesdienst feiern zu
können. Nun erfüllt uns tiefe Freude und Dankbarkeit der
Herzen. Dabei sollte niemand sich und anderen erlauben,
Triumphgefühle aufkommen zu lassen, gegenüber niemandem
... Wir brauchen Zeit, um unsere Gefühle und Gedanken
zu ordnen ... Für uns im Westen gilt es, bereit zu sein,
mit offenen Herzen und Türen, aber nicht mit unserer Tür
drüben ins Haus zu fallen. Es geht nicht darum, dass nun
unsere Urteile und Gewohnheiten einfach überschwappen.
Unsere Westmark kann und muss helfen, aber sie darf niemanden
an die Wand drücken.«
... mehr
Und dann zitiert Weizsäcker aus dem Paulus-Brief an
die Galater: »So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns
Christus befreit hat, und lasset euch nicht wieder in ein
knechtisches Joch einfangen. Ihr seid zur Freiheit berufen.
Allein sehet zu, dass ihr die Freiheit nicht missbraucht, euch
selbst zu leben. Sondern durch die Liebe diene einer dem
anderen.«
Dieses Wort, Weizsäcker seit den Tagen seines Engagements
beim Evangelischen Kirchentag ans Herz gewachsen,
kann durchaus als eine Art Leitlinie seines Politikverständnisses
betrachtet werden. Freiheit nicht als Freiheit von Bindungen,
Aufgaben und Pflichten zu begreifen, sondern als
Freiheit, aus dem eigenen Leben etwas Sinnvolles zu machen,
auszuwählen zwischen den unendlichen Möglichkeiten des
Lebens. Nicht Freiheit von etwas, sondern zu etwas. Und
die erkämpfte Freiheit nicht aus Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit
oder Zaghaftigkeit wieder zu verlieren, sondern
aktiv zu schützen.
Gleichzeitig glaubte Weizsäcker vor dem Hintergrund der
Ereignisse der vorausgegangenen Tage offenbar, dass Mahnungen
notwendig waren: Man brauche Zeit zum Innehalten,
niemand verfüge über Patentrezepte, es dürfe nicht alles
aus dem Westen einfach nach Osten verfrachtet werden, die
Ostdeutschen dürften von der ökonomischen Macht des
Westens nicht überrollt werden ...
Niemand hatte bis dahin so gesprochen, und wenige
verstanden damals, was Weizsäcker eigentlich meinte. In
der Kirche hatte der Präsident die Gemeinde mit seinen
Worten wohl erreicht und nachdenklich gemacht. Aber
draußen interessierte sich kaum jemand für seinen Aufruf
zur Behutsamkeit: Überschwängliche Freude war angesagt,
nicht Abwägung.
In diesem Sinne zeigte sich auch in den folgenden Monaten
und Jahren: Richard von Weizsäcker wollte einen anderen
Weg zur Einheit der Deutschen nach dem Fall der Mauer. Er
fürchtete, dass die beiden Teile Deutschlands nicht zusammenwachsen,
sondern zusammenwuchern würden. Daraus
würden sich zwangsläufig große Probleme entwickeln. Hat
er nicht, zumindest teilweise, recht behalten?
Dieses Buch will keine umfassende Biografie sein, die
alle Stationen, Ereignisse, Reisen und Reden im Leben des
Richard von Weizsäcker dokumentiert und beschreibt. Es
beschränkt sich auf die wichtigen Themen seines Lebens,
konzentriert sich auf die Schwerpunkte dessen, was ihn in
seinen verschiedenen Funktionen bestimmt und bewegt. Mit
seinem Wirken hat er unser Leben und unser Land in einer
wesentlichen Situation seiner Geschichte, unmittelbar vor
und nach seiner Einheit, in erheblicher Weise mit geprägt
und gestaltet. Ich habe zwischen 1981 und 1989 acht Jahre
als einer seiner engsten persönlichen Mitarbeiter für und
mit ihm gearbeitet und hatte deshalb besondere Einsichten
in Weizsäckers Wirken.
Beim Schreiben habe ich mich um Objektivität und
Distanz bemüht, allerdings im Wissen, dass dies vor dem
beschriebenen Hintergrund der Nähe nur sehr unvollständig
gelingen wird. Ich fühle mich Richard von Weizsäcker bis
heute menschlich und politisch herzlich verbunden.
Schon einmal, vor genau zwanzig Jahren, habe ich -
übrigens im gleichen Verlag - ein Buch über Weizsäcker
geschrieben. Das war ein sehr persönliches Buch mit vielen
Tagebuchaufzeichnungen, voller Bewunderung für den Chef
und väterlichen Freund. Ich habe von all dem nichts zurückzunehmen.
Die eine oder andere Passage wird dem Leser
daher vielleicht bekannt vorkommen. Was damals wahr und
wichtig war, muss auch zwanzig Jahre später seinen Platz
beanspruchen dürfen. Das frühere Buch endet mit dem Fall
der Mauer, etwa zur Halbzeit seiner Amtszeit. Die inzwischen
vergangene Zeit ermöglicht nun einen umfassenderen
Blick auf Richard von Weizsäcker.
Dieses Buch erscheint zu Weizsäckers 90. Geburtstag und
muss deshalb bei aller kritischen Würdigung auch Züge
einer Hommage tragen. Eine Hommage an einen großen
Deutschen und erfolgreichen Staatsmann, an einen idealtypischen
Vertreter des aufgeklärten und liberalen Bürgertums
und gleichzeitig einen fordernden und fairen Chef,
einen geradlinigen und liebenswürdigen Charakter (so viel
zum versprochenen Bemühen um Objektivität).
Berlin, im Januar 2010 Friedbert Pflüger
1
Der andere Weg zur Einheit
Das große Lebensthema Weizsäckers war seit eh und je die
Überwindung der Teilung Berlins, Deutschlands und Europas.
Wie wenige andere hat er vor und nach der europäischen
Revolution 1989/90 dazu selbst beitragen können. In
gewisser Weise war er immer ein gesamtdeutscher Politiker
und schon vor dem 3. Oktober 1990 gesamtdeutscher Präsident
gewesen. Bei seiner Antrittsrede vor dem Deutschen
Bundestag am 1. Juli 1984, also in einer Zeit, in der sich die
meisten Westdeutschen mit der Teilung dauerhaft abgefunden
hatten (was heute sehr viele nicht mehr wahrhaben wollen),
hatte er sich ausdrücklich an alle Deutschen gewandt.
Aber: In der Art und Weise, die Einheit zu denken und
sich für sie einzusetzen, in den ihn treibenden Einsichten
und Erfahrungen und schließlich auch in der Debatte über
den richtigen Weg vor und nach dem Fall der Mauer hatte
er doch eigene Vorstellungen, die sich nicht selten von
denen der Mehrheit in der eigenen Partei oder denen des
Kanzlers Helmut Kohl unterschieden. Dies gilt ausdrücklich
nicht für die außenpolitische Absicherungsstrategie des
Einheitsprozesses durch die Regierung Kohl / Genscher und
die europapolitische Einbettung der Wiedervereinigung, die
Weizsäcker für eine historische Leistung hält. Dies gilt wohl
aber für den Prozess des inneren Zusammenwachsens der
Deutschen.
Kapitel 1
Verzicht auf den Begriff Wiedervereinigung
Schon in den siebziger und achtziger Jahren ging es Weizsäcker
bei seinem deutschlandpolitischen Engagement nicht
primär um die staatliche Wiedervereinigung. Zwar lehnte
er dieses Ziel nicht ausdrücklich ab, aber er gebrauchte
den Begriff nicht. Wichtiger als die Frage der Wiedervereinigung
war ihm das Selbstbestimmungsrecht, nämlich
die Freiheit der Deutschen, das eigene Schicksal zu
bestimmen.
Weizsäcker glaubte nie daran, dass die Mauer in Berlin
und die Teilung des Landes in der Zukunft Bestand haben
würden, die Mitte eines Landes, gar eines Kontinents
konnte seiner Meinung nach auf Dauer nicht eine Grenze
sein. Insofern war er sich immer sicher, dass die Architektur
Deutschlands und Europas sich ändern würden. Dieser
Überzeugung hat er oft Ausdruck verliehen, zum Beispiel bei
seiner Rede anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerbaus
am 13. August 1981.
Aber wie sich diese Änderungen ergeben würden, wie
genau sie aussehen würden - das ließ er offen. Ja, er hielt
Festlegungen und völkerrechtliche Maximalpositionen eher
für schädlich. Sie erschwerten seiner Meinung nach Bewegungsspielräume,
nicht zuletzt für die Politiker in Osteuropa
und der DDR.
In diesem Sinne formulierte Weizsäcker, damals Regierender
Bürgermeister von Berlin, in einer Rede zur »Lage der
Nation« im Deutschen Bundestag am 9. September 1982,
zu einer Zeit also, als die Feindschaft zwischen West und
Ost noch in Stein gemeißelt schien: »Unsere Fantasie reicht
zwar nicht aus, uns die Machtkonstellation auszumalen,
die eine neue europäische Architektur ohne alte, überlebte
Staatengebilde hervorbringt, welche die Grenze überwindet,
die durch die Mitte verläuft. Die Teilung ist also, geschichtlich
gesehen, mehr als eine Momentaufnahme. Aber wer sie
zum Dauerzustand erklärt, hat die geschichtliche Wahrheit
wahrscheinlich nicht auf seiner Seite. Die Mitte des Kontinents
taugt auf die Dauer für ein Großreich so wenig wie
für eine Grenze. Das Wahrscheinliche für die Mitte ist der
Wandel.«
Am Ende der Ansprache erhob sich Bundeskanzler Helmut
Schmidt, ging zur Bundesratsbank und gratulierte dem
Regierenden Bürgermeister. Ein seltenes Bild im Deutschen
Bundestag, zumal die damalige Debatte im Zeichen der
parteipolitischen Polarisierung stand. Drei Wochen später
verlor der Sozialdemokrat Schmidt seinen Posten durch ein
konstruktives Misstrauensvotum an den Christdemokraten
Helmut Kohl.
Wie die territoriale Struktur eines zukünftigen Deutschlands
aussehen würde, war für Weizsäcker nicht entscheidend.
Er widersprach entschieden, wenn - etwa aus
dem sozialdemokratischen Lager - die deutsche Frage als
geschlossen bezeichnet wurde. Gerne benutzte er dann die
Formulierung: Die deutsche Frage ist so lange offen, wie
das Brandenburger Tor geschlossen ist. Der Kern, um den
es ging, war die Freiheit, nicht die staatliche Struktur. Wenn
das Ergebnis der Freiheit die Einheit werden sollte - umso
besser. Wenn aber der Preis der Einheit die Freiheit sein
sollte, dann lieber auf die Einheit verzichten. Das war übrigens
auch stets die Überzeugung Konrad Adenauers gewesen.
Er sprach so gut wie nie über Wiedervereinigung, vielmehr
davon, dass die Grenzen in Europa ihren trennenden
Charakter verlieren sollten.
Bei einer Tagung des Bergedorfer Gesprächskreises am 17.
und 18. Dezember 1984 auf dem Campo Santo Teutonico
im Schatten des Petersdomes in Rom hat Weizsäcker das in
aller Offenheit formuliert: »Würde die Aussicht bestehen,
dass sich die DDR in einen solchen Zustand hineinentwickeln
könnte, der dem von Österreich ähnlich wäre, würde
das doch die wesentliche Erfüllung der Hoffnungen bedeuten,
um die es den Menschen drüben geht. Es geht ihnen,
so möchte ich behaupten, primär nicht um die Einheit im
staatlichen politischen Sinn. Wenn ihnen ein Weg angeboten
würde, dass sie in Verhältnissen leben könnten, die
den beiden anderen Staaten (Bundesrepublik Deutschland
und Österreich) vergleichbar sind, wäre das für sie eine
große Errungenschaft. Das bedeutet für uns, dass wir in
unserem eigenen Sprachgebrauch und in unserer Strategie
in erster Linie vor den Hoffnungen der Menschen drüben
bestehen müssen und nicht nur vor den Texten, die wir uns
selbst seit 35 Jahren gesetzt haben. Einheit zu buchstabieren,
heißt eben auch, nicht immerfort von Wiedervereinigung
zu sprechen ...«
Als Heiner Geißler als CDU-Generalsekretär 1989 einen
Entwurf für ein neues CDU-Grundsatzprogramm vorlegte,
in dem - genau aus dieser Erwägung heraus - der Wiedervereinigungsbegriff
nicht auftauchte, musste er sich heftige
Vorwürfe, auch von Helmut Kohl, gefallen lassen. Aber war
es wirklich unpatriotisch, nicht dauernd über Wiedervereinigung
zu sprechen? Oder wurde gerade dadurch der Weg
zur Freiheit und dann Einheit bereitet?
In der DDR-Führung wurde das vielleicht besser verstanden
als in Westdeutschland. Ewald Moldt, der Ständige
Vertreter der DDR in der damaligen Bundeshauptstadt
Bonn fragte den Bundespräsidenten in jenen Tagen:
»Wollen Sie die Wiedervereinigung?« Weizsäcker antwortete:
»Ich will nicht jeden Tag von neuem Bekenntnisse
wiederholen. Worum es mir in erster Linie geht, ist die
Selbstbestimmung.« Darauf Moldt: »Sehen Sie, Sie sind
kein Revanchist, sondern, viel schlimmer, sie sind ein Revisionist.«
Nicht jeden Tag Grundsatzpositionen zu wiederholen
und sie im Kampf gegen den angeblich weniger patriotisch
denkenden politischen Gegner als Knüppel zu verwenden,
sondern die Funktionsweise des real existierenden Sozialismus
in der DDR und vor allem die Lage der Menschen kennenzulernen,
das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen
auf beiden Seiten von Mauer und Stacheldraht mit
konkreten Schritten zu stärken und so den Freiheits- und
Einheitsgedanken praktisch aufrechtzuerhalten - das war
Weizsäckers Anliegen. Schon als Mitverfasser der »Ostdenkschrift
« der Evangelischen Kirche (1965), als Kirchentagspräsident
(1964-70), Bundestagsabgeordneter (1969 - 81)
und Regierender Bürgermeister von Berlin (1981- 84) hat er
sich in diesem Sinne engagiert. Um die Lage der Menschen
zu verbessern, war es seiner Meinung nach notwendig, mit
den ungeliebten Machthabern im Osten zusammenzuarbeiten,
Verträge zu schließen, die Grenzen in Deutschland und
Europa anzuerkennen. Warum nicht mit der anderen Seite
reden, wenn dadurch neue Besuchs- und Reisemöglichkeiten
entstanden, deutsch-deutsche Kulturveranstaltungen
möglich wurden oder ein Energieverbund zwischen beiden
Teilen zustande kam? Der Preis des höheren Prestiges der
kommunistischen Führer schien Weizsäcker hinnehmbar,
schwerer fiel ihm, den Preis der Missverständnisse zu tragen,
die diese Strategie bei den Oppositionellen im Osten hervorrief.
Aber nur so und nicht durch verbale Dauerattacken
gegen die kommunistischen Diktatoren ließen sich in seinen
Augen die Dinge bewegen.
Unterstützung für Willy Brandts Ostpolitik
Weizsäcker trug deshalb - im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung
in der CDU / CSU - die ostpolitische Annährung der
Regierung Brandt / Scheel Anfang der siebziger Jahre mit.
Er unterstützte Willy Brandt, der gesagt hatte: »Wir haben
von den heutigen Tatsachen auszugehen, wenn wir die Tatsachen
verändern wollen.« Das war fein formuliert. Die
Formel des Brandt-Unterhändlers Egon Bahr vom »Wandel
durch Annährung« war da plakativer und verständlicher.
Aus konservativen Kreisen wurde Bahr daraufhin vorgeworfen,
unpatriotisch zu sein, gesamtdeutsche Grundsatzpositionen
aufzugeben oder ein unbewusster oder gar
bewusster Agent der »anderen Seite« zu sein. Weizsäcker
sah das anders und machte daraus kein Hehl. Immer wenn
er solcher Angriffe auf Bahr gewahr wurde, begann er zu
schimpfen, er habe Bahr während der Verhandlungen mit
der DDR über einen Grundlagenvertrag in regelmäßigen
vertraulichen Informationsgesprächen im Bundestag kennen-
und schätzen gelernt: »Wer ihn des mangelnden Willens
zur Einheit und Freiheit der Deutschen zieh, tat es,
ohne ihn in der Aktion mit erlebt und sein Konzept verstanden
zu haben. Deutschlands Selbstbestimmung war
sein zentrales Thema. Bei den westlichen Verbündeten,
nicht zuletzt bei Henry Kissinger, galt er oft als deutscher
Nationalist von bedenklichem Ausmaß.«
Es ist heute schwer, sich die Leidenschaft und Schärfe der
Grundsatzdebatten über die Deutschland- und Ostpolitik
der sozialliberalen Koalition zwischen der Regierungserklärung
Brandts 1969 und der Debatte über die Schlussakte der
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) 1975
vorzustellen. Wahrscheinlich hat es vorher und hinterher
nie wieder eine so tief gehende und ernsthafte Auseinander-
setzung im Bundestag gegeben, wo über Schicksalsfragen
der Nation so leidenschaftlich debattiert und schließlich so
knapp entschieden wurde. Der 1969 zum ersten Mal in den
Bundestag gewählte Abgeordnete von Weizsäcker war in
diesen Debatten von Anfang an dabei, denn aufgrund seiner
Bekanntheit als Kirchentagspräsident hatte die Fraktion ihn
sofort zu ihrem deutschlandpolitischen Sprecher gemacht.
Nicht wenige in der Union werden das bereut haben, als
Weizsäcker im Mai 1972 gegenüber seiner Fraktion ankündigte,
gemeinsam mit den Abgeordneten Winfried Pinger
und Erik Blumenfeld für den Warschauer Vertrag, der die
Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze anerkannte, zu
stimmen. Es gab regelrechte Tumulte unter den Abgeordneten,
offene Feindseligkeit, wütende Ausbrüche. In einer
entscheidenden Situation bei knappsten Mehrheiten im
Bundestag hatte Weizsäcker Partei für die Position der sozialliberalen
Regierung und gegen die der eigenen Opposition
bezogen - in den Augen nicht weniger ein klarer Verrat.
Aber Weizsäcker hatte nur das getan, was jeder erwarten
musste, der seine früheren Einlassungen kannte. Der erste
Artikel, den er je in einer Zeitung veröffentlichte, erschien in
der Zeit im Jahr 1962, also lange vor dem Beginn der Ostpolitik
Brandts. Das Thema des damals in der Privatwirtschaft
tätigen Weizsäckers: die Erstarrung der deutschen
Außenpolitik, die notwendige Anerkennung der Oder-Neiße-
Linie und die Kritik an der Hallstein-Doktrin, die vorsah,
dass Bonn die diplomatischen Beziehungen zu jenen Ländern
abbrach, welche die DDR anerkannten. Wie konnte
man von ihm erwarten, dass er nun ein Jahrzehnt später als
Abgeordneter das Gegenteil vertrat?
Auch als 1975 über die KSZE-Schlussakte von Helsinki
und dann Anfang 1976 über die deutsch-polnische Rentenvereinbarung
entschieden wurde, stellte sich der Abgeord-
nete Weizsäcker mit seinem zustimmenden Votum gegen
die Mehrheit der eigenen Fraktionsmitglieder. Diese beiden
Male allerdings mit ausdrücklicher Billigung des 1973 zum
CDU-Chef gewählten Helmut Kohl ...
Rede auf dem Kirchentag in der DDR
Anfang der achtziger Jahre rückte der Deutschland- und Ostpolitiker
Richard von Weizsäcker erneut in den Blickpunkt.
Seit 1981 war er Regierender Bürgermeister von Berlin und
ein enger Mitstreiter von Helmut Kohl, der 1982 zum Bundeskanzler
gewählt wurde. Mit Kohl hatte er in dessen Zeit
als Oppositionsführer mehrere Auslandsreisen - unter anderem
nach Washington und Moskau - unternommen und
fühlte sich nun von dessen ostpolitischer Offenheit ermutigt.
Kohl hatte sich früh auf den Standpunkt pacta sunt servanda
gestellt und so den deutschland- und ostpolitischen
Grundsatzstreit im Sinne der Kontinuität mit der Politik
der sozialdemokratischen Vorgänger Brandt und Schmidt
beendet. Damit hatte er zugleich die Unionsparteien aus
ihrer Isolierung herausgeholt und sie wieder regierungsfähig
gemacht.
Weizsäcker konnte nun agieren. Er bereiste von Berlin aus
die DDR, lernte immer mehr über das politische System und
den Alltag der Ostdeutschen. Ein Besuch im Oderbruch mit
seiner Frau, eine Sonntagsmesse in der St.-Hedwigs-Kathedrale
in Ost-Berlin, eine Fahrt durch Thüringen. Überall
werden die Weizsäckers von den Menschen mit offenen
Armen und überschäumender Herzlichkeit begrüßt. Aber der
Regierende Bürgermeister wusste, dass solche Begegnungen
nur möglich waren, wenn er nicht »überzog«, wenn seine
Äußerungen »im Rahmen« blieben. Von vielen Seiten erntete
er dafür Kritik. Er trete zu weich auf, arrangiere sich mit der
Diktatur. Aber wäre es wirklich besser gewesen, nicht zu
reisen und lediglich aus dem Schöneberger Rathaus heraus
die DDR-Führung zu beschimpfen? Es ist wahr: Weizsäcker
suchte den Dialog mit der Führung in der DDR, traf zum
Beispiel im Mai 1983 in Eisenach mit dem Präsidenten der
DDR-Volkskammer, Horst Sindermann, zusammen.
Weizsäcker spürte, dass sich in der DDR etwas tat. Noch
Anfang der siebziger Jahre hatte die SED die DDR als sozialistische
Nation deklariert und eine gemeinsame deutsche
Nationalität geleugnet. Als sich diese Strategie der Abgrenzung
als unwirksam erwies, versuchte die SED ab Mitte der
siebziger Jahre die deutsche Geschichte und Kultur in ihrem
Sinne zu interpretieren, um neue Legitimität für ihren Staat
zu gewinnen. Die kommunistischen Führer, die sich bis dahin
auf die Geschichtsschreibung ihres »Arbeiter- und Bauernstaates
« beschränkt hatten, formulierten nun einen Anspruch
auf die ganze deutsche Geschichte, deren Höhepunkt die
DDR darstellte. Plötzlich erschienen Biografien über Luther,
Bismarck, die preußischen Reformer, die Reiterstatue Friedrichs
des Großen wurde wieder Unter den Linden aufgestellt.
Im Westen reagierte man darauf zunächst mit Erschrecken.
Weizsäcker dagegen warb dafür, die Herausforderung anzunehmen:
Wenn die DDR sich der ganzen deutschen Geschichte
öffne, unterstreiche sie doch die Zusammengehörigkeit der
Nation, und der Versuch, einen geschichtlichen Alleinvertretungsanspruch
durchzusetzen, werde scheitern. Die Biografien
würden Diskussionen und Widerspruch herausfordern,
die Menschen in der DDR sich eigene Fragen stellen - man
solle sich getrost auf das Ringen um die richtige Interpretation
der Geschichte einlassen.
Besonders gut eignete sich dafür das Lutherjahr 1983.
Der Reformator, fünfhundert Jahre zuvor in Eisenach gebo-
ren, wurde auch in der DDR gefeiert. Natürlich versuchte
die SED, Luther als Wegbereiter des Fortschritts im Sinne
des historischen Materialismus zu interpretieren. Allerdings
konnte man das Lutherjahr schlecht ohne die Evangelische
Kirche der DDR, die einzige landesweite nicht kommunistische
Organisation, begehen. Und die Kirche hatte eigene
Vorstellungen, wie man des Reformators gedenken sollte.
Sie knüpfte an die pazifistischen Überlieferungen der Bibel
an, »Schwerter zu Pflugscharen« war ihre Losung.
Für Weizsäcker boten die Feiern des Lutherjahres neben
der abstrakten geistigen Auseinandersetzung mit dem Reformator
vielfache Möglichkeiten der direkten Begegnung mit
Christen in der DDR. Ein Höhepunkt war ohne Zweifel sein
Besuch beim evangelischen Kirchentag in Wittenberg am
24./25. September 1983 - offiziell in seiner Eigenschaft als
Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
(EKD). Durch gesetzt hatte ihn der ostdeutsche Konsistorialpräsident
Manfred Stolpe. Weizsäcker war zugestanden
worden, an allen Veranstaltungen im Rahmen des Kirchentages
teilzunehmen. Darüber hinaus durfte er zweimal öffentlich
sprechen: einmal in der Stadtkirche, dann sogar auf dem
Marktplatz.
Ohne die Duldung der SED-Führung, die den Weizsäcker-
Besuch als Tagesordnungspunkt einer Politbürositzung diskutiert
hatte, wäre diese Rede vor 15 000 Menschen nicht
möglich gewesen. Dass sie zustande kam, war eine Sensation.
Wann hatte je ein westdeutscher Politiker vor einer
so großen Zahl von Menschen in der DDR sprechen können?
Weizsäcker war sich der Gratwanderung von Beginn
an bewusst. Im Rathaus Schöneberg, seinem Amtssitz in
West-Berlin diskutierten wir, ob die West-Berliner Presse zur
Begleitung eingeladen oder ihr zumindest ein Hinweis auf
Weizsäckers Auftritt in Wittenberg gegeben werden sollte.
Aber wir verwarfen diesen Gedanken schnell. Wichtiger als
die mediale Wirkung im Westen waren ein nachhaltiger
Effekt im Osten und die Möglichkeit, eine solche Aktion
wiederholen zu können.
Uns war außerdem klar: Weizsäcker musste so reden,
dass die SED auch beim nächsten Mal einer Reise und Rede
zustimmte, aber auch so, dass die Menschen ihn verstanden
und er wesentliche menschenrechtliche Grundüberzeugungen
nicht verleugnete. Der Versuch gelang. Weizsäcker verteidigte
die damals auch im Westen hoch umstrittene Nachrüstung
durch amerikanische Cruise Missile und Pershing-II-
Mittelstreckenraketen als notwendige Antwort auf die Stationierung
sowjetischer SS-20-Raketen in der DDR. Aber er
gab auch der Sehnsucht der Menschen nach Abrüstung und
Überwindung des Kalten Krieges, der langfristig nicht tragfähigen
Logik des Nuklearzeitalters, vehement Ausdruck.
Dass es auch in der DDR in dieser Hinsicht rumorte, hatte
eine mutige Aktion der Wittenberger Friedensbewegung am
Abend zuvor gezeigt, von der Weizsäcker dann von den Initiatoren
in Wittenberg informiert wurde und die ihn tief
beeindruckte: Vor zahlreichen Zuschauern hatte ein Kunstschmied
ein Schwert zu einer Pflugschar umgeschmiedet. Die
Aktivisten um Pfarrer Friedrich Schorlemmer wollten damit
ihrer Forderung nach Abrüstung in Mitteleuropa bildkräftig
Ausdruck verleihen. Wohl wegen der anwesenden Gäste griff
die Staatssicherheit nicht ein. Denn der Aufruf »Schwerter
zu Pflugscharen« war verboten.
1992 kam Richard von Weizsäcker, inzwischen Bundespräsident,
anlässlich des 100. Jahrestages des Neubaus der
Stadtkirche erneut nach Wittenberg. Was hatte sich seitdem
verändert! Friedrich Schorlemmer, der Weizsäcker während
des Wittenberger Kirchentags kennengelernt hatte, als er
noch Dissident gewesen war, begleitete Weizsäcker auf
1. Auflage
Copyright © 2010 Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Typografie und Satz: Brigitte Müller, DVA
Gesetzt aus der Sabon
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-421-04445-7
www.dva.de
Und dann zitiert Weizsäcker aus dem Paulus-Brief an
die Galater: »So bestehet nun in der Freiheit, zu der uns
Christus befreit hat, und lasset euch nicht wieder in ein
knechtisches Joch einfangen. Ihr seid zur Freiheit berufen.
Allein sehet zu, dass ihr die Freiheit nicht missbraucht, euch
selbst zu leben. Sondern durch die Liebe diene einer dem
anderen.«
Dieses Wort, Weizsäcker seit den Tagen seines Engagements
beim Evangelischen Kirchentag ans Herz gewachsen,
kann durchaus als eine Art Leitlinie seines Politikverständnisses
betrachtet werden. Freiheit nicht als Freiheit von Bindungen,
Aufgaben und Pflichten zu begreifen, sondern als
Freiheit, aus dem eigenen Leben etwas Sinnvolles zu machen,
auszuwählen zwischen den unendlichen Möglichkeiten des
Lebens. Nicht Freiheit von etwas, sondern zu etwas. Und
die erkämpfte Freiheit nicht aus Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit
oder Zaghaftigkeit wieder zu verlieren, sondern
aktiv zu schützen.
Gleichzeitig glaubte Weizsäcker vor dem Hintergrund der
Ereignisse der vorausgegangenen Tage offenbar, dass Mahnungen
notwendig waren: Man brauche Zeit zum Innehalten,
niemand verfüge über Patentrezepte, es dürfe nicht alles
aus dem Westen einfach nach Osten verfrachtet werden, die
Ostdeutschen dürften von der ökonomischen Macht des
Westens nicht überrollt werden ...
Niemand hatte bis dahin so gesprochen, und wenige
verstanden damals, was Weizsäcker eigentlich meinte. In
der Kirche hatte der Präsident die Gemeinde mit seinen
Worten wohl erreicht und nachdenklich gemacht. Aber
draußen interessierte sich kaum jemand für seinen Aufruf
zur Behutsamkeit: Überschwängliche Freude war angesagt,
nicht Abwägung.
In diesem Sinne zeigte sich auch in den folgenden Monaten
und Jahren: Richard von Weizsäcker wollte einen anderen
Weg zur Einheit der Deutschen nach dem Fall der Mauer. Er
fürchtete, dass die beiden Teile Deutschlands nicht zusammenwachsen,
sondern zusammenwuchern würden. Daraus
würden sich zwangsläufig große Probleme entwickeln. Hat
er nicht, zumindest teilweise, recht behalten?
Dieses Buch will keine umfassende Biografie sein, die
alle Stationen, Ereignisse, Reisen und Reden im Leben des
Richard von Weizsäcker dokumentiert und beschreibt. Es
beschränkt sich auf die wichtigen Themen seines Lebens,
konzentriert sich auf die Schwerpunkte dessen, was ihn in
seinen verschiedenen Funktionen bestimmt und bewegt. Mit
seinem Wirken hat er unser Leben und unser Land in einer
wesentlichen Situation seiner Geschichte, unmittelbar vor
und nach seiner Einheit, in erheblicher Weise mit geprägt
und gestaltet. Ich habe zwischen 1981 und 1989 acht Jahre
als einer seiner engsten persönlichen Mitarbeiter für und
mit ihm gearbeitet und hatte deshalb besondere Einsichten
in Weizsäckers Wirken.
Beim Schreiben habe ich mich um Objektivität und
Distanz bemüht, allerdings im Wissen, dass dies vor dem
beschriebenen Hintergrund der Nähe nur sehr unvollständig
gelingen wird. Ich fühle mich Richard von Weizsäcker bis
heute menschlich und politisch herzlich verbunden.
Schon einmal, vor genau zwanzig Jahren, habe ich -
übrigens im gleichen Verlag - ein Buch über Weizsäcker
geschrieben. Das war ein sehr persönliches Buch mit vielen
Tagebuchaufzeichnungen, voller Bewunderung für den Chef
und väterlichen Freund. Ich habe von all dem nichts zurückzunehmen.
Die eine oder andere Passage wird dem Leser
daher vielleicht bekannt vorkommen. Was damals wahr und
wichtig war, muss auch zwanzig Jahre später seinen Platz
beanspruchen dürfen. Das frühere Buch endet mit dem Fall
der Mauer, etwa zur Halbzeit seiner Amtszeit. Die inzwischen
vergangene Zeit ermöglicht nun einen umfassenderen
Blick auf Richard von Weizsäcker.
Dieses Buch erscheint zu Weizsäckers 90. Geburtstag und
muss deshalb bei aller kritischen Würdigung auch Züge
einer Hommage tragen. Eine Hommage an einen großen
Deutschen und erfolgreichen Staatsmann, an einen idealtypischen
Vertreter des aufgeklärten und liberalen Bürgertums
und gleichzeitig einen fordernden und fairen Chef,
einen geradlinigen und liebenswürdigen Charakter (so viel
zum versprochenen Bemühen um Objektivität).
Berlin, im Januar 2010 Friedbert Pflüger
1
Der andere Weg zur Einheit
Das große Lebensthema Weizsäckers war seit eh und je die
Überwindung der Teilung Berlins, Deutschlands und Europas.
Wie wenige andere hat er vor und nach der europäischen
Revolution 1989/90 dazu selbst beitragen können. In
gewisser Weise war er immer ein gesamtdeutscher Politiker
und schon vor dem 3. Oktober 1990 gesamtdeutscher Präsident
gewesen. Bei seiner Antrittsrede vor dem Deutschen
Bundestag am 1. Juli 1984, also in einer Zeit, in der sich die
meisten Westdeutschen mit der Teilung dauerhaft abgefunden
hatten (was heute sehr viele nicht mehr wahrhaben wollen),
hatte er sich ausdrücklich an alle Deutschen gewandt.
Aber: In der Art und Weise, die Einheit zu denken und
sich für sie einzusetzen, in den ihn treibenden Einsichten
und Erfahrungen und schließlich auch in der Debatte über
den richtigen Weg vor und nach dem Fall der Mauer hatte
er doch eigene Vorstellungen, die sich nicht selten von
denen der Mehrheit in der eigenen Partei oder denen des
Kanzlers Helmut Kohl unterschieden. Dies gilt ausdrücklich
nicht für die außenpolitische Absicherungsstrategie des
Einheitsprozesses durch die Regierung Kohl / Genscher und
die europapolitische Einbettung der Wiedervereinigung, die
Weizsäcker für eine historische Leistung hält. Dies gilt wohl
aber für den Prozess des inneren Zusammenwachsens der
Deutschen.
Kapitel 1
Verzicht auf den Begriff Wiedervereinigung
Schon in den siebziger und achtziger Jahren ging es Weizsäcker
bei seinem deutschlandpolitischen Engagement nicht
primär um die staatliche Wiedervereinigung. Zwar lehnte
er dieses Ziel nicht ausdrücklich ab, aber er gebrauchte
den Begriff nicht. Wichtiger als die Frage der Wiedervereinigung
war ihm das Selbstbestimmungsrecht, nämlich
die Freiheit der Deutschen, das eigene Schicksal zu
bestimmen.
Weizsäcker glaubte nie daran, dass die Mauer in Berlin
und die Teilung des Landes in der Zukunft Bestand haben
würden, die Mitte eines Landes, gar eines Kontinents
konnte seiner Meinung nach auf Dauer nicht eine Grenze
sein. Insofern war er sich immer sicher, dass die Architektur
Deutschlands und Europas sich ändern würden. Dieser
Überzeugung hat er oft Ausdruck verliehen, zum Beispiel bei
seiner Rede anlässlich des 20. Jahrestages des Mauerbaus
am 13. August 1981.
Aber wie sich diese Änderungen ergeben würden, wie
genau sie aussehen würden - das ließ er offen. Ja, er hielt
Festlegungen und völkerrechtliche Maximalpositionen eher
für schädlich. Sie erschwerten seiner Meinung nach Bewegungsspielräume,
nicht zuletzt für die Politiker in Osteuropa
und der DDR.
In diesem Sinne formulierte Weizsäcker, damals Regierender
Bürgermeister von Berlin, in einer Rede zur »Lage der
Nation« im Deutschen Bundestag am 9. September 1982,
zu einer Zeit also, als die Feindschaft zwischen West und
Ost noch in Stein gemeißelt schien: »Unsere Fantasie reicht
zwar nicht aus, uns die Machtkonstellation auszumalen,
die eine neue europäische Architektur ohne alte, überlebte
Staatengebilde hervorbringt, welche die Grenze überwindet,
die durch die Mitte verläuft. Die Teilung ist also, geschichtlich
gesehen, mehr als eine Momentaufnahme. Aber wer sie
zum Dauerzustand erklärt, hat die geschichtliche Wahrheit
wahrscheinlich nicht auf seiner Seite. Die Mitte des Kontinents
taugt auf die Dauer für ein Großreich so wenig wie
für eine Grenze. Das Wahrscheinliche für die Mitte ist der
Wandel.«
Am Ende der Ansprache erhob sich Bundeskanzler Helmut
Schmidt, ging zur Bundesratsbank und gratulierte dem
Regierenden Bürgermeister. Ein seltenes Bild im Deutschen
Bundestag, zumal die damalige Debatte im Zeichen der
parteipolitischen Polarisierung stand. Drei Wochen später
verlor der Sozialdemokrat Schmidt seinen Posten durch ein
konstruktives Misstrauensvotum an den Christdemokraten
Helmut Kohl.
Wie die territoriale Struktur eines zukünftigen Deutschlands
aussehen würde, war für Weizsäcker nicht entscheidend.
Er widersprach entschieden, wenn - etwa aus
dem sozialdemokratischen Lager - die deutsche Frage als
geschlossen bezeichnet wurde. Gerne benutzte er dann die
Formulierung: Die deutsche Frage ist so lange offen, wie
das Brandenburger Tor geschlossen ist. Der Kern, um den
es ging, war die Freiheit, nicht die staatliche Struktur. Wenn
das Ergebnis der Freiheit die Einheit werden sollte - umso
besser. Wenn aber der Preis der Einheit die Freiheit sein
sollte, dann lieber auf die Einheit verzichten. Das war übrigens
auch stets die Überzeugung Konrad Adenauers gewesen.
Er sprach so gut wie nie über Wiedervereinigung, vielmehr
davon, dass die Grenzen in Europa ihren trennenden
Charakter verlieren sollten.
Bei einer Tagung des Bergedorfer Gesprächskreises am 17.
und 18. Dezember 1984 auf dem Campo Santo Teutonico
im Schatten des Petersdomes in Rom hat Weizsäcker das in
aller Offenheit formuliert: »Würde die Aussicht bestehen,
dass sich die DDR in einen solchen Zustand hineinentwickeln
könnte, der dem von Österreich ähnlich wäre, würde
das doch die wesentliche Erfüllung der Hoffnungen bedeuten,
um die es den Menschen drüben geht. Es geht ihnen,
so möchte ich behaupten, primär nicht um die Einheit im
staatlichen politischen Sinn. Wenn ihnen ein Weg angeboten
würde, dass sie in Verhältnissen leben könnten, die
den beiden anderen Staaten (Bundesrepublik Deutschland
und Österreich) vergleichbar sind, wäre das für sie eine
große Errungenschaft. Das bedeutet für uns, dass wir in
unserem eigenen Sprachgebrauch und in unserer Strategie
in erster Linie vor den Hoffnungen der Menschen drüben
bestehen müssen und nicht nur vor den Texten, die wir uns
selbst seit 35 Jahren gesetzt haben. Einheit zu buchstabieren,
heißt eben auch, nicht immerfort von Wiedervereinigung
zu sprechen ...«
Als Heiner Geißler als CDU-Generalsekretär 1989 einen
Entwurf für ein neues CDU-Grundsatzprogramm vorlegte,
in dem - genau aus dieser Erwägung heraus - der Wiedervereinigungsbegriff
nicht auftauchte, musste er sich heftige
Vorwürfe, auch von Helmut Kohl, gefallen lassen. Aber war
es wirklich unpatriotisch, nicht dauernd über Wiedervereinigung
zu sprechen? Oder wurde gerade dadurch der Weg
zur Freiheit und dann Einheit bereitet?
In der DDR-Führung wurde das vielleicht besser verstanden
als in Westdeutschland. Ewald Moldt, der Ständige
Vertreter der DDR in der damaligen Bundeshauptstadt
Bonn fragte den Bundespräsidenten in jenen Tagen:
»Wollen Sie die Wiedervereinigung?« Weizsäcker antwortete:
»Ich will nicht jeden Tag von neuem Bekenntnisse
wiederholen. Worum es mir in erster Linie geht, ist die
Selbstbestimmung.« Darauf Moldt: »Sehen Sie, Sie sind
kein Revanchist, sondern, viel schlimmer, sie sind ein Revisionist.«
Nicht jeden Tag Grundsatzpositionen zu wiederholen
und sie im Kampf gegen den angeblich weniger patriotisch
denkenden politischen Gegner als Knüppel zu verwenden,
sondern die Funktionsweise des real existierenden Sozialismus
in der DDR und vor allem die Lage der Menschen kennenzulernen,
das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen
auf beiden Seiten von Mauer und Stacheldraht mit
konkreten Schritten zu stärken und so den Freiheits- und
Einheitsgedanken praktisch aufrechtzuerhalten - das war
Weizsäckers Anliegen. Schon als Mitverfasser der »Ostdenkschrift
« der Evangelischen Kirche (1965), als Kirchentagspräsident
(1964-70), Bundestagsabgeordneter (1969 - 81)
und Regierender Bürgermeister von Berlin (1981- 84) hat er
sich in diesem Sinne engagiert. Um die Lage der Menschen
zu verbessern, war es seiner Meinung nach notwendig, mit
den ungeliebten Machthabern im Osten zusammenzuarbeiten,
Verträge zu schließen, die Grenzen in Deutschland und
Europa anzuerkennen. Warum nicht mit der anderen Seite
reden, wenn dadurch neue Besuchs- und Reisemöglichkeiten
entstanden, deutsch-deutsche Kulturveranstaltungen
möglich wurden oder ein Energieverbund zwischen beiden
Teilen zustande kam? Der Preis des höheren Prestiges der
kommunistischen Führer schien Weizsäcker hinnehmbar,
schwerer fiel ihm, den Preis der Missverständnisse zu tragen,
die diese Strategie bei den Oppositionellen im Osten hervorrief.
Aber nur so und nicht durch verbale Dauerattacken
gegen die kommunistischen Diktatoren ließen sich in seinen
Augen die Dinge bewegen.
Unterstützung für Willy Brandts Ostpolitik
Weizsäcker trug deshalb - im Gegensatz zur Mehrheitsmeinung
in der CDU / CSU - die ostpolitische Annährung der
Regierung Brandt / Scheel Anfang der siebziger Jahre mit.
Er unterstützte Willy Brandt, der gesagt hatte: »Wir haben
von den heutigen Tatsachen auszugehen, wenn wir die Tatsachen
verändern wollen.« Das war fein formuliert. Die
Formel des Brandt-Unterhändlers Egon Bahr vom »Wandel
durch Annährung« war da plakativer und verständlicher.
Aus konservativen Kreisen wurde Bahr daraufhin vorgeworfen,
unpatriotisch zu sein, gesamtdeutsche Grundsatzpositionen
aufzugeben oder ein unbewusster oder gar
bewusster Agent der »anderen Seite« zu sein. Weizsäcker
sah das anders und machte daraus kein Hehl. Immer wenn
er solcher Angriffe auf Bahr gewahr wurde, begann er zu
schimpfen, er habe Bahr während der Verhandlungen mit
der DDR über einen Grundlagenvertrag in regelmäßigen
vertraulichen Informationsgesprächen im Bundestag kennen-
und schätzen gelernt: »Wer ihn des mangelnden Willens
zur Einheit und Freiheit der Deutschen zieh, tat es,
ohne ihn in der Aktion mit erlebt und sein Konzept verstanden
zu haben. Deutschlands Selbstbestimmung war
sein zentrales Thema. Bei den westlichen Verbündeten,
nicht zuletzt bei Henry Kissinger, galt er oft als deutscher
Nationalist von bedenklichem Ausmaß.«
Es ist heute schwer, sich die Leidenschaft und Schärfe der
Grundsatzdebatten über die Deutschland- und Ostpolitik
der sozialliberalen Koalition zwischen der Regierungserklärung
Brandts 1969 und der Debatte über die Schlussakte der
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) 1975
vorzustellen. Wahrscheinlich hat es vorher und hinterher
nie wieder eine so tief gehende und ernsthafte Auseinander-
setzung im Bundestag gegeben, wo über Schicksalsfragen
der Nation so leidenschaftlich debattiert und schließlich so
knapp entschieden wurde. Der 1969 zum ersten Mal in den
Bundestag gewählte Abgeordnete von Weizsäcker war in
diesen Debatten von Anfang an dabei, denn aufgrund seiner
Bekanntheit als Kirchentagspräsident hatte die Fraktion ihn
sofort zu ihrem deutschlandpolitischen Sprecher gemacht.
Nicht wenige in der Union werden das bereut haben, als
Weizsäcker im Mai 1972 gegenüber seiner Fraktion ankündigte,
gemeinsam mit den Abgeordneten Winfried Pinger
und Erik Blumenfeld für den Warschauer Vertrag, der die
Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze anerkannte, zu
stimmen. Es gab regelrechte Tumulte unter den Abgeordneten,
offene Feindseligkeit, wütende Ausbrüche. In einer
entscheidenden Situation bei knappsten Mehrheiten im
Bundestag hatte Weizsäcker Partei für die Position der sozialliberalen
Regierung und gegen die der eigenen Opposition
bezogen - in den Augen nicht weniger ein klarer Verrat.
Aber Weizsäcker hatte nur das getan, was jeder erwarten
musste, der seine früheren Einlassungen kannte. Der erste
Artikel, den er je in einer Zeitung veröffentlichte, erschien in
der Zeit im Jahr 1962, also lange vor dem Beginn der Ostpolitik
Brandts. Das Thema des damals in der Privatwirtschaft
tätigen Weizsäckers: die Erstarrung der deutschen
Außenpolitik, die notwendige Anerkennung der Oder-Neiße-
Linie und die Kritik an der Hallstein-Doktrin, die vorsah,
dass Bonn die diplomatischen Beziehungen zu jenen Ländern
abbrach, welche die DDR anerkannten. Wie konnte
man von ihm erwarten, dass er nun ein Jahrzehnt später als
Abgeordneter das Gegenteil vertrat?
Auch als 1975 über die KSZE-Schlussakte von Helsinki
und dann Anfang 1976 über die deutsch-polnische Rentenvereinbarung
entschieden wurde, stellte sich der Abgeord-
nete Weizsäcker mit seinem zustimmenden Votum gegen
die Mehrheit der eigenen Fraktionsmitglieder. Diese beiden
Male allerdings mit ausdrücklicher Billigung des 1973 zum
CDU-Chef gewählten Helmut Kohl ...
Rede auf dem Kirchentag in der DDR
Anfang der achtziger Jahre rückte der Deutschland- und Ostpolitiker
Richard von Weizsäcker erneut in den Blickpunkt.
Seit 1981 war er Regierender Bürgermeister von Berlin und
ein enger Mitstreiter von Helmut Kohl, der 1982 zum Bundeskanzler
gewählt wurde. Mit Kohl hatte er in dessen Zeit
als Oppositionsführer mehrere Auslandsreisen - unter anderem
nach Washington und Moskau - unternommen und
fühlte sich nun von dessen ostpolitischer Offenheit ermutigt.
Kohl hatte sich früh auf den Standpunkt pacta sunt servanda
gestellt und so den deutschland- und ostpolitischen
Grundsatzstreit im Sinne der Kontinuität mit der Politik
der sozialdemokratischen Vorgänger Brandt und Schmidt
beendet. Damit hatte er zugleich die Unionsparteien aus
ihrer Isolierung herausgeholt und sie wieder regierungsfähig
gemacht.
Weizsäcker konnte nun agieren. Er bereiste von Berlin aus
die DDR, lernte immer mehr über das politische System und
den Alltag der Ostdeutschen. Ein Besuch im Oderbruch mit
seiner Frau, eine Sonntagsmesse in der St.-Hedwigs-Kathedrale
in Ost-Berlin, eine Fahrt durch Thüringen. Überall
werden die Weizsäckers von den Menschen mit offenen
Armen und überschäumender Herzlichkeit begrüßt. Aber der
Regierende Bürgermeister wusste, dass solche Begegnungen
nur möglich waren, wenn er nicht »überzog«, wenn seine
Äußerungen »im Rahmen« blieben. Von vielen Seiten erntete
er dafür Kritik. Er trete zu weich auf, arrangiere sich mit der
Diktatur. Aber wäre es wirklich besser gewesen, nicht zu
reisen und lediglich aus dem Schöneberger Rathaus heraus
die DDR-Führung zu beschimpfen? Es ist wahr: Weizsäcker
suchte den Dialog mit der Führung in der DDR, traf zum
Beispiel im Mai 1983 in Eisenach mit dem Präsidenten der
DDR-Volkskammer, Horst Sindermann, zusammen.
Weizsäcker spürte, dass sich in der DDR etwas tat. Noch
Anfang der siebziger Jahre hatte die SED die DDR als sozialistische
Nation deklariert und eine gemeinsame deutsche
Nationalität geleugnet. Als sich diese Strategie der Abgrenzung
als unwirksam erwies, versuchte die SED ab Mitte der
siebziger Jahre die deutsche Geschichte und Kultur in ihrem
Sinne zu interpretieren, um neue Legitimität für ihren Staat
zu gewinnen. Die kommunistischen Führer, die sich bis dahin
auf die Geschichtsschreibung ihres »Arbeiter- und Bauernstaates
« beschränkt hatten, formulierten nun einen Anspruch
auf die ganze deutsche Geschichte, deren Höhepunkt die
DDR darstellte. Plötzlich erschienen Biografien über Luther,
Bismarck, die preußischen Reformer, die Reiterstatue Friedrichs
des Großen wurde wieder Unter den Linden aufgestellt.
Im Westen reagierte man darauf zunächst mit Erschrecken.
Weizsäcker dagegen warb dafür, die Herausforderung anzunehmen:
Wenn die DDR sich der ganzen deutschen Geschichte
öffne, unterstreiche sie doch die Zusammengehörigkeit der
Nation, und der Versuch, einen geschichtlichen Alleinvertretungsanspruch
durchzusetzen, werde scheitern. Die Biografien
würden Diskussionen und Widerspruch herausfordern,
die Menschen in der DDR sich eigene Fragen stellen - man
solle sich getrost auf das Ringen um die richtige Interpretation
der Geschichte einlassen.
Besonders gut eignete sich dafür das Lutherjahr 1983.
Der Reformator, fünfhundert Jahre zuvor in Eisenach gebo-
ren, wurde auch in der DDR gefeiert. Natürlich versuchte
die SED, Luther als Wegbereiter des Fortschritts im Sinne
des historischen Materialismus zu interpretieren. Allerdings
konnte man das Lutherjahr schlecht ohne die Evangelische
Kirche der DDR, die einzige landesweite nicht kommunistische
Organisation, begehen. Und die Kirche hatte eigene
Vorstellungen, wie man des Reformators gedenken sollte.
Sie knüpfte an die pazifistischen Überlieferungen der Bibel
an, »Schwerter zu Pflugscharen« war ihre Losung.
Für Weizsäcker boten die Feiern des Lutherjahres neben
der abstrakten geistigen Auseinandersetzung mit dem Reformator
vielfache Möglichkeiten der direkten Begegnung mit
Christen in der DDR. Ein Höhepunkt war ohne Zweifel sein
Besuch beim evangelischen Kirchentag in Wittenberg am
24./25. September 1983 - offiziell in seiner Eigenschaft als
Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland
(EKD). Durch gesetzt hatte ihn der ostdeutsche Konsistorialpräsident
Manfred Stolpe. Weizsäcker war zugestanden
worden, an allen Veranstaltungen im Rahmen des Kirchentages
teilzunehmen. Darüber hinaus durfte er zweimal öffentlich
sprechen: einmal in der Stadtkirche, dann sogar auf dem
Marktplatz.
Ohne die Duldung der SED-Führung, die den Weizsäcker-
Besuch als Tagesordnungspunkt einer Politbürositzung diskutiert
hatte, wäre diese Rede vor 15 000 Menschen nicht
möglich gewesen. Dass sie zustande kam, war eine Sensation.
Wann hatte je ein westdeutscher Politiker vor einer
so großen Zahl von Menschen in der DDR sprechen können?
Weizsäcker war sich der Gratwanderung von Beginn
an bewusst. Im Rathaus Schöneberg, seinem Amtssitz in
West-Berlin diskutierten wir, ob die West-Berliner Presse zur
Begleitung eingeladen oder ihr zumindest ein Hinweis auf
Weizsäckers Auftritt in Wittenberg gegeben werden sollte.
Aber wir verwarfen diesen Gedanken schnell. Wichtiger als
die mediale Wirkung im Westen waren ein nachhaltiger
Effekt im Osten und die Möglichkeit, eine solche Aktion
wiederholen zu können.
Uns war außerdem klar: Weizsäcker musste so reden,
dass die SED auch beim nächsten Mal einer Reise und Rede
zustimmte, aber auch so, dass die Menschen ihn verstanden
und er wesentliche menschenrechtliche Grundüberzeugungen
nicht verleugnete. Der Versuch gelang. Weizsäcker verteidigte
die damals auch im Westen hoch umstrittene Nachrüstung
durch amerikanische Cruise Missile und Pershing-II-
Mittelstreckenraketen als notwendige Antwort auf die Stationierung
sowjetischer SS-20-Raketen in der DDR. Aber er
gab auch der Sehnsucht der Menschen nach Abrüstung und
Überwindung des Kalten Krieges, der langfristig nicht tragfähigen
Logik des Nuklearzeitalters, vehement Ausdruck.
Dass es auch in der DDR in dieser Hinsicht rumorte, hatte
eine mutige Aktion der Wittenberger Friedensbewegung am
Abend zuvor gezeigt, von der Weizsäcker dann von den Initiatoren
in Wittenberg informiert wurde und die ihn tief
beeindruckte: Vor zahlreichen Zuschauern hatte ein Kunstschmied
ein Schwert zu einer Pflugschar umgeschmiedet. Die
Aktivisten um Pfarrer Friedrich Schorlemmer wollten damit
ihrer Forderung nach Abrüstung in Mitteleuropa bildkräftig
Ausdruck verleihen. Wohl wegen der anwesenden Gäste griff
die Staatssicherheit nicht ein. Denn der Aufruf »Schwerter
zu Pflugscharen« war verboten.
1992 kam Richard von Weizsäcker, inzwischen Bundespräsident,
anlässlich des 100. Jahrestages des Neubaus der
Stadtkirche erneut nach Wittenberg. Was hatte sich seitdem
verändert! Friedrich Schorlemmer, der Weizsäcker während
des Wittenberger Kirchentags kennengelernt hatte, als er
noch Dissident gewesen war, begleitete Weizsäcker auf
1. Auflage
Copyright © 2010 Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Typografie und Satz: Brigitte Müller, DVA
Gesetzt aus der Sabon
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-421-04445-7
www.dva.de
... weniger
Autoren-Porträt von Friedbert Pflüger
Friedbert Pflüger, geboren 1955, war von 1984 bis 1989 Pressesprecher Richard von Weizsäckers. Seit dem Jahr 2000 ist er Mitglied des Bundesvorstandes der CDU und seit Herbst 2002 außenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion.
Bibliographische Angaben
- Autor: Friedbert Pflüger
- 2010, 1, 223 Seiten, Maße: 13,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421044457
- ISBN-13: 9783421044457
Rezension zu „Richard von Weizsäcker “
»Ein von Sympathie getragenes Porträt.«
Kommentar zu "Richard von Weizsäcker"
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