Schab nix gemacht!
Geschichten aus der Hauptschule
Seinen Job als Hauptschullehrer nimmt Kai Lange mit Humor - auch wenn es im Alltag stets gilt, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die lustigsten und aberwitzigsten Erlebnisse schildert er hier: Da ist z.B. Akin, der nach vier Jahren Englischunterricht...
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Produktinformationen zu „Schab nix gemacht! “
Seinen Job als Hauptschullehrer nimmt Kai Lange mit Humor - auch wenn es im Alltag stets gilt, einen kühlen Kopf zu bewahren. Die lustigsten und aberwitzigsten Erlebnisse schildert er hier: Da ist z.B. Akin, der nach vier Jahren Englischunterricht immer noch glaubt, "I would" heiße auf Deutsch "Ich bin wütend".
Klappentext zu „Schab nix gemacht! “
Obwohl die Schüler sein Nervenkostüm oft sehr strapazieren, gibt es für Kai Lange keinen schöneren Beruf, als Lehrer zu sein. Zwar gilt es, nicht zu verzweifeln, wenn man jede Pause erneut herausfinden soll, wer denn nun zuerst "Hurensohn" gesagt hat. Oder wenn Schüler Akin nach vier Jahren Englischunterricht immer noch glaubt, "I would" heiße auf Deutsch "Ich bin wötend". Aber Kai Lange nimmt seinen Job mit Humor. Seit Jahren notiert er sich die ebenso aberwitzigen wie lustigen Geschichten, die er tagtäglich erlebt. So schafft er es nicht nur, im Chaos des Alltags einen kühlen Kopf zu bewahren, sondern auch, seinen Schülern tatsächlich etwas beizubringen.
Lese-Probe zu „Schab nix gemacht! “
Schab nix gemacht von Kai Lange Vorneweg
Wer sich dieser Tage in der Kneipe als Hauptschullehrer outet, erntet nicht selten betretenes Schweigen oder offen geäußertes Mitleid. Durch die Darstellung der Hauptschule als ungeliebte pädagogische Sackgasse, als Hort der Perspektivlosigkeit und Aggressivität hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung wohl auch das Bild des Lehrers verändert. Dieser wird nicht mehr um seinen vermeintlich gut bezahlten Halbtagsjob beneidet, sondern dieser Beruf scheint, wie ein Schulleiter schon vor Jahren schrieb, zur Diagnose geworden zu sein.
Andererseits stellte ich in vielen Gesprächen fest, wie wenig wirklich nach außen dringt vom Innenleben einer Hauptschule. Wie oft sahen mich Freunde schon fassunsglos an, wenn ich Geschichten vom Vormittag zum Besten gab. Außerhalb des Mikrokosmos Hauptschule kann man sich kaum vorstellen, was wir Hauptschullehrer tagtäglich erleben. »Das glaubt uns keiner« ist sicher einer der meistvernommenen Sprüche im Kollegium.
Daraus erwuchs die Idee, diese gesammelten Erlebnisse zu veröffentlichen.
Die kleinen Geschichten dieses Buches handeln von dem, worüber im Lehrerzimmer gesprochen wird. Sie sind eine Aneinanderreihung von Geschehnissen, die uns tagtäglich überfallen: aus dem Ruder gelaufene Unterrichtstunden, groteske Schüleräußerungen oder bewegende Einblicke in deren Welten mit ihren eigenen Regeln und ihrer eigenen Logik. Daneben findet sich ein kleiner Ausflug in mein Referendariat, die Schilderung meiner ersten Gehversuche als Lehrer sowie außergewöhnliche Klassenfahrtserlebnisse.
... mehr
Es ist die - überwiegend lustige - Welt der Hauptschule, mit Anekdoten, die nicht aus Verbitterung gesammelt und aufgeschrieben wurden, sondern aus einer Faszination für die Einzigartigkeit des Lehrerberufs.
Dennoch war Kollege Zweifel während des Schreibens mein ständiger Begleiter. Schließlich ist die Grenze zwischen einem gesunden Erfreuen an den Unzulänglichkeiten anderer und reinem Verhöhnen fließend. Daher hoffe ich sehr, dass dieses Buch nicht als Abrechnung aufgefasst wird.
Das Leben vieler unserer Schüler ist geprägt von chaotischen Familienverhältnissen, überforderten und desinteressierten Eltern oder dürftigen Deutschkenntnissen. Es liegt mir fern, diese Kinder und Jugendlichen bloßzustellen. Aber es sind - man kann es drehen, wie man will - im Großen und Ganzen schlichte Gemüter, mit denen wir es zu tun haben. Und diese Tragik hat immer wieder amüsante Anekdoten im Gepäck, nicht zuletzt deshalb, weil auch wir Lehrer unter diesen erschwerten Bedingungen Tag für Tag zu bestehen haben. Wer heute in einer städtischen Hauptschule unterrichtet, wird sich zwischen Lachen und Weinen entscheiden müssen. Letzteres ist vielleicht besser für das pädagogische Gewissen, aber auf die Dauer ungesund.
Bekanntermaßen haben Pubertierende ziemlich viel Matsch im Kopf. Dies sollte beim Lesen berücksichtigt und die Geschichten als Momentaufnahmen betrachtet werden. Nicht selten kommt nämlich die Vernunft, die in den Flegeljahren ein Schattendasein führt, nach und nach wieder ans Tageslicht.
Wer sich darüber empört, dass hier die große Gruppe von Hauptschülern in eine Schublade mit der Aufschrift »Zum Auslachen freigegeben« gesteckt wird, sei daran erinnert, dass wir uns regelmäßig völlig undifferenziert über ganze Personengruppen echauffieren, allen voran über die an ihren Sesseln klebenden Politiker. Aber auch die überbezahlten Fußballprofi s, die gierigen Banker, die Jugend von heute oder auch nur die da oben, die sowieso immer machen, was sie wollen, sind Opfer einer Gleichmacherei, die nur ein Ziel kennt: das Ärgern oder Amüsieren zu vereinfachen.
An dieser Stelle ein wichtiger Hinweis: Konfessionelle Hauptschulen stehen meines Wissens besser da, und auf dem Lande gehen die Uhren auch anders. Ich habe schon von ländlichen Hauptschulen gehört, auf denen das Niveau so hoch sein soll, dass nahe gelegene Betriebe Schlange stehen, um Absolventen einstellen zu dürfen. Die Geschichten dieses Buches handeln dagegen alle von Erlebnissen an städtischen Hauptschulen in Brennpunktstadtteilen Nordrhein-Westfalens.
Auch wenn das Leistungsniveau im Vergleich zu anderen Schulformen sehr, sehr, sehr schwach ist, so sei darauf hingewiesen, dass auch hier so einiges klappt. Es gibt ihn, den harmonisch verlaufenden Unterricht, das wirkungsvolle erzieherische Gespräch oder den erfolgreichen Schulabschluss. Und selbst Chaoten, die fast jeden Tag verspätet in den Unterricht platzen, absolvieren erfolgreich ihr Betriebspraktikum.
Aber Gelungenes ist nun einmal selten komisch. Was ist schon interessant an einer gut ausgefallenen Klassenarbeit? Geht man ins Kabarett, um zu hören, was funktioniert? Nein, Spaß macht, was danebengeht, und speziell uns Hauptschullehrern bringt das Lachen den nötigen Abstand, um nicht zu fatalistisch in die Bildungswelt zu blicken. Mit anderen Worten: Wir müssen lachen. Aus einem gesunden Selbsterhaltungstrieb heraus. An allen vier Hauptschulen, an denen ich bisher unterrichtet habe, hat sich das Kollegium über seine Schüler amüsiert. Wer will, kann das Schadenfreude nennen. Für uns Hauptschullehrer ist es Teil einer Überlebensstrategie und kann eine geradezu therapeutische Wirkung entfalten. Und so wird in jeder großen Pause über die eigenen Schüler gelacht und gelästert, gequatscht und gequengelt, dass es nur so eine Freude ist.
Alle Geschichten, in denen ein außergewöhnlicher Wortlaut oder Dialog den Kern des Geschehens bildet, sind wahr und nach bestem Wissen und Gewissen niedergeschrieben. Die Erlebnisse, die mir von Kollegen zugetragen wurden, sind absolut glaubwürdig. Bei Situationen, an die ich mich nicht hundertprozentig erinnere, habe ich sinngemäße beziehungsweise sehr wahrscheinliche Äußerungen eingefügt, die den Kern der Geschichte unverfälscht wiedergeben.
Alle Namen sind geändert. Um jedoch authentisch zu bleiben, sind deutsche Namen deutsch und türkische Namen türkisch geblieben.
Auch ich heiße eigentlich anders. Diese Vorsichtsmaßnahme liegt darin begründet, dass die Schulbehörden (die da oben!) selbst bei berechtigter Kritik die ihnen unterstellten Beamten sofort der Illoyalität verdächtigen und ausgesprochen phantasielos reagieren. Aber - wie hoffentlich nicht nur zwischen den Zeilen zu lesen sein wird - ich mag meine Schüler sehr, so wie ich meinen Beruf sehr mag und ihn deswegen noch lange ausüben möchte. Ich will nichts anderes sein.
Möge sich dies in den Geschichten widerspiegeln.
Ein Ausflug
Langweilig ist es, auf einer kleinen Verkehrsinsel inmitten einer viel befahrenen, vierspurigen Ausfallstraße auf die Straßenbahn zu warten. Das ändert sich schlagartig, wenn man Aufsichtsperson einer zwanzigköpfigen 5. Hauptschulklasse ist, die mit dieser Bahn zum Okidokiland, einem Indoor- Spielplatz, fahren will. Die Tatsache, dass der kleine Momodou den Bülent nicht vor den Lkw geschubst hat, sondern nur so getan hat, ist ihm hoch anzurechen, obwohl er ja von Ersterem als Hurensohn bezeichnet wurde. Ausgangspunkt des Streits war der Fahrplan einer ganz anderen Bahnlinie, den sich Momodou als Erstes angesehen hatte, weswegen er also zuerst da war, und deshalb kann Bülent sich ja nicht einfach vordrängeln, der Spasti. Ich habe ihn sorgfältig zusammengebrüllt, den Momodou, allerdings konnte ich den genauen Tathergang nicht rekonstruieren, da in dem Moment Matthew Samantha das Handy weggenommen hatte und diese sich bei mir lautstark von links beschwerte, während Sabrina mir von rechts seit fünf Minuten mit stoischer Ruhe und kindlicher Begeisterung von ihren Erlebnissen im Duisburger Zoo und den dortigen Imbisspreisen berichtete.
Wenn man Glück hat wie wir an diesem Tag, ist eine Klasse fast allein in der Straßenbahn. Nachdem ich alle Fahrscheingeschäfte mit dem Bahnfahrer erledigt hatte, legten wir beide ohne jede vorherige Absprache los. Er nahm das Mikrofon und erklärte, er könne uns zwar ins Okidoki-Kinderland bringen, aber das sei wegen Umbaumaßnahmen geschlossen. Lähmendes Entsetzen.
Ich beruhigte die Klasse durch zwei Vorschläge, von denen sie einen auswählen durften. Für alle hörbar mutmaßte ich, dass trotz der Baustellenatmosphäre im Okidokiland dort sicher noch ein kleiner Raum zu betreten sei, der es uns erlauben würde, ein Diktat mit dem Schwerpunkt Fremdwörter zu schreiben. Andernfalls könnten wir bei der nächsten Haltestelle, nämlich am Thyssen-Werksgelände, Tor 3, aussteigen und Pilze sammeln.
Beides wurde abgelehnt.
Natürlich durchschauten uns nach kurzer Zeit die meisten, aber letzte Zweifel blieben -, und die Fahrt verlief ungewöhnlich ruhig. Kurz darauf kamen wir an. Welche Erleichterung spiegelte sich in ihren Augen! Wie ergreifend waren die Stürme der Begeisterung, als sie die Halle betraten! Einfach wundervoll! Und gepaart mit diesen skeptisch grinsenden Kindergesichtern, in denen sich während der zwölfminütigen Bahnfahrt tiefe Unsicherheit gespiegelt hatte: unbezahlbar!
Es gibt Momente, in denen habe ich den schönsten Beruf der Welt.
Ein lehrreicher Tag
Im April des Jahres 2001 war ich noch recht neu auf der Schule und ziemlich grün hinter den Ohren. Das sollte als Begründung reichen, warum ich mich mit Freude bereit erklärt hatte, die Fußball-AG der Großen zu übernehmen. Es war eine Gruppe von sechzehn Jungs, davon drei Deutsche, die zwar nicht integriert, aber in Ruhe gelassen wurden.
Schon in der ersten Stunde begann das, was, wie ich später erfahren sollte, seit Jahren immer mal wieder passiert, wenn verzogene Machos miteinander Fußball spielen. Ich erlaube mir abzukürzen: Querpass, Zweikampf, Körpereinsatz, Foul oder nicht Foul, Kurde, Türke, stolz, Kurde zu sein, stolz, Türke zu sein, ich werde immer Türke sein, behindert, schwul, sag das noch mal, Spasti, Mutter, Vater, Hurensohn, Mutter ficken, Vater ficken, Schwester ficken, gesamte Großfamilie ficken ... und dann fliegen eben die Fäuste. Gürkan und Hüseyin hatten sich gegenseitig im Schwitzkasten, die anderen standen drum herum. Es waren zwei lange Kerle, und ich kam gehörig ins Schwitzen, als ich sie auseinanderzog. Ich schickte Hüseyin vorzeitig in die Kabine und ließ die anderen zwecks Moralpredigt auf der Turnhallenbank Platz nehmen. Fast alle schwiegen betreten, nur zwei von ihnen murmelten »Kurde« und »Türke« vor sich hin. Es wurde noch ein bisschen gekickt, aber die Stimmung war gedrückt.
Zurück im Lehrerzimmer erstattete ich den anwesenden Kollegen ungefragt Bericht: »Mann, Mann, Mann! Meine erste AG-Stunde. Und sofort 'ne Klopperei!«
Aus irgendeiner Ecke kam: »Wer denn?«
»Hüseyin gegen Gürkan«, antwortete ich.
Nun blickte Bernd amüsiert über seine Lesebrille hoch und stellte mir die Frage, die mein persönliches Berufsbild stark prägen sollte. Er fragte nicht, ob ich über eine Klassenkonferenz nachdächte. Er war auch nicht daran interessiert, wie es zu der Schlägerei gekommen war. Er wunderte sich auch nicht über meine Aufgelöstheit. Er fragte nur: »Wer hat denn gewonnen?«
Das war das Einzige, was ihn interessierte. Obwohl, eigentlich interessierte ihn nicht einmal das. Sein Vorteil war, dass er beide Jungen schon jahrelang kannte. Wie oft wird er wohl über friedliche Konfliktbewältigung, anständiges Benehmen, Schulordnung, Nationalstolz, Ehre und Respekt mit ihnen gesprochen haben? Bernd wusste, dass weder Gürkan noch Hüseyin auf unserer Schule zu helfen war. Sie waren unerzogen, respekt- und distanzlos uns Lehrern gegenüber. Beide waren schwache Schüler mit ungebildeten, desinteressierten Eltern. Im Schulleben hatten sie seit der 6. Klasse kaum Produktives hervorgebracht. Was konnten sie also vorweisen, auf das sie hätten stolz sein können? Und so war der eine eben stolz, Kurde zu sein, und der andere war stolz, Türke zu sein. Die Frage »Wer hat denn gewonnen?« zeigte Bernds jahrzehntelange Erfahrung als Hauptschullehrer. Die Gründe für Schlägereien sind in der Regel bekannt oder egal. Und wenn sich zwei an die Köpfe kriegen, die sich an die Köpfe kriegen wollen, muss die Überlebensstrategie des Hauptschullehrers greifen: Gelassenheit und Energiespartrieb. Wenn es ausartet, kann man immer noch die Polizei rufen.
An diesem Tag habe ich viel gelernt.
Einführungsveranstaltung
Zu Beginn meines ersten Arbeitstages musste ich erst mal die Werkstatt fegen, um mich an den Betrieb zu gewöhnen.«
Mit diesem wundervollen, an Friedfertigkeit nicht zu überbietenden Satz beginnt Thabitis erster Tagesbericht in seiner Praktikumsmappe. Zur Information: Der Junge ist ein echter Wüterich, der in seiner Klasse durch vieles auffällt, aber gewiss nicht durch Fegen. Dass er dieses Niveau nicht würde halten können, war klar, und seine Mappe wurde schließlich mit »ausreichend« bewertet. Aber dass es die schönste Einleitung aller Mappen sein würde, dessen war ich mir schon beim Lesen sicher. Und dabei schrieb Thabiti wahrscheinlich sogar »durfte« statt »musste«, aber ich habe vergessen es zu notieren und möchte unbedingt bei der Wahrheit bleiben.
Hall of Fame der Schülerphrasen
Ab jetzt lern ich immer!
Also, was sollen wir jetzt machen?
Bring ich morgen mit.
Das alles?
Das geht nicht.
Das hatten wir noch nie!
Das steht hier nicht.
Da war ich nicht da.
Der Bus kam zu spät.
Der hat angefangen!
Der Wievielte ist?
Dings.
Fertig!
Haben Sie heute schlechte Laune?
Hab ich vergessen.
Hab verschlafen.
Hat einer 'n Blatt?
Ich dachte, Sport fällt aus.
Ich hab nix gemacht!
Ich hab ein bisschen gelernt.
Ich hab kein Bock mehr!
Ich hab mein Heft vergessen.
Ich hab meine Hausaufgaben!
Ich kann das nicht!
Ich mach doch gar nichts!
Ich mach jetzt überhaupt nichts mehr!
Ich pass doch auf!
Ich schwör! Ich weiß nicht, wo wir dran sind.
Ist das so gut?
Kann ich Toilette?
Kann ich das nachzeigen?
Kann ich heute neben Mehmet sitzen?
Kann ich Kreide holen?
Kein Plan!
Können Sie mal kommen?
Können wir heute spielen?
Mir tut schon die Hand weh.
Schreien Sie doch mal!
Was hamwa jetzt?
Was hatten wir auf?
Was kann ich denn dafür?
Wann schellt's?
Waren Sie beim Friseur?
Weiß ich nicht.
Weiß ich selbst!
Wie, alles neu?
Wie lange noch?
Wie, welche Hausaufgaben?
Wo sind wir?
Ein Geistesblitz
Nun ist er also wieder einmal in der 7. Klasse, der Matthias. Mit seinen dunklen, lieben Augen unter einem tief sitzenden Haaransatz erinnert er ein wenig an eine pubertierende Monchichi-Puppe. Immer die gleiche Jacke hat er an, und er ist alt. Viel zu alt für eine 7. Klasse. Spät in die Schule, in der Grundschule einmal sitzengeblieben, später noch einmal, schon ist man drei Jahre älter als die Mitschüler. Und er wurde nur aufgrund des Paragraphen 21.3 der Allgemeinen Schulordnung, die mittlerweile anders heißt, aus pädagogischen Gründen versetzt, denn eigentlich bleibt man ja mit drei Sechsen und fünf Fünfen ein bisschen sitzen.
Unter vier Augen und auf dem Gang kann er sehr nett sein, der Matthias. Aber wenn man das Pech hat, ihm fünfmal die Woche die englische Sprache vermitteln zu müssen, kann er auch ganz schön ungemütlich werden. Er will eben nicht, dass man etwas von ihm will. Und deshalb liegt er, wenn er denn da ist, entweder mit dem Kopf auf dem Tisch oder unterhält sich mit Jacqueline, die es im Gegensatz zu ihm wohl wieder einmal schaffen wird, sich mit überschaubarem Erfolg durchzuwurschteln.
Natürlich mussten Matthias' Eltern des Öfteren antanzen. Immer wieder gab es Gespräche mit Jugendämtern und Sozialpädagogen. Aber alle Erziehungsmaßnahmen halfen nicht, diesem armen Teufel, der im Gegensatz zu anderen schulisch Gescheiterten ziemlich sicher wusste, wie wenig er wusste, neue Hoffnung zu geben und so etwas wie eine Perspektive zu bieten.
Und so läuft alles, was im Unterricht besprochen wird, an ihm vorbei. Er hat so eine Art Block, in den er Sachen, die er nie verstanden hat, von der Tafel abkritzelt. Und das war's dann auch. Er sitzt seine Zeit ab oder auch nicht und freut sich auf die Pausen. Kurz: Matthias hat von Tuten und Blasen keine Ahnung.
Und daher ist das Attribut »sensationell« keine Übertreibung für das, was sich in der letzten Stunde abspielte.
Die Aufgabe zur Story Parents are a pain lautete: Words in the story. Find the partners. They're all in the story. Hier ging es darum, gegensätzliche Wortpaare zu finden: new - old, best - worst und so weiter. Und ein Beispiel stand schon da, das ich, nach dem Erklären der Aufgabe, vorlas: »Hier steht beispielsweise ›early‹ - und daneben ›late‹.«
Und aus dem Nichts heraus reißt Matthias plötzlich seinen Finger in die Luft und brüllt wie besessen: »Chocolate!«
Das war das erste Mal, dass er überhaupt irgendetwas zum Unterricht beitragen wollte, und das Wörtchen »late« schien einen Schlüsselreiz in ihm ausgelöst zu haben. Early, late, chocolate. Ziemlich perplex musste ich ihm dann zu verstehen geben, dass ich seine Mitarbeit durchaus honorierte, er allerdings die Aufgabenstellung wohl noch nicht ganz verstanden habe.
Nun, Matthias hat es durch seinen Geistesblitz dennoch geschafft, dass ich noch lange über ihn nachdachte. Und über Schokolade.
PS: Jetzt raten Sie mal, was mehrere Schüler auf die Frage »Was heißt eigentlich noch mal ›worst‹?« geantwortet haben. Richtig.
Unschuldsmiene
Ist der Bleistift so spitz genug?«, fragte mich Ufuk aus der 8 a. »Ich hab bei Denny getestet. Der tut weh!«
Colour the funny clown
Einmal im Jahr statteten uns die Viertklässler der nahe gelegenen Grundschule einen Besuch ab. Als potenzielle Neuerwerbungen waren sie zu Gast in der Fünf und schauten sich ein paar Schulstunden lang den Unterricht an. Traditionsgemäß wurde das Blatt mit dem Ausmalclown verteilt, dessen Kostüm in verschiedene Felder aufgeteilt ist, in denen auf Englisch die Farbe steht, mit der das Feld auszufüllen ist. Das haben sie immer gerne gemacht, die Grundschüler.
Leider verläuft die Englischkarriere vieler Hauptschüler so deprimierend, dass sie am Ende ihrer Schulzeit kaum einen geraden Satz sagen können. So wird mir zum Beispiel die Frage »Are the Johnsons from Liverpool?« in einer Klassenarbeit der 10A ewig unvergessen sein. Da antwortete doch tatsächlich jemand mit »Yes, she isn't.« Was soll man da noch korrigieren? Sechs lange Jahre hatte diese Schülerin Englischunterricht, und dann so etwas!
Nach dieser verkorksten Antwort benannte sich kurz darauf unsere Lehrerband, mit der wir den Schulchor bei seinen Auftritten begleiteten. Die Zeile »Es spielt die Lehrerband Yes, she isn't« erschien sogar auf einem Plakat, das im gesamten Stadtteil hing. Und sie stand sogar in der Zeitung! Wir haben also immerhin noch das Beste aus dieser Antwort gemacht.
»Yes, she isn't« mag ein Extrembeispiel sein, aber es ist wirklich kaum ein Zehntklässler in der Lage, aus dem Stegreif »Morgen gehe ich zum Bäcker und kaufe Brot« zu sagen. Daher stellen sich nicht wenige Englischlehrer, die an Hauptschulen beschäftigt sind, die Frage: Was soll der ganze Zirkus? Im Weiteren wird davon noch die Rede sein.
Halb aus Spaß, halb aus Verzweiflung schlug ich eines Tages in einer Fachkonferenz vor, den Ausmalclown als Abschlussprüfung der Zehntklässler einzuführen, auf dass sich der Kreis schließe und am Ende ein kleines Erfolgserlebnis stehe. Diese Idee war jedoch leider zum Scheitern verurteilt, weil der Clown trotz intensiver Prüfung nicht mit dem Lehrplan zu vereinbaren war.
Copyright © 2013 Knaur Taschenbuch Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
Es ist die - überwiegend lustige - Welt der Hauptschule, mit Anekdoten, die nicht aus Verbitterung gesammelt und aufgeschrieben wurden, sondern aus einer Faszination für die Einzigartigkeit des Lehrerberufs.
Dennoch war Kollege Zweifel während des Schreibens mein ständiger Begleiter. Schließlich ist die Grenze zwischen einem gesunden Erfreuen an den Unzulänglichkeiten anderer und reinem Verhöhnen fließend. Daher hoffe ich sehr, dass dieses Buch nicht als Abrechnung aufgefasst wird.
Das Leben vieler unserer Schüler ist geprägt von chaotischen Familienverhältnissen, überforderten und desinteressierten Eltern oder dürftigen Deutschkenntnissen. Es liegt mir fern, diese Kinder und Jugendlichen bloßzustellen. Aber es sind - man kann es drehen, wie man will - im Großen und Ganzen schlichte Gemüter, mit denen wir es zu tun haben. Und diese Tragik hat immer wieder amüsante Anekdoten im Gepäck, nicht zuletzt deshalb, weil auch wir Lehrer unter diesen erschwerten Bedingungen Tag für Tag zu bestehen haben. Wer heute in einer städtischen Hauptschule unterrichtet, wird sich zwischen Lachen und Weinen entscheiden müssen. Letzteres ist vielleicht besser für das pädagogische Gewissen, aber auf die Dauer ungesund.
Bekanntermaßen haben Pubertierende ziemlich viel Matsch im Kopf. Dies sollte beim Lesen berücksichtigt und die Geschichten als Momentaufnahmen betrachtet werden. Nicht selten kommt nämlich die Vernunft, die in den Flegeljahren ein Schattendasein führt, nach und nach wieder ans Tageslicht.
Wer sich darüber empört, dass hier die große Gruppe von Hauptschülern in eine Schublade mit der Aufschrift »Zum Auslachen freigegeben« gesteckt wird, sei daran erinnert, dass wir uns regelmäßig völlig undifferenziert über ganze Personengruppen echauffieren, allen voran über die an ihren Sesseln klebenden Politiker. Aber auch die überbezahlten Fußballprofi s, die gierigen Banker, die Jugend von heute oder auch nur die da oben, die sowieso immer machen, was sie wollen, sind Opfer einer Gleichmacherei, die nur ein Ziel kennt: das Ärgern oder Amüsieren zu vereinfachen.
An dieser Stelle ein wichtiger Hinweis: Konfessionelle Hauptschulen stehen meines Wissens besser da, und auf dem Lande gehen die Uhren auch anders. Ich habe schon von ländlichen Hauptschulen gehört, auf denen das Niveau so hoch sein soll, dass nahe gelegene Betriebe Schlange stehen, um Absolventen einstellen zu dürfen. Die Geschichten dieses Buches handeln dagegen alle von Erlebnissen an städtischen Hauptschulen in Brennpunktstadtteilen Nordrhein-Westfalens.
Auch wenn das Leistungsniveau im Vergleich zu anderen Schulformen sehr, sehr, sehr schwach ist, so sei darauf hingewiesen, dass auch hier so einiges klappt. Es gibt ihn, den harmonisch verlaufenden Unterricht, das wirkungsvolle erzieherische Gespräch oder den erfolgreichen Schulabschluss. Und selbst Chaoten, die fast jeden Tag verspätet in den Unterricht platzen, absolvieren erfolgreich ihr Betriebspraktikum.
Aber Gelungenes ist nun einmal selten komisch. Was ist schon interessant an einer gut ausgefallenen Klassenarbeit? Geht man ins Kabarett, um zu hören, was funktioniert? Nein, Spaß macht, was danebengeht, und speziell uns Hauptschullehrern bringt das Lachen den nötigen Abstand, um nicht zu fatalistisch in die Bildungswelt zu blicken. Mit anderen Worten: Wir müssen lachen. Aus einem gesunden Selbsterhaltungstrieb heraus. An allen vier Hauptschulen, an denen ich bisher unterrichtet habe, hat sich das Kollegium über seine Schüler amüsiert. Wer will, kann das Schadenfreude nennen. Für uns Hauptschullehrer ist es Teil einer Überlebensstrategie und kann eine geradezu therapeutische Wirkung entfalten. Und so wird in jeder großen Pause über die eigenen Schüler gelacht und gelästert, gequatscht und gequengelt, dass es nur so eine Freude ist.
Alle Geschichten, in denen ein außergewöhnlicher Wortlaut oder Dialog den Kern des Geschehens bildet, sind wahr und nach bestem Wissen und Gewissen niedergeschrieben. Die Erlebnisse, die mir von Kollegen zugetragen wurden, sind absolut glaubwürdig. Bei Situationen, an die ich mich nicht hundertprozentig erinnere, habe ich sinngemäße beziehungsweise sehr wahrscheinliche Äußerungen eingefügt, die den Kern der Geschichte unverfälscht wiedergeben.
Alle Namen sind geändert. Um jedoch authentisch zu bleiben, sind deutsche Namen deutsch und türkische Namen türkisch geblieben.
Auch ich heiße eigentlich anders. Diese Vorsichtsmaßnahme liegt darin begründet, dass die Schulbehörden (die da oben!) selbst bei berechtigter Kritik die ihnen unterstellten Beamten sofort der Illoyalität verdächtigen und ausgesprochen phantasielos reagieren. Aber - wie hoffentlich nicht nur zwischen den Zeilen zu lesen sein wird - ich mag meine Schüler sehr, so wie ich meinen Beruf sehr mag und ihn deswegen noch lange ausüben möchte. Ich will nichts anderes sein.
Möge sich dies in den Geschichten widerspiegeln.
Ein Ausflug
Langweilig ist es, auf einer kleinen Verkehrsinsel inmitten einer viel befahrenen, vierspurigen Ausfallstraße auf die Straßenbahn zu warten. Das ändert sich schlagartig, wenn man Aufsichtsperson einer zwanzigköpfigen 5. Hauptschulklasse ist, die mit dieser Bahn zum Okidokiland, einem Indoor- Spielplatz, fahren will. Die Tatsache, dass der kleine Momodou den Bülent nicht vor den Lkw geschubst hat, sondern nur so getan hat, ist ihm hoch anzurechen, obwohl er ja von Ersterem als Hurensohn bezeichnet wurde. Ausgangspunkt des Streits war der Fahrplan einer ganz anderen Bahnlinie, den sich Momodou als Erstes angesehen hatte, weswegen er also zuerst da war, und deshalb kann Bülent sich ja nicht einfach vordrängeln, der Spasti. Ich habe ihn sorgfältig zusammengebrüllt, den Momodou, allerdings konnte ich den genauen Tathergang nicht rekonstruieren, da in dem Moment Matthew Samantha das Handy weggenommen hatte und diese sich bei mir lautstark von links beschwerte, während Sabrina mir von rechts seit fünf Minuten mit stoischer Ruhe und kindlicher Begeisterung von ihren Erlebnissen im Duisburger Zoo und den dortigen Imbisspreisen berichtete.
Wenn man Glück hat wie wir an diesem Tag, ist eine Klasse fast allein in der Straßenbahn. Nachdem ich alle Fahrscheingeschäfte mit dem Bahnfahrer erledigt hatte, legten wir beide ohne jede vorherige Absprache los. Er nahm das Mikrofon und erklärte, er könne uns zwar ins Okidoki-Kinderland bringen, aber das sei wegen Umbaumaßnahmen geschlossen. Lähmendes Entsetzen.
Ich beruhigte die Klasse durch zwei Vorschläge, von denen sie einen auswählen durften. Für alle hörbar mutmaßte ich, dass trotz der Baustellenatmosphäre im Okidokiland dort sicher noch ein kleiner Raum zu betreten sei, der es uns erlauben würde, ein Diktat mit dem Schwerpunkt Fremdwörter zu schreiben. Andernfalls könnten wir bei der nächsten Haltestelle, nämlich am Thyssen-Werksgelände, Tor 3, aussteigen und Pilze sammeln.
Beides wurde abgelehnt.
Natürlich durchschauten uns nach kurzer Zeit die meisten, aber letzte Zweifel blieben -, und die Fahrt verlief ungewöhnlich ruhig. Kurz darauf kamen wir an. Welche Erleichterung spiegelte sich in ihren Augen! Wie ergreifend waren die Stürme der Begeisterung, als sie die Halle betraten! Einfach wundervoll! Und gepaart mit diesen skeptisch grinsenden Kindergesichtern, in denen sich während der zwölfminütigen Bahnfahrt tiefe Unsicherheit gespiegelt hatte: unbezahlbar!
Es gibt Momente, in denen habe ich den schönsten Beruf der Welt.
Ein lehrreicher Tag
Im April des Jahres 2001 war ich noch recht neu auf der Schule und ziemlich grün hinter den Ohren. Das sollte als Begründung reichen, warum ich mich mit Freude bereit erklärt hatte, die Fußball-AG der Großen zu übernehmen. Es war eine Gruppe von sechzehn Jungs, davon drei Deutsche, die zwar nicht integriert, aber in Ruhe gelassen wurden.
Schon in der ersten Stunde begann das, was, wie ich später erfahren sollte, seit Jahren immer mal wieder passiert, wenn verzogene Machos miteinander Fußball spielen. Ich erlaube mir abzukürzen: Querpass, Zweikampf, Körpereinsatz, Foul oder nicht Foul, Kurde, Türke, stolz, Kurde zu sein, stolz, Türke zu sein, ich werde immer Türke sein, behindert, schwul, sag das noch mal, Spasti, Mutter, Vater, Hurensohn, Mutter ficken, Vater ficken, Schwester ficken, gesamte Großfamilie ficken ... und dann fliegen eben die Fäuste. Gürkan und Hüseyin hatten sich gegenseitig im Schwitzkasten, die anderen standen drum herum. Es waren zwei lange Kerle, und ich kam gehörig ins Schwitzen, als ich sie auseinanderzog. Ich schickte Hüseyin vorzeitig in die Kabine und ließ die anderen zwecks Moralpredigt auf der Turnhallenbank Platz nehmen. Fast alle schwiegen betreten, nur zwei von ihnen murmelten »Kurde« und »Türke« vor sich hin. Es wurde noch ein bisschen gekickt, aber die Stimmung war gedrückt.
Zurück im Lehrerzimmer erstattete ich den anwesenden Kollegen ungefragt Bericht: »Mann, Mann, Mann! Meine erste AG-Stunde. Und sofort 'ne Klopperei!«
Aus irgendeiner Ecke kam: »Wer denn?«
»Hüseyin gegen Gürkan«, antwortete ich.
Nun blickte Bernd amüsiert über seine Lesebrille hoch und stellte mir die Frage, die mein persönliches Berufsbild stark prägen sollte. Er fragte nicht, ob ich über eine Klassenkonferenz nachdächte. Er war auch nicht daran interessiert, wie es zu der Schlägerei gekommen war. Er wunderte sich auch nicht über meine Aufgelöstheit. Er fragte nur: »Wer hat denn gewonnen?«
Das war das Einzige, was ihn interessierte. Obwohl, eigentlich interessierte ihn nicht einmal das. Sein Vorteil war, dass er beide Jungen schon jahrelang kannte. Wie oft wird er wohl über friedliche Konfliktbewältigung, anständiges Benehmen, Schulordnung, Nationalstolz, Ehre und Respekt mit ihnen gesprochen haben? Bernd wusste, dass weder Gürkan noch Hüseyin auf unserer Schule zu helfen war. Sie waren unerzogen, respekt- und distanzlos uns Lehrern gegenüber. Beide waren schwache Schüler mit ungebildeten, desinteressierten Eltern. Im Schulleben hatten sie seit der 6. Klasse kaum Produktives hervorgebracht. Was konnten sie also vorweisen, auf das sie hätten stolz sein können? Und so war der eine eben stolz, Kurde zu sein, und der andere war stolz, Türke zu sein. Die Frage »Wer hat denn gewonnen?« zeigte Bernds jahrzehntelange Erfahrung als Hauptschullehrer. Die Gründe für Schlägereien sind in der Regel bekannt oder egal. Und wenn sich zwei an die Köpfe kriegen, die sich an die Köpfe kriegen wollen, muss die Überlebensstrategie des Hauptschullehrers greifen: Gelassenheit und Energiespartrieb. Wenn es ausartet, kann man immer noch die Polizei rufen.
An diesem Tag habe ich viel gelernt.
Einführungsveranstaltung
Zu Beginn meines ersten Arbeitstages musste ich erst mal die Werkstatt fegen, um mich an den Betrieb zu gewöhnen.«
Mit diesem wundervollen, an Friedfertigkeit nicht zu überbietenden Satz beginnt Thabitis erster Tagesbericht in seiner Praktikumsmappe. Zur Information: Der Junge ist ein echter Wüterich, der in seiner Klasse durch vieles auffällt, aber gewiss nicht durch Fegen. Dass er dieses Niveau nicht würde halten können, war klar, und seine Mappe wurde schließlich mit »ausreichend« bewertet. Aber dass es die schönste Einleitung aller Mappen sein würde, dessen war ich mir schon beim Lesen sicher. Und dabei schrieb Thabiti wahrscheinlich sogar »durfte« statt »musste«, aber ich habe vergessen es zu notieren und möchte unbedingt bei der Wahrheit bleiben.
Hall of Fame der Schülerphrasen
Ab jetzt lern ich immer!
Also, was sollen wir jetzt machen?
Bring ich morgen mit.
Das alles?
Das geht nicht.
Das hatten wir noch nie!
Das steht hier nicht.
Da war ich nicht da.
Der Bus kam zu spät.
Der hat angefangen!
Der Wievielte ist?
Dings.
Fertig!
Haben Sie heute schlechte Laune?
Hab ich vergessen.
Hab verschlafen.
Hat einer 'n Blatt?
Ich dachte, Sport fällt aus.
Ich hab nix gemacht!
Ich hab ein bisschen gelernt.
Ich hab kein Bock mehr!
Ich hab mein Heft vergessen.
Ich hab meine Hausaufgaben!
Ich kann das nicht!
Ich mach doch gar nichts!
Ich mach jetzt überhaupt nichts mehr!
Ich pass doch auf!
Ich schwör! Ich weiß nicht, wo wir dran sind.
Ist das so gut?
Kann ich Toilette?
Kann ich das nachzeigen?
Kann ich heute neben Mehmet sitzen?
Kann ich Kreide holen?
Kein Plan!
Können Sie mal kommen?
Können wir heute spielen?
Mir tut schon die Hand weh.
Schreien Sie doch mal!
Was hamwa jetzt?
Was hatten wir auf?
Was kann ich denn dafür?
Wann schellt's?
Waren Sie beim Friseur?
Weiß ich nicht.
Weiß ich selbst!
Wie, alles neu?
Wie lange noch?
Wie, welche Hausaufgaben?
Wo sind wir?
Ein Geistesblitz
Nun ist er also wieder einmal in der 7. Klasse, der Matthias. Mit seinen dunklen, lieben Augen unter einem tief sitzenden Haaransatz erinnert er ein wenig an eine pubertierende Monchichi-Puppe. Immer die gleiche Jacke hat er an, und er ist alt. Viel zu alt für eine 7. Klasse. Spät in die Schule, in der Grundschule einmal sitzengeblieben, später noch einmal, schon ist man drei Jahre älter als die Mitschüler. Und er wurde nur aufgrund des Paragraphen 21.3 der Allgemeinen Schulordnung, die mittlerweile anders heißt, aus pädagogischen Gründen versetzt, denn eigentlich bleibt man ja mit drei Sechsen und fünf Fünfen ein bisschen sitzen.
Unter vier Augen und auf dem Gang kann er sehr nett sein, der Matthias. Aber wenn man das Pech hat, ihm fünfmal die Woche die englische Sprache vermitteln zu müssen, kann er auch ganz schön ungemütlich werden. Er will eben nicht, dass man etwas von ihm will. Und deshalb liegt er, wenn er denn da ist, entweder mit dem Kopf auf dem Tisch oder unterhält sich mit Jacqueline, die es im Gegensatz zu ihm wohl wieder einmal schaffen wird, sich mit überschaubarem Erfolg durchzuwurschteln.
Natürlich mussten Matthias' Eltern des Öfteren antanzen. Immer wieder gab es Gespräche mit Jugendämtern und Sozialpädagogen. Aber alle Erziehungsmaßnahmen halfen nicht, diesem armen Teufel, der im Gegensatz zu anderen schulisch Gescheiterten ziemlich sicher wusste, wie wenig er wusste, neue Hoffnung zu geben und so etwas wie eine Perspektive zu bieten.
Und so läuft alles, was im Unterricht besprochen wird, an ihm vorbei. Er hat so eine Art Block, in den er Sachen, die er nie verstanden hat, von der Tafel abkritzelt. Und das war's dann auch. Er sitzt seine Zeit ab oder auch nicht und freut sich auf die Pausen. Kurz: Matthias hat von Tuten und Blasen keine Ahnung.
Und daher ist das Attribut »sensationell« keine Übertreibung für das, was sich in der letzten Stunde abspielte.
Die Aufgabe zur Story Parents are a pain lautete: Words in the story. Find the partners. They're all in the story. Hier ging es darum, gegensätzliche Wortpaare zu finden: new - old, best - worst und so weiter. Und ein Beispiel stand schon da, das ich, nach dem Erklären der Aufgabe, vorlas: »Hier steht beispielsweise ›early‹ - und daneben ›late‹.«
Und aus dem Nichts heraus reißt Matthias plötzlich seinen Finger in die Luft und brüllt wie besessen: »Chocolate!«
Das war das erste Mal, dass er überhaupt irgendetwas zum Unterricht beitragen wollte, und das Wörtchen »late« schien einen Schlüsselreiz in ihm ausgelöst zu haben. Early, late, chocolate. Ziemlich perplex musste ich ihm dann zu verstehen geben, dass ich seine Mitarbeit durchaus honorierte, er allerdings die Aufgabenstellung wohl noch nicht ganz verstanden habe.
Nun, Matthias hat es durch seinen Geistesblitz dennoch geschafft, dass ich noch lange über ihn nachdachte. Und über Schokolade.
PS: Jetzt raten Sie mal, was mehrere Schüler auf die Frage »Was heißt eigentlich noch mal ›worst‹?« geantwortet haben. Richtig.
Unschuldsmiene
Ist der Bleistift so spitz genug?«, fragte mich Ufuk aus der 8 a. »Ich hab bei Denny getestet. Der tut weh!«
Colour the funny clown
Einmal im Jahr statteten uns die Viertklässler der nahe gelegenen Grundschule einen Besuch ab. Als potenzielle Neuerwerbungen waren sie zu Gast in der Fünf und schauten sich ein paar Schulstunden lang den Unterricht an. Traditionsgemäß wurde das Blatt mit dem Ausmalclown verteilt, dessen Kostüm in verschiedene Felder aufgeteilt ist, in denen auf Englisch die Farbe steht, mit der das Feld auszufüllen ist. Das haben sie immer gerne gemacht, die Grundschüler.
Leider verläuft die Englischkarriere vieler Hauptschüler so deprimierend, dass sie am Ende ihrer Schulzeit kaum einen geraden Satz sagen können. So wird mir zum Beispiel die Frage »Are the Johnsons from Liverpool?« in einer Klassenarbeit der 10A ewig unvergessen sein. Da antwortete doch tatsächlich jemand mit »Yes, she isn't.« Was soll man da noch korrigieren? Sechs lange Jahre hatte diese Schülerin Englischunterricht, und dann so etwas!
Nach dieser verkorksten Antwort benannte sich kurz darauf unsere Lehrerband, mit der wir den Schulchor bei seinen Auftritten begleiteten. Die Zeile »Es spielt die Lehrerband Yes, she isn't« erschien sogar auf einem Plakat, das im gesamten Stadtteil hing. Und sie stand sogar in der Zeitung! Wir haben also immerhin noch das Beste aus dieser Antwort gemacht.
»Yes, she isn't« mag ein Extrembeispiel sein, aber es ist wirklich kaum ein Zehntklässler in der Lage, aus dem Stegreif »Morgen gehe ich zum Bäcker und kaufe Brot« zu sagen. Daher stellen sich nicht wenige Englischlehrer, die an Hauptschulen beschäftigt sind, die Frage: Was soll der ganze Zirkus? Im Weiteren wird davon noch die Rede sein.
Halb aus Spaß, halb aus Verzweiflung schlug ich eines Tages in einer Fachkonferenz vor, den Ausmalclown als Abschlussprüfung der Zehntklässler einzuführen, auf dass sich der Kreis schließe und am Ende ein kleines Erfolgserlebnis stehe. Diese Idee war jedoch leider zum Scheitern verurteilt, weil der Clown trotz intensiver Prüfung nicht mit dem Lehrplan zu vereinbaren war.
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Autoren-Porträt von Kai Lange
Kai Lange, geboren 1969 am Niederrhein, ist seit vielen Jahren als Deutsch- und Erdkundelehrer an Hauptschulen im Ruhrgebiet tätig. Die Schulrealität wollte es, dass er mittlerweile auch fast alle anderen Fächer unterrichtet. Um Mathematik kam er zum Glück aller Beteiligten bis jetzt herum. Vier Tage in der Woche ist Kai Lange mit Leib und Seele Lehrer, am fünften Tag wäre er gerne Gärtner. Er hat zwei Kinder und lebt am Niederrhein.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kai Lange
- 2013, 5. Aufl., 256 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426786214
- ISBN-13: 9783426786215
- Erscheinungsdatum: 31.07.2013
Rezension zu „Schab nix gemacht! “
"ausgesprochen vergnüglich" eselsohr - Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendmedien 20130901
Pressezitat
"ausgesprochen vergnüglich" eselsohr - Fachzeitschrift für Kinder- und Jugendmedien 20130901
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