Schnauze Wessi
Pöbeleien aus einem besetzten Land
Holger Witzels Kolumne ist die meistgeklickte und meistdikutierte auf stern.de. Ätzender als er beschreibt niemand den Zustand der innerdeutschen Einheit.
Hier sind seine treffendsten "Pöbeleien aus einem besetzten Land" versammelt: z.B....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schnauze Wessi “
Holger Witzels Kolumne ist die meistgeklickte und meistdikutierte auf stern.de. Ätzender als er beschreibt niemand den Zustand der innerdeutschen Einheit.
Hier sind seine treffendsten "Pöbeleien aus einem besetzten Land" versammelt: z.B. über Kriminelle, die als Aufbauhelfer getarnt sind, oder Ostalgie-Marketing.
Klappentext zu „Schnauze Wessi “
Ein Ossi schlägt zurück und das ist auch gut so!Ätzender als Holger Witzel beschreibt niemand den Zustand der innerdeutschen Einheit 20 Jahre nach der so genannten Wiedervereinigung. Seine Kolumne ist regelmäßig die meistgeklickte und meistdiskutierte auf stern.de. Die Fakten und Beobachtungen, mit denen der bekennende Ossi dabei argumentiert, schmerzen besonders, weil sie trotz aller Überspitzung im Kern sehr wahr sind. Und: Sie machen richtig Spaß!
Kriminelle, die als Aufbauhelfer getarnt sind, das Märchen von der "Ostalgie" als Marketingtrick westdeutscher Konzerne oder die kokette Sehnsucht vieler Schwaben, ein echter Ostberliner zu werden nichts ist vor seiner spitzen Feder sicher. Auch nicht die Buchform jetzt zum Selberlesen oder Verschenken.
- Die ewigen Missverständnisse 20 Jahre nach der Einheit
- Schmerzhaft, im Kern jedoch sehr wahr
- Die Kult-Kolumne des stern-Reporters endlich auch als Buch
Lese-Probe zu „Schnauze Wessi “
Schnauze Wessi - Pöbeleien aus einem besetzten Land von Holger WitzelFriede, Freude, Einheitskuchen
Am 20. Jahrestag des Mauerfalls lief das Fass der Tränen über. Und mir die Galle. Auf einmal will der Westen die Mauer sogar noch von seiner Seite eingerissen haben. Ein Wutanfall.
... mehr
Was war das für eine Orgie 71 Jahre nach der Reichspogromnacht: Statt SA-Trupps knatterten wochenlang nur Trabis über den Bildschirm. Auf allen Kanälen flossen Tränen der Freude statt der ewigen Scham. Wenigstens im Kurzzeit-Gedächtnis durften wir noch einmal ein mutiges Volk gewesen sein - das Volk sogar zum Teil. Und beinahe wäre die größte Sensation im Freudentaumel über den Mauerfall ganz untergegangen: Wurde sie doch vor 20 Jahren nicht etwa von den Scorpions eingerissen, die so lange Wind of Change pfiffen, bis es kein Grenzer mehr auf seinem Wachturm aushielt, sondern eigentlich vom Westfernsehen eingedrückt!
Irgend so ein Besserwisser behauptete in irgend so einer Nacht-der-Nächte-Dokumentation allen Ernstes, Hanns Joachim Friedrichs von den Tagesthemen sei es gewesen. Die Nachrichten über die offene Mauer hätten diese gewissermaßen erst geöffnet. Vermutlich nennt man die wichtigsten Meldungen sogar erst seit diesem Tag »Aufmacher« und wir wissen nun endlich auch, dass nicht das Ei vor der Henne da war, sondern zuerst das Gegacker. Von den Leipziger Broilern, die sich für mehr Freilauf im Hühnerstall verprügeln und einsperren ließen, gar nicht zu reden. Am Ende - man hätte es wissen müssen - war es also das Westfernsehen, der mutige Onkel Hajo aus Hamburg. Das ist zwar weder logisch noch belegt, aber typisch.
Das halten sie bis heute nicht aus, dass sie damals nur staunen und zuschauen konnten. Dass es sie kalt erwischt hat, wo sie doch sonst immer alles wissen. Dass ein dusseliger Funktionär in zehn Minuten erledigte, was sie selbst mit Milliardenkrediten seit Jahren mühsam hinausgezögert hatten. Und auch daran werden sie nicht gern erinnert: Wie sie das kleine schmuddelige Land und seinen Diktator bis zum Schluss hofierten, wie Erich Honecker 1987 beim Ehrenempfang in Bonn den größten Triumph seiner verkorksten Antifaschisten-Karriere noch zwei Jahre vor dem Kanzler der Einheit auskosten durfte, aber immerhin Schulter an Schulter mit ihm. Diese peinlichen Bilder werden zugunsten von Dauersendungen mit Heulkrämpfen (»Dass ich das noch erleben darf!«) gern unterschlagen. Dabei hat Honecker damals bestimmt genau das Gleiche gedacht, heimlich jedenfalls, und dafür sogar ein paar Wochen lang keine Menschen an der Mauer erschießen lassen.
Der rote Teppich von Bonn ist im Rückblick nicht nur ein schönes Symbol für die Verlogenheit der innerdeutschen Beziehungen, sondern auch dafür, was nach den vielen Judasküssen zwei Jahre später kam: Wie die einen strahlten, dass sie endlich mal offi ziell in den Westen durften, und die anderen reserviert die Zähne zusammenbissen. Wie der kleine, dürre Mann mit dem altmodischen Hut schon damals, beim Abschreiten der Ehrenformation, permanent Gefahr lief, von seinem großen dicken Stiefbruder von der Teppichkante geschubst zu werden. Wie sich das alle eigentlich ganz anders vorgestellt hatten. Und wie es dann doch genau so kam.
Kaum hatte sich der Wind gedreht (und jetzt bitte nicht wieder dieses schreckliche Lied pfeifen), steckten sie den ehemaligen Staatsgast ins Gefängnis und sich den Rest seines Landes in die Tasche. Aus Volkseigentum wurde genau so schnell ihr Privateigentum wie aus militärischen Ehren Schimpf und Schande. Und damit das nicht so auffi el, ließ man Honecker dann doch noch rechtzeitig ins Ausland fliehen. Wie hätte das auch ausgesehen, wenn der Rechthaber-Rechtsstaat neben ihm womöglich auch einige eigene Politiker wegen Hehlerei oder Beihilfe zu Menschenhandel hätte anklagen müssen. Die gute Laune war jedenfalls schnell im Eimer.
Vielleicht - so viel sei zugegeben - haben sich damals tatsächlich ein paar West-Berliner ehrlichen Herzens gefreut (bevor ihnen der Verlust ihrer Berlin-Zulage und der Regierungsumzug schwante), vielleicht gab es auch ein paar Westdeutsche, die immer mal ein Päckchen schickten (und von der Steuer absetzten). Die meisten Menschen aber zwischen Nord- und Tegernsee ging das Jahr 1989 nichts an: Ob in China ein Sack Reis umfällt oder auf halbem Weg dahin eine Mauer - na und? Was sollte sich für sie groß ändern? Wenn sie ehrlich sind, was leider nicht ihre Stärke ist, geben sie das sogar zu. Auch dass es ein Irrtum beider Seiten war, dass sich dieses Thema in fünf, zehn oder spätestens 20 Jahren erledigt hätte.
In Wahrheit kann von der so genannten inneren Einheit bis heute keine Rede sein. Dafür sind wir viel zu verschieden. Zum Glück. Immer noch. Vielleicht haben uns die Jahre nach dem kalten Krieg sogar mehr entfremdet als die Zeit davor. Dieser Graben lässt sich nicht leichtfertig zuschütten, wie das seit 1990 vergeblich versucht und in diesen Tagen wieder in allen Festreden beschworen wird, gern auch mit dem berühmten Satz vom Zusammenwachsen (»Nun wächst zusammen, was zusammengehört«), den Willy Brandt tatsächlich nie so gesagt hat, schon gar nicht am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus. Er wurde ihm nachträglich untergejubelt, verstümmelt und verkürzt. Erst ein Jahr später, als man die Wiedervereinigung noch für einen Grund zum Feiern hielt, sagte Brandt etwas, das dem falschen Zitat zwar nahe kam, aber ein wenig nach dem richtigen Umgang mit geistig Behinderten klang. Im Zusammenhang mit der »wirtschaftlichen Aufforstung« des Ostens warnte Brandt eindringlich vor den »geistig-kulturellen Hemmschwellen und seelischen Barrieren« zwischen den Deutschen und fügte an: »Aber mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammengehört."
Es kam anders. Takt gehörte ohnehin nie zu westdeutschen Stärken. Und so blieb jeder, was er war. Oder um es ungefähr mit Walter Ulbricht zu sagen, dem wir - neben Hitler und anderen gemeinsamen Vorfahren - das alles zu verdanken haben: Niemand hat die Absicht, eine Mauer einzureißen. Bitte nicht auch noch die in den Köpfen! Schon im Interesse der kulturellen und menschlichen Artenvielfalt wäre es schade darum. Wer soll uns sonst in Zukunft erklären, wie das damals mit dem Mauerfall und dem Westfernsehen wirklich war? Wer soll uns die Demokratie erklären, das Arbeiten beibringen oder die »seelischen Barrieren« heilen? Und wer soll diesen Klugscheißern sagen, dass sie vielleicht auch mal lernen müssen, was ihnen von Natur aus so schwerfällt?
Na gut, ich mach's und sag es mal so: Schnauze, Wessi!
... und ihr seid ein anderes
Pünktlich zum Jahresende hängen wieder angebliche »Hass-Plakate« im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Leider ist nur der Adressat klar, nicht der Absender. Eine Bewerbung.
Sie kleben regelmäßig an Stromkästen und Mülltonnen, im Bötzowviertel und rund um die Winsstraße - überall, wo Touristen den Ost-Berliner Kiez einmal besonders kiezig fanden, bis sie unbedingt selbst dazugehören wollten. »Wir sind ein Volk!«, steht dieses Jahr auf den Plakaten. »Und ihr seid ein anderes.« Unterschrieben sind sie mit: »Ostberlin, 9. November 2009.«
Abgesehen davon, dass dies natürlich für das ganze Land gilt, ist es eine ziemlich harmlose Wortspielerei, eine Art Binsenweisheit nach 20 Jahren Clash der Kulturen. Nicht so platt wie »Schwaben, verpisst euch!«, was auf neuen Berliner Fassaden auch oft verlangt wird, oder etwa »Schnauze, Wessi!«. Trotzdem weiß jeder sofort, wer das eine Volk ist und wer das andere - und was sonst noch gemeint ist. Die Botschaft kommt an, offenbar sogar bei denen, die das Leben der Anderen nur aus dem Kino kennen. Sonst würden sie sich nicht alle Jahre wieder darüber aufregen.
Noch schöner ist, dass es jedes Jahr mehr werden - die Plakate selbstverständlich. Sie sind größer und aufwendiger gemacht als die kopierten DIN-A-4-Zettel der vergangenen Jahre, auf denen anonyme Widerstandskämpfer ihren neuen Nachbarn eine gute Heimreise wünschten oder sich für die erholsamen Feiertage bedankten, wenn die Saab-Karawane im Stau nach Süddeutschland steckte. Am schönsten aber sind die öffentlichen Reaktionen darauf, jedenfalls die veröffentlichten:
Ungewohnt vorsichtig rätselt die Bild-Zeitung über den »Plakat-Krieg« - es sei noch »unklar, was es damit auf sich hat«. Für »Hass-Plakate« entscheidet sich dagegen die alte West-Berliner B.Z. und analysiert »einen neuen Höhepunkt des innerdeutschen Rassismus«. Die Berliner Morgenpost meint, »Plakate spalten Anwohner« und verwechselt damit die Ursachen - als könnte Papier eine Schere schneiden. In der Berliner Zeitung - sonst eher rücksichtsvoll im Umgang mit ewig gestrigen Gefühlen und Mitarbeitern - wundert sich ein Autor »über die Hartnäckigkeit einiger Ost-Berliner« und verlangt »für die Verfasser ein sofortiges Einreiseverbot nach West-Berlin.«
Man könnte jetzt mit hoher Treffsicherheit sagen, woher die einzelnen Journalisten stammen, zumal Medien ein beliebtes Tummelfeld für ahnungslose Experten aller möglichen Befi ndlichkeiten sind. Doch so einfach ist es nicht. Immerhin belegen die Kollegen ihr Unverständnis mit Umfragen unter Betroffenen und Fachleuten. »Absurd« beziehungsweise »unsäglich« findet Bezirksbürgermeister Matthias Köhne die Plakate und glaubt: »Wir waren in dieser Hinsicht schon mal weiter.« Zweifellos ein Irrtum, aber das sei einem Diplompolitologen aus Schleswig-Holstein nachgesehen, der erst seit 1994 in Ost-Berlin lebt. Auch der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann wundert sich in der Berliner Zeitung über das »provinzielle Bewusstsein«. Immerhin wohnt er schon seit 1996 am Kollwitzplatz, und in seinem Alltag - so der gebürtige Schwabe - seien Ost-West-Differenzen kein Thema mehr. Wahrscheinlich stimmt das sogar, denn am Kollwitzplatz sind sie ja im Wesentlichen unter sich, aber in einem Punkt irrt auch der Soziologie-Professor: Er sei froh, sagt er, dass sich die Kampagne gegen Landsleute und nicht gegen Menschen aus noch fremderen Kulturen richte. Dabei richteten sich die Plakate doch genau dagegen, ausdrücklich sogar! Und fremder als nach solchen Aussagen kann man sich gar nicht werden.
So zieht sich das durch alle Berichte: »Die haben wohl die Zeit verpennt«, echauffiert sich in der Morgenpost eine Bankangestellte, die von Köln in den Prenzlauer Berg gezogen ist. Philipp Strube, der 1980 aus Westdeutschland kam und nach einer Karriere als Sozialarbeiter in Kreuzberg nun den beliebten Wochenmarkt am Kollwitzplatz betreibt, sagt: »Ost-West spielt heute keine Rolle mehr.« Auch er mag recht haben: Die Probleme, die sein Markt derzeit mit einigen klagenden Anwohnern aus dem eigenen Kulturkreis hat, haben damit sicher nur am Rand zu tun.
Man kann leider nur spekulieren, warum in den Umfragen fast ausschließlich Ost-Berliner zu Wort kommen, die das noch nicht allzu lange sind. Finden die Reporter doch mal einen Einheimischen, wollen die bei heiklen Ost-West-Fragen lieber namenlos bleiben. »Ich glaube, es handelt sich einfach um die Meinungsäußerung von Leuten, die hier keiner mehr versteht«, zitiert die Berliner Zeitung immerhin »eine Frau, die schon lange vor der Wende in Prenzlauer Berg gelebt hat.« Menschen, die im Westen aufgewachsen seien, sagt sie, könnten das nur nicht herauslesen. Jens-Holger Kirchner, der als Bezirksstadtrat für Öffentliche Ordnung auch für wild geklebte Plakate zuständig ist, äußert sich in der Westberliner Morgenpost ähnlich vorsichtig: »Die Ost-Berliner haben so viele Veränderungen durchgemacht, die regen sich über den Wandel in den letzten fünf Jahren bestimmt nicht auf.«
Er legt damit einen ungeheuerlichen Verdacht nahe: Kleben die Fremden die fremdenfeindlichen Plakate womöglich selbst? Es sähe ihnen ähnlich: Ich selbst kenne Exemplare, die sich ungeniert beklagen, in den so genannten Szene-Vierteln sei nichts mehr so, wie es war, als sie sich dort breitmachten. Eine Zeitlang haben sie noch versucht, sich mit alten Trainingsjacken der Nationalen Volksarmee zu tarnen und gleichzeitig damit verraten. Was sie nämlich nicht wissen: Wer die einmal tragen musste, wird das nie wieder freiwillig tun. Auch die verbreitete Vorliebe für alte Ost-Mopeds und anderen Quatsch aus dem Fachhandel für Nostalgie sind Indizien. Warum sollen sie also nicht zu denen gehören wollen, die Leute wie sich selbst nicht mögen? Solche narzisstischen Phänomene der Über-Identifikation mit Opfern kennt man aus der Trauma-Psychologie oder der Vergangenheitsbewältigung. Schaut man genau hin, stammen tatsächlich viele, die sich auch öffentlich für »Milieuschutz« in den Berliner Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain einsetzen, gerade nicht aus diesen Milieus, sondern haben sie erst kopiert, dann okkupiert und schließlich zu Hause so lange angepriesen, bis sie ihre Zauberlehrlinge nicht mehr bremsen und die Mieten selbst nicht mehr bezahlen konnten.
Wie ich die Plakate verstehe, geht es nicht um arm oder reich, gegen »gentrification« oder »gegen Schwaben«, wie dpa und andere vermuten, weil dieses ohnehin bedauernswerte Völkchen schon zu Mauerzeiten als die peinlichsten Berliner galten. Sie richten sich gleichberechtigt gegen Rheinländer, Hessen, Bayern und Westfalen, ja sogar gegen Ost-Westfalen. Es geht um zugezogene Ego-Terroristen und ihre ungezogenen ADS-Kinder. Um Park- und Kindergartenplätze und um die letzten Omis, die nirgendwo ein Päckchen Kaffee bekommen, das nicht zu angeblich »fairen Preisen« gehandelt wird. Um asoziale Attitüden und ein alternatives Image, das sich einen Scheiß um die letzte alternative Kultur schert, die gerade geräumt, gekündigt oder von den neuen Wohnungseigentümern wegen zu lauter Gitarren verklagt wird. Nicht zuletzt geht es natürlich auch um meine Berliner Lieblings-Kneipe, für die ich hier aus guten Gründen keine Werbung machen kann. Immerhin bewahrt sie ihre räudige Identität nur noch mühsam mit einem Schild an der Tür, auf dem kategorisch »Kein Milchkaffee!« steht.
Ein kleines Manko hat die Plakataktion trotzdem: Die Bekenner fehlen. Ich würde nämlich gern etwas spenden, mich nächstes Jahr selbst an der Kleister-Front melden oder ein paar Plakate mit nach Leipzig nehmen, wo es in manchen Gegenden auch überhand nimmt. So kann ich den Berliner Partisanen nur »Venceremos!« zurufen. Und allen anderen - wie immer - Schnauze!
...
Copyright © 2012 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Was war das für eine Orgie 71 Jahre nach der Reichspogromnacht: Statt SA-Trupps knatterten wochenlang nur Trabis über den Bildschirm. Auf allen Kanälen flossen Tränen der Freude statt der ewigen Scham. Wenigstens im Kurzzeit-Gedächtnis durften wir noch einmal ein mutiges Volk gewesen sein - das Volk sogar zum Teil. Und beinahe wäre die größte Sensation im Freudentaumel über den Mauerfall ganz untergegangen: Wurde sie doch vor 20 Jahren nicht etwa von den Scorpions eingerissen, die so lange Wind of Change pfiffen, bis es kein Grenzer mehr auf seinem Wachturm aushielt, sondern eigentlich vom Westfernsehen eingedrückt!
Irgend so ein Besserwisser behauptete in irgend so einer Nacht-der-Nächte-Dokumentation allen Ernstes, Hanns Joachim Friedrichs von den Tagesthemen sei es gewesen. Die Nachrichten über die offene Mauer hätten diese gewissermaßen erst geöffnet. Vermutlich nennt man die wichtigsten Meldungen sogar erst seit diesem Tag »Aufmacher« und wir wissen nun endlich auch, dass nicht das Ei vor der Henne da war, sondern zuerst das Gegacker. Von den Leipziger Broilern, die sich für mehr Freilauf im Hühnerstall verprügeln und einsperren ließen, gar nicht zu reden. Am Ende - man hätte es wissen müssen - war es also das Westfernsehen, der mutige Onkel Hajo aus Hamburg. Das ist zwar weder logisch noch belegt, aber typisch.
Das halten sie bis heute nicht aus, dass sie damals nur staunen und zuschauen konnten. Dass es sie kalt erwischt hat, wo sie doch sonst immer alles wissen. Dass ein dusseliger Funktionär in zehn Minuten erledigte, was sie selbst mit Milliardenkrediten seit Jahren mühsam hinausgezögert hatten. Und auch daran werden sie nicht gern erinnert: Wie sie das kleine schmuddelige Land und seinen Diktator bis zum Schluss hofierten, wie Erich Honecker 1987 beim Ehrenempfang in Bonn den größten Triumph seiner verkorksten Antifaschisten-Karriere noch zwei Jahre vor dem Kanzler der Einheit auskosten durfte, aber immerhin Schulter an Schulter mit ihm. Diese peinlichen Bilder werden zugunsten von Dauersendungen mit Heulkrämpfen (»Dass ich das noch erleben darf!«) gern unterschlagen. Dabei hat Honecker damals bestimmt genau das Gleiche gedacht, heimlich jedenfalls, und dafür sogar ein paar Wochen lang keine Menschen an der Mauer erschießen lassen.
Der rote Teppich von Bonn ist im Rückblick nicht nur ein schönes Symbol für die Verlogenheit der innerdeutschen Beziehungen, sondern auch dafür, was nach den vielen Judasküssen zwei Jahre später kam: Wie die einen strahlten, dass sie endlich mal offi ziell in den Westen durften, und die anderen reserviert die Zähne zusammenbissen. Wie der kleine, dürre Mann mit dem altmodischen Hut schon damals, beim Abschreiten der Ehrenformation, permanent Gefahr lief, von seinem großen dicken Stiefbruder von der Teppichkante geschubst zu werden. Wie sich das alle eigentlich ganz anders vorgestellt hatten. Und wie es dann doch genau so kam.
Kaum hatte sich der Wind gedreht (und jetzt bitte nicht wieder dieses schreckliche Lied pfeifen), steckten sie den ehemaligen Staatsgast ins Gefängnis und sich den Rest seines Landes in die Tasche. Aus Volkseigentum wurde genau so schnell ihr Privateigentum wie aus militärischen Ehren Schimpf und Schande. Und damit das nicht so auffi el, ließ man Honecker dann doch noch rechtzeitig ins Ausland fliehen. Wie hätte das auch ausgesehen, wenn der Rechthaber-Rechtsstaat neben ihm womöglich auch einige eigene Politiker wegen Hehlerei oder Beihilfe zu Menschenhandel hätte anklagen müssen. Die gute Laune war jedenfalls schnell im Eimer.
Vielleicht - so viel sei zugegeben - haben sich damals tatsächlich ein paar West-Berliner ehrlichen Herzens gefreut (bevor ihnen der Verlust ihrer Berlin-Zulage und der Regierungsumzug schwante), vielleicht gab es auch ein paar Westdeutsche, die immer mal ein Päckchen schickten (und von der Steuer absetzten). Die meisten Menschen aber zwischen Nord- und Tegernsee ging das Jahr 1989 nichts an: Ob in China ein Sack Reis umfällt oder auf halbem Weg dahin eine Mauer - na und? Was sollte sich für sie groß ändern? Wenn sie ehrlich sind, was leider nicht ihre Stärke ist, geben sie das sogar zu. Auch dass es ein Irrtum beider Seiten war, dass sich dieses Thema in fünf, zehn oder spätestens 20 Jahren erledigt hätte.
In Wahrheit kann von der so genannten inneren Einheit bis heute keine Rede sein. Dafür sind wir viel zu verschieden. Zum Glück. Immer noch. Vielleicht haben uns die Jahre nach dem kalten Krieg sogar mehr entfremdet als die Zeit davor. Dieser Graben lässt sich nicht leichtfertig zuschütten, wie das seit 1990 vergeblich versucht und in diesen Tagen wieder in allen Festreden beschworen wird, gern auch mit dem berühmten Satz vom Zusammenwachsen (»Nun wächst zusammen, was zusammengehört«), den Willy Brandt tatsächlich nie so gesagt hat, schon gar nicht am 10. November 1989 vor dem Schöneberger Rathaus. Er wurde ihm nachträglich untergejubelt, verstümmelt und verkürzt. Erst ein Jahr später, als man die Wiedervereinigung noch für einen Grund zum Feiern hielt, sagte Brandt etwas, das dem falschen Zitat zwar nahe kam, aber ein wenig nach dem richtigen Umgang mit geistig Behinderten klang. Im Zusammenhang mit der »wirtschaftlichen Aufforstung« des Ostens warnte Brandt eindringlich vor den »geistig-kulturellen Hemmschwellen und seelischen Barrieren« zwischen den Deutschen und fügte an: »Aber mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammengehört."
Es kam anders. Takt gehörte ohnehin nie zu westdeutschen Stärken. Und so blieb jeder, was er war. Oder um es ungefähr mit Walter Ulbricht zu sagen, dem wir - neben Hitler und anderen gemeinsamen Vorfahren - das alles zu verdanken haben: Niemand hat die Absicht, eine Mauer einzureißen. Bitte nicht auch noch die in den Köpfen! Schon im Interesse der kulturellen und menschlichen Artenvielfalt wäre es schade darum. Wer soll uns sonst in Zukunft erklären, wie das damals mit dem Mauerfall und dem Westfernsehen wirklich war? Wer soll uns die Demokratie erklären, das Arbeiten beibringen oder die »seelischen Barrieren« heilen? Und wer soll diesen Klugscheißern sagen, dass sie vielleicht auch mal lernen müssen, was ihnen von Natur aus so schwerfällt?
Na gut, ich mach's und sag es mal so: Schnauze, Wessi!
... und ihr seid ein anderes
Pünktlich zum Jahresende hängen wieder angebliche »Hass-Plakate« im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. Leider ist nur der Adressat klar, nicht der Absender. Eine Bewerbung.
Sie kleben regelmäßig an Stromkästen und Mülltonnen, im Bötzowviertel und rund um die Winsstraße - überall, wo Touristen den Ost-Berliner Kiez einmal besonders kiezig fanden, bis sie unbedingt selbst dazugehören wollten. »Wir sind ein Volk!«, steht dieses Jahr auf den Plakaten. »Und ihr seid ein anderes.« Unterschrieben sind sie mit: »Ostberlin, 9. November 2009.«
Abgesehen davon, dass dies natürlich für das ganze Land gilt, ist es eine ziemlich harmlose Wortspielerei, eine Art Binsenweisheit nach 20 Jahren Clash der Kulturen. Nicht so platt wie »Schwaben, verpisst euch!«, was auf neuen Berliner Fassaden auch oft verlangt wird, oder etwa »Schnauze, Wessi!«. Trotzdem weiß jeder sofort, wer das eine Volk ist und wer das andere - und was sonst noch gemeint ist. Die Botschaft kommt an, offenbar sogar bei denen, die das Leben der Anderen nur aus dem Kino kennen. Sonst würden sie sich nicht alle Jahre wieder darüber aufregen.
Noch schöner ist, dass es jedes Jahr mehr werden - die Plakate selbstverständlich. Sie sind größer und aufwendiger gemacht als die kopierten DIN-A-4-Zettel der vergangenen Jahre, auf denen anonyme Widerstandskämpfer ihren neuen Nachbarn eine gute Heimreise wünschten oder sich für die erholsamen Feiertage bedankten, wenn die Saab-Karawane im Stau nach Süddeutschland steckte. Am schönsten aber sind die öffentlichen Reaktionen darauf, jedenfalls die veröffentlichten:
Ungewohnt vorsichtig rätselt die Bild-Zeitung über den »Plakat-Krieg« - es sei noch »unklar, was es damit auf sich hat«. Für »Hass-Plakate« entscheidet sich dagegen die alte West-Berliner B.Z. und analysiert »einen neuen Höhepunkt des innerdeutschen Rassismus«. Die Berliner Morgenpost meint, »Plakate spalten Anwohner« und verwechselt damit die Ursachen - als könnte Papier eine Schere schneiden. In der Berliner Zeitung - sonst eher rücksichtsvoll im Umgang mit ewig gestrigen Gefühlen und Mitarbeitern - wundert sich ein Autor »über die Hartnäckigkeit einiger Ost-Berliner« und verlangt »für die Verfasser ein sofortiges Einreiseverbot nach West-Berlin.«
Man könnte jetzt mit hoher Treffsicherheit sagen, woher die einzelnen Journalisten stammen, zumal Medien ein beliebtes Tummelfeld für ahnungslose Experten aller möglichen Befi ndlichkeiten sind. Doch so einfach ist es nicht. Immerhin belegen die Kollegen ihr Unverständnis mit Umfragen unter Betroffenen und Fachleuten. »Absurd« beziehungsweise »unsäglich« findet Bezirksbürgermeister Matthias Köhne die Plakate und glaubt: »Wir waren in dieser Hinsicht schon mal weiter.« Zweifellos ein Irrtum, aber das sei einem Diplompolitologen aus Schleswig-Holstein nachgesehen, der erst seit 1994 in Ost-Berlin lebt. Auch der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann wundert sich in der Berliner Zeitung über das »provinzielle Bewusstsein«. Immerhin wohnt er schon seit 1996 am Kollwitzplatz, und in seinem Alltag - so der gebürtige Schwabe - seien Ost-West-Differenzen kein Thema mehr. Wahrscheinlich stimmt das sogar, denn am Kollwitzplatz sind sie ja im Wesentlichen unter sich, aber in einem Punkt irrt auch der Soziologie-Professor: Er sei froh, sagt er, dass sich die Kampagne gegen Landsleute und nicht gegen Menschen aus noch fremderen Kulturen richte. Dabei richteten sich die Plakate doch genau dagegen, ausdrücklich sogar! Und fremder als nach solchen Aussagen kann man sich gar nicht werden.
So zieht sich das durch alle Berichte: »Die haben wohl die Zeit verpennt«, echauffiert sich in der Morgenpost eine Bankangestellte, die von Köln in den Prenzlauer Berg gezogen ist. Philipp Strube, der 1980 aus Westdeutschland kam und nach einer Karriere als Sozialarbeiter in Kreuzberg nun den beliebten Wochenmarkt am Kollwitzplatz betreibt, sagt: »Ost-West spielt heute keine Rolle mehr.« Auch er mag recht haben: Die Probleme, die sein Markt derzeit mit einigen klagenden Anwohnern aus dem eigenen Kulturkreis hat, haben damit sicher nur am Rand zu tun.
Man kann leider nur spekulieren, warum in den Umfragen fast ausschließlich Ost-Berliner zu Wort kommen, die das noch nicht allzu lange sind. Finden die Reporter doch mal einen Einheimischen, wollen die bei heiklen Ost-West-Fragen lieber namenlos bleiben. »Ich glaube, es handelt sich einfach um die Meinungsäußerung von Leuten, die hier keiner mehr versteht«, zitiert die Berliner Zeitung immerhin »eine Frau, die schon lange vor der Wende in Prenzlauer Berg gelebt hat.« Menschen, die im Westen aufgewachsen seien, sagt sie, könnten das nur nicht herauslesen. Jens-Holger Kirchner, der als Bezirksstadtrat für Öffentliche Ordnung auch für wild geklebte Plakate zuständig ist, äußert sich in der Westberliner Morgenpost ähnlich vorsichtig: »Die Ost-Berliner haben so viele Veränderungen durchgemacht, die regen sich über den Wandel in den letzten fünf Jahren bestimmt nicht auf.«
Er legt damit einen ungeheuerlichen Verdacht nahe: Kleben die Fremden die fremdenfeindlichen Plakate womöglich selbst? Es sähe ihnen ähnlich: Ich selbst kenne Exemplare, die sich ungeniert beklagen, in den so genannten Szene-Vierteln sei nichts mehr so, wie es war, als sie sich dort breitmachten. Eine Zeitlang haben sie noch versucht, sich mit alten Trainingsjacken der Nationalen Volksarmee zu tarnen und gleichzeitig damit verraten. Was sie nämlich nicht wissen: Wer die einmal tragen musste, wird das nie wieder freiwillig tun. Auch die verbreitete Vorliebe für alte Ost-Mopeds und anderen Quatsch aus dem Fachhandel für Nostalgie sind Indizien. Warum sollen sie also nicht zu denen gehören wollen, die Leute wie sich selbst nicht mögen? Solche narzisstischen Phänomene der Über-Identifikation mit Opfern kennt man aus der Trauma-Psychologie oder der Vergangenheitsbewältigung. Schaut man genau hin, stammen tatsächlich viele, die sich auch öffentlich für »Milieuschutz« in den Berliner Bezirken Mitte, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain einsetzen, gerade nicht aus diesen Milieus, sondern haben sie erst kopiert, dann okkupiert und schließlich zu Hause so lange angepriesen, bis sie ihre Zauberlehrlinge nicht mehr bremsen und die Mieten selbst nicht mehr bezahlen konnten.
Wie ich die Plakate verstehe, geht es nicht um arm oder reich, gegen »gentrification« oder »gegen Schwaben«, wie dpa und andere vermuten, weil dieses ohnehin bedauernswerte Völkchen schon zu Mauerzeiten als die peinlichsten Berliner galten. Sie richten sich gleichberechtigt gegen Rheinländer, Hessen, Bayern und Westfalen, ja sogar gegen Ost-Westfalen. Es geht um zugezogene Ego-Terroristen und ihre ungezogenen ADS-Kinder. Um Park- und Kindergartenplätze und um die letzten Omis, die nirgendwo ein Päckchen Kaffee bekommen, das nicht zu angeblich »fairen Preisen« gehandelt wird. Um asoziale Attitüden und ein alternatives Image, das sich einen Scheiß um die letzte alternative Kultur schert, die gerade geräumt, gekündigt oder von den neuen Wohnungseigentümern wegen zu lauter Gitarren verklagt wird. Nicht zuletzt geht es natürlich auch um meine Berliner Lieblings-Kneipe, für die ich hier aus guten Gründen keine Werbung machen kann. Immerhin bewahrt sie ihre räudige Identität nur noch mühsam mit einem Schild an der Tür, auf dem kategorisch »Kein Milchkaffee!« steht.
Ein kleines Manko hat die Plakataktion trotzdem: Die Bekenner fehlen. Ich würde nämlich gern etwas spenden, mich nächstes Jahr selbst an der Kleister-Front melden oder ein paar Plakate mit nach Leipzig nehmen, wo es in manchen Gegenden auch überhand nimmt. So kann ich den Berliner Partisanen nur »Venceremos!« zurufen. Und allen anderen - wie immer - Schnauze!
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Copyright © 2012 by Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
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Autoren-Porträt von Holger Witzel
Holger Witzel, geboren 1968 in Leipzig. Seit 1990 arbeitet er als Journalist seit 1996 für den Stern. Neben seinen Reportagen vor allem aus Ostdeutschland und Kurzgeschichten in Anthologien veröffentlichte er auch Romane.
Bibliographische Angaben
- Autor: Holger Witzel
- 2012, 4. Aufl., 190 Seiten, Maße: 10,6 x 17 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Gütersloher Verlagshaus
- ISBN-10: 3579066862
- ISBN-13: 9783579066868
Rezension zu „Schnauze Wessi “
"Es ist das Scheinheilige, Vorgemachte, Nachgeplapperte, das Witzel auf die Palme bringt. Es gehört nicht viel dazu, davon genervt zu sein, aber einiges, die Sache auf den Punkt zu bringen."
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