Scarpetta Factor
Der "Taximörder" versetzt ganz New York in Angst. Ist ihm auch die vermisste Millionenerbin Hannah Starr zum Opfer gefallen? Kay Scarpetta kämpft sich durch viele Ungereimtheiten und ihr eigener Mann spielt eine dubiose Rolle.
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Produktinformationen zu „Scarpetta Factor “
Der "Taximörder" versetzt ganz New York in Angst. Ist ihm auch die vermisste Millionenerbin Hannah Starr zum Opfer gefallen? Kay Scarpetta kämpft sich durch viele Ungereimtheiten und ihr eigener Mann spielt eine dubiose Rolle.
Lese-Probe zu „Scarpetta Factor “
Scarpetta Factor von Patricia Cornwell 1
Ein eiskalter Wind pfiff vom East River herüber und zerrte an Dr. Kay Scarpettas Mantel, als sie die Thirtieth Street hinuntereilte.
Obwohl es nur noch eine Woche bis Weihnachten war, konnte man in dieser Gegend, geprägt von den drei Orten des Elends und des Todes, die Scarpetta als Manhattans tragisches Dreieck bezeichnete, nichts von Festtagsstimmung bemerken. Hinter ihr lag der sogenannte Memorial Park, ein gewaltiges weißes Zelt, in dem die noch immer nicht identifizierten sterblichen Überreste der Opfer vom Ground Zero vakuumverpackt gelagert wurden. Vor ihr erhob sich das gotische Backsteingebäude der ehemaligen Nervenheilanstalt Bellevue, die inzwischen als Obdachlosenunterkunft diente. Und gleich gegenüber befand sich die Anlieferungszone der Gerichtsmedizin, wo eine Garagentür aus grauem Stahl geöffnet war. Ein Lastwagen rangierte rückwärts heran, um weitere Paletten mit Pressspanplatten abzuladen. In der Gerichtsmedizin war es heute ziemlich laut zugegangen, durch die Gänge, die Schall übertrugen wie ein Amphitheater, hallte ein ständiges Hämmern. Die Assistenten zimmerten unermüdlich schlichte Fichtensärge in Erwachsenen- und Kindergröße zusammen und konnten dennoch kaum mit der Nachfrage für Armenbegräbnisse auf dem Potter's Field mithalten. Wie vieles andere auch eine Folge der Wirtschaftskrise.
Scarpetta bedauerte bereits, dass sie den Cheeseburger mit Pommes gekauft hatte, den sie in einem Pappkarton mit sich herumtrug. Wie lange hatte er wohl im Warmhalteregal in der Mensa der New Yorker medizinischen Fakultät gestanden? Es war schon drei Uhr, also ziemlich spät für ein Mittagessen. Außerdem wusste Scarpetta um die geschmackliche Qualität dieser Mahlzeit. Doch ihr fehlte die Zeit, sich an einer Salatbar anzustellen, sich gesund zu
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ernähren oder zumindest etwas zu essen, worauf sie Lust hatte, denn sie hatte heute bereits fünfzehn Fälle bearbeitet. Selbstmorde, Unfälle, Tötungsdelikte und das Ableben mittelloser Personen, die ohne Beisein eines Arztes oder, noch trauriger, ohne Angehörige und völlig vereinsamt verstorben waren.
Bereits um sechs war sie zur Arbeit gegangen, um rechtzeitig fertig zu werden. Deshalb hatte sie die ersten beiden Autopsien schon um neun erledigt und sich die schwierigste bis zum Schluss aufgespart - eine junge Frau mit sonderbaren Verletzungen, die nicht nur zeitaufwendig waren, sondern ihr einige Rätsel aufgaben. Über fünf Stunden lang musste Scarpetta sich mit Toni Da riens Leiche befassen, detailgetreue Zeichnungen anfertigen, sich ausführliche Notizen machen, Dutzende von Fotos schießen und das gesamte Gehirn für spätere Untersuchungen in einem Behälter mit Formalin konservieren. Sie hatte mehr Röhrchen mit Flüssigkeiten, Organ- und Gewebeproben sichergestellt als üblich und alles, was möglich war, aufbewahrt und dokumentiert, da ihr dieser Fall äußerst merkwürdig erschien. Und zwar nicht wegen der ungewöhnlichen Umstände, sondern wegen seiner Widersprüchlichkeiten.
Die Art und Weise, wie die junge Frau zu Tode gekommen war, wirkte bedrückend alltäglich, weshalb sich eine langwierige Obduktion zur Klärung der grundlegenden Fragen erübrigt hatte. Sie war durch Gewalteinwirkung mit einem stumpfen Gegenstand getötet worden - ein einziger Schlag auf den Hinterkopf mit einem vermutlich bunt lackierten Objekt. Allerdings ergab sonst nichts einen Sinn. Beim Auffinden der Toten kurz vor Morgengrauen am Rand des Central Park, etwa zehn Meter entfernt vom Anfang der East Hundred-tenth Street, hatte man angenommen, sie sei am Vorabend im Regen joggen gegangen und dabei überfallen, vergewaltigt und ermordet worden. Der Täter hatte ihr die Jogginghose und den Slip bis zu den Knöcheln heruntergezogen und Vliespulli und Sport-BH über die Brüste geschoben. Wegen des PolatechSchals, der mit einem Doppelknoten fest um ihren Hals geschlungen war, hatten die Polizisten und die Mitarbeiter der Gerichtsmedizin, die zuerst am Tatort eingetroffen waren, angenommen, dass der Mörder sie mit einem ihrer eigenen Kleidungsstücke erdrosselt hatte.
Aber das war ein Irrtum. Bei der Untersuchung der Leiche in der Gerichtsmedizin hatte Scarpetta keinerlei Hinweise darauf finden können, dass es sich bei dem Schal um die Mordwaffe handelte oder dass er zumindest zum Tod des Opfers beigetragen hatte. Es gab weder Anzeichen für Ersticken noch körperliche Reaktionen wie Rötungen oder Blutergüsse, nur eine trockene Abschürfung am Hals, als habe man ihr den Schal erst nach ihrem Tod umgebunden. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass der Täter ihr zuerst auf den Kopf geschlagen und sie in dem Glauben, dass sie noch lebte, anschließend erwürgt hatte. Doch wie viel Zeit hatte er in diesem Fall mit ihr verbracht? Nach der Verletzung, Schwellung und Einblutung im Kortex zu urteilen, war sie noch eine Zeitlang, vielleicht sogar einige Stunden, am Leben geblieben. Und dennoch war der Fundort nahezu frei von Blut. Erst beim Umdrehen der Leiche war die Wunde am Hinterkopf bemerkt worden, eine fünf Zentimeter lange, stark geschwollene Verletzung, aus der jedoch kaum Flüssigkeit austrat. Das Fehlen von Blut schob man auf den Regen.
Allerdings hatte Scarpetta ernsthafte Zweifel an dieser Theorie. Der Riss in der Kopfhaut hatte gewiss heftig geblutet, weshalb es ziemlich unwahrscheinlich war, dass der Regen, eigentlich eher ein Nieseln, fast das gesamte Blut aus Tonis langem, dichtem Haar herausgespült haben sollte. Hatte der Angreifer ihr zuerst einen Schädelbruch verpasst, sich dann in einer regnerischen Winternacht stundenlang mit ihr im Freien aufgehalten und ihr zu guter Letzt den Schal fest um den Hals geschnürt, um sicherzugehen, dass sie ihn nicht verriet? Oder war das Würgen Teil eines sexuellen Gewaltrituals? Warum wollten sowohl Totenflecken als auch Totenstarre so gar nicht zu den Bedingungen am Fundort passen? Offenbar war die Frau spät in der vergangenen Nacht im Park umgebracht worden - und dennoch machte sie den Eindruck, als sei sie schon seit mindestens sechsunddreißig Stunden tot. Scarpetta verstand die Welt nicht mehr. Vielleicht sah sie ja auch Gespenster oder konnte nicht mehr klar denken, weil sie sich gehetzt fühlte und ihr Blutzuckerspiegel bedenklich niedrig lag. Schließlich hatte sie den ganzen Tag noch nichts gegessen, aber dafür jede Menge Kaffee getrunken.
Und nun würde sie auch noch zu spät zu der für drei Uhr angesetzten Dienstbesprechung kommen. Außerdem musste sie um sechs zu Hause sein, um ins Fitnessstudio und anschließend mit ihrem Mann Benton Wesley zum Essen zu gehen. Danach würde sie auf schnellstem Wege zu CNN fahren, obwohl sie nicht die geringste Lust dazu verspürte. Sie hätte sich nie breitschlagen lassen dürfen, in 7he Crispin Report aufzutreten. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, als sie sich einverstanden erklärt hatte, mit Carley Crispin vor die Kamera zu treten, um die Veränderungen der Haarstruktur nach dem Tod, die Bedeutung des Mikroskopierens und andere Gebiete der Forensik zu erörtern, die von der Öffentlichkeit ständig missverstanden wurden? Was einzig und allein die Schuld jener Branche war, zu der Scarpetta inzwischen selbst gehörte: der Unterhaltungsindustrie. Mit ihrem Mittagessen im Pappkarton marschierte sie durch die Anlieferungszone, wo überall Kisten und Schachteln voller Büromaterial und bei der Autopsie benötigten Utensilien sowie Karren, Rollwagen aus Metall und Pressspanplatten herumstanden. Der Wachmann in seiner Plexiglaskabine telefonierte gerade und würdigte sie kaum eines Blickes, als sie an ihm vorbeihastete.
Oben an der Rampe zog sie die Karte, die sie an einer Kordel um den Hals trug, durch ein Lesegerät, um die schwere Metalltür zu öffnen, und betrat ein weiß und petrolgrün gekacheltes, mit Geländern ausgestattetes Labyrinth, das überall und nirgendwo hinzuführen schien. In ihren Anfangstagen als Teilzeit-Gerichtsmedizinerin hatte Scarpetta sich ständig verlaufen und war in der Anthropologie anstatt in der Neuropathologie oder der Kardiopathologie, in der Herrenumkleide anstatt in der für Damen oder im Raum für verwesende Leichen anstatt im Autopsiesaal gelandet. Sie hatte die falsche Kühlkammer, das falsche Treppenhaus und manchmal sogar die falsche Etage erwischt, wenn sie den alten Lastenaufzug aus Stahl benutzte.
Allerdings hatte sie bald verstanden, welche Logik hinter dem Grundriss des Gebäudes steckte. Es handelte sich gewissermaßen um einen Rundweg, der in der mit einem gewaltigen Garagentor versehenen Anlieferungszone begann. Wenn der gerichtsmedizinische Transportdienst eine Leiche brachte, lud man die Bahre dort ab und schob sie durch einen Strahlendetektor. Wies kein Alarmsignal auf das Vorhandensein von radioaktivem Material hin, wie es Radiologen beispielsweise bei der Behandlung einiger Krebsarten verwendeten, war die nächste Haltestelle die im Boden eingelassene Waage, wo man die Leiche wog und vermaß. Die folgende Station hing vom Zustand des Toten ab. Ließ dieser zu wünschen übrig oder wurde er als Gefahr für die Lebenden eingestuft, brachte man den Verstorbenen in die Kühlkammer für verwesende Leichen gleich neben dem dazugehörigen Autopsieraum, wo man die Obduktion allein, unter besonderer Belüftung und mit Hilfe anderer Schutzmaßnahmen durchführen konnte.
Eine Leiche in guter Verfassung wurde einen Flur entlang geschoben, der rechts von der Anlieferungszone abging. Je nach Art der Verletzungen standen noch weitere Zwischenstopps auf dem Programm: das Röntgenlabor, der Lagerraum für Gewebeproben, zwei weitere Kühlkammern für noch nicht untersuchte Leichen, der Aufzug für diejenigen, die oben aufgebahrt und identifiziert werden mussten, Asservatenkammern, die Neuropathologie, die Kardiopathologie und zu guter Letzt der Autopsiesaal. Wenn die Leiche nach Abschluss dieses Rundwegs zur Bestattung freigegeben wurde, endete sie wieder an der Anlieferungszone, und zwar in einer Kühlkammer, wo nun auch Toni Da rien in einem Leichensack auf einem Regal hätte liegen sollen.
Doch die befand sich auf einem Rollwagen, der vor der Edelstahltür der Kühlkammer stand. Eine Assistentin war gerade damit beschäftigt, ein blaues Laken über sie zu breiten und es bis zum Kinn hochzuziehen.
»Was machen Sie da?«, fragte Scarpetta.
»Wir hatten oben eine kleine Szene. Sie wird aufgebahrt.« »Auf wessen Wunsch und warum?«
»Die Mutter ist in der Vorhalle und weigert sich, zu gehen, bevor sie sie gesehen hat. Keine Sorge, ich kümmere mich darum.« Die Assistentin hieß Rene, war Mitte dreißig und hatte schwarze Locken und dunkelbraune Augen. Außerdem besaß sie ein ungewöhnliches Talent im Umgang mit Angehörigen. Wenn in dieser Phase ein Problem aufgetreten war, handelte es sich sicher nicht um eine Kleinigkeit, denn Rene gelang es normalerweise, jede Situation zu entschärfen.
»Ich dachte, der Vater hätte sie bereits identifiziert«, wunderte sich Scarpetta.
»Nachdem er die Papiere ausgefüllt hatte, habe ich ihm das Foto gezeigt, das Sie mir gemailt hatten. Das war, bevor Sie in die Mensa gegangen sind. Kurz darauf erschien die Mutter, und die beiden haben sich in der Vorhalle gestritten. Das heißt, sie sind eher übereinander hergefallen, bis er wutentbrannt abgehauen ist.«
»Sind sie geschieden?«
»Sie hassen einander offenbar wie die Pest. Jetzt besteht die Mutter darauf, die Leiche zu sehen, und lässt sich nicht abweisen.« Renes in einem violetten Gummihandschuh steckende Hand strich der Toten eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn und steckte ihr weiteres Haar hinter die Ohren, um die Spuren der Autopsie zu tarnen. »Ich weiß, dass Sie in ein paar Minuten Dienstbesprechung haben. Ich erledige das schon.« Sie warf einen Blick auf den Pappkarton in Scarpettas Hand. »Sie haben ja noch nicht einmal gegessen. Haben Sie heute überhaupt etwas in den Magen gekriegt? Vermutlich nicht, so wie immer. Wie viel haben Sie inzwischen abgenommen? Sie werden noch in der Anthropologie landen, weil man Sie mit einem Skelett verwechselt.«
»Worüber haben sie sich denn in der Vorhalle gestritten?«, erkundigte sich Scarpetta.
»Bestattungsinstitute. Die Mutter möchte eines auf Long Island beauftragen, der Vater beharrt auf New Jersey. Die Mutter will eine Beerdigung, aber die Vater besteht darauf, sie einäschern zu lassen. Die beiden haben sich wegen ihr gezankt.« Sie berührte wieder die Tote, als könne sie am Gespräch teilnehmen. »Dann haben sie einander alle möglichen Anschuldigungen an den Kopf geworfen. Sie haben so einen Radau veranstaltet, dass sogar Dr. Edison aus seinem Büro gekommen ist.«
Dr. Edison war der Chief Medical Examiner und Scarpettas Vorgesetzter, wenn sie in der Stadt war. Da sie den Großteil ihrer beruflichen Laufbahn selbst Chief Medical Examiner oder Inhaberin einer Privatpraxis gewesen war, fiel es ihr ein wenig schwer, sich einem Vorgesetzten unterzuordnen. Andererseits hätte sie niemals Leiterin der New Yorker Gerichtsmedizin sein wollen, selbst wenn man ihr je diesen Posten angetragen hätte. Einer derart riesigen Behörde vorzustehen war, als wäre man Oberbürgermeisterin einer Großstadt.
»Tja, Sie kennen ja die Vorschriften«, sagte Scarpetta. »Solange sich die beiden nicht einig sind, bleibt die Leiche hier und wird nur auf Anweisung der Rechtsabteilung freigegeben. Was ist eigentlich passiert, als Sie der Mutter das Foto gezeigt haben?«
»Ich habe es versucht, aber sie hat sich geweigert, es anzuschauen. Sie beharrt darauf, ihre Tochter zu sehen. Vorher geht sie nicht.«
»Ist sie im Raum für die Angehörigen?«
»Dorthin habe ich sie zumindest gebracht. Die Akte und Kopien der Formulare liegen auf Ihrem Schreibtisch.«
»Danke. Ich werfe einen Blick hinein, wenn ich oben bin. Sie schieben die Leiche in den Aufzug, und ich kümmere mich um den Rest«, erwiderte Scarpetta. »Wären Sie so gut, Dr. Edison auszurichten, dass ich es nicht zur Dienstbesprechung schaffe? Sie hat sowieso schon angefangen. Hoffentlich erwische ich ihn noch, bevor er Feierabend macht. Ich muss mit ihm über diesen Fall sprechen.«
»Ich gebe ihm Bescheid.« Rene schloss die Hände um den Griff des Rollwagens. »Viel Glück heute Abend im Fernsehen.«
»Sagen Sie ihm auch, ich hätte ihm die Fotos vom Fundort bereits abgespeichert. Allerdings schaffe ich es erst morgen, das Autopsieprotokoll zu diktieren und ihm die Fotos zu mailen.«
»Ich habe die Vorankündigungen für die Sendung gesehen. Klingt gut.« Rene hatte sich offenbar auf das Thema Fernsehen eingeschossen. »Nur diese Carley Crispin kann ich nicht ausstehen. Wie heißt noch mal der Profiler, der auch ständig dabei ist? Dr. Agee. Außerdem habe ich es satt, dass es immer nur um Hannah Starr geht. Ich wette, Carley wird Sie danach fragen.«
»Bei CNN weiß man, dass ich nicht über laufende Ermittlungen spreche.«
»Glauben Sie auch, dass sie tot ist? Ich bin mir nämlich ziemlich sicher.« Renes Stimme folgte Scarpetta in den Aufzug. »So wie diese Frau in Aruba? Natalee? Leute verschwinden nur aus einem ganz bestimmten Grund, und zwar, weil andere Leute es so wollen.«
Man hatte Scarpetta zugesichert, dass es nicht dazu kommen würde. Das würde Carley Crispin niemals wagen. Schließlich war Scarpetta nicht irgendeine Expertin, eine Außenstehende, ein selten geladener Gast oder irgendjemandes Sprachrohr, hielt sie sich während der Fahrt im Aufzug vor Augen. Sie war die oberste forensische Analystin bei CNN und hatte dem Produzenten Alex Bachta unmissverständlich klargemacht, dass sie sich nicht über Hannah Starr äußern, ja, nicht einmal ihren Namen erwähnen würde. Die attraktive und erfolgreiche Finanzberaterin hatte sich am Tag nach Thanksgiving in Luft aufgelöst. Zuletzt war sie beobachtet worden, wie sie ein Restaurant in Greenwich Village verließ und in ein Taxi stieg. Falls sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten, dass sie ermordet worden war, und ihre Leiche in New York City aufgefunden wurde, war die hiesige Gerichtsmedizin dafür zuständig. Also bestand die Möglichkeit, dass die Leiche auf Scarpettas Autopsietisch landete.
Im Parterre stieg Scarpetta aus dem Aufzug und ging, vorbei am Büro für Sondereinsätze, den langen Flur entlang. Hinter einer weiteren verschlossenen Tür befand sich die Vorhalle. Sie war mit weinrot und blau bezogenen Sofas und Sesseln, Couchtischen und Zeitschriftenständern ausgestattet. Vor einem Fenster mit Blick auf die First Avenue standen ein Weihnachtsbaum und eine Menora. In den Marmor über dem Empfangstisch waren die Worte Taceant Colloquia Efugial Risus Hic Locus Est Ugbi Mors Gaudet Succurrere Vitae eingemeißelt - der Ort, wo der Tod seine Freude daran hat, den Lebenden zu helfen. Ein Radio hinter dem Empfangstisch spielte Musik. Die Eagles sangen »Hotel California«. Filene, eine Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes, hatte offenbar beschlossen, dass die menschenleere Vorhalle ihr Revier war und deshalb mit Musik nach ihrem Geschmack beschallt werden konnte.
»... You can check out anytime but you can never leave - Man kann jederzeit auschecken, aber man kommt nicht weg«, summte Filene leise mit, anscheinend ohne sich der Ironie bewusst zu sein.
»Es wartet jemand im Zimmer für die Angehörigen.« Scarpetta blieb am Empfangstisch stehen.
»Oh, Verzeihung.« Filene bückte sich, um das Radio auszuschalten. »Ich glaube, von hier aus war es nicht zu hören. Aber es ist schon in Ordnung. Ich kann auch ohne meine Musik leben. Es ist nur so langweilig hier, wissen Sie? Den ganzen Tag sitzt man herum, und nichts passiert.«
Dass Filene hier ausschließlich unschöne Dinge zu sehen bekam, war vermutlich eher als Langeweile der Grund, warum sie sich so oft wie möglich mit aufmunterndem Softrock tröstete, ganz gleich, ob sie nun am Empfang oder unten in der Autopsie Dienst hatte. Scarpetta störte das nicht, solange keine trauernden Angehörigen von Musik oder Liedtexten belästigt wurden, die man als provokativ oder pietätlos auslegen konnte.
»Sagen Sie Mrs. Da rien, dass ich gleich bei ihr bin«, wies Scarpetta sie an. »Ich brauche etwa eine Viertelstunde, um etwas nachzuschauen und mir die Formulare anzusehen. Und keine Musik, bis sie wieder weg ist, einverstanden?«
Von der Vorhalle ging der Verwaltungstrakt ab, den Scarpetta mit Dr. Edison, zwei Sekretärinnen und der Personalchefin teilte, die bis nach Silvester auf Hochzeitsreise sein würde. Da das Gebäude ein halbes Jahrhundert alt und ziemlich beengt war, hatte der Platz nicht gereicht, um Scarpetta im zweiten Stock unterzubringen, wo die festangestellten Forensiker ihre Büros hatten. Wenn sie in der Stadt war, benutzte sie deshalb den ehemaligen Konferenzsaal des Chief Medical Examiner im Parterre, mit Blick auf den mit türkisfarbenen Backsteinen eingefassten Eingang des Gerichtsmedizinischen Instituts in der First Avenue. Sie entriegelte die Tür und trat ein. Nachdem sie ihren Mantel aufgehängt und ihren Essenskarton auf den Tisch gestellt hatte, setzte sie sich an den Computer.
Sie ging ins Internet und gab BioGraph in das Suchfeld ein. Am oberen Bildschirmrand erschien eine Frage: Meinten Sie BioGraphy? Nein, Fehlanzeige. Biograph Records war auch nicht das, was sie interessierte. American Mutoscope and Biograph Company war das älteste Filmstudio in den Vereinigten Staaten, gegründet im Jahr 1895 von einem Erfinder, der für Thomas Edison gearbeitet hatte. Dieser war, ein interessanter Zufall, ein entfernter Verwandter des Chief Medical Examiner. Unter dem Begriff BioGraph mit großem B und großem G war nichts zu finden. Und genau dieses Wort war auf die Rückseite der ungewöhnlichen Uhr eingraviert, die Toni Da rien bei ihrer Einlieferung an diesem Morgen am linken Handgelenk getragen hatte.
Übersetzung: Karin Dufner
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Bereits um sechs war sie zur Arbeit gegangen, um rechtzeitig fertig zu werden. Deshalb hatte sie die ersten beiden Autopsien schon um neun erledigt und sich die schwierigste bis zum Schluss aufgespart - eine junge Frau mit sonderbaren Verletzungen, die nicht nur zeitaufwendig waren, sondern ihr einige Rätsel aufgaben. Über fünf Stunden lang musste Scarpetta sich mit Toni Da riens Leiche befassen, detailgetreue Zeichnungen anfertigen, sich ausführliche Notizen machen, Dutzende von Fotos schießen und das gesamte Gehirn für spätere Untersuchungen in einem Behälter mit Formalin konservieren. Sie hatte mehr Röhrchen mit Flüssigkeiten, Organ- und Gewebeproben sichergestellt als üblich und alles, was möglich war, aufbewahrt und dokumentiert, da ihr dieser Fall äußerst merkwürdig erschien. Und zwar nicht wegen der ungewöhnlichen Umstände, sondern wegen seiner Widersprüchlichkeiten.
Die Art und Weise, wie die junge Frau zu Tode gekommen war, wirkte bedrückend alltäglich, weshalb sich eine langwierige Obduktion zur Klärung der grundlegenden Fragen erübrigt hatte. Sie war durch Gewalteinwirkung mit einem stumpfen Gegenstand getötet worden - ein einziger Schlag auf den Hinterkopf mit einem vermutlich bunt lackierten Objekt. Allerdings ergab sonst nichts einen Sinn. Beim Auffinden der Toten kurz vor Morgengrauen am Rand des Central Park, etwa zehn Meter entfernt vom Anfang der East Hundred-tenth Street, hatte man angenommen, sie sei am Vorabend im Regen joggen gegangen und dabei überfallen, vergewaltigt und ermordet worden. Der Täter hatte ihr die Jogginghose und den Slip bis zu den Knöcheln heruntergezogen und Vliespulli und Sport-BH über die Brüste geschoben. Wegen des PolatechSchals, der mit einem Doppelknoten fest um ihren Hals geschlungen war, hatten die Polizisten und die Mitarbeiter der Gerichtsmedizin, die zuerst am Tatort eingetroffen waren, angenommen, dass der Mörder sie mit einem ihrer eigenen Kleidungsstücke erdrosselt hatte.
Aber das war ein Irrtum. Bei der Untersuchung der Leiche in der Gerichtsmedizin hatte Scarpetta keinerlei Hinweise darauf finden können, dass es sich bei dem Schal um die Mordwaffe handelte oder dass er zumindest zum Tod des Opfers beigetragen hatte. Es gab weder Anzeichen für Ersticken noch körperliche Reaktionen wie Rötungen oder Blutergüsse, nur eine trockene Abschürfung am Hals, als habe man ihr den Schal erst nach ihrem Tod umgebunden. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass der Täter ihr zuerst auf den Kopf geschlagen und sie in dem Glauben, dass sie noch lebte, anschließend erwürgt hatte. Doch wie viel Zeit hatte er in diesem Fall mit ihr verbracht? Nach der Verletzung, Schwellung und Einblutung im Kortex zu urteilen, war sie noch eine Zeitlang, vielleicht sogar einige Stunden, am Leben geblieben. Und dennoch war der Fundort nahezu frei von Blut. Erst beim Umdrehen der Leiche war die Wunde am Hinterkopf bemerkt worden, eine fünf Zentimeter lange, stark geschwollene Verletzung, aus der jedoch kaum Flüssigkeit austrat. Das Fehlen von Blut schob man auf den Regen.
Allerdings hatte Scarpetta ernsthafte Zweifel an dieser Theorie. Der Riss in der Kopfhaut hatte gewiss heftig geblutet, weshalb es ziemlich unwahrscheinlich war, dass der Regen, eigentlich eher ein Nieseln, fast das gesamte Blut aus Tonis langem, dichtem Haar herausgespült haben sollte. Hatte der Angreifer ihr zuerst einen Schädelbruch verpasst, sich dann in einer regnerischen Winternacht stundenlang mit ihr im Freien aufgehalten und ihr zu guter Letzt den Schal fest um den Hals geschnürt, um sicherzugehen, dass sie ihn nicht verriet? Oder war das Würgen Teil eines sexuellen Gewaltrituals? Warum wollten sowohl Totenflecken als auch Totenstarre so gar nicht zu den Bedingungen am Fundort passen? Offenbar war die Frau spät in der vergangenen Nacht im Park umgebracht worden - und dennoch machte sie den Eindruck, als sei sie schon seit mindestens sechsunddreißig Stunden tot. Scarpetta verstand die Welt nicht mehr. Vielleicht sah sie ja auch Gespenster oder konnte nicht mehr klar denken, weil sie sich gehetzt fühlte und ihr Blutzuckerspiegel bedenklich niedrig lag. Schließlich hatte sie den ganzen Tag noch nichts gegessen, aber dafür jede Menge Kaffee getrunken.
Und nun würde sie auch noch zu spät zu der für drei Uhr angesetzten Dienstbesprechung kommen. Außerdem musste sie um sechs zu Hause sein, um ins Fitnessstudio und anschließend mit ihrem Mann Benton Wesley zum Essen zu gehen. Danach würde sie auf schnellstem Wege zu CNN fahren, obwohl sie nicht die geringste Lust dazu verspürte. Sie hätte sich nie breitschlagen lassen dürfen, in 7he Crispin Report aufzutreten. Welcher Teufel hatte sie nur geritten, als sie sich einverstanden erklärt hatte, mit Carley Crispin vor die Kamera zu treten, um die Veränderungen der Haarstruktur nach dem Tod, die Bedeutung des Mikroskopierens und andere Gebiete der Forensik zu erörtern, die von der Öffentlichkeit ständig missverstanden wurden? Was einzig und allein die Schuld jener Branche war, zu der Scarpetta inzwischen selbst gehörte: der Unterhaltungsindustrie. Mit ihrem Mittagessen im Pappkarton marschierte sie durch die Anlieferungszone, wo überall Kisten und Schachteln voller Büromaterial und bei der Autopsie benötigten Utensilien sowie Karren, Rollwagen aus Metall und Pressspanplatten herumstanden. Der Wachmann in seiner Plexiglaskabine telefonierte gerade und würdigte sie kaum eines Blickes, als sie an ihm vorbeihastete.
Oben an der Rampe zog sie die Karte, die sie an einer Kordel um den Hals trug, durch ein Lesegerät, um die schwere Metalltür zu öffnen, und betrat ein weiß und petrolgrün gekacheltes, mit Geländern ausgestattetes Labyrinth, das überall und nirgendwo hinzuführen schien. In ihren Anfangstagen als Teilzeit-Gerichtsmedizinerin hatte Scarpetta sich ständig verlaufen und war in der Anthropologie anstatt in der Neuropathologie oder der Kardiopathologie, in der Herrenumkleide anstatt in der für Damen oder im Raum für verwesende Leichen anstatt im Autopsiesaal gelandet. Sie hatte die falsche Kühlkammer, das falsche Treppenhaus und manchmal sogar die falsche Etage erwischt, wenn sie den alten Lastenaufzug aus Stahl benutzte.
Allerdings hatte sie bald verstanden, welche Logik hinter dem Grundriss des Gebäudes steckte. Es handelte sich gewissermaßen um einen Rundweg, der in der mit einem gewaltigen Garagentor versehenen Anlieferungszone begann. Wenn der gerichtsmedizinische Transportdienst eine Leiche brachte, lud man die Bahre dort ab und schob sie durch einen Strahlendetektor. Wies kein Alarmsignal auf das Vorhandensein von radioaktivem Material hin, wie es Radiologen beispielsweise bei der Behandlung einiger Krebsarten verwendeten, war die nächste Haltestelle die im Boden eingelassene Waage, wo man die Leiche wog und vermaß. Die folgende Station hing vom Zustand des Toten ab. Ließ dieser zu wünschen übrig oder wurde er als Gefahr für die Lebenden eingestuft, brachte man den Verstorbenen in die Kühlkammer für verwesende Leichen gleich neben dem dazugehörigen Autopsieraum, wo man die Obduktion allein, unter besonderer Belüftung und mit Hilfe anderer Schutzmaßnahmen durchführen konnte.
Eine Leiche in guter Verfassung wurde einen Flur entlang geschoben, der rechts von der Anlieferungszone abging. Je nach Art der Verletzungen standen noch weitere Zwischenstopps auf dem Programm: das Röntgenlabor, der Lagerraum für Gewebeproben, zwei weitere Kühlkammern für noch nicht untersuchte Leichen, der Aufzug für diejenigen, die oben aufgebahrt und identifiziert werden mussten, Asservatenkammern, die Neuropathologie, die Kardiopathologie und zu guter Letzt der Autopsiesaal. Wenn die Leiche nach Abschluss dieses Rundwegs zur Bestattung freigegeben wurde, endete sie wieder an der Anlieferungszone, und zwar in einer Kühlkammer, wo nun auch Toni Da rien in einem Leichensack auf einem Regal hätte liegen sollen.
Doch die befand sich auf einem Rollwagen, der vor der Edelstahltür der Kühlkammer stand. Eine Assistentin war gerade damit beschäftigt, ein blaues Laken über sie zu breiten und es bis zum Kinn hochzuziehen.
»Was machen Sie da?«, fragte Scarpetta.
»Wir hatten oben eine kleine Szene. Sie wird aufgebahrt.« »Auf wessen Wunsch und warum?«
»Die Mutter ist in der Vorhalle und weigert sich, zu gehen, bevor sie sie gesehen hat. Keine Sorge, ich kümmere mich darum.« Die Assistentin hieß Rene, war Mitte dreißig und hatte schwarze Locken und dunkelbraune Augen. Außerdem besaß sie ein ungewöhnliches Talent im Umgang mit Angehörigen. Wenn in dieser Phase ein Problem aufgetreten war, handelte es sich sicher nicht um eine Kleinigkeit, denn Rene gelang es normalerweise, jede Situation zu entschärfen.
»Ich dachte, der Vater hätte sie bereits identifiziert«, wunderte sich Scarpetta.
»Nachdem er die Papiere ausgefüllt hatte, habe ich ihm das Foto gezeigt, das Sie mir gemailt hatten. Das war, bevor Sie in die Mensa gegangen sind. Kurz darauf erschien die Mutter, und die beiden haben sich in der Vorhalle gestritten. Das heißt, sie sind eher übereinander hergefallen, bis er wutentbrannt abgehauen ist.«
»Sind sie geschieden?«
»Sie hassen einander offenbar wie die Pest. Jetzt besteht die Mutter darauf, die Leiche zu sehen, und lässt sich nicht abweisen.« Renes in einem violetten Gummihandschuh steckende Hand strich der Toten eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn und steckte ihr weiteres Haar hinter die Ohren, um die Spuren der Autopsie zu tarnen. »Ich weiß, dass Sie in ein paar Minuten Dienstbesprechung haben. Ich erledige das schon.« Sie warf einen Blick auf den Pappkarton in Scarpettas Hand. »Sie haben ja noch nicht einmal gegessen. Haben Sie heute überhaupt etwas in den Magen gekriegt? Vermutlich nicht, so wie immer. Wie viel haben Sie inzwischen abgenommen? Sie werden noch in der Anthropologie landen, weil man Sie mit einem Skelett verwechselt.«
»Worüber haben sie sich denn in der Vorhalle gestritten?«, erkundigte sich Scarpetta.
»Bestattungsinstitute. Die Mutter möchte eines auf Long Island beauftragen, der Vater beharrt auf New Jersey. Die Mutter will eine Beerdigung, aber die Vater besteht darauf, sie einäschern zu lassen. Die beiden haben sich wegen ihr gezankt.« Sie berührte wieder die Tote, als könne sie am Gespräch teilnehmen. »Dann haben sie einander alle möglichen Anschuldigungen an den Kopf geworfen. Sie haben so einen Radau veranstaltet, dass sogar Dr. Edison aus seinem Büro gekommen ist.«
Dr. Edison war der Chief Medical Examiner und Scarpettas Vorgesetzter, wenn sie in der Stadt war. Da sie den Großteil ihrer beruflichen Laufbahn selbst Chief Medical Examiner oder Inhaberin einer Privatpraxis gewesen war, fiel es ihr ein wenig schwer, sich einem Vorgesetzten unterzuordnen. Andererseits hätte sie niemals Leiterin der New Yorker Gerichtsmedizin sein wollen, selbst wenn man ihr je diesen Posten angetragen hätte. Einer derart riesigen Behörde vorzustehen war, als wäre man Oberbürgermeisterin einer Großstadt.
»Tja, Sie kennen ja die Vorschriften«, sagte Scarpetta. »Solange sich die beiden nicht einig sind, bleibt die Leiche hier und wird nur auf Anweisung der Rechtsabteilung freigegeben. Was ist eigentlich passiert, als Sie der Mutter das Foto gezeigt haben?«
»Ich habe es versucht, aber sie hat sich geweigert, es anzuschauen. Sie beharrt darauf, ihre Tochter zu sehen. Vorher geht sie nicht.«
»Ist sie im Raum für die Angehörigen?«
»Dorthin habe ich sie zumindest gebracht. Die Akte und Kopien der Formulare liegen auf Ihrem Schreibtisch.«
»Danke. Ich werfe einen Blick hinein, wenn ich oben bin. Sie schieben die Leiche in den Aufzug, und ich kümmere mich um den Rest«, erwiderte Scarpetta. »Wären Sie so gut, Dr. Edison auszurichten, dass ich es nicht zur Dienstbesprechung schaffe? Sie hat sowieso schon angefangen. Hoffentlich erwische ich ihn noch, bevor er Feierabend macht. Ich muss mit ihm über diesen Fall sprechen.«
»Ich gebe ihm Bescheid.« Rene schloss die Hände um den Griff des Rollwagens. »Viel Glück heute Abend im Fernsehen.«
»Sagen Sie ihm auch, ich hätte ihm die Fotos vom Fundort bereits abgespeichert. Allerdings schaffe ich es erst morgen, das Autopsieprotokoll zu diktieren und ihm die Fotos zu mailen.«
»Ich habe die Vorankündigungen für die Sendung gesehen. Klingt gut.« Rene hatte sich offenbar auf das Thema Fernsehen eingeschossen. »Nur diese Carley Crispin kann ich nicht ausstehen. Wie heißt noch mal der Profiler, der auch ständig dabei ist? Dr. Agee. Außerdem habe ich es satt, dass es immer nur um Hannah Starr geht. Ich wette, Carley wird Sie danach fragen.«
»Bei CNN weiß man, dass ich nicht über laufende Ermittlungen spreche.«
»Glauben Sie auch, dass sie tot ist? Ich bin mir nämlich ziemlich sicher.« Renes Stimme folgte Scarpetta in den Aufzug. »So wie diese Frau in Aruba? Natalee? Leute verschwinden nur aus einem ganz bestimmten Grund, und zwar, weil andere Leute es so wollen.«
Man hatte Scarpetta zugesichert, dass es nicht dazu kommen würde. Das würde Carley Crispin niemals wagen. Schließlich war Scarpetta nicht irgendeine Expertin, eine Außenstehende, ein selten geladener Gast oder irgendjemandes Sprachrohr, hielt sie sich während der Fahrt im Aufzug vor Augen. Sie war die oberste forensische Analystin bei CNN und hatte dem Produzenten Alex Bachta unmissverständlich klargemacht, dass sie sich nicht über Hannah Starr äußern, ja, nicht einmal ihren Namen erwähnen würde. Die attraktive und erfolgreiche Finanzberaterin hatte sich am Tag nach Thanksgiving in Luft aufgelöst. Zuletzt war sie beobachtet worden, wie sie ein Restaurant in Greenwich Village verließ und in ein Taxi stieg. Falls sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten, dass sie ermordet worden war, und ihre Leiche in New York City aufgefunden wurde, war die hiesige Gerichtsmedizin dafür zuständig. Also bestand die Möglichkeit, dass die Leiche auf Scarpettas Autopsietisch landete.
Im Parterre stieg Scarpetta aus dem Aufzug und ging, vorbei am Büro für Sondereinsätze, den langen Flur entlang. Hinter einer weiteren verschlossenen Tür befand sich die Vorhalle. Sie war mit weinrot und blau bezogenen Sofas und Sesseln, Couchtischen und Zeitschriftenständern ausgestattet. Vor einem Fenster mit Blick auf die First Avenue standen ein Weihnachtsbaum und eine Menora. In den Marmor über dem Empfangstisch waren die Worte Taceant Colloquia Efugial Risus Hic Locus Est Ugbi Mors Gaudet Succurrere Vitae eingemeißelt - der Ort, wo der Tod seine Freude daran hat, den Lebenden zu helfen. Ein Radio hinter dem Empfangstisch spielte Musik. Die Eagles sangen »Hotel California«. Filene, eine Mitarbeiterin des Sicherheitsdienstes, hatte offenbar beschlossen, dass die menschenleere Vorhalle ihr Revier war und deshalb mit Musik nach ihrem Geschmack beschallt werden konnte.
»... You can check out anytime but you can never leave - Man kann jederzeit auschecken, aber man kommt nicht weg«, summte Filene leise mit, anscheinend ohne sich der Ironie bewusst zu sein.
»Es wartet jemand im Zimmer für die Angehörigen.« Scarpetta blieb am Empfangstisch stehen.
»Oh, Verzeihung.« Filene bückte sich, um das Radio auszuschalten. »Ich glaube, von hier aus war es nicht zu hören. Aber es ist schon in Ordnung. Ich kann auch ohne meine Musik leben. Es ist nur so langweilig hier, wissen Sie? Den ganzen Tag sitzt man herum, und nichts passiert.«
Dass Filene hier ausschließlich unschöne Dinge zu sehen bekam, war vermutlich eher als Langeweile der Grund, warum sie sich so oft wie möglich mit aufmunterndem Softrock tröstete, ganz gleich, ob sie nun am Empfang oder unten in der Autopsie Dienst hatte. Scarpetta störte das nicht, solange keine trauernden Angehörigen von Musik oder Liedtexten belästigt wurden, die man als provokativ oder pietätlos auslegen konnte.
»Sagen Sie Mrs. Da rien, dass ich gleich bei ihr bin«, wies Scarpetta sie an. »Ich brauche etwa eine Viertelstunde, um etwas nachzuschauen und mir die Formulare anzusehen. Und keine Musik, bis sie wieder weg ist, einverstanden?«
Von der Vorhalle ging der Verwaltungstrakt ab, den Scarpetta mit Dr. Edison, zwei Sekretärinnen und der Personalchefin teilte, die bis nach Silvester auf Hochzeitsreise sein würde. Da das Gebäude ein halbes Jahrhundert alt und ziemlich beengt war, hatte der Platz nicht gereicht, um Scarpetta im zweiten Stock unterzubringen, wo die festangestellten Forensiker ihre Büros hatten. Wenn sie in der Stadt war, benutzte sie deshalb den ehemaligen Konferenzsaal des Chief Medical Examiner im Parterre, mit Blick auf den mit türkisfarbenen Backsteinen eingefassten Eingang des Gerichtsmedizinischen Instituts in der First Avenue. Sie entriegelte die Tür und trat ein. Nachdem sie ihren Mantel aufgehängt und ihren Essenskarton auf den Tisch gestellt hatte, setzte sie sich an den Computer.
Sie ging ins Internet und gab BioGraph in das Suchfeld ein. Am oberen Bildschirmrand erschien eine Frage: Meinten Sie BioGraphy? Nein, Fehlanzeige. Biograph Records war auch nicht das, was sie interessierte. American Mutoscope and Biograph Company war das älteste Filmstudio in den Vereinigten Staaten, gegründet im Jahr 1895 von einem Erfinder, der für Thomas Edison gearbeitet hatte. Dieser war, ein interessanter Zufall, ein entfernter Verwandter des Chief Medical Examiner. Unter dem Begriff BioGraph mit großem B und großem G war nichts zu finden. Und genau dieses Wort war auf die Rückseite der ungewöhnlichen Uhr eingraviert, die Toni Da rien bei ihrer Einlieferung an diesem Morgen am linken Handgelenk getragen hatte.
Übersetzung: Karin Dufner
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Patricia Cornwell
Patricia Cornwell, geboren 1956 in Miami, arbeitete als Gerichtsreporterin und Computerspezialistin in der forensischen Medizin, bevor sie mit ihren Thrillern um Kay Scarpetta internationale Erfolge feierte und mit hohen literarischen Auszeichnungen bedacht wurde. Die Autorin lebt derzeit in New York und Florida.
Bibliographische Angaben
- Autor: Patricia Cornwell
- 576 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005765
- ISBN-13: 9783868005769
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