Schlaf, Kindlein, schlaf
Thriller. Deutsche Erstausgabe
DIE Neuentdeckung aus Skandinavien!
Auf dem altehrwürdigen Golden-Oak-Friedhof werden Tote überirdisch bestattet. Der sumpfige Grund würde sie hinaufschwemmen. Eines Abends hört der Friedhofswärter...
Auf dem altehrwürdigen Golden-Oak-Friedhof werden Tote überirdisch bestattet. Der sumpfige Grund würde sie hinaufschwemmen. Eines Abends hört der Friedhofswärter...
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Produktinformationen zu „Schlaf, Kindlein, schlaf “
DIE Neuentdeckung aus Skandinavien!
Auf dem altehrwürdigen Golden-Oak-Friedhof werden Tote überirdisch bestattet. Der sumpfige Grund würde sie hinaufschwemmen. Eines Abends hört der Friedhofswärter Geräusche. Er nähert sich einem der mondbeschienenen Mausoleen. Was er darin findet, erschüttert ihn zutiefst: ein Kind - lebendig begraben! In derselben Nacht trifft die junge Máire Ann Mercer auf eine misshandelte Frau. Sie holt Hilfe, doch als sie wiederkehrt, ist die Verletzte verschwunden. Und niemand glaubt ihr, dass es die Frau je gegeben hat.
Auf dem altehrwürdigen Golden-Oak-Friedhof werden Tote überirdisch bestattet. Der sumpfige Grund würde sie hinaufschwemmen. Eines Abends hört der Friedhofswärter Geräusche. Er nähert sich einem der mondbeschienenen Mausoleen. Was er darin findet, erschüttert ihn zutiefst: ein Kind - lebendig begraben! In derselben Nacht trifft die junge Máire Ann Mercer auf eine misshandelte Frau. Sie holt Hilfe, doch als sie wiederkehrt, ist die Verletzte verschwunden. Und niemand glaubt ihr, dass es die Frau je gegeben hat.
Lese-Probe zu „Schlaf, Kindlein, schlaf “
Charleston, South Carolina, 1982 Es war sechs Uhr. Die Sonne war untergegangen, und der Friedhof ruhte dunkel unter den Bäumen. Die Baumkronen schienen sich erdwärts zu neigen, und die Äste und Blätter verzweigten sich zu undurchdringlichen Dächern. Nur ein Zikadenchor durchbrach die Stille und sang ungesehen in der Nähe. Der Gesang hallte zwischen den Bäumen wider, ein Rad quietschte, und Kies knirschte unter einem Paar grüner Gummistiefel in Größe fünfundvierzig.
Die Gummistiefel gehörten dem alten Charles Peabody. Er war der Mann für alles, angestellt beim Golden-Oak-Friedhof. Wie ein dunkler Schatten seiner selbst ging er den verlassenen Kiesweg entlang, sein langes Haar lugte unter dem unförmigen Filzhut hervor. Hacke und Schaufel hatte er in die mit feuchter Erde gefüllte Schubkarre gelegt, die er vor sich herschob. Er holte tief Luft. Es fiel ein feiner Sprühregen, und er genoss den frischen Geruch von Erde und Gras, den der leichte Wind mitführte.
Mit einer Hand schlug er ein Spinngewebe beiseite, das ihm im Weg war, und bog langsam auf den Weg mit dem Rosenspalier ein, der in den alten Teil des Friedhofs führte. Verwelkte Rosenblätter fielen wie weiße Flügel auf den nassen Erdboden vor ihm.
"Paradies!", flüsterte er und wischte die klebrigen Fäden an seinem Overall ab. An diesem unprätentiösen Ort ruhten alle, die er geliebt und mit denen er gerne geredet hatte.
Er hatte ein gutes Leben gehabt, aber jetzt träumte er oft vom Tod und davon, wieder mit Martha vereint zu sein: Der abgenutzte Ehering saß immer noch auf seinem linken Ringfinger, allerdings war er in den letzten paar Jahren immer lockerer geworden. Der Gedanke, dass der Tod bald kommen und ihn holen würde, machte ihn glücklich. Hoffentlich würde es bald so weit sein! Er hatte sich in jeder Hinsicht auf sein körperliches Ende vorbereitet, einen Grabstein bestellt und eine Grabstelle oben im neuen Oak ausgesucht.
In diesem Teil des Golden-Oak-Friedhofs wurde inzwischen niemand
... mehr
mehr begraben - das letzte Begräbnis lag Jahrzehnte zurück, und die, die hier ruhten, waren seit Langem vergessen. Besucher kamen nur selten, vielleicht mit Ausnahme von Allerheiligen, wenn der alte Friedhof der beliebteste Ort in der ganzen Stadt war und die Kinder über das hohe schmiedeeiserne Gitter kletterten, um Papierskelette und Laternen in die Bäume zu hängen und sich gegenseitig einen Mordsschrecken einzujagen.
Nach dreiunddreißigjähriger Dienstzeit auf dem Golden-Oak-Friedhof - zunächst als Totengräber, dann als "Mann für alles" - kannte Charles Peabody diesen Ort besser als die eigene Westentasche. Er kannte all seine Geräusche: den Gesang der Zikaden und Vögel, das Quaken der Laubfrösche, das Flüstern des Windes in den Baumkronen. Er kannte jedes Grab, jeden Baum und Strauch, jedes Moosbüschel auf den in Licht und Schatten getauchten Pfaden.
Jetzt blieb er in der Dämmerung stehen, denn er spürte plötzlich, dass irgendetwas nicht stimmte, ohne genau sagen zu können, was es war. Er legte den Kopf schief, um sich auf die Geräusche des Friedhofs zu konzentrieren, musterte die bröckelnde, mit Efeu bewachsene Mauer und die in Reihe stehenden Eichen auf der anderen Seite, die zur katholischen Kirche St. Mary führten. Ein Eichelhäher hüpfte in dem gigantischen schwarzborkigen Geäst hin und her, dass die Blätter plötzlich erzitterten, gerade wie es ihnen gefiel. Nichts Ungewöhnliches.
Charles Peabody kniff die Augen zusammen und ließ seinen Blick nach unten gleiten. Die Hitze lag schwer auf seinen Lidern. Er zog sein Taschentuch heraus und betupfte die Augen. Seine Sehkraft war nicht mehr das, was sie mal war - der graue Star hatte ihm nach und nach das meiste davon genommen -, aber er konnte gerade noch erahnen, dass das schmiedeeiserne Gitter von Eugenia Mayers altem Mausoleum aus gehauenem Marmor offen stand. Die Pforte quietschte leise wie ein Klageruf in den Angeln.
"Verdammte Bande!" Seine Miene verfinsterte sich, er setzte die Schubkarre ab und ging, um die Pforte zu schließen. Sternjasmin wuchs an den Seiten der Grabstätte hinauf und umrankte das grüne Eisengitter ringsum wie ein Kleid.
Als er die Hand auf das kalte Eisen legte und auf ein Büschel weiße Blumen trat, stieß er ein leises überraschtes Lachen aus - oder eher ein ungläubiges Keuchen - und zog die Hand mit einem raschen Ruck wieder zurück.
Er starrte auf das Mausoleum.
Das perlweiße Steinhaus leuchtete in der Dunkelheit. Charles zwinkerte und merkte, wie eine Gänsehaut von den Fingerspitzen über die Arme bis zu seinem Rücken kroch.
War das Einbildung, oder hatte er gerade ein unheimliches, schwaches Jammern aus dem Inneren der Gruft gehört?
Nein. Das war unmöglich. Er schüttelte den Kopf. Ihm standen alle Nackenhaare zu Berge, aber die Logik sagte ihm, dass natürlich niemand da drinnen sein konnte - außer Eugenia Mayers kalte, entseelte Gebeine.
Charles stand wie angewurzelt und lauschte gebannt. Aber er hörte nur die Stille, die von dem lauten Schlagen seines Herzens unterbrochen wurde, das in seinem Brustkorb hämmerte.
"Ist da jemand?", fragte er fast flüsternd. Er schluckte, wartete einen Augenblick und wagte noch einen Versuch: "Hallo?"
Nichts.
Charles hielt eine Weile in der schweren Stille inne, dann ging er den schmalen, überwachsenen Pfad zur Gruft entlang und stocherte an der Platte herum, die den Zugang zum Sarkophag verschloss. Er ging in die Knie, ergriff den Stein und versuchte, ihn anzuheben. All seine Knochen schmerzten. Er stöhnte laut auf, aber der Stein bewegte sich keinen Millimeter.
Er seufzte und richtete sich wieder auf. Er rieb sich die Hände, und in seine Stirn grub sich eine tiefe Falte. Fast schien es, als wäre die Platte festgeleimt. Außerdem wirkte sie eigenartig deplatziert ^ Langsam wurde ihm klar, was daran so merkwürdig war. Eine Gruft wurde mit Mörtel und Backstein versiegelt - so war es schon immer gewesen. Nicht mit Leim und Marmorplatten.
Charles Peabody hielt den Atem an und spürte seinen Puls an den Schläfen. Er kratzte mit dem Fingernagel an der Fuge zwischen Marmorplatte und Steinwand. Er kniff die Augen zusammen, bis aus den Falten in seinem länglichen Bluthundgesicht tiefe Furchen wurden: Wenn die mal nicht festgeleimt worden war. Genau das war sie! Und bei näherem Hinsehen wollte er wetten, dass die Oberfläche der Marmorplatte verriet, dass sie nagelneu war. Jetzt wusste er, wenn er die Platte lösen würde, käme dahinter nicht das typische Mauerwerk zum Vorschein. Dieses Grab war geöffnet worden, das war so sicher wie das Amen in der Kirche - geöffnet und wieder verschlossen worden.
Und es befand sich jemand da drinnen. Das spürte er mit einer instinktiven Gewissheit, die keinen Zweifel zuließ.
"Hallo, ist da jemand?", fragte er zaghaft.
Er trat gegen die widerspenstige Platte und versuchte erneut, sie zur Seite zu schieben. Seine Finger und Zehen begannen zu schmerzen, eine Erinnerung an seine Gicht, die immer schlimmer wurde, eine Erinnerung an sein Alter - eine Erinnerung, die er jetzt wirklich nicht gebrauchen konnte.
Er hielt einen Augenblick inne und lauschte den Zikaden. vielleicht bildete er sich das alles nur ein? Vielleicht spielte ihm sein Gehör einen Streich? Oder vielleicht litt er auf seine alten Tage an Verwirrtheit?
Da durchbrach ein leiser Schrei die Stille. Dann noch einer _ und sie stammten eindeutig aus dem Grabesinneren.
Charles schnappte nach Luft. Sein Puls wurde schneller. Seine Wangen röteten sich. Sein Unterkiefer klappte nach unten. "Du großer Gott."
"Ahhh tönte es aus dem Grab. "Aaaa." Dieser schwache, wortlose Klageruf ließ Charles zusammenzucken. Angst und Schmerz hatten den Schrei ausgelöst.
Und was noch schlimmer war: Er klang wie der eines Kindes.
So schnell ihn seine schwachen Beine tragen konnten, stürzte er zur Schubkarre zurück und holte die Hacke.
Charles spuckte in die Hände, schwang die Hacke über den Kopf und ließ sie mit klingendem Geräusch abwärts auf den massiven Stein sausen; ein, zwei, drei Mal. Selbst mit der Hacke war das ein beschwerliches Unterfangen. Seine Muskeln in Schultern und Rücken knarzten wie rostige Scharniere, und ihm brach der Schweiß am ganzen Körper aus. Aber nach einer Weile hatte er eine kleine Ecke von der Platte abgeschlagen. Er bohrte das spitze Ende seines Werkzeugs in das Loch, zog und wurde mit einem schmatzenden Geräusch belohnt, als der Leim endlich nachgab. Charles legte die Hacke beiseite, sog Luft in seine Lungen und hielt die Platte an beiden Seiten fest. Dann stemmte er sie hoch und kippte sie zur Seite.
Wie er es sich schon gedacht hatte, war das alte Mauerwerk dahinter aufgebrochen worden und die Gruft war offen.
Er ging in die Knie, stützte sich mit der linken Hand am Grab ab, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und blickte hinein. Zunächst dachte er, er wäre blind. Seine Augen waren offen, aber sie sahen nichts. Dichte, schwarze Finsternis hüllte alles ein. Und der alte Grabkammergestank war erdrückend.
"Hallo? Ist da jemand?" Seine Stimme war heiser von dem Staub und wurde als Flüstern von den Marmorwänden zu ihm zurückgeworfen.
Stille... dann ein rasches, kaum hörbares Scharren. Das Geräusch kam aus der Dunkelheit.
Charles Peabody zögerte einen Augenblick, dann machte er sich noch kleiner und zwängte sich in den schmalen Gang hinein. Die Luft in der halb unter der Erde liegenden Kammer war zehn bis fünfzehn Grad wärmer, und er begann stark zu schwitzen. Abgesehen von dem penetranten Gestank nach Feuchtigkeit und Schimmel, der aus den Anfängen des vergangenen Jahrhunderts stammen musste, nahm Charles den Geruch von Exkrementen wahr. Der saure Gestank stach ihn in der Nase.
Er fingerte in der Brusttasche nach seinem Feuerzeug, fand es und hielt die andere Hand schützend vor die Flamme. Bis zum Erdboden war es noch ein Meter. Die klaustrophobisch kleine Katakombe war knapp drei Meter breit, vier Meter lang und wölbte sich etwa zwei Meter in einem gotischen Bogen. Am Boden stand auf einer kleinen Erhöhung der alte, verwitterte Sarkophag mit einem geschnitzten Kreuz auf dem Deckel.
Charles ließ sich vorsichtig auf den steinernen Boden der Grabkammer hinuntergleiten. Er konnte sein Herz klopfen hören, und ein Frösteln schüttelte seinen Körper, als er sich umsah. Neben dem Sarkophag lagen eine Wasserflasche, zwei fast heruntergebrannte Stearinkerzen und Verbandsmaterial mit Blutflecken. Das alles war neueren Datums. Charles fiel außerdem auf, dass im Erdboden um den Sarkophag herum Kratzspuren zu sehen waren, aber als er die Flamme seines Feuerzeugs größer stellte, begriff er, dass es sich um eine - wenn auch undeutliche - Inschrift handelte. Er konnte das Wort Grace entziffern.
Er runzelte die Stirn, machte einen langen Hals und lehnte sich über den Sarkophag.
Die spärliche Flamme flackerte und spendete nicht mehr viel Licht, aber dennoch hob sich hinter dem Sarg eine kleine, nackte menschliche Gestalt von der Dunkelheit ab.
Sie hatte keine Haare, deswegen konnte er nicht erkennen, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelte, aber nach der Körpergröße zu urteilen, war es ein Kind. Die Gestalt bewegte sich, sie zitterte und hatte offenbar Schmerzen. In den Armen steckten blanke, metallische Gegenstände und die Haut glänzte wie rohe Leber.
"Oh großer Gott", flüsterte Charles atemlos und musste sich mit beiden Händen am Sarkophag festhalten, um nicht umzufallen. "Allmächtiger!"
Es gelang ihm, das Feuerzeug nicht loszulassen, aber seine Hand zitterte so stark, dass die Flamme ausging.
In der Dunkelheit hörte er ein ersticktes Stöhnen, und im gleichen Augenblick griff etwas Feuchtkaltes nach seinem Handgelenk. Es fühlte sich ungefähr so an wie ein lebendiger Zweig. Er unterdrückte einen Schrei, und Angst überwältigte ihn. Unsanft setzte er sich und machte zitternd das Feuerzeug wieder an. Er blickte auf und sah eine kleine blutverschmierte Hand, die derart übel zugerichtet war, dass er das Feuerzeug wieder sinken ließ.
Grace White war mehr tot als lebendig, als Charles Peabody die grausame Entdeckung machte, und im Krankenwagen auf dem Weg in die Kindred-Klinik hüllte die ewige Finsternis sie barmherzig und für immer ein.
Während die Polizei etwas zu finden versuchte, was auf den Täter hindeuten konnte, wurde der Vorfall in den Spätnachrichten gebracht: "Ein lähmender Schock liegt heute Abend über unserer Stadt sagte die Korrespondentin vor Ort, eine junge Frau in einem hellgrünen, maßgeschneiderten Hosenanzug. Die Kamera schwenkte langsam über den Golden-Oak-Friedhof, der in dem grellen Scheinwerferlicht von Polizei und Fernsehteams wie bloßgestellt aussah, weiter über den Pfad, der zur Nordseite führte, wo sich die Bäume behäbig neigten und das spanische Moos im Licht wie Silberfäden glänzte, und an der Kirche vorbei. Dann wurde das Bild von einem Schulfoto von Grace White abgelöst, auf dem sie schüchtern lächelte.
Die Reporterin berichtete, dass die elfjährige Grace White mit den Handflächen an einem Sarkophag festgenagelt und bei lebendigem Leib von ihrem Mörder begraben worden war. Außerdem wurde erwähnt, dass sie sexuell missbraucht worden war und der Täter sie drei Tage lang ungeheuerlichen Folterspielen ausgesetzt hatte, bevor er sie in der Hitze des bevorstehenden Sommers im Eiltempo hatte verrotten lassen wollen.
Der Police Detective trat ins Bild und erklärte: "Wir wissen noch nicht viel. Das Grab wird auf Spuren und Fingerabdrücke untersucht, mit denen wir weiterarbeiten werden, außerdem wird die Tote obduziert."
"Wie würden Sie die Tat beschreiben?"
"Bestialisch und psychopathisch - außergewöhnlich brutal und bestialisch." Der Police Detective schüttelte den Kopf. "Ich habe noch nie etwas Derartiges erlebt, und ich bin jetzt seit vierzehn Jahren bei der Polizei."
Die Journalistin fuhr fort: "Grace White hat ihr Heim am Freitagmorgen verlassen, um in die Schule zu gehen, kehrte jedoch nie von dort zurück. Sie wurde heute Abend hier gefunden, misshandelt und verunstaltet zurückgelassen _ zurückgelassen in einem Grab an diesem Ort des Todes, das bis jetzt sein Geheimnis für sich behält."
"Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes Die Stimme des Pfarrers erstarb, bevor er das Kreuzzeichen machte und sich bückte, um den letzten Akt des Begräbnisrituals auszuführen, und mit einer kleinen Schaufel dreimal geweihte Erde auf den Sargdeckel fallen ließ.
Der Himmel war bleigrau, und der Regen prasselte wie ein lautes Flüstern auf die riesigen Baumkronen der Eichen auf dem Golden-Oak-Friedhof nieder. Das Trauergefolge hatte sich auf dem Rasen um das frische Grab herum aufgestellt, und die Gedenkfeier war soeben zu Ende gegangen. Schwarze Regenschirme wurden aufgespannt, die Kirchenglocken läuteten beharrlich und schicksalhaft.
Es war ein großes Aufgebot gekommen. Alle Schüler der fünften Klasse der katholischen Grundschule waren da, die Klassenlehrerin des toten Mädchens, ein Großteil der Eltern der Schülerinnen und Schüler und die Schulleitung. Die Schlagzeilen der Charleston Post and Courier sowie alle anderen Zeitungen des Staates hatten das ihre dazu beigetragen, dass Grace White eine letzte Reise zurücklegte, die der eines Rockstars glich. Horden von Schaulustigen strömten wie ein summendes Wespennest durch das Gittertor und stellten sich gemäß der polizeilichen Anweisungen an der Kirchenmauer auf.
Die Familie der Verstorbenen sowie ihre Freunde standen direkt neben dem Sarg, dicht zusammengedrängt, in vom Regen durchnässter Trauerkleidung - die Gesichter unter breiten Hutkrempen, Kapuzen und hinter Sonnenbrillen oder hauchdünnen Schleiern verborgen. Die Nachwirkungen des makaberen Verbrechens lagen wie eine ätzende Säure in der Luft über der Trauergesellschaft. Einige standen stumm vor Entsetzen und betrachteten den weißen Sarg, der seine Reise ins Erdreich angetreten hatte, die in der Tiefe mit einem deutlich hörbaren Aufprall endete, andere weinten, beteten und küssten sich die Hände, ein Mädchen musste sich in ihr Taschentuch übergeben. Die Eltern der Toten waren das Sinnbild unsagbarer Trauer. Der Vater schüttelte fortwährend den Kopf als Ausdruck eines stummen Protests, während er seine Frau stützte - eine geisterhafte Erscheinung in schwarzem Rock, mit leerem Blick und zitternden Händen, die aussah, als stünde sie kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, und als würde die Trauer sie mit in das offene Grab hinabreißen.
Unter den Trauernden standen zwei elfjährige Schüler mit gesenkten Köpfen, relativ unbemerkt in der Anonymität zweier ganz gewöhnlicher Buben. Sie wirkten harmlos und unverdächtig, obwohl ihre Augen die einzig trockenen waren. Wie zwei perfekte Chamäleons, allein mit ihren Erinnerungen - jeder von ihnen ein auserlesener, abenteuerlicher und spannender Teil der Erinnerungen; Demütigung, Angst, Leiden und Tod.
Sie hatten ihr Geheimnis besiegelt. Einen Blutpakt. Es gab keinen Weg zurück, sie besaßen keinen moralischen Kompass, nicht die geringste Empfindung. Und obwohl sie die Gestalten von Elfjährigen besaßen, hatten sie nichts Menschliches oder Anständiges an sich.
Einer der Jungen hob leicht den Kopf und schielte zu seinem Mitstreiter hinüber - ein flüchtiger Blick, den keiner der Anwesenden bemerkte. Über sein Gesicht huschte ein zufriedenes Lächeln. Der andere unterdrückte ein verschmitztes Grinsen, schob unauffällig einen Kaugummiklumpen von einer Wange in die andere, senkte den Kopf und strich sich die Haare aus der Stirn.
Charleston, South Carolina, 1998 Er glotzte - ein aufdringliches, unverhohlenes Starren, das bei ihr ein Gefühl des Unbehagens auslöste. Er war den gesamten Abend durch den Raum geschritten wie ein ruheloser Geist, aber im Lauf der letzten halben Stunde hatte er sich näher herangeschlichen und stand nun neben ihr. Sie spürte das instinktiv, obwohl sie ihn in diesem Moment nicht sehen konnte.
Mark Knopfer und seine elektrische Gitarre dröhnten mit Sultans of Swing derart laut aus den riesigen Boxen, dass der Boden vibrierte und die Wände bebten. Das Wachs von Hunderten Kerzen in zitternden Leuchtern tropfte zu Boden und bildete kleine Berge von geschmolzenem Stearin auf dem Fliesenmosaik.
Chelsea Ford stand mit dem Rücken am Kaminsims hinter einer Traube junger Mädchen, die im Rhythmus der Musik ihre Hüften wiegten. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Im Saal drängten sich zahllose Gäste in Feierlaune, Zigarettenrauch und Gesprächsfetzen machten die Luft undurchdringlich. Chelsea kannte niemanden, sie war nur wegen Jasmin mitgekommen. Jasmin hatte irgendeinen Typen beim Chatten im Internet kennengelernt, den sie treffen wollte, und Chelsea fungierte als Rettungsanker, falls ihre Freundin sitzen gelassen wurde oder der Typ komplett verrückt war.
Chelsea war schwindelig und warm, und in ihrem Magen rumorte es wie in einer Waschmaschine. Sie hielt nach ihrer Freundin Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken. Chelsea drehte sich um und ging nach draußen, um dort nach ihr zu suchen _ Und lief geradewegs in ihn hinein.
Sie wusste, dass er das so eingefädelt hatte, auch wenn es natürlich wie ein reiner Zufall aussehen sollte. Er lächelte teuflisch und zog ihr mit seinem Blick den Slip bis zu den Knöcheln. Die Kerzenflammen flackerten in seinem diabolischen Blick, das einnehmende Lächeln kam nicht in seinen Augen an und verschwand wieder.
Er war kein grausamer Mensch - sicherlich nicht -, aber auch nicht besonders nett, obwohl er zweifelsohne zu denjenigen zählte, die viel Zeit damit verbrachten, vor dem Spiegel zu posieren. Man konnte gut und gerne sagen, dass er recht durchschnittlich aussah, wenn man seinen mit Steroiden vollgepumpten Körper außer Acht ließ. Aber es gab etwas, wodurch er sich von der Menschenmenge im Saal abhob. Etwas, das eine Gänsehaut verursachte.
Nach einem endlos langen Augenblick, in dem er ihr jedes Mal, wenn sie versuchte, an ihm vorbeizukommen, in den Weg trat, seufzte sie und fragte: "Was willst du?"
"Wenn man verrät, was man will, kriegen es die Leute manchmal mit der Angst", entgegnete er mit leiser, seidenweicher Stimme, die überhaupt nicht zu seinem neunzig Kilo schweren, massigen Körper passte.
Sie hob die Brauen und musterte ihn kühl. "Ist es denn so gefährlich, was du willst?" Sie bereute ihre Frage sofort.
Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: "Ich würde dir fünfhundert Dollar geben, wenn ich dich ficken könnte."
Sie zog den Kopf zurück. Er strahlte Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit aus. Sein schwarzes Haar war mit glänzendem Wachs zurückgekämmt, und sein hellgelbes Hemd bis zur Brust aufgeknöpft.
"Wie bitte?" Sie dachte, sie müsste sich verhört haben, war sich aber dennoch unsicher.
Er machte eine nickende Kopfbewegung in Richtung Treppenabsatz, wo die dunklen Stufen in einer Kurve nach oben führten. "Da oben gibt es ein schönes weiches Bett!"
Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn verächtlich. Sie hatte sich doch nicht verhört. "Das soll wohl witzig sein."
Er lächelte schief und machte einen Schritt auf sie zu, sodass sein Glied unmittelbar vor ihrem Unterleib verweilte. Dann legte er eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie leicht.
"Fass mich nicht an!" Chelsea spürte, wie der Rumgeschmack aus dem Magen in ihren Hals aufstieg, und die Alarmglocken schrillten in ihrem Kopf. Sie sah ihn nicht direkt an. Ihm in die Augen zu sehen, würde den Moment wirklicher machen. "Du bist widerlich und anscheinend geistig minderbemittelt, und ich würde lieber Rasierklingen essen, als mich von dir anfassen zu lassen!"
Nach dreiunddreißigjähriger Dienstzeit auf dem Golden-Oak-Friedhof - zunächst als Totengräber, dann als "Mann für alles" - kannte Charles Peabody diesen Ort besser als die eigene Westentasche. Er kannte all seine Geräusche: den Gesang der Zikaden und Vögel, das Quaken der Laubfrösche, das Flüstern des Windes in den Baumkronen. Er kannte jedes Grab, jeden Baum und Strauch, jedes Moosbüschel auf den in Licht und Schatten getauchten Pfaden.
Jetzt blieb er in der Dämmerung stehen, denn er spürte plötzlich, dass irgendetwas nicht stimmte, ohne genau sagen zu können, was es war. Er legte den Kopf schief, um sich auf die Geräusche des Friedhofs zu konzentrieren, musterte die bröckelnde, mit Efeu bewachsene Mauer und die in Reihe stehenden Eichen auf der anderen Seite, die zur katholischen Kirche St. Mary führten. Ein Eichelhäher hüpfte in dem gigantischen schwarzborkigen Geäst hin und her, dass die Blätter plötzlich erzitterten, gerade wie es ihnen gefiel. Nichts Ungewöhnliches.
Charles Peabody kniff die Augen zusammen und ließ seinen Blick nach unten gleiten. Die Hitze lag schwer auf seinen Lidern. Er zog sein Taschentuch heraus und betupfte die Augen. Seine Sehkraft war nicht mehr das, was sie mal war - der graue Star hatte ihm nach und nach das meiste davon genommen -, aber er konnte gerade noch erahnen, dass das schmiedeeiserne Gitter von Eugenia Mayers altem Mausoleum aus gehauenem Marmor offen stand. Die Pforte quietschte leise wie ein Klageruf in den Angeln.
"Verdammte Bande!" Seine Miene verfinsterte sich, er setzte die Schubkarre ab und ging, um die Pforte zu schließen. Sternjasmin wuchs an den Seiten der Grabstätte hinauf und umrankte das grüne Eisengitter ringsum wie ein Kleid.
Als er die Hand auf das kalte Eisen legte und auf ein Büschel weiße Blumen trat, stieß er ein leises überraschtes Lachen aus - oder eher ein ungläubiges Keuchen - und zog die Hand mit einem raschen Ruck wieder zurück.
Er starrte auf das Mausoleum.
Das perlweiße Steinhaus leuchtete in der Dunkelheit. Charles zwinkerte und merkte, wie eine Gänsehaut von den Fingerspitzen über die Arme bis zu seinem Rücken kroch.
War das Einbildung, oder hatte er gerade ein unheimliches, schwaches Jammern aus dem Inneren der Gruft gehört?
Nein. Das war unmöglich. Er schüttelte den Kopf. Ihm standen alle Nackenhaare zu Berge, aber die Logik sagte ihm, dass natürlich niemand da drinnen sein konnte - außer Eugenia Mayers kalte, entseelte Gebeine.
Charles stand wie angewurzelt und lauschte gebannt. Aber er hörte nur die Stille, die von dem lauten Schlagen seines Herzens unterbrochen wurde, das in seinem Brustkorb hämmerte.
"Ist da jemand?", fragte er fast flüsternd. Er schluckte, wartete einen Augenblick und wagte noch einen Versuch: "Hallo?"
Nichts.
Charles hielt eine Weile in der schweren Stille inne, dann ging er den schmalen, überwachsenen Pfad zur Gruft entlang und stocherte an der Platte herum, die den Zugang zum Sarkophag verschloss. Er ging in die Knie, ergriff den Stein und versuchte, ihn anzuheben. All seine Knochen schmerzten. Er stöhnte laut auf, aber der Stein bewegte sich keinen Millimeter.
Er seufzte und richtete sich wieder auf. Er rieb sich die Hände, und in seine Stirn grub sich eine tiefe Falte. Fast schien es, als wäre die Platte festgeleimt. Außerdem wirkte sie eigenartig deplatziert ^ Langsam wurde ihm klar, was daran so merkwürdig war. Eine Gruft wurde mit Mörtel und Backstein versiegelt - so war es schon immer gewesen. Nicht mit Leim und Marmorplatten.
Charles Peabody hielt den Atem an und spürte seinen Puls an den Schläfen. Er kratzte mit dem Fingernagel an der Fuge zwischen Marmorplatte und Steinwand. Er kniff die Augen zusammen, bis aus den Falten in seinem länglichen Bluthundgesicht tiefe Furchen wurden: Wenn die mal nicht festgeleimt worden war. Genau das war sie! Und bei näherem Hinsehen wollte er wetten, dass die Oberfläche der Marmorplatte verriet, dass sie nagelneu war. Jetzt wusste er, wenn er die Platte lösen würde, käme dahinter nicht das typische Mauerwerk zum Vorschein. Dieses Grab war geöffnet worden, das war so sicher wie das Amen in der Kirche - geöffnet und wieder verschlossen worden.
Und es befand sich jemand da drinnen. Das spürte er mit einer instinktiven Gewissheit, die keinen Zweifel zuließ.
"Hallo, ist da jemand?", fragte er zaghaft.
Er trat gegen die widerspenstige Platte und versuchte erneut, sie zur Seite zu schieben. Seine Finger und Zehen begannen zu schmerzen, eine Erinnerung an seine Gicht, die immer schlimmer wurde, eine Erinnerung an sein Alter - eine Erinnerung, die er jetzt wirklich nicht gebrauchen konnte.
Er hielt einen Augenblick inne und lauschte den Zikaden. vielleicht bildete er sich das alles nur ein? Vielleicht spielte ihm sein Gehör einen Streich? Oder vielleicht litt er auf seine alten Tage an Verwirrtheit?
Da durchbrach ein leiser Schrei die Stille. Dann noch einer _ und sie stammten eindeutig aus dem Grabesinneren.
Charles schnappte nach Luft. Sein Puls wurde schneller. Seine Wangen röteten sich. Sein Unterkiefer klappte nach unten. "Du großer Gott."
"Ahhh tönte es aus dem Grab. "Aaaa." Dieser schwache, wortlose Klageruf ließ Charles zusammenzucken. Angst und Schmerz hatten den Schrei ausgelöst.
Und was noch schlimmer war: Er klang wie der eines Kindes.
So schnell ihn seine schwachen Beine tragen konnten, stürzte er zur Schubkarre zurück und holte die Hacke.
Charles spuckte in die Hände, schwang die Hacke über den Kopf und ließ sie mit klingendem Geräusch abwärts auf den massiven Stein sausen; ein, zwei, drei Mal. Selbst mit der Hacke war das ein beschwerliches Unterfangen. Seine Muskeln in Schultern und Rücken knarzten wie rostige Scharniere, und ihm brach der Schweiß am ganzen Körper aus. Aber nach einer Weile hatte er eine kleine Ecke von der Platte abgeschlagen. Er bohrte das spitze Ende seines Werkzeugs in das Loch, zog und wurde mit einem schmatzenden Geräusch belohnt, als der Leim endlich nachgab. Charles legte die Hacke beiseite, sog Luft in seine Lungen und hielt die Platte an beiden Seiten fest. Dann stemmte er sie hoch und kippte sie zur Seite.
Wie er es sich schon gedacht hatte, war das alte Mauerwerk dahinter aufgebrochen worden und die Gruft war offen.
Er ging in die Knie, stützte sich mit der linken Hand am Grab ab, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und blickte hinein. Zunächst dachte er, er wäre blind. Seine Augen waren offen, aber sie sahen nichts. Dichte, schwarze Finsternis hüllte alles ein. Und der alte Grabkammergestank war erdrückend.
"Hallo? Ist da jemand?" Seine Stimme war heiser von dem Staub und wurde als Flüstern von den Marmorwänden zu ihm zurückgeworfen.
Stille... dann ein rasches, kaum hörbares Scharren. Das Geräusch kam aus der Dunkelheit.
Charles Peabody zögerte einen Augenblick, dann machte er sich noch kleiner und zwängte sich in den schmalen Gang hinein. Die Luft in der halb unter der Erde liegenden Kammer war zehn bis fünfzehn Grad wärmer, und er begann stark zu schwitzen. Abgesehen von dem penetranten Gestank nach Feuchtigkeit und Schimmel, der aus den Anfängen des vergangenen Jahrhunderts stammen musste, nahm Charles den Geruch von Exkrementen wahr. Der saure Gestank stach ihn in der Nase.
Er fingerte in der Brusttasche nach seinem Feuerzeug, fand es und hielt die andere Hand schützend vor die Flamme. Bis zum Erdboden war es noch ein Meter. Die klaustrophobisch kleine Katakombe war knapp drei Meter breit, vier Meter lang und wölbte sich etwa zwei Meter in einem gotischen Bogen. Am Boden stand auf einer kleinen Erhöhung der alte, verwitterte Sarkophag mit einem geschnitzten Kreuz auf dem Deckel.
Charles ließ sich vorsichtig auf den steinernen Boden der Grabkammer hinuntergleiten. Er konnte sein Herz klopfen hören, und ein Frösteln schüttelte seinen Körper, als er sich umsah. Neben dem Sarkophag lagen eine Wasserflasche, zwei fast heruntergebrannte Stearinkerzen und Verbandsmaterial mit Blutflecken. Das alles war neueren Datums. Charles fiel außerdem auf, dass im Erdboden um den Sarkophag herum Kratzspuren zu sehen waren, aber als er die Flamme seines Feuerzeugs größer stellte, begriff er, dass es sich um eine - wenn auch undeutliche - Inschrift handelte. Er konnte das Wort Grace entziffern.
Er runzelte die Stirn, machte einen langen Hals und lehnte sich über den Sarkophag.
Die spärliche Flamme flackerte und spendete nicht mehr viel Licht, aber dennoch hob sich hinter dem Sarg eine kleine, nackte menschliche Gestalt von der Dunkelheit ab.
Sie hatte keine Haare, deswegen konnte er nicht erkennen, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelte, aber nach der Körpergröße zu urteilen, war es ein Kind. Die Gestalt bewegte sich, sie zitterte und hatte offenbar Schmerzen. In den Armen steckten blanke, metallische Gegenstände und die Haut glänzte wie rohe Leber.
"Oh großer Gott", flüsterte Charles atemlos und musste sich mit beiden Händen am Sarkophag festhalten, um nicht umzufallen. "Allmächtiger!"
Es gelang ihm, das Feuerzeug nicht loszulassen, aber seine Hand zitterte so stark, dass die Flamme ausging.
In der Dunkelheit hörte er ein ersticktes Stöhnen, und im gleichen Augenblick griff etwas Feuchtkaltes nach seinem Handgelenk. Es fühlte sich ungefähr so an wie ein lebendiger Zweig. Er unterdrückte einen Schrei, und Angst überwältigte ihn. Unsanft setzte er sich und machte zitternd das Feuerzeug wieder an. Er blickte auf und sah eine kleine blutverschmierte Hand, die derart übel zugerichtet war, dass er das Feuerzeug wieder sinken ließ.
Grace White war mehr tot als lebendig, als Charles Peabody die grausame Entdeckung machte, und im Krankenwagen auf dem Weg in die Kindred-Klinik hüllte die ewige Finsternis sie barmherzig und für immer ein.
Während die Polizei etwas zu finden versuchte, was auf den Täter hindeuten konnte, wurde der Vorfall in den Spätnachrichten gebracht: "Ein lähmender Schock liegt heute Abend über unserer Stadt sagte die Korrespondentin vor Ort, eine junge Frau in einem hellgrünen, maßgeschneiderten Hosenanzug. Die Kamera schwenkte langsam über den Golden-Oak-Friedhof, der in dem grellen Scheinwerferlicht von Polizei und Fernsehteams wie bloßgestellt aussah, weiter über den Pfad, der zur Nordseite führte, wo sich die Bäume behäbig neigten und das spanische Moos im Licht wie Silberfäden glänzte, und an der Kirche vorbei. Dann wurde das Bild von einem Schulfoto von Grace White abgelöst, auf dem sie schüchtern lächelte.
Die Reporterin berichtete, dass die elfjährige Grace White mit den Handflächen an einem Sarkophag festgenagelt und bei lebendigem Leib von ihrem Mörder begraben worden war. Außerdem wurde erwähnt, dass sie sexuell missbraucht worden war und der Täter sie drei Tage lang ungeheuerlichen Folterspielen ausgesetzt hatte, bevor er sie in der Hitze des bevorstehenden Sommers im Eiltempo hatte verrotten lassen wollen.
Der Police Detective trat ins Bild und erklärte: "Wir wissen noch nicht viel. Das Grab wird auf Spuren und Fingerabdrücke untersucht, mit denen wir weiterarbeiten werden, außerdem wird die Tote obduziert."
"Wie würden Sie die Tat beschreiben?"
"Bestialisch und psychopathisch - außergewöhnlich brutal und bestialisch." Der Police Detective schüttelte den Kopf. "Ich habe noch nie etwas Derartiges erlebt, und ich bin jetzt seit vierzehn Jahren bei der Polizei."
Die Journalistin fuhr fort: "Grace White hat ihr Heim am Freitagmorgen verlassen, um in die Schule zu gehen, kehrte jedoch nie von dort zurück. Sie wurde heute Abend hier gefunden, misshandelt und verunstaltet zurückgelassen _ zurückgelassen in einem Grab an diesem Ort des Todes, das bis jetzt sein Geheimnis für sich behält."
"Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes Die Stimme des Pfarrers erstarb, bevor er das Kreuzzeichen machte und sich bückte, um den letzten Akt des Begräbnisrituals auszuführen, und mit einer kleinen Schaufel dreimal geweihte Erde auf den Sargdeckel fallen ließ.
Der Himmel war bleigrau, und der Regen prasselte wie ein lautes Flüstern auf die riesigen Baumkronen der Eichen auf dem Golden-Oak-Friedhof nieder. Das Trauergefolge hatte sich auf dem Rasen um das frische Grab herum aufgestellt, und die Gedenkfeier war soeben zu Ende gegangen. Schwarze Regenschirme wurden aufgespannt, die Kirchenglocken läuteten beharrlich und schicksalhaft.
Es war ein großes Aufgebot gekommen. Alle Schüler der fünften Klasse der katholischen Grundschule waren da, die Klassenlehrerin des toten Mädchens, ein Großteil der Eltern der Schülerinnen und Schüler und die Schulleitung. Die Schlagzeilen der Charleston Post and Courier sowie alle anderen Zeitungen des Staates hatten das ihre dazu beigetragen, dass Grace White eine letzte Reise zurücklegte, die der eines Rockstars glich. Horden von Schaulustigen strömten wie ein summendes Wespennest durch das Gittertor und stellten sich gemäß der polizeilichen Anweisungen an der Kirchenmauer auf.
Die Familie der Verstorbenen sowie ihre Freunde standen direkt neben dem Sarg, dicht zusammengedrängt, in vom Regen durchnässter Trauerkleidung - die Gesichter unter breiten Hutkrempen, Kapuzen und hinter Sonnenbrillen oder hauchdünnen Schleiern verborgen. Die Nachwirkungen des makaberen Verbrechens lagen wie eine ätzende Säure in der Luft über der Trauergesellschaft. Einige standen stumm vor Entsetzen und betrachteten den weißen Sarg, der seine Reise ins Erdreich angetreten hatte, die in der Tiefe mit einem deutlich hörbaren Aufprall endete, andere weinten, beteten und küssten sich die Hände, ein Mädchen musste sich in ihr Taschentuch übergeben. Die Eltern der Toten waren das Sinnbild unsagbarer Trauer. Der Vater schüttelte fortwährend den Kopf als Ausdruck eines stummen Protests, während er seine Frau stützte - eine geisterhafte Erscheinung in schwarzem Rock, mit leerem Blick und zitternden Händen, die aussah, als stünde sie kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, und als würde die Trauer sie mit in das offene Grab hinabreißen.
Unter den Trauernden standen zwei elfjährige Schüler mit gesenkten Köpfen, relativ unbemerkt in der Anonymität zweier ganz gewöhnlicher Buben. Sie wirkten harmlos und unverdächtig, obwohl ihre Augen die einzig trockenen waren. Wie zwei perfekte Chamäleons, allein mit ihren Erinnerungen - jeder von ihnen ein auserlesener, abenteuerlicher und spannender Teil der Erinnerungen; Demütigung, Angst, Leiden und Tod.
Sie hatten ihr Geheimnis besiegelt. Einen Blutpakt. Es gab keinen Weg zurück, sie besaßen keinen moralischen Kompass, nicht die geringste Empfindung. Und obwohl sie die Gestalten von Elfjährigen besaßen, hatten sie nichts Menschliches oder Anständiges an sich.
Einer der Jungen hob leicht den Kopf und schielte zu seinem Mitstreiter hinüber - ein flüchtiger Blick, den keiner der Anwesenden bemerkte. Über sein Gesicht huschte ein zufriedenes Lächeln. Der andere unterdrückte ein verschmitztes Grinsen, schob unauffällig einen Kaugummiklumpen von einer Wange in die andere, senkte den Kopf und strich sich die Haare aus der Stirn.
Charleston, South Carolina, 1998 Er glotzte - ein aufdringliches, unverhohlenes Starren, das bei ihr ein Gefühl des Unbehagens auslöste. Er war den gesamten Abend durch den Raum geschritten wie ein ruheloser Geist, aber im Lauf der letzten halben Stunde hatte er sich näher herangeschlichen und stand nun neben ihr. Sie spürte das instinktiv, obwohl sie ihn in diesem Moment nicht sehen konnte.
Mark Knopfer und seine elektrische Gitarre dröhnten mit Sultans of Swing derart laut aus den riesigen Boxen, dass der Boden vibrierte und die Wände bebten. Das Wachs von Hunderten Kerzen in zitternden Leuchtern tropfte zu Boden und bildete kleine Berge von geschmolzenem Stearin auf dem Fliesenmosaik.
Chelsea Ford stand mit dem Rücken am Kaminsims hinter einer Traube junger Mädchen, die im Rhythmus der Musik ihre Hüften wiegten. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Im Saal drängten sich zahllose Gäste in Feierlaune, Zigarettenrauch und Gesprächsfetzen machten die Luft undurchdringlich. Chelsea kannte niemanden, sie war nur wegen Jasmin mitgekommen. Jasmin hatte irgendeinen Typen beim Chatten im Internet kennengelernt, den sie treffen wollte, und Chelsea fungierte als Rettungsanker, falls ihre Freundin sitzen gelassen wurde oder der Typ komplett verrückt war.
Chelsea war schwindelig und warm, und in ihrem Magen rumorte es wie in einer Waschmaschine. Sie hielt nach ihrer Freundin Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken. Chelsea drehte sich um und ging nach draußen, um dort nach ihr zu suchen _ Und lief geradewegs in ihn hinein.
Sie wusste, dass er das so eingefädelt hatte, auch wenn es natürlich wie ein reiner Zufall aussehen sollte. Er lächelte teuflisch und zog ihr mit seinem Blick den Slip bis zu den Knöcheln. Die Kerzenflammen flackerten in seinem diabolischen Blick, das einnehmende Lächeln kam nicht in seinen Augen an und verschwand wieder.
Er war kein grausamer Mensch - sicherlich nicht -, aber auch nicht besonders nett, obwohl er zweifelsohne zu denjenigen zählte, die viel Zeit damit verbrachten, vor dem Spiegel zu posieren. Man konnte gut und gerne sagen, dass er recht durchschnittlich aussah, wenn man seinen mit Steroiden vollgepumpten Körper außer Acht ließ. Aber es gab etwas, wodurch er sich von der Menschenmenge im Saal abhob. Etwas, das eine Gänsehaut verursachte.
Nach einem endlos langen Augenblick, in dem er ihr jedes Mal, wenn sie versuchte, an ihm vorbeizukommen, in den Weg trat, seufzte sie und fragte: "Was willst du?"
"Wenn man verrät, was man will, kriegen es die Leute manchmal mit der Angst", entgegnete er mit leiser, seidenweicher Stimme, die überhaupt nicht zu seinem neunzig Kilo schweren, massigen Körper passte.
Sie hob die Brauen und musterte ihn kühl. "Ist es denn so gefährlich, was du willst?" Sie bereute ihre Frage sofort.
Er beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: "Ich würde dir fünfhundert Dollar geben, wenn ich dich ficken könnte."
Sie zog den Kopf zurück. Er strahlte Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit aus. Sein schwarzes Haar war mit glänzendem Wachs zurückgekämmt, und sein hellgelbes Hemd bis zur Brust aufgeknöpft.
"Wie bitte?" Sie dachte, sie müsste sich verhört haben, war sich aber dennoch unsicher.
Er machte eine nickende Kopfbewegung in Richtung Treppenabsatz, wo die dunklen Stufen in einer Kurve nach oben führten. "Da oben gibt es ein schönes weiches Bett!"
Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn verächtlich. Sie hatte sich doch nicht verhört. "Das soll wohl witzig sein."
Er lächelte schief und machte einen Schritt auf sie zu, sodass sein Glied unmittelbar vor ihrem Unterleib verweilte. Dann legte er eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie leicht.
"Fass mich nicht an!" Chelsea spürte, wie der Rumgeschmack aus dem Magen in ihren Hals aufstieg, und die Alarmglocken schrillten in ihrem Kopf. Sie sah ihn nicht direkt an. Ihm in die Augen zu sehen, würde den Moment wirklicher machen. "Du bist widerlich und anscheinend geistig minderbemittelt, und ich würde lieber Rasierklingen essen, als mich von dir anfassen zu lassen!"
... weniger
Autoren-Porträt von Annika von Holdt
Annika von Holdt ist Dänin, hat aber lange Jahre in den USA gelebt und in New York und in den Südstaaten als Model und PR-Managerin gearbeitet. 2001 fing sie an zu schreiben und wurde prompt mit einem Buchhandelspreis für den besten Thriller des Jahres belohnt.
Bibliographische Angaben
- Autor: Annika von Holdt
- 2011, 335 Seiten, Maße: 11,6 x 18,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Dtsch. v. Nike Müller
- Übersetzer: Nike Müller
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442376173
- ISBN-13: 9783442376179
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