Ruf der Erinnerung / Ghostwalker Bd.5
Roman. Originalausgabe
Isabel Kerrilyan wird in Las Vegas von dem zwielichtigen Geschäftsmann Lee entführt. Die Wandlerin Keira, die Isabel beschützen sollte, folgt der Spur der jungen Frau nach San Francisco, begleitet von Sawyer, dem Anführer einer Gruppe von Berglöwenwandlern...
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Produktinformationen zu „Ruf der Erinnerung / Ghostwalker Bd.5 “
Klappentext zu „Ruf der Erinnerung / Ghostwalker Bd.5 “
Isabel Kerrilyan wird in Las Vegas von dem zwielichtigen Geschäftsmann Lee entführt. Die Wandlerin Keira, die Isabel beschützen sollte, folgt der Spur der jungen Frau nach San Francisco, begleitet von Sawyer, dem Anführer einer Gruppe von Berglöwenwandlern aus Nevada. Auch der junge Wandler Bowen spürt über seine geistige Verbindung zu Isabel ihre Furcht und schließt sich der Suche an. Doch schnell müssen sie feststellen, dass Lee ein weit gefährlicherer Gegner ist, als sie bisher glaubten.
Lese-Probe zu „Ruf der Erinnerung / Ghostwalker Bd.5 “
Ghostwalker - Ruf der Erinnerung von Michelle Raven1
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Müde stieg Isabel vor dem Motel, in dem sie bereits die letzte Nacht verbracht hatten, aus ihrem Auto und blickte Keira über das Dach hinweg an. Die Berglöwenwandlerin hatte seit dem Verlassen des Krankenhauses, in dem sie Marisa Gesellschaft geleistet hatten, die dort seit ihrem schlimmen Unfall lag, noch keinen Ton gesagt. Eigentlich war sie auch davor schon alles andere als gesprächig gewesen und Isabel konnte ihre Unruhe spüren. Aber nachdem sie nun auch erfahren hatten, dass Coyle zum Glück nur leicht verletzt worden war, ging wenigstens der Schmerz etwas zurück, den Keira konstant aussandte.
Isabel rieb über ihre Schläfen. Warum musste gerade sie die Gefühle von Katzen in ihrem Kopf spüren können? Sie hatte nie darum gebeten und es war mehr Fluch als Segen. Zumal sie auch überhaupt nichts tun konnte, um das Leiden zu lindern. Weder bei den Tieren noch bei den Wandlern. Und schon gar nicht bei der Wächterin der Berglöwen, die ihre Gedanken stets hinter einer ausdruckslosen Maske verbarg. Wie auch jetzt wieder.
»Ich sehe mich hier draußen noch um.« Damit drehte Keira sich auf dem Absatz um und verschwand in den Büschen neben dem Motel.
Isabel fühlte sich seltsam allein gelassen, zuckte dann aber nur die Schultern. Selbst wenn Keira mitgekommen wäre, hätte sie mit ihr nicht über das Geschehene reden können. Keira war auf Marisa nicht gut zu sprechen, seit die ihr Coyle vor der Nase weggeschnappt hatte. Wahrscheinlich konnte Isabel schon froh sein, dass die Berglöwenfrau schließlich zugestimmt hatte, mit ihr ins Krankenhaus zu fahren. Mit einem tiefen Seufzer schlang Isabel den Rucksack über ihre Schulter und ging zur Tür des Motelzimmers. Sie fühlte sich wie zerschlagen und konnte es kaum erwarten, ins Bett zu kriechen. Morgen würde wieder ein anstrengender Tag werden, wenn sie ganz bis nach Los Angeles fahren musste.
Ihr Vorhaben, einem Immobilienmakler das Haus ihres verstorbenen Vaters zu zeigen, damit er es verkaufte, verschob sie auf unbestimmte Zeit. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal auf die Verbrecher treffen, die ihnen auf dem Grundstück aufgelauert hatten und denen sie nur knapp entronnen waren. Ein Schauder lief über ihren Rücken und sie sah sich unbehaglich um. Beinahe glaubte sie, Augen auf sich zu spüren, aber sie schüttelte das Gefühl ab. Wahrscheinlich war es nur Keira, die sich vergewissern wollte, dass Isabel wirklich in ihr Zimmer ging. Nach einem letzten Blick in Richtung der Büsche zog sie die Schlüsselkarte durch das Schloss und schob die Tür auf. Die Luft im Zimmer war eiskalt an ihren nackten Armen, anscheinend hatten sie vergessen, die Klimaanlage herunterzustellen. Rasch ging sie zu dem Gerät und schaltete es aus. Angenehme Stille breitete sich in dem Raum aus.
Isabel warf ihren Rucksack auf den Tisch und zog die Vorhänge zu. Dadurch kam sie sich zwar noch eingeschlossener vor, aber das war besser, als von draußen beobachtet zu werden. Und wenn Keira gleich zu ihr stieß, war es ohnehin notwendig, denn die Berglöwenfrau hielt sich in der Regel nicht damit auf, ihren Körper mit Kleidung zu bedecken. Ein widerwilliges Lächeln hob ihre Mundwinkel. Irgendwie mochte sie Keira, sie war stark und unabhängig und ließ sich von niemandem etwas vormachen. Vermutlich konnte Isabel noch viel von ihr lernen.
Aber erst nach einer langen, heißen Dusche, die hoffentlich ihre verspannten Muskeln lockern würde. Glücklicherweise hatte sich ihre Befürchtung, dass sie auch angegriffen werden könnten, nicht bewahrheitet. Trotzdem sehnte Isabel sich nach der Anspannung nach einem entspannenden Bad. Sie öffnete die Badezimmertür und schaltete das Licht an. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr dunkle Augenringe und Falten neben ihrem Mund und auf der Stirn. Isabel schnitt eine Grimasse. Niemand würde bei diesem Anblick vermuten, dass sie noch nicht einmal ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Anscheinend war sie im letzten Jahr nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich um Jahre gealtert.
Schließlich wandte sie sich ab und wollte in den anderen Raum zurückgehen, doch die Türöffnung wurde von einem Mann blockiert, der aus dem Nichts aufgetaucht war. Isabel erstarrte und blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus, bevor er wieder lospolterte. Es dauerte einen Moment, bis ihr Gehirn den Befehl sandte, so laut zu schreien, wie sie konnte. Doch bevor sie ihn umsetzen konnte, war der Mann bei ihr, schlang einen Arm um sie und presste seine Hand auf ihren Mund. Isabel erwachte aus der Starre und sie versuchte, sich aus der Umklammerung zu lösen. Heftig riss sie an der Hand, die ihren Mund bedeckte, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Verzweifelt stieß sie ihren Ellbogen in den Magen des Mannes, doch auch das brachte keine Reaktion. Stattdessen schien er sie nur noch fester zu halten als zuvor. Furcht raste durch ihren Körper. Irgendwie musste es ihr gelingen, Keira auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
»Ganz ruhig, ich tue dir nichts.« Die leise Stimme des Mannes erklang direkt an ihrem Ohr. »Ich will nur mit dir reden.«
»Hmhm.« Isabel brachte nur ein paar unterdrückte Laute hervor. Zeitgleich mit der Angst wuchs auch ihre Wut.
Der Angreifer lockerte seinen Griff ein wenig und stellte sich so vor sie, dass sie ihn direkt ansehen konnte. Schwarze Haare umrahmten ein kantiges Gesicht mit einer scharfen Nase und schmalen Lippen. Ausdrucksvolle blaue Augen blickten sie durchdringend an. Er war wesentlich größer und kräftiger und bestimmt fünfundzwanzig Jahre älter als sie. Auch wenn sie wusste, dass Äußerlichkeiten täuschen konnten, wirkte er doch nicht wie ein Verbrecher auf sie. Aber er war hier und hielt sie gefangen, das war eine Tatsache, die sich nicht leugnen ließ. Der Schmerz in ihrem Kopf wurde schärfer, und sie glaubte für einen Moment erleichtert, dass Keira in das Zimmer gekommen war und sie befreien würde. Doch nach einigen Sekunden erkannte sie, dass das Leid nicht von der Berglöwenfrau ausging, sondern von diesem Mann. Aber wie konnte das sein, er war ein Mensch wie sie, oder?
Seine Augen weiteten sich, er ließ sie rasch los und zog sich zurück. Allerdings blockierte er mit seinem Körper die Tür, sodass sie nicht flüchten konnte. Isabel schlang ihre Arme um sich und starrte den Fremden an.
»Wer sind Sie? Oder besser gesagt: Was?«
Die Augen des Mannes verdunkelten sich, in ihrem Kopf spürte sie sein Unbehagen. »Mein Name ist Dave Caruso.« Er atmete tief durch. »Ich bin dein Vater.«
Für einen Moment stand ihre Welt still, der Atem stockte in ihrer Kehle. Ihr Herz pochte schmerzhaft und ihre Knie drohten nachzugeben. Es dauerte einige Zeit, bis sie antworten konnte. »Mein Vater war Henry Stammheimer. Und Sie sind ein mieser Mistkerl, der es scheinbar nötig hat, andere Menschen in Hotelzimmern zu überfallen.«
Caruso trat einen Schritt vor und streckte eine Hand aus, als wollte er sie berühren. Sofort wich Isabel zurück, bis sie mit der Hüfte gegen das Waschbecken stieß. »Stammheimer war nicht dein leiblicher Vater. Felicia hat sich vor achtzehn Jahren von mir getrennt und ihn kurz darauf geheiratet.« Seine Miene spannte sich an. »Hätte ich gewusst, dass sie schwanger war, hätte ich sie nie gehen lassen.«
»Das glaube ich nicht!« Es war schlimm genug zu wissen, dass Henry einen unschuldigen Jugendlichen gefoltert hatte, aber dass er ihr Vater war, stand völlig außer Frage für sie. »Sie lügen!« Ihre Stimme zitterte. »Ich weiß nicht, was Sie damit bezwecken, mir so eine Geschichte aufzutischen, aber Sie können sich die Mühe sparen und jetzt gehen.«
Caruso hörte nicht auf sie, sondern trat stattdessen noch näher. »Was denkst du, von wem du die blauen Augen hast? Sieh mich an und sag mir ins Gesicht, dass du die Ähnlichkeit nicht erkennst.«
Obwohl sie es nicht wollte, versank sie in seinen Augen. Sie musste zugeben, dass sie nicht nur die gleiche Farbe hatten wie ihre, sondern dass auch die Form sehr ähnlich war, bis hin zu den leicht nach oben gebogenen äußeren Augenwinkeln.
»Deine Mutter hat nicht diese Augenfarbe, und Stammheimer hatte sie auch nicht, soweit ich weiß.« Carusos Stimme klang beinahe mitleidig.
Isabel schob das Kinn vor. »Dann habe ich die Augen eben von meinen Großeltern geerbt.«
»Oder von mir. Spürst du nicht unsere Verbindung, Isabel?« Seine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. »Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe.« Als sie nicht reagierte, lächelte er. »Es ist im Moment vermutlich etwas viel für dich, ich wollte nur, dass du weißt, dass es mich gibt und ich dich gerne kennenlernen möchte.«
Das Lächeln veränderte ihn, es ließ seine Gesichtszüge weicher erscheinen und machte ihn regelrecht sympathisch. Isabel blinzelte erstaunt und spürte, wie etwas in ihrem Innern nachgab. Nein, sie durfte diesen Kerl nicht an sich herankommen lassen! Sicher war das alles nur eine Methode, um etwas von ihr zu bekommen. Was auch immer das war. »Wie haben Sie mich gefunden?«
Caruso nahm seine Hand von ihrer Schulter, so als spürte er, dass sie nicht bereit war, von ihm berührt zu werden. »Ich hatte in der Gegend zu tun und habe deine Nähe gespürt.«
Skeptisch zog Isabel eine Augenbraue hoch. »Und das, obwohl Sie angeblich vorher nichts von mir wussten? Das klingt für mich nicht sehr überzeugend.«
»Ruf deine Mutter an und frag sie nach mir. An ihrer Reaktion wirst du merken, dass ich die Wahrheit sage.«
Verwirrt starrte Isabel ihn an. War das ein Bluff, damit sie ihm glaubte? Dachte er, sie würde ihre Mutter nicht anrufen? Da hatte er sich geirrt. Selbst wenn sie nicht unbedingt gerne mit Felicia telefonierte und schon gar nicht, wenn es um etwas Wichtiges ging, ließ sie sich nicht von so einem Kerl an der Nase herumführen. Und überhaupt, was hatte er davon, wenn sie glaubte, er wäre ihr Vater? Sicher wollte er jetzt nicht den liebevollen Daddy spielen, der seine verlorene Tochter kennenlernen wollte.
Als sie nicht sofort antwortete, trat er wieder näher. »Tu es, Isabel. Dann können wir das ein für alle Mal klären. Bitte.«
Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, und ihr Misstrauen blieb. Schließlich konnte er genauso gut zu den Männern gehören, die offenbar hinter ihnen her waren. Aber dann hätte er sie doch sicher einfach mitgenommen und ihr nicht so eine Geschichte aufgetischt, oder?
»Dann lassen Sie mich hier raus, damit ich an mein Handy komme«, sagte sie, weil sie sich immer noch von dem Fremden bedroht fühlte.
Sofort trat er in den Raum zurück, sodass sie unbehelligt das Badezimmer verlassen und zurück ins Zimmer gehen konnte. Während sie das Handy aus ihrem Rucksack holte, behielt sie ihn weiterhin im Auge. Es konnte auch ein Trick sein, sie in Sicherheit zu wiegen, auch wenn sie nicht wusste, was er davon hatte. Doch er blieb mit vor der Brust verschränkten Armen stehen und machte keine Anstalten, sie anzugreifen.
Auch wenn es schon spät war, würde ihre Mutter noch wach sein, da war Isabel sicher. Vermutlich war sie sogar noch mit ihrem neuesten Liebhaber unterwegs. Ein Stich fuhr durch ihr Herz und sie unterdrückte rasch den Gedanken. Nach einem tiefen Atemzug wählte sie die Nummer ihrer Mutter. Ihr Blick traf den Carusos, als sie darauf wartete, dass Felicia sich meldete. Es war keine Spur von Unsicherheit in seinem Gesicht zu erkennen. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle.
»Isabel, Schätzchen, du weißt doch, dass ich ...«
Isabel unterbrach ihre Mutter. »Mom, ich muss dringend mit dir sprechen.«
»Hat das denn nicht Zeit bis morgen? Ich bin gerade ... «
Wieder ließ sie Felicia nicht ausreden. »Nein, das hat es nicht. In meinem Motelzimmer steht gerade ein Dave Caruso und behauptet, dass er mein Vater ist. Kannst du mir bitte sagen, dass er lügt?«
Totenstille herrschte am anderen Ende der Leitung. Dann hörte sie ein Ächzen, das Isabel einen Schauer über den Rücken jagte. »Mom? Geht es dir gut?« Caruso bewegte sich unruhig und Isabel hatte das Gefühl, er hätte ihr am liebsten das Telefon aus der Hand gerissen, um selbst mit ihrer Mutter zu sprechen. Doch das würde sie auf keinen Fall zulassen, sie musste selbst hören, dass Henry Stammheimer ihr Vater und sie nicht ihr ganzes Leben lang belogen worden war.
»Ich denke, wir sollten darüber reden, wenn du wieder in Los Angeles bist.« Die Stimme ihrer Mutter zitterte.
Das Blut wich aus Isabels Kopf, sie schwankte. »Warum? Es reicht doch, wenn du mir versicherst, dass Henry mein Vater war, dafür musst du mich nicht persönlich sehen.«
»Bitte, Isabel, ich möchte dir erklären ...«
Isabel hatte genug von den Ausflüchten. »Ja oder nein, so schwer kann das doch nicht sein!« Ein Schniefen war zu hören und Isabel wurde kalt.
»Henry war dein Vater, er hat dich aufgezogen. Aber du hast tatsächlich nicht seine Gene. Und bevor du jetzt denkst, dass Henry dich deshalb vielleicht manchmal ein wenig geistesabwesend behandelt hat - er wusste nicht, dass er nicht dein Vater ist.« Felicias Stimme brach. »Ich wollte doch nur das Beste für uns. War das so falsch?«
Die Kälte breitete sich in Isabel weiter aus, ihre Hand umklammerte das Handy. »Nein, aber es mir nie zu sagen, besonders nachdem Henry letztes Jahr gestorben ist, war falsch. Jetzt habe ich nur noch eine einzige Frage an dich: Ist Dave Caruso mein leiblicher Vater?«
Einen Moment herrschte Stille, dann seufzte ihre Mutter thea tralisch. »Ja! Und du kannst diesem Mistkerl sagen ...«
Isabel beendete das Gespräch, ohne Felicia ausreden zu lassen. Zuerst überlegte sie, das Handy ganz auszuschalten, doch dann erinnerte sie sich, dass sie es im Krankenhaus auf stumm gestellt hatte. So würde sie zumindest nicht mitkriegen, wenn ihre Mutter versuchte, sie zurückzurufen - oder eben auch nicht. Den Kopf gesenkt steckte sie das Handy in die Hosentasche, während sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken, die hervorbrechen wollten. Wie konnte ihre Mutter ihr das antun?
Caruso trat näher und legte seine Hand auf ihre Haare. »Geht es dir gut?« Isabel konnte seine Besorgnis in ihrem Kopf spüren. Spätestens jetzt wurde ihr endgültig klar, dass er wirklich die Wahrheit sagte, und die Tragweite dieser neuen Erkenntnis traf sie mit voller Wucht.
Zögernd blickte sie auf, eine Träne löste sich und lief über ihre Wange. »Es tut mir leid, ich kann nicht ...«
Heftig schüttelte sie seine Hand ab und rannte an ihm vorbei. Sie riss die Tür des Motelzimmers auf und stürzte nach draußen. Caruso rief etwas, aber sie konnte jetzt mit niemandem reden, sondern wollte nur allein sein, um ihre Gefühle und Gedanken unter Kontrolle zu bringen. So schnell sie konnte, lief sie über den Parkplatz und über die daran anschließende Wiese. Hinter einem Baum brach sie zusammen und sackte zu Boden. Zitternd schlang sie die Arme um ihre Beine und vergrub ihr Gesicht an ihren Knien. Als Kind hatte sie Henry Stammheimer geliebt und wollte immer so werden wie er, ein bedeutender Wissenschaftler, der Gutes für die Menschen tat. Doch das hatte sich gegeben, als sie älter wurde und ihr Vater die Arbeit seiner Familie immer mehr vorzog, was letztendlich zur Scheidung geführt hatte. Als er sie dann letztes Jahr auch noch zusammen mit Bowen im Keller seines Hauses eingesperrt hatte, hatte sie sich gefragt, ob sie Henry überhaupt je gekannt hatte. Trotzdem war es ihr nicht gelungen, jegliche Gefühle für ihn abzulegen.
Hatte Henry gemerkt, dass sie nicht seine Tochter war, und hatte sie deswegen einfach so abschreiben können, als wäre sie nicht mehr als ein lästiges Anhängsel, das ihn bei seiner Arbeit störte? Ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken, aber es war eine Erklärung dafür, wie er ihr so etwas hatte antun können. Durch seinen Tod war es ihr nicht möglich gewesen, ihn wirklich dafür zu hassen, zu groß war der Schmerz gewesen. Doch jetzt drängte Wut über sein Verhalten in ihr hoch, und die Frage quälte sie, ob er gewusst oder zumindest geahnt haben konnte, dass sie nicht seine leibliche Tochter war. Das war noch eine Sache, die sie nun nie herausfinden würde.
Isabel hob den Kopf und blickte mit verschwommenem Blick in den dunklen Himmel. Trotz der bestimmt immer noch dreißig Grad zitterte sie. Mühsam stand sie auf. Keira würde sicher bald zum Motel zurückkehren und sie wollte die Berglöwenfrau nicht beunruhigen. Ob Caruso noch da war? Oder hatte er sich überlegt, dass es vielleicht doch nicht so spaßig war, ein Teil ihres Lebens zu werden? Sie konnte es ihm nicht einmal verdenken. Nach allem, was im letzten Jahr passiert war, wollte sie selbst nicht an ihrem Leben teilnehmen. Leider konnte sie es sich nicht aussuchen.
Genervt schüttelte Isabel den Kopf. Nein, es war nicht alles schlecht gewesen, es hatte durchaus auch schöne Momente gegeben. Ihre Freundschaft zu Claire zum Beispiel oder die Tatsache, dass sie jetzt ihren Highschool-Abschluss in der Tasche hatte. Und die wenigen Momente, in denen sie Bowen so nahe gewesen war wie vorher noch keinem Menschen. Noch jetzt glaubte sie, ihn manchmal in ihrem Kopf spüren zu können, doch das konnte nur Einbildung sein. Ihre Verbindung war endgültig abgerissen, als sie sich im Haus ihres Vaters verabschiedet hatten und Bowen mit Coyle weggegangen war. Bowen schien sie vollständig aus seinem Leben gestrichen zu haben, sonst hätte er sich irgendwann bei ihr gemeldet oder wäre mit Marisa und Coyle nach Nevada gekommen. Die Tatsache, dass er es vorzog, im Lager zu bleiben, sollte ihr ein für alle Mal klarmachen, dass er trotz des Kusses im Keller kein Interesse an ihr hatte.
Das tat weh, aber sie würde lernen, damit zu leben. Vielleicht traf sie an der Universität einen interessanten Mann, der ihr half, Bowen zu vergessen. Ungebeten tauchte sein Gesicht vor ihren Augen auf: die schwarzen Haare und grüngoldenen Augen, der weiche Mund und die hohen Wangenknochen. Dazu der kräftige Körper, der bereits wie der eines Erwachsenen gewirkt hatte. Er war der erste Mann, den sie in der Realität nackt gesehen hatte. Wärme stieg in ihre Wangen und ein Kribbeln lief durch ihren Körper.
Isabel verzog den Mund. Das Problem war nur, dass sie bei diesen lebhaften Erinnerungen Schwierigkeiten hatte, andere Jungen überhaupt wahrzunehmen. Im Moment konnte sie sich nicht vorstellen, bei einem normalen Menschen jemals das Gleiche zu empfinden. Ihr fehlte die mühsam gebändigte Kraft, diese Wildheit, die sie in Bowen gespürt hatte. Wie so oft zuvor beschloss sie, Bowen zu vergessen, doch sie wusste schon jetzt, dass es ihr wieder nicht gelingen würde. Zu tief war er in ihr Inneres vorgedrungen. Aber damit würde sie leben müssen und sie sah nicht mehr ein, ihr Leben nach anderen Personen auszurichten. Weder nach Bowen noch nach ihrer Mutter. Entschlossen wischte sie die Tränen ab und hob das Kinn. Sollte dieser Caruso noch da sein, würde sie sich seine Adresse und Telefonnummer geben lassen und dann in Ruhe entscheiden, ob sie mehr über ihn erfahren wollte oder nicht. Erleichtert, einen Plan zu haben, drehte Isabel sich um und ging auf das Motel zu.
Ohne Vorwarnung fiel ein rauer Stoff über ihren Kopf und etwas umschlang eng ihren Körper. Nach einer Schrecksekunde begann Isabel sich zu wehren, aber sie war hoffnungslos unterlegen. Sie erreichte nur, dass sich der Stoff enger um ihr Gesicht legte und sie kaum noch Luft bekam. Ihre Arme waren an ihren Seiten gefangen, ihre Rippen schmerzten unter dem Druck.
»Keira! Hilfe!« Über dem Rauschen in ihren Ohren und dem Stoff vor ihrem Mund war ihr Schrei kaum zu hören.
Isabel versuchte, sich herumzuwerfen, aber auch das vereitelte ihr Angreifer. Verzweifelt trat sie um sich, traf aber nur Luft. Schließlich verlor sie den Boden unter den Füßen - sie wurde hochgehoben. Mit aller Kraft bockte sie und wand sich in dem brutalen Griff, doch mehr als ein schmerzerfülltes Grunzen ihres Angreifers und einen Rippenstoß als Strafe brachte ihr das nicht ein. Vor allem aber wurde der Sauerstoff immer knapper und sie stand dicht vor der Bewusstlosigkeit. Das durfte nicht passieren! Egal was dieser Kerl auch von ihr wollte, wenn sie ohnmächtig war, konnte sie nicht handeln und sich retten.
...
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
Müde stieg Isabel vor dem Motel, in dem sie bereits die letzte Nacht verbracht hatten, aus ihrem Auto und blickte Keira über das Dach hinweg an. Die Berglöwenwandlerin hatte seit dem Verlassen des Krankenhauses, in dem sie Marisa Gesellschaft geleistet hatten, die dort seit ihrem schlimmen Unfall lag, noch keinen Ton gesagt. Eigentlich war sie auch davor schon alles andere als gesprächig gewesen und Isabel konnte ihre Unruhe spüren. Aber nachdem sie nun auch erfahren hatten, dass Coyle zum Glück nur leicht verletzt worden war, ging wenigstens der Schmerz etwas zurück, den Keira konstant aussandte.
Isabel rieb über ihre Schläfen. Warum musste gerade sie die Gefühle von Katzen in ihrem Kopf spüren können? Sie hatte nie darum gebeten und es war mehr Fluch als Segen. Zumal sie auch überhaupt nichts tun konnte, um das Leiden zu lindern. Weder bei den Tieren noch bei den Wandlern. Und schon gar nicht bei der Wächterin der Berglöwen, die ihre Gedanken stets hinter einer ausdruckslosen Maske verbarg. Wie auch jetzt wieder.
»Ich sehe mich hier draußen noch um.« Damit drehte Keira sich auf dem Absatz um und verschwand in den Büschen neben dem Motel.
Isabel fühlte sich seltsam allein gelassen, zuckte dann aber nur die Schultern. Selbst wenn Keira mitgekommen wäre, hätte sie mit ihr nicht über das Geschehene reden können. Keira war auf Marisa nicht gut zu sprechen, seit die ihr Coyle vor der Nase weggeschnappt hatte. Wahrscheinlich konnte Isabel schon froh sein, dass die Berglöwenfrau schließlich zugestimmt hatte, mit ihr ins Krankenhaus zu fahren. Mit einem tiefen Seufzer schlang Isabel den Rucksack über ihre Schulter und ging zur Tür des Motelzimmers. Sie fühlte sich wie zerschlagen und konnte es kaum erwarten, ins Bett zu kriechen. Morgen würde wieder ein anstrengender Tag werden, wenn sie ganz bis nach Los Angeles fahren musste.
Ihr Vorhaben, einem Immobilienmakler das Haus ihres verstorbenen Vaters zu zeigen, damit er es verkaufte, verschob sie auf unbestimmte Zeit. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal auf die Verbrecher treffen, die ihnen auf dem Grundstück aufgelauert hatten und denen sie nur knapp entronnen waren. Ein Schauder lief über ihren Rücken und sie sah sich unbehaglich um. Beinahe glaubte sie, Augen auf sich zu spüren, aber sie schüttelte das Gefühl ab. Wahrscheinlich war es nur Keira, die sich vergewissern wollte, dass Isabel wirklich in ihr Zimmer ging. Nach einem letzten Blick in Richtung der Büsche zog sie die Schlüsselkarte durch das Schloss und schob die Tür auf. Die Luft im Zimmer war eiskalt an ihren nackten Armen, anscheinend hatten sie vergessen, die Klimaanlage herunterzustellen. Rasch ging sie zu dem Gerät und schaltete es aus. Angenehme Stille breitete sich in dem Raum aus.
Isabel warf ihren Rucksack auf den Tisch und zog die Vorhänge zu. Dadurch kam sie sich zwar noch eingeschlossener vor, aber das war besser, als von draußen beobachtet zu werden. Und wenn Keira gleich zu ihr stieß, war es ohnehin notwendig, denn die Berglöwenfrau hielt sich in der Regel nicht damit auf, ihren Körper mit Kleidung zu bedecken. Ein widerwilliges Lächeln hob ihre Mundwinkel. Irgendwie mochte sie Keira, sie war stark und unabhängig und ließ sich von niemandem etwas vormachen. Vermutlich konnte Isabel noch viel von ihr lernen.
Aber erst nach einer langen, heißen Dusche, die hoffentlich ihre verspannten Muskeln lockern würde. Glücklicherweise hatte sich ihre Befürchtung, dass sie auch angegriffen werden könnten, nicht bewahrheitet. Trotzdem sehnte Isabel sich nach der Anspannung nach einem entspannenden Bad. Sie öffnete die Badezimmertür und schaltete das Licht an. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr dunkle Augenringe und Falten neben ihrem Mund und auf der Stirn. Isabel schnitt eine Grimasse. Niemand würde bei diesem Anblick vermuten, dass sie noch nicht einmal ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert hatte. Anscheinend war sie im letzten Jahr nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich um Jahre gealtert.
Schließlich wandte sie sich ab und wollte in den anderen Raum zurückgehen, doch die Türöffnung wurde von einem Mann blockiert, der aus dem Nichts aufgetaucht war. Isabel erstarrte und blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus, bevor er wieder lospolterte. Es dauerte einen Moment, bis ihr Gehirn den Befehl sandte, so laut zu schreien, wie sie konnte. Doch bevor sie ihn umsetzen konnte, war der Mann bei ihr, schlang einen Arm um sie und presste seine Hand auf ihren Mund. Isabel erwachte aus der Starre und sie versuchte, sich aus der Umklammerung zu lösen. Heftig riss sie an der Hand, die ihren Mund bedeckte, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Verzweifelt stieß sie ihren Ellbogen in den Magen des Mannes, doch auch das brachte keine Reaktion. Stattdessen schien er sie nur noch fester zu halten als zuvor. Furcht raste durch ihren Körper. Irgendwie musste es ihr gelingen, Keira auf ihre Situation aufmerksam zu machen.
»Ganz ruhig, ich tue dir nichts.« Die leise Stimme des Mannes erklang direkt an ihrem Ohr. »Ich will nur mit dir reden.«
»Hmhm.« Isabel brachte nur ein paar unterdrückte Laute hervor. Zeitgleich mit der Angst wuchs auch ihre Wut.
Der Angreifer lockerte seinen Griff ein wenig und stellte sich so vor sie, dass sie ihn direkt ansehen konnte. Schwarze Haare umrahmten ein kantiges Gesicht mit einer scharfen Nase und schmalen Lippen. Ausdrucksvolle blaue Augen blickten sie durchdringend an. Er war wesentlich größer und kräftiger und bestimmt fünfundzwanzig Jahre älter als sie. Auch wenn sie wusste, dass Äußerlichkeiten täuschen konnten, wirkte er doch nicht wie ein Verbrecher auf sie. Aber er war hier und hielt sie gefangen, das war eine Tatsache, die sich nicht leugnen ließ. Der Schmerz in ihrem Kopf wurde schärfer, und sie glaubte für einen Moment erleichtert, dass Keira in das Zimmer gekommen war und sie befreien würde. Doch nach einigen Sekunden erkannte sie, dass das Leid nicht von der Berglöwenfrau ausging, sondern von diesem Mann. Aber wie konnte das sein, er war ein Mensch wie sie, oder?
Seine Augen weiteten sich, er ließ sie rasch los und zog sich zurück. Allerdings blockierte er mit seinem Körper die Tür, sodass sie nicht flüchten konnte. Isabel schlang ihre Arme um sich und starrte den Fremden an.
»Wer sind Sie? Oder besser gesagt: Was?«
Die Augen des Mannes verdunkelten sich, in ihrem Kopf spürte sie sein Unbehagen. »Mein Name ist Dave Caruso.« Er atmete tief durch. »Ich bin dein Vater.«
Für einen Moment stand ihre Welt still, der Atem stockte in ihrer Kehle. Ihr Herz pochte schmerzhaft und ihre Knie drohten nachzugeben. Es dauerte einige Zeit, bis sie antworten konnte. »Mein Vater war Henry Stammheimer. Und Sie sind ein mieser Mistkerl, der es scheinbar nötig hat, andere Menschen in Hotelzimmern zu überfallen.«
Caruso trat einen Schritt vor und streckte eine Hand aus, als wollte er sie berühren. Sofort wich Isabel zurück, bis sie mit der Hüfte gegen das Waschbecken stieß. »Stammheimer war nicht dein leiblicher Vater. Felicia hat sich vor achtzehn Jahren von mir getrennt und ihn kurz darauf geheiratet.« Seine Miene spannte sich an. »Hätte ich gewusst, dass sie schwanger war, hätte ich sie nie gehen lassen.«
»Das glaube ich nicht!« Es war schlimm genug zu wissen, dass Henry einen unschuldigen Jugendlichen gefoltert hatte, aber dass er ihr Vater war, stand völlig außer Frage für sie. »Sie lügen!« Ihre Stimme zitterte. »Ich weiß nicht, was Sie damit bezwecken, mir so eine Geschichte aufzutischen, aber Sie können sich die Mühe sparen und jetzt gehen.«
Caruso hörte nicht auf sie, sondern trat stattdessen noch näher. »Was denkst du, von wem du die blauen Augen hast? Sieh mich an und sag mir ins Gesicht, dass du die Ähnlichkeit nicht erkennst.«
Obwohl sie es nicht wollte, versank sie in seinen Augen. Sie musste zugeben, dass sie nicht nur die gleiche Farbe hatten wie ihre, sondern dass auch die Form sehr ähnlich war, bis hin zu den leicht nach oben gebogenen äußeren Augenwinkeln.
»Deine Mutter hat nicht diese Augenfarbe, und Stammheimer hatte sie auch nicht, soweit ich weiß.« Carusos Stimme klang beinahe mitleidig.
Isabel schob das Kinn vor. »Dann habe ich die Augen eben von meinen Großeltern geerbt.«
»Oder von mir. Spürst du nicht unsere Verbindung, Isabel?« Seine Hand legte sich sanft auf ihre Schulter. »Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe.« Als sie nicht reagierte, lächelte er. »Es ist im Moment vermutlich etwas viel für dich, ich wollte nur, dass du weißt, dass es mich gibt und ich dich gerne kennenlernen möchte.«
Das Lächeln veränderte ihn, es ließ seine Gesichtszüge weicher erscheinen und machte ihn regelrecht sympathisch. Isabel blinzelte erstaunt und spürte, wie etwas in ihrem Innern nachgab. Nein, sie durfte diesen Kerl nicht an sich herankommen lassen! Sicher war das alles nur eine Methode, um etwas von ihr zu bekommen. Was auch immer das war. »Wie haben Sie mich gefunden?«
Caruso nahm seine Hand von ihrer Schulter, so als spürte er, dass sie nicht bereit war, von ihm berührt zu werden. »Ich hatte in der Gegend zu tun und habe deine Nähe gespürt.«
Skeptisch zog Isabel eine Augenbraue hoch. »Und das, obwohl Sie angeblich vorher nichts von mir wussten? Das klingt für mich nicht sehr überzeugend.«
»Ruf deine Mutter an und frag sie nach mir. An ihrer Reaktion wirst du merken, dass ich die Wahrheit sage.«
Verwirrt starrte Isabel ihn an. War das ein Bluff, damit sie ihm glaubte? Dachte er, sie würde ihre Mutter nicht anrufen? Da hatte er sich geirrt. Selbst wenn sie nicht unbedingt gerne mit Felicia telefonierte und schon gar nicht, wenn es um etwas Wichtiges ging, ließ sie sich nicht von so einem Kerl an der Nase herumführen. Und überhaupt, was hatte er davon, wenn sie glaubte, er wäre ihr Vater? Sicher wollte er jetzt nicht den liebevollen Daddy spielen, der seine verlorene Tochter kennenlernen wollte.
Als sie nicht sofort antwortete, trat er wieder näher. »Tu es, Isabel. Dann können wir das ein für alle Mal klären. Bitte.«
Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, und ihr Misstrauen blieb. Schließlich konnte er genauso gut zu den Männern gehören, die offenbar hinter ihnen her waren. Aber dann hätte er sie doch sicher einfach mitgenommen und ihr nicht so eine Geschichte aufgetischt, oder?
»Dann lassen Sie mich hier raus, damit ich an mein Handy komme«, sagte sie, weil sie sich immer noch von dem Fremden bedroht fühlte.
Sofort trat er in den Raum zurück, sodass sie unbehelligt das Badezimmer verlassen und zurück ins Zimmer gehen konnte. Während sie das Handy aus ihrem Rucksack holte, behielt sie ihn weiterhin im Auge. Es konnte auch ein Trick sein, sie in Sicherheit zu wiegen, auch wenn sie nicht wusste, was er davon hatte. Doch er blieb mit vor der Brust verschränkten Armen stehen und machte keine Anstalten, sie anzugreifen.
Auch wenn es schon spät war, würde ihre Mutter noch wach sein, da war Isabel sicher. Vermutlich war sie sogar noch mit ihrem neuesten Liebhaber unterwegs. Ein Stich fuhr durch ihr Herz und sie unterdrückte rasch den Gedanken. Nach einem tiefen Atemzug wählte sie die Nummer ihrer Mutter. Ihr Blick traf den Carusos, als sie darauf wartete, dass Felicia sich meldete. Es war keine Spur von Unsicherheit in seinem Gesicht zu erkennen. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle.
»Isabel, Schätzchen, du weißt doch, dass ich ...«
Isabel unterbrach ihre Mutter. »Mom, ich muss dringend mit dir sprechen.«
»Hat das denn nicht Zeit bis morgen? Ich bin gerade ... «
Wieder ließ sie Felicia nicht ausreden. »Nein, das hat es nicht. In meinem Motelzimmer steht gerade ein Dave Caruso und behauptet, dass er mein Vater ist. Kannst du mir bitte sagen, dass er lügt?«
Totenstille herrschte am anderen Ende der Leitung. Dann hörte sie ein Ächzen, das Isabel einen Schauer über den Rücken jagte. »Mom? Geht es dir gut?« Caruso bewegte sich unruhig und Isabel hatte das Gefühl, er hätte ihr am liebsten das Telefon aus der Hand gerissen, um selbst mit ihrer Mutter zu sprechen. Doch das würde sie auf keinen Fall zulassen, sie musste selbst hören, dass Henry Stammheimer ihr Vater und sie nicht ihr ganzes Leben lang belogen worden war.
»Ich denke, wir sollten darüber reden, wenn du wieder in Los Angeles bist.« Die Stimme ihrer Mutter zitterte.
Das Blut wich aus Isabels Kopf, sie schwankte. »Warum? Es reicht doch, wenn du mir versicherst, dass Henry mein Vater war, dafür musst du mich nicht persönlich sehen.«
»Bitte, Isabel, ich möchte dir erklären ...«
Isabel hatte genug von den Ausflüchten. »Ja oder nein, so schwer kann das doch nicht sein!« Ein Schniefen war zu hören und Isabel wurde kalt.
»Henry war dein Vater, er hat dich aufgezogen. Aber du hast tatsächlich nicht seine Gene. Und bevor du jetzt denkst, dass Henry dich deshalb vielleicht manchmal ein wenig geistesabwesend behandelt hat - er wusste nicht, dass er nicht dein Vater ist.« Felicias Stimme brach. »Ich wollte doch nur das Beste für uns. War das so falsch?«
Die Kälte breitete sich in Isabel weiter aus, ihre Hand umklammerte das Handy. »Nein, aber es mir nie zu sagen, besonders nachdem Henry letztes Jahr gestorben ist, war falsch. Jetzt habe ich nur noch eine einzige Frage an dich: Ist Dave Caruso mein leiblicher Vater?«
Einen Moment herrschte Stille, dann seufzte ihre Mutter thea tralisch. »Ja! Und du kannst diesem Mistkerl sagen ...«
Isabel beendete das Gespräch, ohne Felicia ausreden zu lassen. Zuerst überlegte sie, das Handy ganz auszuschalten, doch dann erinnerte sie sich, dass sie es im Krankenhaus auf stumm gestellt hatte. So würde sie zumindest nicht mitkriegen, wenn ihre Mutter versuchte, sie zurückzurufen - oder eben auch nicht. Den Kopf gesenkt steckte sie das Handy in die Hosentasche, während sie versuchte, die Tränen zu unterdrücken, die hervorbrechen wollten. Wie konnte ihre Mutter ihr das antun?
Caruso trat näher und legte seine Hand auf ihre Haare. »Geht es dir gut?« Isabel konnte seine Besorgnis in ihrem Kopf spüren. Spätestens jetzt wurde ihr endgültig klar, dass er wirklich die Wahrheit sagte, und die Tragweite dieser neuen Erkenntnis traf sie mit voller Wucht.
Zögernd blickte sie auf, eine Träne löste sich und lief über ihre Wange. »Es tut mir leid, ich kann nicht ...«
Heftig schüttelte sie seine Hand ab und rannte an ihm vorbei. Sie riss die Tür des Motelzimmers auf und stürzte nach draußen. Caruso rief etwas, aber sie konnte jetzt mit niemandem reden, sondern wollte nur allein sein, um ihre Gefühle und Gedanken unter Kontrolle zu bringen. So schnell sie konnte, lief sie über den Parkplatz und über die daran anschließende Wiese. Hinter einem Baum brach sie zusammen und sackte zu Boden. Zitternd schlang sie die Arme um ihre Beine und vergrub ihr Gesicht an ihren Knien. Als Kind hatte sie Henry Stammheimer geliebt und wollte immer so werden wie er, ein bedeutender Wissenschaftler, der Gutes für die Menschen tat. Doch das hatte sich gegeben, als sie älter wurde und ihr Vater die Arbeit seiner Familie immer mehr vorzog, was letztendlich zur Scheidung geführt hatte. Als er sie dann letztes Jahr auch noch zusammen mit Bowen im Keller seines Hauses eingesperrt hatte, hatte sie sich gefragt, ob sie Henry überhaupt je gekannt hatte. Trotzdem war es ihr nicht gelungen, jegliche Gefühle für ihn abzulegen.
Hatte Henry gemerkt, dass sie nicht seine Tochter war, und hatte sie deswegen einfach so abschreiben können, als wäre sie nicht mehr als ein lästiges Anhängsel, das ihn bei seiner Arbeit störte? Ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken, aber es war eine Erklärung dafür, wie er ihr so etwas hatte antun können. Durch seinen Tod war es ihr nicht möglich gewesen, ihn wirklich dafür zu hassen, zu groß war der Schmerz gewesen. Doch jetzt drängte Wut über sein Verhalten in ihr hoch, und die Frage quälte sie, ob er gewusst oder zumindest geahnt haben konnte, dass sie nicht seine leibliche Tochter war. Das war noch eine Sache, die sie nun nie herausfinden würde.
Isabel hob den Kopf und blickte mit verschwommenem Blick in den dunklen Himmel. Trotz der bestimmt immer noch dreißig Grad zitterte sie. Mühsam stand sie auf. Keira würde sicher bald zum Motel zurückkehren und sie wollte die Berglöwenfrau nicht beunruhigen. Ob Caruso noch da war? Oder hatte er sich überlegt, dass es vielleicht doch nicht so spaßig war, ein Teil ihres Lebens zu werden? Sie konnte es ihm nicht einmal verdenken. Nach allem, was im letzten Jahr passiert war, wollte sie selbst nicht an ihrem Leben teilnehmen. Leider konnte sie es sich nicht aussuchen.
Genervt schüttelte Isabel den Kopf. Nein, es war nicht alles schlecht gewesen, es hatte durchaus auch schöne Momente gegeben. Ihre Freundschaft zu Claire zum Beispiel oder die Tatsache, dass sie jetzt ihren Highschool-Abschluss in der Tasche hatte. Und die wenigen Momente, in denen sie Bowen so nahe gewesen war wie vorher noch keinem Menschen. Noch jetzt glaubte sie, ihn manchmal in ihrem Kopf spüren zu können, doch das konnte nur Einbildung sein. Ihre Verbindung war endgültig abgerissen, als sie sich im Haus ihres Vaters verabschiedet hatten und Bowen mit Coyle weggegangen war. Bowen schien sie vollständig aus seinem Leben gestrichen zu haben, sonst hätte er sich irgendwann bei ihr gemeldet oder wäre mit Marisa und Coyle nach Nevada gekommen. Die Tatsache, dass er es vorzog, im Lager zu bleiben, sollte ihr ein für alle Mal klarmachen, dass er trotz des Kusses im Keller kein Interesse an ihr hatte.
Das tat weh, aber sie würde lernen, damit zu leben. Vielleicht traf sie an der Universität einen interessanten Mann, der ihr half, Bowen zu vergessen. Ungebeten tauchte sein Gesicht vor ihren Augen auf: die schwarzen Haare und grüngoldenen Augen, der weiche Mund und die hohen Wangenknochen. Dazu der kräftige Körper, der bereits wie der eines Erwachsenen gewirkt hatte. Er war der erste Mann, den sie in der Realität nackt gesehen hatte. Wärme stieg in ihre Wangen und ein Kribbeln lief durch ihren Körper.
Isabel verzog den Mund. Das Problem war nur, dass sie bei diesen lebhaften Erinnerungen Schwierigkeiten hatte, andere Jungen überhaupt wahrzunehmen. Im Moment konnte sie sich nicht vorstellen, bei einem normalen Menschen jemals das Gleiche zu empfinden. Ihr fehlte die mühsam gebändigte Kraft, diese Wildheit, die sie in Bowen gespürt hatte. Wie so oft zuvor beschloss sie, Bowen zu vergessen, doch sie wusste schon jetzt, dass es ihr wieder nicht gelingen würde. Zu tief war er in ihr Inneres vorgedrungen. Aber damit würde sie leben müssen und sie sah nicht mehr ein, ihr Leben nach anderen Personen auszurichten. Weder nach Bowen noch nach ihrer Mutter. Entschlossen wischte sie die Tränen ab und hob das Kinn. Sollte dieser Caruso noch da sein, würde sie sich seine Adresse und Telefonnummer geben lassen und dann in Ruhe entscheiden, ob sie mehr über ihn erfahren wollte oder nicht. Erleichtert, einen Plan zu haben, drehte Isabel sich um und ging auf das Motel zu.
Ohne Vorwarnung fiel ein rauer Stoff über ihren Kopf und etwas umschlang eng ihren Körper. Nach einer Schrecksekunde begann Isabel sich zu wehren, aber sie war hoffnungslos unterlegen. Sie erreichte nur, dass sich der Stoff enger um ihr Gesicht legte und sie kaum noch Luft bekam. Ihre Arme waren an ihren Seiten gefangen, ihre Rippen schmerzten unter dem Druck.
»Keira! Hilfe!« Über dem Rauschen in ihren Ohren und dem Stoff vor ihrem Mund war ihr Schrei kaum zu hören.
Isabel versuchte, sich herumzuwerfen, aber auch das vereitelte ihr Angreifer. Verzweifelt trat sie um sich, traf aber nur Luft. Schließlich verlor sie den Boden unter den Füßen - sie wurde hochgehoben. Mit aller Kraft bockte sie und wand sich in dem brutalen Griff, doch mehr als ein schmerzerfülltes Grunzen ihres Angreifers und einen Rippenstoß als Strafe brachte ihr das nicht ein. Vor allem aber wurde der Sauerstoff immer knapper und sie stand dicht vor der Bewusstlosigkeit. Das durfte nicht passieren! Egal was dieser Kerl auch von ihr wollte, wenn sie ohnmächtig war, konnte sie nicht handeln und sich retten.
...
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH
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Autoren-Porträt von Michelle Raven
Michaela Rabe wurde 1972 in Hannover geboren und studierte Bibliothekswesen. Sie arbeitet als Bibliotheksleiterin in Niedersachsen. 2002 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Michelle Raven ihren ersten Roman. Inzwischen gehört sie zu Deutschlands erfolgreichsten Autorinnen im Bereich Romantic Fantasy und Romantic Thrill.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michelle Raven
- 2011, 1. Aufl., 432 Seiten, Maße: 12,6 x 18,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802585089
- ISBN-13: 9783802585081
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