Schatten / Die schwarzen Juwelen Bd.3
Roman. Deutsche Erstausgabe
Lassen auch Sie sich von den Abenteuern der jungen Zauberin Jaenelle in den Bann schlagen, der es bestimmt ist, die Menschheit in den Kampf gegen die Dunkelheit zu führen!
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Produktinformationen zu „Schatten / Die schwarzen Juwelen Bd.3 “
Lassen auch Sie sich von den Abenteuern der jungen Zauberin Jaenelle in den Bann schlagen, der es bestimmt ist, die Menschheit in den Kampf gegen die Dunkelheit zu führen!
Klappentext zu „Schatten / Die schwarzen Juwelen Bd.3 “
Mit ihrer Serie »Die schwarzen Juwelen« ist der amerikanischen Autorin Anne Bishop ein einzigartiger Erfolg gelungen: Lange Jahre als Geheimtipp und Kultbücher gehandelt, zählt sie inzwischen zu den bestverkauften Fantasy-Trilogien der letzten Jahre. Lassen auch Sie sich von den Abenteuern der jungen Zauberin Jaenelle in den Bann schlagen, der es bestimmt ist, die Menschheit in den Kampf gegen die Dunkelheit zu führen!Lese-Probe zu „Schatten / Die schwarzen Juwelen Bd.3 “
1 TerreilleDorothea SaDiablo, die Hohepriesterin des Territoriums Hayll, erklomm langsam die Stufen der großen hölzernen Tribüne. Es war ein sonniger Morgen im Frühherbst, und Draega, die Hauptstadt von Hayll, lag so weit im Süden, dass es tagsüber immer noch warm war. Der schwere, schwarze Umhang, der ihren gesamten Körper verhüllte, ließ Dorothea den Schweiß ausbrechen. Unter der weiten Kapuze war ihr Haar feucht, und ihr Hals juckte. Doch das war unwichtig. In ein paar Minuten würde sie den Umhang ablegen können.
Oben angelangt, erblickte sie das große Segeltuch, das über einem unförmigen Umriss ausgebreitet war und die gesamte Vorderseite der Tribüne einnahm. Von der wartenden Menge aus musste das Tuch gut sichtbar sein. Automatisch hielt sie für einen Moment die Luft an. Wie närrisch von ihr, besorgt zu sein! Sie hatte jeden Zauber benutzt, den sie kannte, um das Geheimnis unter dem Segeltuch zu bewahren, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war. Sie zwang sich, wieder normal zu atmen, und schritt über die Tribüne. Einen knappen Meter hinter dem Tuch blieb sie stehen.
Die Königinnen aus allen Territorien des Reiches Terreille beobachteten sie misstrauisch und voll Groll. Dorothea hatte verlangt, dass jede Territoriumskönigin ihre beiden stärksten Provinzköniginnen und sämtliche Kriegerprinzen mitbrachte, die ihr dienten. Selbstverständlich waren nicht wenige der Königinnen, insbesondere diejenigen aus den Territorien weit im Westen, in der Erwartung angereist, es handele sich um eine Falle.
Nun, die Kanaillen hatten Recht! Doch wenn sie ihnen den Köder nur auf die richtige Art und Weise präsentierte, würden sie bereitwillig und ohne zu überlegen auf ihre List hereinfallen.
Dorothea hob die Arme. Das träge dahinplätschernde Gemurmel der Menge wurde immer leiser, bis es schließlich völlig verstummte. Sie bediente sich der magischen Kunst, um für alle Anwesenden deutlich vernehmbar zu sein, und führte dann den nächsten Zug in einem tödlichen Spiel
... mehr
um die Macht aus.
"Meine Schwestern und Brüder, ich habe euch heute hier versammelt, um euch vor einer schrecklichen Entdeckung zu warnen, die ich kürzlich gemacht habe. Ein Übel, das eine Bedrohung für jeden einzelnen Angehörigen des Blutes im gesamten Reich Terreille darstellt!
In der Vergangenheit habe ich unsagbar grausame Dinge getan. Ich bin für die Ermordung von Königinnen und einigen der tapfersten Männer des Reiches verantwortlich. Ich habe die Angehörigen des Blutes in Angst und Schrecken versetzt, um Terreille unter meine Kontrolle zu bringen. Ich! Eine Hohepriesterin, die besser als jeder andere weiß, dass eine Priesterin keine Königin ersetzen kann, egal, wie geschickt oder wie stark sie in der Kunst sein mag.
Ich werde die traurige Last dieser Taten für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen müssen. Aber hier und heute sage ich euch: Man hat mich benutzt! Als ich vor ein paar Wochen meine Fähigkeiten als Schwarze Witwe einsetzte, um ein Verworrenes Netz aus Träumen und Visionen zu spinnen, zerriss ich versehentlich einen mentalen Schleier, der mich all die Jahrhunderte hindurch umgeben hatte, in denen ich die Hohepriesterin von Hayll gewesen bin. Ich kämpfte mir einen Weg durch diesen mentalen Nebel und erkannte endlich, wovor mich meine Verworrenen Netze schon seit so langer Zeit hatten warnen wollen.
Es gibt tatsächlich jemanden, der die Macht an sich reißen und über ganz Terreille herrschen will; der sich sämtliche Blutleute in diesem Reich unterwerfen möchte. Aber ich bin es nicht! Ich war das Instrument eines monströsen, bösartigen Wesens, das uns zermalmen und verschlingen möchte, das auf die gleiche Weise mit uns spielt wie eine Katze mit der Maus, kurz bevor sie ihr den tödlichen Schlag versetzt. Dieses Ungeheuer hat einen Namen - einen Namen, der seit vielen tausend Jahren gefürchtet wird - und das zu Recht. Unser aller Feind ist der Prinz der Dunkelheit, der Höllenfürst."
In der Menschenmenge erhob sich unbehagliches Gemurmel.
"Ihr zweifelt an meinen Worten?", rief Dorothea. Sie riss sich den Umhang vom Leib und schleuderte ihn beiseite. Da fiel ihr das strähnige weiße Haar auf die Schultern, das noch vor wenigen Wochen dicht und schwarz gewesen war. Ihr schlaffes, zerfurchtes Gesicht verzog sich, und Tränen traten in ihre goldenen Augen, als aus dem Gemurmel Rufe des Entsetzens wurden. "Seht, was aus mir geworden ist, während ich mich aus dem Bann seines hinterhältigen Zaubers freikämpfte! Seht mich an! Dies ist der Preis, den ich zahlen musste, damit auch ihr endlich die Gefahr erkennt."
Dorothea presste sich eine Hand auf die Brust und rang schluchzend nach Atem.
Ihr Haushofmeister trat vor und griff sanft nach ihrem Arm, um sie zu stützen. "Du musst aufhören, Priesterin. Das hier ist mehr, als du ertragen kannst."
"Nein", stieß Dorothea röchelnd hervor, die ihre Stimme immer noch mithilfe der Kunst verstärkte. "Ich muss ihnen alles berichten, solange ich noch dazu in der Lage bin. Vielleicht ist das hier meine letzte Gelegenheit. Sobald ihm klar wird, dass ich von seinen Machenschaften weiß ..."
Schweigen legte sich über die Zuhörerschaft.
Dorothea ließ die Hand sinken und stand so gerade wie möglich, ohne auf die Schmerzen in ihrer Wirbelsäule zu achten. "Ich war nicht das einzige Instrument des Höllenfürsten. Einigen von euch ist das Unglück widerfahren, Daemon Sadi und Lucivar Yaslana an ihren Höfen zu haben. Möge die Dunkelheit mir verzeihen! Ich schickte diese Ungeheuer in zerbrechliche Territorien, und wegen ihnen sind Königinnen ums Leben gekommen. Manchmal wurden ganze Höfe zerstört. Wie auch Prythian, die Hohepriesterin von Askavi, war ich der Auffassung, wir hätten sie aus freien Stücken in den Dienst an andere Höfe gesandt - in der Hoffnung, die beiden ließen sich vielleicht auf diese Weise zähmen. Doch wir wurden manipuliert und dazu gebracht, sie in genau diese Territorien zu schicken, [weil sie die Söhne des Höllenfürsten sind!] Sie sind dem Samen dieser Bestie entsprungen und nun zu seinen Werkzeugen der Zerstörung herangewachsen. Die Kontrolle, die Prythian und ich über sie zu haben schienen, war nichts weiter als reine Illusion, ein Trugbild, um den wahren Zweck der beiden zu verbergen.
Vor etlichen Jahren verschwanden sie dann. Die meisten von uns hofften, sie seien umgekommen. Dem ist nicht so. Von ein paar mutigen Brüdern und Schwestern, die jetzt in dem kaeleerianischen Territorium Kleinterreille leben, habe ich erfahren, dass sich nicht nur Yaslana, sondern auch Sadi im Schattenreich aufhält, wo der Höllenfürst schon seit einiger Zeit unter dem Deckmantel des Kriegerprinzen von Dhemlan haust. Die Schlangenbrut ist in ihr Nest zurückgekehrt.
Doch das ist noch nicht alles! Der Höllenfürst übt einen ungesunden Einfluss auf die meisten Territoriumsköniginnen in Kaeleer aus. Außerdem hat er eine junge Frau völlig unter seine Kontrolle gebracht, bei der es sich um die stärkste Hexe aller Reiche handelt. Mithilfe ihrer Kraft wird er uns überwältigen - es sei denn, wir schlagen zuerst zu. Uns bleibt keine andere Wahl, meine Brüder und Schwestern. Wenn wir nicht den Höllenfürsten und alle, die in seinen Diensten stehen, vernichten, wird die Brutalität, die ich einst als sein Instrument an den Tag legte, im Vergleich zu seinen Taten geradezu harmlos wirken."
Dorothea hielt einen Augenblick inne. "Viele von euch haben Freunde oder Familienmitglieder, die nach Kaeleer geflohen sind, um der grausamen Barbarei zu entkommen, die Terreille im Würgegriff hält. Seht euch an, was mit denen geschehen ist, die dem Höllenfürsten direkt in die verführerischen Arme gelaufen sind!"
Mithilfe der Kunst fegte sie das Segeltuch hinfort, das die Vorderseite der Tribüne bedeckt hatte. Im nächsten Moment schlug sich Dorothea die Hand vor den Mund, um sich nicht übergeben zu müssen, als sich die Fliegen von den verstümmelten Leichen erhoben.
Rufe drangen durch die Luft. Ein schriller Schrei wütender Trauer übertönte die übrigen Stimmen. Dann erklang ein anderer und noch einer, sobald die Leute, die der Tribüne am nächsten standen, ein vertrautes Gesicht oder ein besonderes Schmuckstück wiedererkannten.
Erneut bediente sich Dorothea der Kunst und breitete das Segeltuch behutsam wieder über die Toten. Sie musste einige Minuten warten, bis die Schreie zu einem gedämpften Schluchzen geworden waren.
"Wisst dies!", rief sie. "Ich werde jedes bisschen Kunst, das ich je erlernt habe, jeden Tropfen Stärke, der in mir steckt, dazu verwenden, diesem Ungeheuer entgegen zu treten. Doch sollte ich alleine kämpfen, werde ich gewiss unterliegen. Wenn wir hingegen gemeinsam kämpfen, haben wir die Chance, uns des Höllenfürsten und seiner Knechte zu entledigen. Viele von uns werden in diesem Krieg zugrunde gehen, aber unsere Kinder ..." Die Stimme versagte ihr. Erst nach einer kurzen Pause konnte sie fortfahren. "Aber unsere Kinder werden die Freiheit kennen, für deren Erhalt wir so teuer bezahlen mussten."
Als sie sich abwandte, geriet sie ins Straucheln. Ihr Haushofmeister und der Hauptmann der Wache stützten sie auf dem Weg über die Tribüne und die Stufen hinab. In den Augen der Männer funkelten Tränen, und sie zeigten einen wilden Stolz, während sie Dorothea für die kurze Fahrt zurück zu ihrem Anwesen fürsorglich in ihren offenen Wagen setzten. Als die beiden sie begleiten wollten, schüttelte sie den Kopf.
"Eure Pflichten liegen hier", hauchte sie matt.
"Aber, Priesterin ...", setzte der Hauptmann der Wache zu einem Protest an.
"Bitte", erwiderte Dorothea. "Eure Stärke wird mir mehr helfen, wenn ihr hier bleibt." Sie rief ein gefaltetes Stück Papier herbei und reichte es dem Haushofmeister. "Wenn die Königinnen mich zu sprechen wünschen, dann vereinbart für heute Nachmittag eine Audienz." Der zweifelnde Gesichtsausdruck des Mannes entging ihr nicht, doch er sagte nichts.
Der Kutscher machte ein leises Schnalzgeräusch in Richtung der Pferde.
Dorothea sank in den Sitz zurück und schloss die Augen, um ihre Schadenfreude zu verbergen. [Nun, du verfluchter Hurensohn, ich habe den ersten Zug getan. Von jetzt an wirst du nichts unternehmen können, das sich nicht gegen dich verwenden ließe.]
2 Terreille
Trotz der warmen Morgensonne zitterte Alexandra Angelline, während sie darauf wartete, dass Philip Alexander von der hölzernen Tribüne zurückkehrte, wo er die verstümmelten Leichen betrachtete. Sie belegte ihr schweres Wollschultertuch mit einem Wärmezauber, obgleich sie wusste, dass es nichts nutzen würde. Keine äußere Wärmequelle war in der Lage, die Kälte in ihrem Inneren zu besiegen.
[Es ist zu früh, dachte sie verzweifelt. Wilhelmina ist erst gestern Morgen durch das Tor gegangen. Sie kann unmöglich hier inmitten der ...]
Vania und Nyselle, die beiden Provinzköniginnen, die sie mitgebracht hatte, waren bereits zusammen mit ihren Begleitern in die Herberge zurückgekehrt. Sie hatten nicht angeboten, zusammen mit ihr auszuharren. Vor ein paar Jahren - ja, noch vor wenigen Wochen - hätten sie es getan. Damals hatten sie noch an sie geglaubt, trotz ihrer familiären Probleme.
Doch vor ein paar Wochen hatte jemand mysteriöse Botschaften an die dreißig stärksten Hexen auf Chaillot versandt - bloß nicht an sie und ihre Tochter Leland. In den Briefen war dazu eingeladen worden, Briarwood zu besichtigen, und darin wurde auch versprochen, das Rätsel zu lösen, was mit den jungen Mädchen geschehen war, die einst in die Klinik eingewiesen worden und dann spurlos verschwunden waren. Briarwood, das erbaut worden war, um unausgeglichene Kinder zu heilen, hatte schon vor etlichen Jahren seine Tore geschlossen; seit dem Zeitpunkt, als eine geheimnisvolle Krankheit ausgebrochen war und Dutzende Männer aus den Aristokratenfamilien in Beldon Mor, Chaillots Hauptstadt, dahingerafft hatte - eine Seuche, die mit jenem Ort in Verbindung zu stehen schien.
Die geladenen Hexen waren an dem festgesetzten Abend dort erschienen und hatten von den Geheimnissen und Schrecken Briarwoods erfahren. Ein dämonentotes Mädchen namens Rose, das sie auf dem Anwesen herumführte, machte sie unerbittlich mit den dortigen Geistern bekannt. Eine Priesterin fand ihre Cousine, die verschwunden war, als sie beide noch Kinder gewesen waren, in eine Wand eingemauert. Eine Provinzkönigin musste erkennen, was von der Tochter einer Freundin übrig geblieben war.
Ihnen wurden die Spielzimmer gezeigt. Sie sahen die Kabinen mit den schmalen Betten. Und sie wurden in den Gemüsegarten geführt und auch zu dem Mädchen mit nur einem Bein.
Starr vor Entsetzen ob der Gräuel, die ihnen offenbart wurden, folgten sie Rose, die ihnen lächelnd in allen Einzelheiten auseinander setzte, wie und warum jedes einzelne Kind gestorben war. Sie berichtete ihnen von den anderen dämonentoten Kindern, die in das Dunkle Reich gegangen waren, um bei den kindelîn tôt zu leben. Sie zählte die Liste von Briarwoods 'Onkeln' auf, den Männern, die diesen Hort der perversen Begierden unterstützt und aufgesucht hatten. Und sie nannte diejenigen gebrochenen Hexen aus aristokratischen Familien, die von ihrer Unausgeglichenheit 'geheilt' - und ihrer inneren Kräfte beraubt - und anschließend nach Hause geschickt worden waren.
Einer der Männer, die Rose erwähnt hatte, war Robert Benedict gewesen, Lelands ehemaliger Gatte und ein wichtiges Mitglied des Rates der Männer. Die Mitgliederzahl jenes Rates war bereits durch die mysteriöse Krankheit stark dezimiert worden.
Als eine Heilerin aus der Gruppe nach der Krankheit gefragt hatte, hatte Rose erneut gelächelt. "Briarwood ist ein süßes Gift, gegen das es kein Heilmittel gibt."
Alexandra umklammerte ihr Schultertuch, ohne dass ihr Zittern nachgelassen hätte.
Die Wut, die durch Chaillot gefegt war, hatte die Insel in Stücke gerissen. Beldon Mor war zu einem Schlachtfeld geworden. Die Mitglieder des Männerrates, die noch nicht an der Krankheit gestorben waren, wurden grausam hingerichtet. Nachdem zahlreiche Männer aus Aristokratenkreisen vergiftet worden waren, flüchteten sich viele andere in Herbergen oder ihre Klubs, weil sie zu große Angst hatten, etwas zu essen, das eventuell durch die Hände der Frauen in ihren Familien gegangen sein könnte.
Nachdem die erste Rachewelle verebbt war, hatte sich der Zorn der Hexen gegen Alexandra gerichtet. Zwar gaben sie ihr nicht die Schuld an Briarwood, denn die Klinik war erbaut worden, noch bevor sie die Königin von Chaillot geworden war; doch erbittert warfen sie Alexandra Blindheit vor. Sie war so darauf bedacht gewesen, Chaillot vor Haylls Einfluss abzuschirmen und trotz des Männerrats nicht all ihre Macht zu verlieren, dass sie die Gefahr nicht erkannt hatte, die längst existierte. Es sei, so sagten die erbosten Hexen, als werfe eine Frau einem Mann vor, ihre Brust zu betatschen, wenn er schon längst seinen Schwanz zwischen ihren Schenkeln versenkt habe.
Sie verurteilten Alexandra, weil Robert Benedict all die Jahre in ihrem Haus gelebt und sich das Bett mit ihrer Tochter geteilt hatte. Wenn sie schon einer Gefahr nicht gewahr wurde, die tagaus, tagein an ihrem Tisch saß, wie konnte sie dann ihr Volk schützen?
Man legte ihr Robert Benedict und all die jungen Hexen zu Lasten, die in Briarwood den Tod gefunden hatten oder zerbrochen worden waren.
Sie selbst gab sich die Schuld daran, was mit Jaenelle, ihrer jüngeren Enkeltochter, geschehen war. Sie hatte zugelassen, dass dieses eigenartige, schwierige Kind an einen derart schrecklichen Ort gebracht worden war. Zwar hatte sie Briarwoods Geheimnisse nicht gekannt, doch wenn sie Jaenelles bizarre Geschichten nicht abgetan, wenn sie das Flehen des Kindes um Aufmerksamkeit erkannt hätte, statt die Kleine als Ärgernis zu sehen, wäre Jaenelle niemals nach Briarwood geschickt worden. Und wenn Alexandra den Hass nicht auf die leichte Schulter genommen hätte, den das Mädchen Dr. Carvay gegenüber an den Tag gelegt hatte, hätte sie die ganze schreckliche Wahrheit dann vielleicht früher herausgefunden?
Sie wusste es nicht. Aber es war zu spät, um im Nachhinein noch Antworten auf ihre Fragen zu erhalten.
Jetzt hatte sie ein weiteres familiäres Problem am Hals. Vor elf Jahren war Wilhelmina Benedict, Roberts Tochter aus erster Ehe, weggelaufen, nachdem sie behauptet hatte, Robert habe sie sexuell belästigt. Philip Alexander, Roberts unehelicher Halbbruder, hatte seine Nichte gefunden, sich jedoch geweigert, ihren Aufenthaltsort bekannt zu geben. Damals war Alexandra wütend auf ihn gewesen, weil er auch ihr nicht verraten hatte, wo sich Wilhelmina befand. In letzter Zeit fragte Alexandra sich, ob Philip vielleicht eine Ahnung gehabt hatte, was sich wirklich hinter Briarwoods sorgsam aufrecht erhaltener Fassade verbarg; zumal es seinem ungestümen Eintreten zu verdanken gewesen war, dass der Ort letzten Endes geschlossen wurde.
Vor zwei Tagen hatte sie einen Brief von Wilhelmina erhalten, in dem stand, dass sie nach Kaeleer gehen werde, ins Schattenreich. Nun, Wilhelmina war mittlerweile siebenundzwanzig, also kein Kind mehr. Egal. Sie war immer noch Teil der Familie. Immer noch ihre Enkelin.
Alexandra schüttelte den Kopf, um den Strom ihrer Gedanken zu unterbrechen. Da sah sie Philip, der auf sie zukam. Mit angehaltenem Atem blickte sie ihm forschend in die grauen Augen.
"Sie ist nicht unter ihnen", flüsterte Philip.
Alexandra stieß ein tiefes Seufzen aus. "Der Dunkelheit sei Dank." Doch sie wusste sehr gut, was Philip nur nicht laut ausgesprochen hatte: [noch nicht].
Philip bot ihr seinen Arm an. Sie griff danach, dankbar für die Stütze. Er war ein guter Mann, das Gegenteil seines Halbbruders. Es hatte sie gefreut, als Leland und er traditionsgemäß per Händedruck ihren Vorsatz besiegelt hatten, zu heiraten. Noch glücklicher war sie gewesen, als die beiden sich nach dem Verlobungsjahr tatsächlich zur Ehe entschlossen hatten.
Alexandra blickte zu der Tribüne zurück, auf der Dorothea SaDiablo ihre entsetzliche Rede gehalten hatte. "Glaubst du ihr?", fragte sie leise.
Philip führte Alexandra durch die Zuschauer, die so sehr unter Schock standen, dass sie nichts tun konnten, als zusammengedrängt dazustehen, bis sie den Mut aufbrachten, sich die verstümmelten Leichen anzusehen. "Ich weiß nicht. Selbst wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was sie sagt ... wenn Sadi ..." Es schnürte ihm die Kehle zu.Bis zum heutigen Tage hatte Alexandra Alpträume von Daemon Sadi. Sadi hatte ihr gedroht, als Jaenelle das letzte Mal nach Briarwood gebracht worden war. Er hatte ihr einen Vorgeschmack auf das Grab gegeben. Philips Alpträume handelten gleichfalls von Sadi, was jedoch andere Gründe hatte. Während Daemon Sadi seinen dunklen Kräften freien Lauf gelassen hatte, um den Ring des Gehorsams zu zerbrechen, hatte er die Hälfte der Juwelen tragenden Blutleute in Beldon Mor getötet. Inmitten jenes gewaltsamen Wirbelsturms war Philips Kraft gebrochen worden, und er war auf das grüne Juwel zurückgefallen, das sein Geburtsjuwel war.
"Meine Schwestern und Brüder, ich habe euch heute hier versammelt, um euch vor einer schrecklichen Entdeckung zu warnen, die ich kürzlich gemacht habe. Ein Übel, das eine Bedrohung für jeden einzelnen Angehörigen des Blutes im gesamten Reich Terreille darstellt!
In der Vergangenheit habe ich unsagbar grausame Dinge getan. Ich bin für die Ermordung von Königinnen und einigen der tapfersten Männer des Reiches verantwortlich. Ich habe die Angehörigen des Blutes in Angst und Schrecken versetzt, um Terreille unter meine Kontrolle zu bringen. Ich! Eine Hohepriesterin, die besser als jeder andere weiß, dass eine Priesterin keine Königin ersetzen kann, egal, wie geschickt oder wie stark sie in der Kunst sein mag.
Ich werde die traurige Last dieser Taten für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen müssen. Aber hier und heute sage ich euch: Man hat mich benutzt! Als ich vor ein paar Wochen meine Fähigkeiten als Schwarze Witwe einsetzte, um ein Verworrenes Netz aus Träumen und Visionen zu spinnen, zerriss ich versehentlich einen mentalen Schleier, der mich all die Jahrhunderte hindurch umgeben hatte, in denen ich die Hohepriesterin von Hayll gewesen bin. Ich kämpfte mir einen Weg durch diesen mentalen Nebel und erkannte endlich, wovor mich meine Verworrenen Netze schon seit so langer Zeit hatten warnen wollen.
Es gibt tatsächlich jemanden, der die Macht an sich reißen und über ganz Terreille herrschen will; der sich sämtliche Blutleute in diesem Reich unterwerfen möchte. Aber ich bin es nicht! Ich war das Instrument eines monströsen, bösartigen Wesens, das uns zermalmen und verschlingen möchte, das auf die gleiche Weise mit uns spielt wie eine Katze mit der Maus, kurz bevor sie ihr den tödlichen Schlag versetzt. Dieses Ungeheuer hat einen Namen - einen Namen, der seit vielen tausend Jahren gefürchtet wird - und das zu Recht. Unser aller Feind ist der Prinz der Dunkelheit, der Höllenfürst."
In der Menschenmenge erhob sich unbehagliches Gemurmel.
"Ihr zweifelt an meinen Worten?", rief Dorothea. Sie riss sich den Umhang vom Leib und schleuderte ihn beiseite. Da fiel ihr das strähnige weiße Haar auf die Schultern, das noch vor wenigen Wochen dicht und schwarz gewesen war. Ihr schlaffes, zerfurchtes Gesicht verzog sich, und Tränen traten in ihre goldenen Augen, als aus dem Gemurmel Rufe des Entsetzens wurden. "Seht, was aus mir geworden ist, während ich mich aus dem Bann seines hinterhältigen Zaubers freikämpfte! Seht mich an! Dies ist der Preis, den ich zahlen musste, damit auch ihr endlich die Gefahr erkennt."
Dorothea presste sich eine Hand auf die Brust und rang schluchzend nach Atem.
Ihr Haushofmeister trat vor und griff sanft nach ihrem Arm, um sie zu stützen. "Du musst aufhören, Priesterin. Das hier ist mehr, als du ertragen kannst."
"Nein", stieß Dorothea röchelnd hervor, die ihre Stimme immer noch mithilfe der Kunst verstärkte. "Ich muss ihnen alles berichten, solange ich noch dazu in der Lage bin. Vielleicht ist das hier meine letzte Gelegenheit. Sobald ihm klar wird, dass ich von seinen Machenschaften weiß ..."
Schweigen legte sich über die Zuhörerschaft.
Dorothea ließ die Hand sinken und stand so gerade wie möglich, ohne auf die Schmerzen in ihrer Wirbelsäule zu achten. "Ich war nicht das einzige Instrument des Höllenfürsten. Einigen von euch ist das Unglück widerfahren, Daemon Sadi und Lucivar Yaslana an ihren Höfen zu haben. Möge die Dunkelheit mir verzeihen! Ich schickte diese Ungeheuer in zerbrechliche Territorien, und wegen ihnen sind Königinnen ums Leben gekommen. Manchmal wurden ganze Höfe zerstört. Wie auch Prythian, die Hohepriesterin von Askavi, war ich der Auffassung, wir hätten sie aus freien Stücken in den Dienst an andere Höfe gesandt - in der Hoffnung, die beiden ließen sich vielleicht auf diese Weise zähmen. Doch wir wurden manipuliert und dazu gebracht, sie in genau diese Territorien zu schicken, [weil sie die Söhne des Höllenfürsten sind!] Sie sind dem Samen dieser Bestie entsprungen und nun zu seinen Werkzeugen der Zerstörung herangewachsen. Die Kontrolle, die Prythian und ich über sie zu haben schienen, war nichts weiter als reine Illusion, ein Trugbild, um den wahren Zweck der beiden zu verbergen.
Vor etlichen Jahren verschwanden sie dann. Die meisten von uns hofften, sie seien umgekommen. Dem ist nicht so. Von ein paar mutigen Brüdern und Schwestern, die jetzt in dem kaeleerianischen Territorium Kleinterreille leben, habe ich erfahren, dass sich nicht nur Yaslana, sondern auch Sadi im Schattenreich aufhält, wo der Höllenfürst schon seit einiger Zeit unter dem Deckmantel des Kriegerprinzen von Dhemlan haust. Die Schlangenbrut ist in ihr Nest zurückgekehrt.
Doch das ist noch nicht alles! Der Höllenfürst übt einen ungesunden Einfluss auf die meisten Territoriumsköniginnen in Kaeleer aus. Außerdem hat er eine junge Frau völlig unter seine Kontrolle gebracht, bei der es sich um die stärkste Hexe aller Reiche handelt. Mithilfe ihrer Kraft wird er uns überwältigen - es sei denn, wir schlagen zuerst zu. Uns bleibt keine andere Wahl, meine Brüder und Schwestern. Wenn wir nicht den Höllenfürsten und alle, die in seinen Diensten stehen, vernichten, wird die Brutalität, die ich einst als sein Instrument an den Tag legte, im Vergleich zu seinen Taten geradezu harmlos wirken."
Dorothea hielt einen Augenblick inne. "Viele von euch haben Freunde oder Familienmitglieder, die nach Kaeleer geflohen sind, um der grausamen Barbarei zu entkommen, die Terreille im Würgegriff hält. Seht euch an, was mit denen geschehen ist, die dem Höllenfürsten direkt in die verführerischen Arme gelaufen sind!"
Mithilfe der Kunst fegte sie das Segeltuch hinfort, das die Vorderseite der Tribüne bedeckt hatte. Im nächsten Moment schlug sich Dorothea die Hand vor den Mund, um sich nicht übergeben zu müssen, als sich die Fliegen von den verstümmelten Leichen erhoben.
Rufe drangen durch die Luft. Ein schriller Schrei wütender Trauer übertönte die übrigen Stimmen. Dann erklang ein anderer und noch einer, sobald die Leute, die der Tribüne am nächsten standen, ein vertrautes Gesicht oder ein besonderes Schmuckstück wiedererkannten.
Erneut bediente sich Dorothea der Kunst und breitete das Segeltuch behutsam wieder über die Toten. Sie musste einige Minuten warten, bis die Schreie zu einem gedämpften Schluchzen geworden waren.
"Wisst dies!", rief sie. "Ich werde jedes bisschen Kunst, das ich je erlernt habe, jeden Tropfen Stärke, der in mir steckt, dazu verwenden, diesem Ungeheuer entgegen zu treten. Doch sollte ich alleine kämpfen, werde ich gewiss unterliegen. Wenn wir hingegen gemeinsam kämpfen, haben wir die Chance, uns des Höllenfürsten und seiner Knechte zu entledigen. Viele von uns werden in diesem Krieg zugrunde gehen, aber unsere Kinder ..." Die Stimme versagte ihr. Erst nach einer kurzen Pause konnte sie fortfahren. "Aber unsere Kinder werden die Freiheit kennen, für deren Erhalt wir so teuer bezahlen mussten."
Als sie sich abwandte, geriet sie ins Straucheln. Ihr Haushofmeister und der Hauptmann der Wache stützten sie auf dem Weg über die Tribüne und die Stufen hinab. In den Augen der Männer funkelten Tränen, und sie zeigten einen wilden Stolz, während sie Dorothea für die kurze Fahrt zurück zu ihrem Anwesen fürsorglich in ihren offenen Wagen setzten. Als die beiden sie begleiten wollten, schüttelte sie den Kopf.
"Eure Pflichten liegen hier", hauchte sie matt.
"Aber, Priesterin ...", setzte der Hauptmann der Wache zu einem Protest an.
"Bitte", erwiderte Dorothea. "Eure Stärke wird mir mehr helfen, wenn ihr hier bleibt." Sie rief ein gefaltetes Stück Papier herbei und reichte es dem Haushofmeister. "Wenn die Königinnen mich zu sprechen wünschen, dann vereinbart für heute Nachmittag eine Audienz." Der zweifelnde Gesichtsausdruck des Mannes entging ihr nicht, doch er sagte nichts.
Der Kutscher machte ein leises Schnalzgeräusch in Richtung der Pferde.
Dorothea sank in den Sitz zurück und schloss die Augen, um ihre Schadenfreude zu verbergen. [Nun, du verfluchter Hurensohn, ich habe den ersten Zug getan. Von jetzt an wirst du nichts unternehmen können, das sich nicht gegen dich verwenden ließe.]
2 Terreille
Trotz der warmen Morgensonne zitterte Alexandra Angelline, während sie darauf wartete, dass Philip Alexander von der hölzernen Tribüne zurückkehrte, wo er die verstümmelten Leichen betrachtete. Sie belegte ihr schweres Wollschultertuch mit einem Wärmezauber, obgleich sie wusste, dass es nichts nutzen würde. Keine äußere Wärmequelle war in der Lage, die Kälte in ihrem Inneren zu besiegen.
[Es ist zu früh, dachte sie verzweifelt. Wilhelmina ist erst gestern Morgen durch das Tor gegangen. Sie kann unmöglich hier inmitten der ...]
Vania und Nyselle, die beiden Provinzköniginnen, die sie mitgebracht hatte, waren bereits zusammen mit ihren Begleitern in die Herberge zurückgekehrt. Sie hatten nicht angeboten, zusammen mit ihr auszuharren. Vor ein paar Jahren - ja, noch vor wenigen Wochen - hätten sie es getan. Damals hatten sie noch an sie geglaubt, trotz ihrer familiären Probleme.
Doch vor ein paar Wochen hatte jemand mysteriöse Botschaften an die dreißig stärksten Hexen auf Chaillot versandt - bloß nicht an sie und ihre Tochter Leland. In den Briefen war dazu eingeladen worden, Briarwood zu besichtigen, und darin wurde auch versprochen, das Rätsel zu lösen, was mit den jungen Mädchen geschehen war, die einst in die Klinik eingewiesen worden und dann spurlos verschwunden waren. Briarwood, das erbaut worden war, um unausgeglichene Kinder zu heilen, hatte schon vor etlichen Jahren seine Tore geschlossen; seit dem Zeitpunkt, als eine geheimnisvolle Krankheit ausgebrochen war und Dutzende Männer aus den Aristokratenfamilien in Beldon Mor, Chaillots Hauptstadt, dahingerafft hatte - eine Seuche, die mit jenem Ort in Verbindung zu stehen schien.
Die geladenen Hexen waren an dem festgesetzten Abend dort erschienen und hatten von den Geheimnissen und Schrecken Briarwoods erfahren. Ein dämonentotes Mädchen namens Rose, das sie auf dem Anwesen herumführte, machte sie unerbittlich mit den dortigen Geistern bekannt. Eine Priesterin fand ihre Cousine, die verschwunden war, als sie beide noch Kinder gewesen waren, in eine Wand eingemauert. Eine Provinzkönigin musste erkennen, was von der Tochter einer Freundin übrig geblieben war.
Ihnen wurden die Spielzimmer gezeigt. Sie sahen die Kabinen mit den schmalen Betten. Und sie wurden in den Gemüsegarten geführt und auch zu dem Mädchen mit nur einem Bein.
Starr vor Entsetzen ob der Gräuel, die ihnen offenbart wurden, folgten sie Rose, die ihnen lächelnd in allen Einzelheiten auseinander setzte, wie und warum jedes einzelne Kind gestorben war. Sie berichtete ihnen von den anderen dämonentoten Kindern, die in das Dunkle Reich gegangen waren, um bei den kindelîn tôt zu leben. Sie zählte die Liste von Briarwoods 'Onkeln' auf, den Männern, die diesen Hort der perversen Begierden unterstützt und aufgesucht hatten. Und sie nannte diejenigen gebrochenen Hexen aus aristokratischen Familien, die von ihrer Unausgeglichenheit 'geheilt' - und ihrer inneren Kräfte beraubt - und anschließend nach Hause geschickt worden waren.
Einer der Männer, die Rose erwähnt hatte, war Robert Benedict gewesen, Lelands ehemaliger Gatte und ein wichtiges Mitglied des Rates der Männer. Die Mitgliederzahl jenes Rates war bereits durch die mysteriöse Krankheit stark dezimiert worden.
Als eine Heilerin aus der Gruppe nach der Krankheit gefragt hatte, hatte Rose erneut gelächelt. "Briarwood ist ein süßes Gift, gegen das es kein Heilmittel gibt."
Alexandra umklammerte ihr Schultertuch, ohne dass ihr Zittern nachgelassen hätte.
Die Wut, die durch Chaillot gefegt war, hatte die Insel in Stücke gerissen. Beldon Mor war zu einem Schlachtfeld geworden. Die Mitglieder des Männerrates, die noch nicht an der Krankheit gestorben waren, wurden grausam hingerichtet. Nachdem zahlreiche Männer aus Aristokratenkreisen vergiftet worden waren, flüchteten sich viele andere in Herbergen oder ihre Klubs, weil sie zu große Angst hatten, etwas zu essen, das eventuell durch die Hände der Frauen in ihren Familien gegangen sein könnte.
Nachdem die erste Rachewelle verebbt war, hatte sich der Zorn der Hexen gegen Alexandra gerichtet. Zwar gaben sie ihr nicht die Schuld an Briarwood, denn die Klinik war erbaut worden, noch bevor sie die Königin von Chaillot geworden war; doch erbittert warfen sie Alexandra Blindheit vor. Sie war so darauf bedacht gewesen, Chaillot vor Haylls Einfluss abzuschirmen und trotz des Männerrats nicht all ihre Macht zu verlieren, dass sie die Gefahr nicht erkannt hatte, die längst existierte. Es sei, so sagten die erbosten Hexen, als werfe eine Frau einem Mann vor, ihre Brust zu betatschen, wenn er schon längst seinen Schwanz zwischen ihren Schenkeln versenkt habe.
Sie verurteilten Alexandra, weil Robert Benedict all die Jahre in ihrem Haus gelebt und sich das Bett mit ihrer Tochter geteilt hatte. Wenn sie schon einer Gefahr nicht gewahr wurde, die tagaus, tagein an ihrem Tisch saß, wie konnte sie dann ihr Volk schützen?
Man legte ihr Robert Benedict und all die jungen Hexen zu Lasten, die in Briarwood den Tod gefunden hatten oder zerbrochen worden waren.
Sie selbst gab sich die Schuld daran, was mit Jaenelle, ihrer jüngeren Enkeltochter, geschehen war. Sie hatte zugelassen, dass dieses eigenartige, schwierige Kind an einen derart schrecklichen Ort gebracht worden war. Zwar hatte sie Briarwoods Geheimnisse nicht gekannt, doch wenn sie Jaenelles bizarre Geschichten nicht abgetan, wenn sie das Flehen des Kindes um Aufmerksamkeit erkannt hätte, statt die Kleine als Ärgernis zu sehen, wäre Jaenelle niemals nach Briarwood geschickt worden. Und wenn Alexandra den Hass nicht auf die leichte Schulter genommen hätte, den das Mädchen Dr. Carvay gegenüber an den Tag gelegt hatte, hätte sie die ganze schreckliche Wahrheit dann vielleicht früher herausgefunden?
Sie wusste es nicht. Aber es war zu spät, um im Nachhinein noch Antworten auf ihre Fragen zu erhalten.
Jetzt hatte sie ein weiteres familiäres Problem am Hals. Vor elf Jahren war Wilhelmina Benedict, Roberts Tochter aus erster Ehe, weggelaufen, nachdem sie behauptet hatte, Robert habe sie sexuell belästigt. Philip Alexander, Roberts unehelicher Halbbruder, hatte seine Nichte gefunden, sich jedoch geweigert, ihren Aufenthaltsort bekannt zu geben. Damals war Alexandra wütend auf ihn gewesen, weil er auch ihr nicht verraten hatte, wo sich Wilhelmina befand. In letzter Zeit fragte Alexandra sich, ob Philip vielleicht eine Ahnung gehabt hatte, was sich wirklich hinter Briarwoods sorgsam aufrecht erhaltener Fassade verbarg; zumal es seinem ungestümen Eintreten zu verdanken gewesen war, dass der Ort letzten Endes geschlossen wurde.
Vor zwei Tagen hatte sie einen Brief von Wilhelmina erhalten, in dem stand, dass sie nach Kaeleer gehen werde, ins Schattenreich. Nun, Wilhelmina war mittlerweile siebenundzwanzig, also kein Kind mehr. Egal. Sie war immer noch Teil der Familie. Immer noch ihre Enkelin.
Alexandra schüttelte den Kopf, um den Strom ihrer Gedanken zu unterbrechen. Da sah sie Philip, der auf sie zukam. Mit angehaltenem Atem blickte sie ihm forschend in die grauen Augen.
"Sie ist nicht unter ihnen", flüsterte Philip.
Alexandra stieß ein tiefes Seufzen aus. "Der Dunkelheit sei Dank." Doch sie wusste sehr gut, was Philip nur nicht laut ausgesprochen hatte: [noch nicht].
Philip bot ihr seinen Arm an. Sie griff danach, dankbar für die Stütze. Er war ein guter Mann, das Gegenteil seines Halbbruders. Es hatte sie gefreut, als Leland und er traditionsgemäß per Händedruck ihren Vorsatz besiegelt hatten, zu heiraten. Noch glücklicher war sie gewesen, als die beiden sich nach dem Verlobungsjahr tatsächlich zur Ehe entschlossen hatten.
Alexandra blickte zu der Tribüne zurück, auf der Dorothea SaDiablo ihre entsetzliche Rede gehalten hatte. "Glaubst du ihr?", fragte sie leise.
Philip führte Alexandra durch die Zuschauer, die so sehr unter Schock standen, dass sie nichts tun konnten, als zusammengedrängt dazustehen, bis sie den Mut aufbrachten, sich die verstümmelten Leichen anzusehen. "Ich weiß nicht. Selbst wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was sie sagt ... wenn Sadi ..." Es schnürte ihm die Kehle zu.Bis zum heutigen Tage hatte Alexandra Alpträume von Daemon Sadi. Sadi hatte ihr gedroht, als Jaenelle das letzte Mal nach Briarwood gebracht worden war. Er hatte ihr einen Vorgeschmack auf das Grab gegeben. Philips Alpträume handelten gleichfalls von Sadi, was jedoch andere Gründe hatte. Während Daemon Sadi seinen dunklen Kräften freien Lauf gelassen hatte, um den Ring des Gehorsams zu zerbrechen, hatte er die Hälfte der Juwelen tragenden Blutleute in Beldon Mor getötet. Inmitten jenes gewaltsamen Wirbelsturms war Philips Kraft gebrochen worden, und er war auf das grüne Juwel zurückgefallen, das sein Geburtsjuwel war.
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Autoren-Porträt von Anne Bishop
Die New Yorkerin Anne Bishop, seit ihrer Kindheit von Fantasy-Geschichten begeistert, veröffentlichte zahlreiche Kurzgeschichten und Romane, bevor ihr mit dem preisgekrönten Bestseller "Dunkelheit" der internationale Durchbruch gelang. Ihre ebenso Saga "Die schwarzen Juwelen" zählt zu den erfolgreichsten Werken moderner Fantasy.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anne Bishop
- 2006, 574 Seiten, Maße: 11,8 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Brammertz, Ute
- Herausgegeben: Natalja Schmidt
- Übersetzer: Ute Brammertz
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453530454
- ISBN-13: 9783453530454
Rezension zu „Schatten / Die schwarzen Juwelen Bd.3 “
"Anne Bishops einzigartige Saga um Liebe, Macht und Obsession zählt zu den eindringlichsten Werken moderner Fantasy. Unnachahmlich verbindet sie ein phantastisches Epos mit purer Leidenschaft."
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