Schlimmer geht immer / Bobbie Faye Bd.1
Roman. Deutsche Erstausgabe
Bobbie Faye hat schon bessere Tage erlebt. Erst wird ihr Wohnwagen überflutet, dann ihr Bruder von Kriminellen gekidnappt. Die Entführer verlangen ein Diadem, das Bobbie von ihrer Mutter geerbt hat, als Lösegeld. Als sie es aus dem Schließfach holt, wird...
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Produktinformationen zu „Schlimmer geht immer / Bobbie Faye Bd.1 “
Klappentext zu „Schlimmer geht immer / Bobbie Faye Bd.1 “
Bobbie Faye hat schon bessere Tage erlebt. Erst wird ihr Wohnwagen überflutet, dann ihr Bruder von Kriminellen gekidnappt. Die Entführer verlangen ein Diadem, das Bobbie von ihrer Mutter geerbt hat, als Lösegeld. Als sie es aus dem Schließfach holt, wird die Bank überfallen und Bobbie beschuldigt, daran beteiligt zu sein. Auf ihrer Flucht nimmt sie einen Truckfahrer mitsamt seinem Fahrzeug als Geisel. Dieser ist etwas zwielichtig, aber umwerfend gut aussehend und erobert Bobbies Herz im Sturm. Und da ist auch noch ihr Ex-Freund, der für die Polizei arbeitet und Bobbie dicht auf den Fersen ist. Eine wild-chaotische Verfolgungsjagd nimmt ihren Anfang ...
Lese-Probe zu „Schlimmer geht immer / Bobbie Faye Bd.1 “
Bobbie Faye - Schlimmer geht immer von Toni McGee Causey1
Wissen Sie, wie manche Leute zu Höherem berufen werden?
Also, Bobbie Faye Sumrall wachte eines Morgens auf, trat die-
sem Höheren die Zähne ein, rammte ihm das Knie zwischen die
Beine und nahm es als Geisel. Seitdem winselt es um Gnade. Ein ehemaliger Bürgermeister in Louisiana, in dessen Büro Bobbie Faye aus Versehen mit ihrem Wagen gefahren war, wobei Papiere auf die Straße geschleudert wurden, die seine Beteiligung an betrügerischen Machenschaften bewiesen und ihn hinter Gitter brachten
... mehr
Irgendetwas Nasses, Schwammiges traf Bobbie Faye mitten ins Gesicht, sodass sie schlagartig hellwach war und begann, wie wild mit den Armen um sich zu schlagen. »Verdammt, Roy, du hast mich wieder mit einem der Fische getroffen, und ich werde ... « Moment mal! In ihrem engen Trailer herrschte Dunkelheit. Es war weder ein Fisch in der Nähe noch stand ihr kleiner Bruder Roy hier irgendwo mit Unschuldsmiene herum. Natürlich hatte sie geträumt, denn Roy war inzwischen sechsundzwanzig und nicht mehr der zehnjährige Junge, allerdings immer noch eine absolute Nervensäge.
Sie versuchte sich das kalte Wasser aus dem Gesicht zu wischen. »Was war das?«, murmelte sie. »Und wieso zum Teufel bin ich so nass?«
»Du hast ein S'wimmbecken hier drin.«
Bobbie Faye kniff die Augen zusammen und starrte im Halbdunkel ihre fünfjährige Nichte Stacey an, deren blonde Zöpfe durch das Licht der Fliegenfalle direkt vor dem Fenster des Trailers von einem blauen Lichtkreis umgeben waren. Dann warf sie einen Blick auf den nassen Schläger aus Schaumgummi, den Stacey fallen gelassen hatte - er schwamm gut fünf Zentimeter über dem lindgrünen Zottelteppich.
»Mist!« Bobbie Faye sprang aus dem Bett und zuckte zusammen, als das eiskalte Wasser ihre Knöchel umspülte. »Verdammt! So ein verdammter, verfluchter Mist!«
»Mama sagt, du sollst nicht so viel fluchen.«
»Ach ja? Deine Mama sollte mal mit dem Trinken aufhören, Kleine, aber dazu wird es wohl auch nicht kommen.«
Ach Scheiße. Da hatte sie etwas echt Fieses gesagt. Sie beobachtete, wie Stacey darauf reagierte, doch ihre Nichte war voll und ganz mit dem durchgeweichten Schaumstoffschläger beschäftigt und schien sie gar nicht gehört zu haben. Gott sei Dank. Bobbie Faye hatte nicht vorgehabt, der kleinen Teppichratte wehzutun. Abgesehen davon konnte man morgens um vier wohl kaum von ihr verlangen, in ihrer Wortwahl besonders vorsichtig zu sein. Wer zum Teufel würde das überhaupt von ihr erwarten? Lori Ann natürlich. Ihre üppige, Pillen schluckende, gern dem Wein zusprechende kleine Schwester, der ein GraceKelly-Lächeln ins Gesicht gemeißelt zu sein schien, das sie immer erfolgreich und gelassen wirken ließ, selbst wenn sie gerade gegen eine Wand taumelte und auf ihrem Hintern landete.
Bobbie Faye würde niemals gelassen wirken.
Und ausgerechnet heute wollte die Frau vom Sozialamt vorbeikommen. Nachmittags um halb fünf. Sie sollte dann beurteilen, ob Bobbie Faye Stacey ein sicheres und beständiges Zuhause bieten konnte. Bobbie Faye fröstelte, als das eisige Wasser um ihre Knöchel schwappte. Irgendwie musste sie den Schaden rechtzeitig beheben - wo immer dieser Mist auch herkam -, dann bei der Eröffnungsveranstaltung des Piraten-Festivals den Vorsitz führen und vor halb fünf wieder zurück sein, um zu beweisen, dass sie während der vier Monate, in denen Lori Ann ihre vom Gericht angeordnete Entziehungskur im Troy House hinter sich brachte, eine gute Pflegemutter sein würde.
Oh, wie geil.
Wasser spritzte gegen ihre Knie, und sie beobachtete, wie Lori Anns kleiner Wadenbeißer begeistert durch den Flur stapfte.
»Deine Nil'ferde s'wimmen. « Stacey lachte und zeigte auf die Tiere, die über Bobbie Fayes dünnen weißen Baumwollpyjama zu tanzen schienen und im Dunkeln leuchteten. Dann hüpfte das Monsterkind mit Schwung im Wasser auf und ab, sodass es bis an Bobbie Fayes Ellbogen spritzte.
»Um Himmels willen, Stacey, wenn du noch ein einziges Mal hochspringst, werde ich dich in einen Frosch verwandeln.«
Stacey kicherte, aber zumindest hörte sie auf herumzuhopsen.
Bobbie Faye stand vor dem schmalen Hauswirtschaftsschrank des winzigen, dunklen Trailers und starrte wütend auf die Schuldige: ihre Waschmaschine. Sie war nun offenbar total durch-geknallt. Wasser schoss von irgendwo hinter der vibrierenden Katastrophenmühle wie aus einem Geysir hervor. Wenn sie in Besitz einer Waffe gewesen wäre, hätte sie auf das Ding geschossen. Und zwar mehrfach. Und das mit Vergnügen. Sie drehte an Schaltern, drückte auf Knöpfe, die schon lange kaputt waren und von denen niemand mehr wusste, wozu sie ursprünglich einmal gedient hatten.
Am liebsten hätte sie vor Wut darüber, dass ihr das ausgerechnet jetzt passierte, aufgestampft, aber sie war inzwischen wach genug, um sich vor Stacey wie eine Erwachsene zu benehmen. Denn das vermochte Bobbie Faye durchaus. Sie war achtundzwanzig, die älteste der drei Geschwister und diejenige, an die sich die anderen beiden immer wandten, wenn sie wieder irgendwas verbockt hatten. Sie konnte also auch die Erwachsene sein und Probleme lösen. Sie war sozusagen der Inbegriff einer Problemlöserin, und deswegen schlug sie mit der Faust auf die Maschine, in der Hoffnung, durch einen heftigen Stoß vielleicht wieder etwas in Ordnung bringen zu können, das gerade fürchterlich aus dem Ruder lief. Das Gerät wackelte, das Wasser spritzte noch höher, und in diesem Moment verabschiedete sich Bobbie Faye komplett von dem Anspruch, sich erwachsen zu verhalten. Sie holte aus und trat mit voller Wucht gegen die Maschine, dann quiekte sie auf und verzog vor Schmerz das Gesicht, denn steif gefrorenen Zehen bekam es in der Regel nicht besonders gut, auf derart heftige Weise mit Metall in Kontakt gebracht zu werden. Sie kniff die Augen zusammen, hüpfte auf dem anderen Bein herum und biss sich auf die Unterlippe, um zu verhindern, dass sie einen weiteren Schwall von Kraftausdrücken von sich gab. Tolle Methode, deine Gehirnzellen zu benutzen, du Genie!
Stacey sah einen Moment lang dabei zu, wie ihre Tante herumsprang, und begann dann selbst wieder mit der Begeisterung einer am Morgen nach Ostern noch voll überzuckerten Fünfjährigen durch den Trailer zu hüpfen und Wellen zu erzeugen, die alles überschwemmten, was auf ihrem Weg lag.
Und dasselbe Kind bekommt schon einen Wutanfall, wenn ich nur daran denke, dass es Zeit ist, mal zu baden.
Zwei Dinge wusste Bobbie Faye ganz genau: Erstens, ein Tag ohne irgendeine Katastrophe kam nur im Leben anderer Menschen vor. Und zweitens würde sie ihren Bruder Roy dafür umbringen, dass er nicht wie versprochen vorbeigekommen war, um die Waschmaschine zu reparieren.
Sie platschte durch die Küche zur Hintertür und öffnete sie, in der Hoffnung, das Wasser würde einfach ablaufen. Doch lediglich ein kleines Rinnsal ergoss sich nach draußen. Der Boden des Trailers hatte sich bereits gesenkt und lag schon tiefer als die Türschwelle. Ihr alter Wohnwagen verwandelte sich langsam, aber sicher in eine Schüssel.
Na wunderbar. Die Waschmaschine leckt, der Trailer dafür aber nicht.
Einen Moment lang ließ Bobbie Faye die Schultern hängen und konnte kaum dem Drang widerstehen, ihre Stirn gegen den Türrahmen zu donnern. Heute war ihr einziger freier Tag. Sie hatte die ganze Woche lang Überstunden gemacht, um sich an diesem Morgen ein bisschen erholen zu können und sich in Ruhe auf die Eröffnungsfeier des Piraten-Festivals vorzubereiten. Eigentlich war sie davon überzeugt gewesen, dass nichts das Unwetter am Eröffnungstag im letzten Jahr übertreffen könnte, denn es hatte einen Baum entwurzelt, der auf ihr erstes wirklich schönes Auto gefallen war, einen leicht verbeulten roten Nissan 300ZX. Sicher, der Gebrauchtwagen hatte schon einige Kilometer runter gehabt. Außerdem zog er deutlich nach links, aber er hatte schön geglänzt und nur zwei rostige Stellen aufgewiesen. Wäre der Baum in irgendeine beliebige andere Richtung gekippt, hätte es keinerlei Schäden gegeben. Aber so wäre es wieder nur im Leben von jemand anderem abgelaufen. Und da hatte es dann auch nicht sonderlich geholfen, dass ausgerechnet an jenem Tag das Kündigungsschreiben ihrer Autoversicherung eingetroffen war. (Kein Mensch wollte ihr glauben, nicht einmal ihre Freunde nahmen ihr ab, dass sie den Feuerwehrtruck nicht wahrgenommen hatte, der im Begriff gewesen war, mit flackernden blauen und roten Lichtern sowie heulender Sirene die Kreuzung zu überqueren. Bobbie Fayes Meinung nach trug der Feuerwehrmann, der am Steuer gesessen hatte, eindeutig die Verantwortung für alles, was daraufhin geschehen war. Obwohl sie es ziemlich unangenehm gefunden hatte, dass er, als er ihr auswich, gegen eine Straßenlaterne geprallt war, die daraufhin auf dem Dach des kleinen Lebensmittelladens an der Ecke aufschlug.) Ihre Versicherung hatte alle Schäden beglichen. Und ihr gekündigt.
Diese Mistkerle!
Und in diesem Jahr? Da sollte es anders sein. Sie würde einen schönen, entspannten Tag erleben, selbst wenn sie dafür jemanden umbringen musste. Es waren keine Unwetter angekündigt. Die Versicherung für ihre klapperige Brotdose auf vier Rädern - einen Honda Civic, den sie sich als Ersatz für ihren coolen kleinen Sportwagen gekauft hatte - war bezahlt. Sie hatte genug Zeit eingeplant, um sich in Ruhe fertig zu machen und nicht in den Berufsverkehr zu geraten, am Abend zuvor noch ihre Sachen gewaschen und brauchte sie jetzt nur noch in den Trockner zu tun ...
Und genau deswegen stand sie jetzt mitten in ihrem Trailer im fünf Zentimeter tiefen Wasser.
Nie im Leben würde sie jetzt noch alles allein schaffen. Roy musste seinen armseligen Arsch zu ihr herüberbewegen und ihr helfen. Sie ging zum Telefon, um ihn anzurufen, schaltete das Licht im Wohnzimmer ein und - schnappte nach Luft. Kleine Wellen kräuselten sich auf dem Boden. Wasser plätscherte gegen die Unterseite der eher abgewohnten als schicken Sitzgruppe und stand bereits in dem Regalfach direkt unter dem Fernseher, in dem ihr uralter Videorekorder verstaut war. Auf dem Teppich neben dem Sofa, wo sie es zurückgelassen hatte, lag das Erinnerungsalbum ihrer Mutter vom Piraten-Festival. Völlig durchweicht.
Bobbie Faye bemühte sich so sehr, die Tränen zurückzuhalten, dass ihre Gesichtsmuskeln vor Anspannung schmerzten. Ihre Mutter hatte dieses Album mehr als zwanzig Jahre lang sorgsam aufbewahrt. Als Bobbie Faye sieben gewesen war, hatte sie eine schwarze Augenklappe auf den Umschlag kleben dürfen, welche symbolisch für die Geschichte des Festivals stehen sollte. Gut, ihre Mom war betrunken gewesen und hatte die Augenklappe und die Pailletten erst ein paar Tage später bemerkt. Aber dann erlaubte sie Bobbie Faye, sie draufzulassen, und zeigte das Album sogar stolz ihren Freundinnen. Und das war fast genauso gut, besonders weil ihre Mom ihr dann eine Augenklappe gebastelt hatte, die sie zum jährlichen Piratenkostüm-Wettbewerb tragen konnte.
Piraten, das war Bobbie Faye so eingetrichtert worden wie anderen Kindern der Katechismus, hatten an der Vielzahl von sumpfigen Flussarmen, in Louisiana auch Bayous genannt, und in den Mooren im Süden des heutigen Bundesstaats gelebt, weil diese perfekt für den Transport von Diebesgut und Schmuggelware in dem schnell wachsenden Territorium geeignet gewesen waren. Die Freibeuter hatten sich aus dem gleichen Grund dorthin zurückgezogen wie die Cajuns, die Nachfahren der französischen Siedler, die im 18. Jahrhundert aus Nova Scotia in Kanada vertrieben worden waren: Sie brauchten einen Zufluchtsort. Im Sumpfland konnte jeder sein, was er wollte. Man knüpfte enge Beziehungen, und es war selbstverständlich, auf seinen Nachbarn aufzupassen, selbst wenn völlige Einigkeit darüber bestand, dass es sich bei ihm um einen ausgemachten Spinner handelte - und auch das war absolut in Ordnung.
Die späteren Bewohner durchpflügten erfolglos die halbe Gemeinde Calcasieu, um die angeblich noch immer dort verborgenen Schätze der Piraten zu finden, ehe sie schließlich aufgaben. Nun ja, nicht ganz. Bobbie Faye konnte sich daran erinnern, als Kind einmal gehört zu haben, dass es einen Ort namens Contraband Bayou gebe, an dem ein paar Piraten Edelsteine und Gold am Ende des Flussarms versteckt hätten. Deshalb war sie mitgegangen, als Roys und Lori Anns Vater angeboten hatte, sie mit zum Fischen zu nehmen. Ihr war klar gewesen, dass sie direkt an dem berühmten Bayou vorbeikommen würden, und sie hatte fest daran geglaubt, den Schatz zu finden, wenn er sie dort hinausließe. Doch alles, was dabei herumkam, war der Kontakt mit giftigem Efeu, der ihr üble Schmerzen einbrachte, sowie der Anblick von jeder Menge Löcher, die schon andere vor ihr vergeblich gegraben hatten. So viel zum Thema Geschichte.
Wie das Leben nun einmal so spielte, entwickelten sich die Erzählungen allmählich zu Mythen, um die herum dann Feierlichkeiten entstanden. So wie das Piraten-Festival, ein verrücktes, quirliges Fest im Mai, bei dem sich alle Einwohner zwölf Tage lang als Piraten verkleideten, um zu feiern, Musik zu hören, zu tanzen und alle möglichen witzigen Sachen zu veranstalten: Kräftemessen mit Traktoren, Rennen, Paraden, Seeräuberspiele ... Jedes Jahr fand ein »offizieller« Schönheitswettbewerb statt, aber Bobbie Fayes Mom (und schon deren Mom und deren Mom zuvor) waren die inoffiziellen »Königinnen« gewesen - ein Titel, den es bereits seit so langer Zeit gab, dass sich niemand mehr so richtig daran erinnerte, wie er von Generation zu Generation weitergereicht worden war. Bobbie Fayes Mom hatte über all ihre Erinnerungen an die verschiedenen Piraten-Festivals ein Album angelegt ... und es kurz vor ihrem Tod ihrer Ältesten geschenkt, nachdem sie ihr bereits ihre Pflichten als Königin übertragen hatte.
Bobbie Faye zog nun das Album aus dem Wasser. Ihr wurde ganz schwer ums Herz, als sie langsam die erste durchgeweichte Seite umblätterte. Spinnwebenartig verliefen tintenblaue Rinnsale über das Papier und nahmen fast allen Worten ihre Bedeutung. Durch das Wasser waren die alten Fotos zu trüben Schatten verblasst, und sämtliche Erinnerungen bildeten nur noch einen klatschnassen Klumpen. Die getrockneten Blätter einer Rose, die ihre Mutter bei ihrer letzten Parade getragen hatte, lösten sich unter Bobbie Fayes Berührung auf. Dann kochte die Wut in ihr hoch und Bobbie Fayes Adrenalinspiegel stieg noch ein Stück weiter an - sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde jeden Moment explodieren. Noch dazu plätscherte das kalte Wasser immer höher um die Hosenbeine ihres Pyjamas.
Das Album war ihr immer ein Trost gewesen, wenn sie mal wehmütig an früher gedacht hatte. An die Zeit, bevor ihre Mutter damit anfing, diese großen Schlapphüte zu tragen, und ehe ihr Haar auf unerklärliche Weise immer dünner und dünner geworden war. Bevor es ihr zur Gewohnheit wurde, die seltsamsten Klamottenkombinationen zu tragen, und ihre Frühstückseier mit Speck immer öfter einen Hauch stärker nach Rum zu riechen begannen, als sie sollten. Bevor Bobbie Faye bemerkte, dass ihre Mom an den meisten Tagen eigentlich ein bisschen zu überdreht war und dass sie Jitterbug auf dem Kaffeetisch getanzt hatte (bis er zusammenbrach). Und bevor Bobbie Faye erfuhr, was das Wort Krebs bedeutete.
Sie blickte auf das zerstörte Album in ihren Händen. Wenn Roy wie versprochen vorbeigeschaut und diese verdammte Waschmaschine repariert hätte, wäre das alles nicht passiert.
Bobbie Faye starrte durch das vordere Fenster des Trailers hinaus auf die Schotterstraße und stellte sich vor, sie würde ihrem Bruder mit einem Laserstrahl zielsicher ein Brandzeichen auf den Hintern setzen. Leider hatte sie jedoch nicht die geringste Ahnung, wo er sich gerade befand. Und ihn ans Handy zu bekommen glich einem Wunder. Er konnte überall sein: an seinem Angelplatz südlich des Trailerparks, wo es Hunderte kleiner Flussarme und Gewässer gab (oder Fluchtrouten, wie Roy sie nennen würde); oder auch nördlich des Trailerparks, wo er sich vielleicht in irgendeinem der Rattenlöcher in Lake Charles, die sich Bars schimpften, versteckte. Die triste Industriestadt gehörte für Bobbie Faye zu der Sorte verschrobener, unabhängiger Orte in den Südstaaten, um deren Image sich nie jemand geschert hatte. Würde jemand der Stadt den Namen »Heimat der Hardcore-Säufer, gegen die alle Zecher während des Mardi Gras wie lasche Feiglinge wirken« verpassen und die Stadt eine Frau sein, stünde sie wahrscheinlich schwankend auf und salutierte.
So, wie sie Roy kannte, hielt er sich nicht in der Nähe seiner Wohnung in der Innenstadt auf. Es war wahrscheinlicher, dass er in irgendeiner dämlichen Pokerrunde saß oder - Gott möge ihm helfen - einer seiner vielen Freundinnen einen Besuch abstattete. Soll er doch weglaufen, dachte sie, verstecken kann er sich ohnehin nicht.
Sich zu verstecken war allerdings das Einzige, was Roy in diesem Moment im Kopf hatte. Er schlüpfte in seine Jeans und versuchte dann, seine eins achtzig in einen großen, staubigen Zwischenraum zu quetschen, der sich unter der breiten, in die Fensternische eingebauten Sitzbank im Haus seiner verheirateten Freundin Dora befand, von der aus man diesen wunderschönen Ausblick auf die Bucht hatte. Er schlängelte sich geräuschlos hinein, darauf bedacht, sich nichts dabei zu zerren, bekam jedoch bereits jetzt einen Krampf in den Zehen. Die Lagen von Staub im Innern der Kammer kitzelten ihm in der Nase, und er hielt sie sich zu, um nicht niesen zu müssen. Gleichzeitig spähte er durch das hübsch verzierte Blechgitter, das die Fensterbank verkleidete, und sah, wie sich zwei Muskelpakete, die eindeutig der Interessengemeinschaft zur Legalisierung von Steroiden angehören mussten, in den Raum schoben. Dora, seine nahtlos gebräunte, gut gebaute (gesegnet sei Jimmy und dessen Bereitschaft, seine Frau jede Art von Schönheitsoperation machen zu lassen, die sie wollte) und sehr blonde Freundin, hockte über ihm auf der Sitzbank. Sie ließ ihre Beine vor dem Gitter baumeln, damit er dahinter besser versteckt war.
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Irgendetwas Nasses, Schwammiges traf Bobbie Faye mitten ins Gesicht, sodass sie schlagartig hellwach war und begann, wie wild mit den Armen um sich zu schlagen. »Verdammt, Roy, du hast mich wieder mit einem der Fische getroffen, und ich werde ... « Moment mal! In ihrem engen Trailer herrschte Dunkelheit. Es war weder ein Fisch in der Nähe noch stand ihr kleiner Bruder Roy hier irgendwo mit Unschuldsmiene herum. Natürlich hatte sie geträumt, denn Roy war inzwischen sechsundzwanzig und nicht mehr der zehnjährige Junge, allerdings immer noch eine absolute Nervensäge.
Sie versuchte sich das kalte Wasser aus dem Gesicht zu wischen. »Was war das?«, murmelte sie. »Und wieso zum Teufel bin ich so nass?«
»Du hast ein S'wimmbecken hier drin.«
Bobbie Faye kniff die Augen zusammen und starrte im Halbdunkel ihre fünfjährige Nichte Stacey an, deren blonde Zöpfe durch das Licht der Fliegenfalle direkt vor dem Fenster des Trailers von einem blauen Lichtkreis umgeben waren. Dann warf sie einen Blick auf den nassen Schläger aus Schaumgummi, den Stacey fallen gelassen hatte - er schwamm gut fünf Zentimeter über dem lindgrünen Zottelteppich.
»Mist!« Bobbie Faye sprang aus dem Bett und zuckte zusammen, als das eiskalte Wasser ihre Knöchel umspülte. »Verdammt! So ein verdammter, verfluchter Mist!«
»Mama sagt, du sollst nicht so viel fluchen.«
»Ach ja? Deine Mama sollte mal mit dem Trinken aufhören, Kleine, aber dazu wird es wohl auch nicht kommen.«
Ach Scheiße. Da hatte sie etwas echt Fieses gesagt. Sie beobachtete, wie Stacey darauf reagierte, doch ihre Nichte war voll und ganz mit dem durchgeweichten Schaumstoffschläger beschäftigt und schien sie gar nicht gehört zu haben. Gott sei Dank. Bobbie Faye hatte nicht vorgehabt, der kleinen Teppichratte wehzutun. Abgesehen davon konnte man morgens um vier wohl kaum von ihr verlangen, in ihrer Wortwahl besonders vorsichtig zu sein. Wer zum Teufel würde das überhaupt von ihr erwarten? Lori Ann natürlich. Ihre üppige, Pillen schluckende, gern dem Wein zusprechende kleine Schwester, der ein GraceKelly-Lächeln ins Gesicht gemeißelt zu sein schien, das sie immer erfolgreich und gelassen wirken ließ, selbst wenn sie gerade gegen eine Wand taumelte und auf ihrem Hintern landete.
Bobbie Faye würde niemals gelassen wirken.
Und ausgerechnet heute wollte die Frau vom Sozialamt vorbeikommen. Nachmittags um halb fünf. Sie sollte dann beurteilen, ob Bobbie Faye Stacey ein sicheres und beständiges Zuhause bieten konnte. Bobbie Faye fröstelte, als das eisige Wasser um ihre Knöchel schwappte. Irgendwie musste sie den Schaden rechtzeitig beheben - wo immer dieser Mist auch herkam -, dann bei der Eröffnungsveranstaltung des Piraten-Festivals den Vorsitz führen und vor halb fünf wieder zurück sein, um zu beweisen, dass sie während der vier Monate, in denen Lori Ann ihre vom Gericht angeordnete Entziehungskur im Troy House hinter sich brachte, eine gute Pflegemutter sein würde.
Oh, wie geil.
Wasser spritzte gegen ihre Knie, und sie beobachtete, wie Lori Anns kleiner Wadenbeißer begeistert durch den Flur stapfte.
»Deine Nil'ferde s'wimmen. « Stacey lachte und zeigte auf die Tiere, die über Bobbie Fayes dünnen weißen Baumwollpyjama zu tanzen schienen und im Dunkeln leuchteten. Dann hüpfte das Monsterkind mit Schwung im Wasser auf und ab, sodass es bis an Bobbie Fayes Ellbogen spritzte.
»Um Himmels willen, Stacey, wenn du noch ein einziges Mal hochspringst, werde ich dich in einen Frosch verwandeln.«
Stacey kicherte, aber zumindest hörte sie auf herumzuhopsen.
Bobbie Faye stand vor dem schmalen Hauswirtschaftsschrank des winzigen, dunklen Trailers und starrte wütend auf die Schuldige: ihre Waschmaschine. Sie war nun offenbar total durch-geknallt. Wasser schoss von irgendwo hinter der vibrierenden Katastrophenmühle wie aus einem Geysir hervor. Wenn sie in Besitz einer Waffe gewesen wäre, hätte sie auf das Ding geschossen. Und zwar mehrfach. Und das mit Vergnügen. Sie drehte an Schaltern, drückte auf Knöpfe, die schon lange kaputt waren und von denen niemand mehr wusste, wozu sie ursprünglich einmal gedient hatten.
Am liebsten hätte sie vor Wut darüber, dass ihr das ausgerechnet jetzt passierte, aufgestampft, aber sie war inzwischen wach genug, um sich vor Stacey wie eine Erwachsene zu benehmen. Denn das vermochte Bobbie Faye durchaus. Sie war achtundzwanzig, die älteste der drei Geschwister und diejenige, an die sich die anderen beiden immer wandten, wenn sie wieder irgendwas verbockt hatten. Sie konnte also auch die Erwachsene sein und Probleme lösen. Sie war sozusagen der Inbegriff einer Problemlöserin, und deswegen schlug sie mit der Faust auf die Maschine, in der Hoffnung, durch einen heftigen Stoß vielleicht wieder etwas in Ordnung bringen zu können, das gerade fürchterlich aus dem Ruder lief. Das Gerät wackelte, das Wasser spritzte noch höher, und in diesem Moment verabschiedete sich Bobbie Faye komplett von dem Anspruch, sich erwachsen zu verhalten. Sie holte aus und trat mit voller Wucht gegen die Maschine, dann quiekte sie auf und verzog vor Schmerz das Gesicht, denn steif gefrorenen Zehen bekam es in der Regel nicht besonders gut, auf derart heftige Weise mit Metall in Kontakt gebracht zu werden. Sie kniff die Augen zusammen, hüpfte auf dem anderen Bein herum und biss sich auf die Unterlippe, um zu verhindern, dass sie einen weiteren Schwall von Kraftausdrücken von sich gab. Tolle Methode, deine Gehirnzellen zu benutzen, du Genie!
Stacey sah einen Moment lang dabei zu, wie ihre Tante herumsprang, und begann dann selbst wieder mit der Begeisterung einer am Morgen nach Ostern noch voll überzuckerten Fünfjährigen durch den Trailer zu hüpfen und Wellen zu erzeugen, die alles überschwemmten, was auf ihrem Weg lag.
Und dasselbe Kind bekommt schon einen Wutanfall, wenn ich nur daran denke, dass es Zeit ist, mal zu baden.
Zwei Dinge wusste Bobbie Faye ganz genau: Erstens, ein Tag ohne irgendeine Katastrophe kam nur im Leben anderer Menschen vor. Und zweitens würde sie ihren Bruder Roy dafür umbringen, dass er nicht wie versprochen vorbeigekommen war, um die Waschmaschine zu reparieren.
Sie platschte durch die Küche zur Hintertür und öffnete sie, in der Hoffnung, das Wasser würde einfach ablaufen. Doch lediglich ein kleines Rinnsal ergoss sich nach draußen. Der Boden des Trailers hatte sich bereits gesenkt und lag schon tiefer als die Türschwelle. Ihr alter Wohnwagen verwandelte sich langsam, aber sicher in eine Schüssel.
Na wunderbar. Die Waschmaschine leckt, der Trailer dafür aber nicht.
Einen Moment lang ließ Bobbie Faye die Schultern hängen und konnte kaum dem Drang widerstehen, ihre Stirn gegen den Türrahmen zu donnern. Heute war ihr einziger freier Tag. Sie hatte die ganze Woche lang Überstunden gemacht, um sich an diesem Morgen ein bisschen erholen zu können und sich in Ruhe auf die Eröffnungsfeier des Piraten-Festivals vorzubereiten. Eigentlich war sie davon überzeugt gewesen, dass nichts das Unwetter am Eröffnungstag im letzten Jahr übertreffen könnte, denn es hatte einen Baum entwurzelt, der auf ihr erstes wirklich schönes Auto gefallen war, einen leicht verbeulten roten Nissan 300ZX. Sicher, der Gebrauchtwagen hatte schon einige Kilometer runter gehabt. Außerdem zog er deutlich nach links, aber er hatte schön geglänzt und nur zwei rostige Stellen aufgewiesen. Wäre der Baum in irgendeine beliebige andere Richtung gekippt, hätte es keinerlei Schäden gegeben. Aber so wäre es wieder nur im Leben von jemand anderem abgelaufen. Und da hatte es dann auch nicht sonderlich geholfen, dass ausgerechnet an jenem Tag das Kündigungsschreiben ihrer Autoversicherung eingetroffen war. (Kein Mensch wollte ihr glauben, nicht einmal ihre Freunde nahmen ihr ab, dass sie den Feuerwehrtruck nicht wahrgenommen hatte, der im Begriff gewesen war, mit flackernden blauen und roten Lichtern sowie heulender Sirene die Kreuzung zu überqueren. Bobbie Fayes Meinung nach trug der Feuerwehrmann, der am Steuer gesessen hatte, eindeutig die Verantwortung für alles, was daraufhin geschehen war. Obwohl sie es ziemlich unangenehm gefunden hatte, dass er, als er ihr auswich, gegen eine Straßenlaterne geprallt war, die daraufhin auf dem Dach des kleinen Lebensmittelladens an der Ecke aufschlug.) Ihre Versicherung hatte alle Schäden beglichen. Und ihr gekündigt.
Diese Mistkerle!
Und in diesem Jahr? Da sollte es anders sein. Sie würde einen schönen, entspannten Tag erleben, selbst wenn sie dafür jemanden umbringen musste. Es waren keine Unwetter angekündigt. Die Versicherung für ihre klapperige Brotdose auf vier Rädern - einen Honda Civic, den sie sich als Ersatz für ihren coolen kleinen Sportwagen gekauft hatte - war bezahlt. Sie hatte genug Zeit eingeplant, um sich in Ruhe fertig zu machen und nicht in den Berufsverkehr zu geraten, am Abend zuvor noch ihre Sachen gewaschen und brauchte sie jetzt nur noch in den Trockner zu tun ...
Und genau deswegen stand sie jetzt mitten in ihrem Trailer im fünf Zentimeter tiefen Wasser.
Nie im Leben würde sie jetzt noch alles allein schaffen. Roy musste seinen armseligen Arsch zu ihr herüberbewegen und ihr helfen. Sie ging zum Telefon, um ihn anzurufen, schaltete das Licht im Wohnzimmer ein und - schnappte nach Luft. Kleine Wellen kräuselten sich auf dem Boden. Wasser plätscherte gegen die Unterseite der eher abgewohnten als schicken Sitzgruppe und stand bereits in dem Regalfach direkt unter dem Fernseher, in dem ihr uralter Videorekorder verstaut war. Auf dem Teppich neben dem Sofa, wo sie es zurückgelassen hatte, lag das Erinnerungsalbum ihrer Mutter vom Piraten-Festival. Völlig durchweicht.
Bobbie Faye bemühte sich so sehr, die Tränen zurückzuhalten, dass ihre Gesichtsmuskeln vor Anspannung schmerzten. Ihre Mutter hatte dieses Album mehr als zwanzig Jahre lang sorgsam aufbewahrt. Als Bobbie Faye sieben gewesen war, hatte sie eine schwarze Augenklappe auf den Umschlag kleben dürfen, welche symbolisch für die Geschichte des Festivals stehen sollte. Gut, ihre Mom war betrunken gewesen und hatte die Augenklappe und die Pailletten erst ein paar Tage später bemerkt. Aber dann erlaubte sie Bobbie Faye, sie draufzulassen, und zeigte das Album sogar stolz ihren Freundinnen. Und das war fast genauso gut, besonders weil ihre Mom ihr dann eine Augenklappe gebastelt hatte, die sie zum jährlichen Piratenkostüm-Wettbewerb tragen konnte.
Piraten, das war Bobbie Faye so eingetrichtert worden wie anderen Kindern der Katechismus, hatten an der Vielzahl von sumpfigen Flussarmen, in Louisiana auch Bayous genannt, und in den Mooren im Süden des heutigen Bundesstaats gelebt, weil diese perfekt für den Transport von Diebesgut und Schmuggelware in dem schnell wachsenden Territorium geeignet gewesen waren. Die Freibeuter hatten sich aus dem gleichen Grund dorthin zurückgezogen wie die Cajuns, die Nachfahren der französischen Siedler, die im 18. Jahrhundert aus Nova Scotia in Kanada vertrieben worden waren: Sie brauchten einen Zufluchtsort. Im Sumpfland konnte jeder sein, was er wollte. Man knüpfte enge Beziehungen, und es war selbstverständlich, auf seinen Nachbarn aufzupassen, selbst wenn völlige Einigkeit darüber bestand, dass es sich bei ihm um einen ausgemachten Spinner handelte - und auch das war absolut in Ordnung.
Die späteren Bewohner durchpflügten erfolglos die halbe Gemeinde Calcasieu, um die angeblich noch immer dort verborgenen Schätze der Piraten zu finden, ehe sie schließlich aufgaben. Nun ja, nicht ganz. Bobbie Faye konnte sich daran erinnern, als Kind einmal gehört zu haben, dass es einen Ort namens Contraband Bayou gebe, an dem ein paar Piraten Edelsteine und Gold am Ende des Flussarms versteckt hätten. Deshalb war sie mitgegangen, als Roys und Lori Anns Vater angeboten hatte, sie mit zum Fischen zu nehmen. Ihr war klar gewesen, dass sie direkt an dem berühmten Bayou vorbeikommen würden, und sie hatte fest daran geglaubt, den Schatz zu finden, wenn er sie dort hinausließe. Doch alles, was dabei herumkam, war der Kontakt mit giftigem Efeu, der ihr üble Schmerzen einbrachte, sowie der Anblick von jeder Menge Löcher, die schon andere vor ihr vergeblich gegraben hatten. So viel zum Thema Geschichte.
Wie das Leben nun einmal so spielte, entwickelten sich die Erzählungen allmählich zu Mythen, um die herum dann Feierlichkeiten entstanden. So wie das Piraten-Festival, ein verrücktes, quirliges Fest im Mai, bei dem sich alle Einwohner zwölf Tage lang als Piraten verkleideten, um zu feiern, Musik zu hören, zu tanzen und alle möglichen witzigen Sachen zu veranstalten: Kräftemessen mit Traktoren, Rennen, Paraden, Seeräuberspiele ... Jedes Jahr fand ein »offizieller« Schönheitswettbewerb statt, aber Bobbie Fayes Mom (und schon deren Mom und deren Mom zuvor) waren die inoffiziellen »Königinnen« gewesen - ein Titel, den es bereits seit so langer Zeit gab, dass sich niemand mehr so richtig daran erinnerte, wie er von Generation zu Generation weitergereicht worden war. Bobbie Fayes Mom hatte über all ihre Erinnerungen an die verschiedenen Piraten-Festivals ein Album angelegt ... und es kurz vor ihrem Tod ihrer Ältesten geschenkt, nachdem sie ihr bereits ihre Pflichten als Königin übertragen hatte.
Bobbie Faye zog nun das Album aus dem Wasser. Ihr wurde ganz schwer ums Herz, als sie langsam die erste durchgeweichte Seite umblätterte. Spinnwebenartig verliefen tintenblaue Rinnsale über das Papier und nahmen fast allen Worten ihre Bedeutung. Durch das Wasser waren die alten Fotos zu trüben Schatten verblasst, und sämtliche Erinnerungen bildeten nur noch einen klatschnassen Klumpen. Die getrockneten Blätter einer Rose, die ihre Mutter bei ihrer letzten Parade getragen hatte, lösten sich unter Bobbie Fayes Berührung auf. Dann kochte die Wut in ihr hoch und Bobbie Fayes Adrenalinspiegel stieg noch ein Stück weiter an - sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde jeden Moment explodieren. Noch dazu plätscherte das kalte Wasser immer höher um die Hosenbeine ihres Pyjamas.
Das Album war ihr immer ein Trost gewesen, wenn sie mal wehmütig an früher gedacht hatte. An die Zeit, bevor ihre Mutter damit anfing, diese großen Schlapphüte zu tragen, und ehe ihr Haar auf unerklärliche Weise immer dünner und dünner geworden war. Bevor es ihr zur Gewohnheit wurde, die seltsamsten Klamottenkombinationen zu tragen, und ihre Frühstückseier mit Speck immer öfter einen Hauch stärker nach Rum zu riechen begannen, als sie sollten. Bevor Bobbie Faye bemerkte, dass ihre Mom an den meisten Tagen eigentlich ein bisschen zu überdreht war und dass sie Jitterbug auf dem Kaffeetisch getanzt hatte (bis er zusammenbrach). Und bevor Bobbie Faye erfuhr, was das Wort Krebs bedeutete.
Sie blickte auf das zerstörte Album in ihren Händen. Wenn Roy wie versprochen vorbeigeschaut und diese verdammte Waschmaschine repariert hätte, wäre das alles nicht passiert.
Bobbie Faye starrte durch das vordere Fenster des Trailers hinaus auf die Schotterstraße und stellte sich vor, sie würde ihrem Bruder mit einem Laserstrahl zielsicher ein Brandzeichen auf den Hintern setzen. Leider hatte sie jedoch nicht die geringste Ahnung, wo er sich gerade befand. Und ihn ans Handy zu bekommen glich einem Wunder. Er konnte überall sein: an seinem Angelplatz südlich des Trailerparks, wo es Hunderte kleiner Flussarme und Gewässer gab (oder Fluchtrouten, wie Roy sie nennen würde); oder auch nördlich des Trailerparks, wo er sich vielleicht in irgendeinem der Rattenlöcher in Lake Charles, die sich Bars schimpften, versteckte. Die triste Industriestadt gehörte für Bobbie Faye zu der Sorte verschrobener, unabhängiger Orte in den Südstaaten, um deren Image sich nie jemand geschert hatte. Würde jemand der Stadt den Namen »Heimat der Hardcore-Säufer, gegen die alle Zecher während des Mardi Gras wie lasche Feiglinge wirken« verpassen und die Stadt eine Frau sein, stünde sie wahrscheinlich schwankend auf und salutierte.
So, wie sie Roy kannte, hielt er sich nicht in der Nähe seiner Wohnung in der Innenstadt auf. Es war wahrscheinlicher, dass er in irgendeiner dämlichen Pokerrunde saß oder - Gott möge ihm helfen - einer seiner vielen Freundinnen einen Besuch abstattete. Soll er doch weglaufen, dachte sie, verstecken kann er sich ohnehin nicht.
Sich zu verstecken war allerdings das Einzige, was Roy in diesem Moment im Kopf hatte. Er schlüpfte in seine Jeans und versuchte dann, seine eins achtzig in einen großen, staubigen Zwischenraum zu quetschen, der sich unter der breiten, in die Fensternische eingebauten Sitzbank im Haus seiner verheirateten Freundin Dora befand, von der aus man diesen wunderschönen Ausblick auf die Bucht hatte. Er schlängelte sich geräuschlos hinein, darauf bedacht, sich nichts dabei zu zerren, bekam jedoch bereits jetzt einen Krampf in den Zehen. Die Lagen von Staub im Innern der Kammer kitzelten ihm in der Nase, und er hielt sie sich zu, um nicht niesen zu müssen. Gleichzeitig spähte er durch das hübsch verzierte Blechgitter, das die Fensterbank verkleidete, und sah, wie sich zwei Muskelpakete, die eindeutig der Interessengemeinschaft zur Legalisierung von Steroiden angehören mussten, in den Raum schoben. Dora, seine nahtlos gebräunte, gut gebaute (gesegnet sei Jimmy und dessen Bereitschaft, seine Frau jede Art von Schönheitsoperation machen zu lassen, die sie wollte) und sehr blonde Freundin, hockte über ihm auf der Sitzbank. Sie ließ ihre Beine vor dem Gitter baumeln, damit er dahinter besser versteckt war.
© 2011 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
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Autoren-Porträt von Toni McGee Causey
Toni McGee Causey lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen in Baton Rouge. Neben ihrer Tätigkeit als Krimiautorin arbeitet sie auch als Journalistin und Redakteurin eines Regionalmagazins. Gemeinsam mit ihrem Mann leitet sie außerdem eine Baufirma.
Bibliographische Angaben
- Autor: Toni McGee Causey
- 2011, 447 Seiten, Maße: 12,6 x 17,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Isabell Bauer
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802584783
- ISBN-13: 9783802584787
- Erscheinungsdatum: 03.08.2011
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