Schmerzenskinder
Als 5-Jährige wurde Waris Dirie mit einer zerbrochenen Rasierklinge beschnitten. Doch sie hatte Glück und...
Als 5-Jährige wurde Waris Dirie mit einer zerbrochenen Rasierklinge beschnitten. Doch sie hatte Glück und überlebte. Dieses Buch knüpft an die ersten beiden Bände ihrer Autobiographie ''Wüstenblume'' und ''Nomadentochter'' an.
Waris Dirie erzählt ihr Leben weiter, von dem Tag an, als sie ihr Schweigen brach. Sie erzählt von Begegnungen mit Tätern und Opfern, von den mühsamen Recherchen, von Rückschlägen und Erfolgen. Ein erschütterndes Buch, das aufdeckt, dass solch unmenschliche Rituale auch mitten in Europa praktiziert werden.
Schmerzenskindervon Waris Dirie
LESEPROBE
Meindrittes Leben
Schweißgebadet wache ich auf. Es ist sehr früh, noch nicht einmalsechs Uhr morgens. Die Nacht war kurz und unruhig. Schwere, düstere Träumehaben mich immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Noch einmal mache ich dieAugen zu, doch sofort sehe ich die schrecklichen Bilder wieder vor mir: einbilliges Hotelzimmer, eng, mit vergilbten Tapeten an den Wänden. Auf dem großenBett liegt ein Mädchen, das zehn, höchstens zwölf Jahre alt ist. Es ist nackt.Vier erwachsene Frauen stehen um das Bett herum und halten das Mädchen fest.Vor seinen gespreizten Beinen sitzt eine alte Frau, die ein Skalpell in derHand hält. Das Bettlaken ist tiefrot, von Blut durchtränkt. Das Mädchen schreitdurchdringend, es hört nicht auf zu schreien. Es schreit direkt in mein Herz. DieserSchrei hat mich immer wieder geweckt. Und es ist so, als würde er sogar inmeinem Zimmer nachhallen. Verstört stehe ich auf und hole mir ein Glas Wasseraus der Küche. Ich blicke zum Fenster hinaus. Es beginnt hell zu werden. Ichbin in Wien, niemand schreit, es war alles nur ein Traum, versuche ich mich zuberuhigen. Erstgestern Abend kehrte ich von einem Wochenendtrip aus Cardiff zurück. Bevor ichnach Wien gezogen bin, habe ich knapp zwei Jahre lang in der walisischenHauptstadt gelebt. Eigentlich wollte ich dort nur Freunde treffen und mich einbisschen entspannen, auf zwei erholsame Tage hatte ich mich gefreut. Doch eskam anders. Am Tag meiner Abreise war ich bei Freunden zum Mittagesseneingeladen. Es war eine aufgeweckte Runde, wir kannten uns alle von früher, undes gab jede Menge zu erzählen. Nur einer der jüngeren Männer, Mariame, sagtedie ganze Zeit nichts. Mir .el auf, dass er mich während des Essens ein paarMal eindringlich anschaute. Ich konnte mir jedoch nicht erklären, was es zubedeuten hatte. Als ich schließlich aufbrechen musste und mich von allen verabschiedethatte, begleitete er mich hinaus. Ich nutzte die Gelegenheit, ihn zu fragen,was denn los sei. »Waris«, antwortete er mir, »ich bewundere deine Kraft. Jetztweiß ich endlich, mit welchen Qualen Beschneidungen verbunden sind. Ich würdegerne helfen, die Leute darüber aufzuklären. Viele wissen nichts darüber. DieEingriffe werden einfach nur gemacht, weil es immer schon so üblich war. Keinerdenkt über die Folgen nach.« Ich musste lächeln. Es gibt immer mehr Männer, diees ablehnen, dass Mädchen beschnitten werden. Das macht mir Mut. Wenn dochschon alles der Vergangenheit angehören würde. Plötzlich wurde Mariame ganzernst: »Ich wollte dir aber noch etwas ganz anderes erzählen. Mir ist vorwenigen Tagen eine schreckliche Geschichte zu Ohren gekommen.« Und dannerzählte er mir von einer afrikanischen Familie aus Cardiff, die ihrezehnjährige Tochter beschneiden lassen wollte. Sie habe hier ein Hotelzimmergemietet und eine alte libysche Frau dorthin bestellt, die für 200 Pfund die grausame Prozedur durchführensollte. Doch die Beschneiderin habe danebengeschnitten - und das Mädchen habeso stark geblutet, dass sie zum Arzt gebracht werden musste. »So habe ich davonerfahren«, sagte Mariame, »sie wäre fast verblutet.« »Ja, hat denn niemand diePolizei gerufen?«, fragte ich. »Ich weiß nicht«, antwortete er. »Wie heißt dieFamilie? Wo wohnt sie? Wie geht es dem Mädchen jetzt?«, bohrte ich weiter nach.Mariame kannte keine Details. »Deshalb bedrückt mich diese Geschichte auch so.Ich weiß, dass es passiert ist, und kann einfach nichts dagegen machen.« Es warnicht das erste Mal, dass ich von einer Genitalverstümmelung in Europa erfuhr.Durch meine Bücher bin ich so etwas wie eine Symbolfigur für den Kampf gegenGenitalverstümmelung geworden, und deshalb höre ich immer wieder von diesemschrecklichen Ritual in afrikanischen und arabischen Familien. Doch jedes Mal,wenn ich Details wissen wollte, um endlich einen Täter anzeigen zu können, wurdeich mit Ausflüchten abgespeist. Dass Genitalverstümmelung vor Staatsgrenzennicht Halt macht und daher auch Frauen und Mädchen in Europa betrifft, ist inden afrikanischen Communities ein offenes Geheimnis. Mehr wurde mir gegenüberbisher nicht preisgegeben. Hier in Cardiff war nun offenbar ein Arzt oder einKrankenhaus involviert, diesmal würde ich bestimmt Genaueres herausfindenkönnen. Die kurze Zeit, die mir noch bis zum Abflug blieb, nutzte ich, um mitmöglichst vielen Bekannten in Cardiff telefonisch Kontakt aufzunehmen: Hattejemand etwas gehört? Wusste jemand, um welches Mädchen es sich handeln könnte?Es war enttäuschend. Niemand konnte mir Auskunft geben, ja, mehr noch, keinerwollte über ein solches Thema sprechen. Auch über Krankenhäuser, die Polizei und soziale Einrichtungen konnteich nichts in Erfahrung bringen. Dann war es schließlich so weit: Mein Flugzurück nach Wien war zum Einsteigen bereit. Ich ließ Cardiff hinter mir. DasBild von dem Mädchen im Hotelzimmer jedoch nahm ich mit - bis in meine Träume. AnSchlaf ist jetzt nicht mehr zu denken. Ich hole meine Joggingschuhe aus demSchrank, ziehe einen Trainingsanzug an und gehe hinunter auf die Straße. Laufenist die beste Medizin für mich, besonders in Momenten, in denen mich etwasinnerlich sehr aufwühlt. Beim Joggen kann ich mich beruhigen, aber auch nachdenken.Draußen ist es kalt. Als ich am Fluss entlanglaufe, sind bereits die erstenSchulkinder unterwegs. Langsam wird mein Kopf wieder klar. Wie schön es ist, inÖsterreich zu sein, denke ich erleichtert. Hier kann man sicher sein, dass denMädchen nichts passiert. Kann ich mir denn da wirklich so sicher sein? Am Ende sinddie Fälle von Genitalverstümmelung in Europa, von denen ich gehört habe, nichtnur Einzelfälle? Geschieht das vielleicht überall? Sogar hier in Wien? Undwieder muss ich an meine Albträume denken. An den Schrei des Mädchens, mittenin einer europäischen Industriestadt. Mir fallen die Interviews ein, die ich imZusammenhang mit meinen Buchveröffentlichungen gegeben habe. Die Kongresse, andenen ich als UN-Sonderbotschafterin teilgenommen habe. Immer haben wir überAfrika gesprochen, immer wurde ich zu Somalia befragt. Habe ich schon jemalsmit einer Expertin aus Europa gesprochen? Nein, das hätte ich nicht vergessen.Ich kenne keine Studien und keine Zahlen über Genitalverstümmelung in Europa.Gibt es etwa noch mehr Opfer? Ich setze mich auf die nächste Parkbank. Waris,sage ich zu mir, du musst etwas tun. Du musst Antworten finden. Damals hoffte ich, meineBefürchtungen würden sich nicht bestätigen. Heute weiß ich, dass ich mit meinenVermutungen richtig lag. Der Entschluss, mich diesem Thema zu widmen, solltemeinem Leben eine neue Wendung geben. Ich bin jetzt keine »Wüstenblume« undkeine »Nomadentochter« mehr. An jenem Morgen begann mein drittes Leben.
© Marion von Schröder Verlag
Autoren-Porträt von Waris Dirie
Waris Dirie wuchs in einer Nomadenfamilie in der somalischenWüste auf. Im Alter von fünf Jahren erlebte sie die Qualen der Beschneidung -ein Ritual, an dessen Folgen ihre Schwester und zwei Cousinen gestorben sind.Mit vierzehn floh sie zu Verwandten nach Mogadischu und arbeitete dann vierJahre als Hausmädchen bei ihrem Onkel in London. Mit achtzehn wurde Waris Dirie als Model entdeckt.Lange war es ihr nicht möglich, darüber zu sprechen, was ihr in jungen Jahrenzugestoßen war. Doch nach und nach reifte in Waris Dirie der Entschluss, ihre Leiden vor der Öffentlichkeitnicht mehr länger zu verheimlichen. Sie schrieb ihr Aufsehen erregendes erstesBuch Wüstenblume , das zu einem riesigen Bestseller in21 Ländern wurde und auch in Deutschland über 100 Wochen auf derBestsellerliste stand. Heute lebt sie mit ihrem kleinen Sohn in New York undengagiert sich als Sonderbotschafterin der UNO gegen die Beschneidung vonFrauen, die noch heute in 28 Ländern der Welt praktiziert wird.
Interview mit Waris Dirie
In Deutschland war"Wüstenblume" über 100 Wochen auf den Bestseller-Listen. Aber IhrBuch war mehr als ein Bestseller. Es hat die Menschen, die es gelesen haben,verändert. Hat es auch Sie verändert, während Sie daran gearbeitet haben?
Ja, dieArbeit an meinem Buch hat mich verändert. Ich habe immer stärker gefühlt, dasses meine Mission ist, gegen das schreiende Unrecht der weiblichenGenitalverstümmelung zu kämpfen.
Sie haben einige Zeit gebraucht fürdie Entscheidung, Ihre Erlebnisse niederzuschreiben. Gab es einen besonderenMoment oder ein bestimmtes Ereignis, wo Sie gedacht haben: "So jetzt macheich den Mund auf!"?
Ich habeoft daran gedacht, über mein Leben und über das, was mir als Kind angetanwurde, zu sprechen oder zu schreiben. Oft wollte ich es herausschreien, aberich konnte nicht. Eines Tages war ich bereit, über alles zu reden und meinerstes Buch zu schreiben.
Als Sonderbotschafterin derVereinten Nationen kämpfen Sie gegen die weibliche Genitalverstümmelung.Glauben Sie, dass sich durch Ihre Arbeit und Ihre Popularität als Autorin dieSituation wenigstens ein bisschen verändert hat?
MeineBücher und meine Arbeit in den letzten sieben Jahren haben einiges verändert.In 14 Staaten, in denen die Genitalverstümmelung praktiziert wird (insgesamt28), wurde diese auf internationalen Druck per Gesetz verboten. Alle großenOrganisationen von UNO, UNESCO, UNICEF, ROTES KREUZ etc. haben mittlerweilezahlreiche Projekte gegen weibliche Genitalverstümmelung ins Leben gerufen. Esist allerdings noch ein langer Weg bevor alle Mädchen aus den betroffenenLändern vor diesem Verbrechen an Körper und Seele geschützt sein werden.
Mit gerade mal 13 Jahren haben Siealles hinter sich gelassen, weil Sie nicht den Mann heiraten wollten, den IhrVater für Sie ausgesucht hatte. Selbst in Ländern wie Deutschland ist es nichtungewöhnlich, dass zum Beispiel türkische Mädchen von ihren Eltern verheiratetwerden. Warum, glauben Sie, ist diese Tradition immer noch so stark?
Alle dieseTraditionen dienen doch nur zur Unterdrückung der Frauen - verschleiern, zwangsverheiraten, verkaufen, verstümmeln, versklaven.Durch die Immigration werden den Menschen in Europa diese Probleme erst richtigbewusst gemacht. Nun sind alle Menschen und die Politiker gefordert, durchsensible Aufklärungsarbeit die Rechte der Frauen zu stärken.
Leben Sie noch in New York? Undwürden Sie diese Stadt Ihr Zuhause nennen?
Ich lebenicht mehr in New York, sondern seit einiger Zeit in Wien, wo auch der Sitzmeiner Waris Dirie Foundation ist (Info: www.waris-dirie-foundation.com). AlsNomadin ist mein Zuhause immer dort, wo ich mich wohl fühle.
Die Fragen stellte Roland GroßeHoltforth, literaturtest.de.
- Autoren: Waris Dirie , Corinna Milborn
- 2005, 240 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Geb. mit Su., Deutsch
- Verlag: MARION VON SCHRÖDER
- ISBN-10: 3547710677
- ISBN-13: 9783547710670
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