Schöner wird's nicht
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Produktinformationen zu „Schöner wird's nicht “
Klappentext zu „Schöner wird's nicht “
Dem Alltag wohnt der Wahnwitz inne. David Sedaris weiß das nur zu gut. Das Beste an seinem Leben ist, dass er darüber Buch führt. Er erläutert, wie man sich mit Schallplattenhüllen vor psychopathischen Singvögeln schützt, was modische Herrenaccessoirs über Erektionsstörungen verraten und warum man in Tokio weder Japanisch lernen noch mit dem Rauchen aufhören sollte.
"Satire, Sozialstudie und Eigentherapie in einem." -- Süddeutsche Zeitung
"Nicht nur brüllend komisch, sondern auf sonderbare Weise rührend, aufgeladen mit zarter Tragik." -- Der Spiegel
"Ein Magier, der aus Leiden Lachen macht." -- Die Welt
"Nicht nur brüllend komisch, sondern auf sonderbare Weise rührend, aufgeladen mit zarter Tragik." -- Der Spiegel
"Ein Magier, der aus Leiden Lachen macht." -- Die Welt
Lese-Probe zu „Schöner wird's nicht “
Schöner wird's nicht von David Sedaris Das ist Ansteckend
Meine Freundin Patsy erzählte mir eine Geschichte. »Ich bin
also im Kino«, sagte sie, »und ich habe meinen Mantel über meinen
Sitz ausgebreitet, und dann kommt da so ein Typ ...« An
dieser Stelle unterbrach ich sie, weil ich den Tick mit dem Mantel
noch nie verstanden habe. Wenn ich ins Kino gehe, habe ich
meinen entweder gefaltet auf dem Schoß oder ich lege ihn über
die Armlehne, aber Patsy breitet ihren jedes Mal über den Sitz,
als ob ihm kalt wäre und sie sich unmöglich im Kino amüsieren
kann, während der Sitz friert.
»Warum machst du das?«, fragte ich. Sie sah mich verwundert
an und sagte: »Bazillen, Dummkopf. Alle möglichen Leute haben
ihre Köpfe an das Polster gelehnt. Kriegst du da keine Gänsehaut?«
Ich musste zugeben, dass ich noch nie darüber nachgedacht
hatte.
»Du legst dich im Hotel ja auch nicht einfach auf die Tages-
decke auf dem Bett, oder?«, fragte sie. Und wieder dachte ich:
Warum nicht? Ich stecke sie mir vielleicht nicht in den Mund,
aber sich darauf ausstrecken und ein paar Anrufe erledigen - das
mache ich ständig.
»Aber du wischst doch vorher den Hörer ab.«
»Äh, nein.«
»Also, das ist ja ... gefährlich«, sagte sie.
Eine ähnliche Situation hatte ich mit meiner Schwester Lisa in
einem Supermarkt erlebt, als mir auffiel, dass sie den Einkaufs-
wagen mit den Ellbogen vor sich her schob.
»Hast du was?«, fragte ich.
»Ach so«, sagte sie. »Fass nie den Griff des Wagens mit bloßen
Händen an. Darauf wimmelt es von Bazillen.«
... mehr
Ist das typisch amerikanisch oder denken die Leute überall so?
In Paris sah ich einmal im Supermarkt um die Ecke einen Mann,
der seinen Papagei zum Einkaufen mitgenommen hatte. Der Vogel
war so groß wie ein halbwüchsiger Adler und hockte auf der
Stange des Einkaufswagens.
»Siehst du«, sagte Lisa. »Wer weiß, was für eine Krallenkrankheit
das Tier vielleicht hat.«
Das stimmte zwar, aber nicht jeder schleppt einen Papagei
mit in den Supermarkt. In meinem ganzen Einkaufsleben war
dies der erste exotische Vogel, der mir an der Fleischtheke begeg-
nete.
Meine einzige Vorsichtsmaßnahme besteht darin, alle Klamotten
aus dem Secondhandladen zu waschen, seit ich mir einmal
durch eine gebrauchte Jeans Filzläuse geholt habe. Ich war
damals Mitte zwanzig und hätte mich bis auf die Knochen wund
gekratzt, wenn mich nicht ein Freund in die Apotheke geschleppt
hätte, wo man mir ein Mittel namens Quell in die Hand
drückte. Nachdem ich mich damit eingerieben hatte, kämmte ich
mir mit einem speziellen Nissenkamm durchs Schamhaar und
staunte nicht schlecht: das also waren die Biester, die sich seit
Wochen von meinem Fleisch ernährten. Ich glaube, Patsy hat genau
das Bild vor Augen, wenn sie den Sitz im Kino sieht, oder
Lisa, wenn sie einen Einkaufswagen schiebt.
Doch ist das alles nichts gegen das, was Hugh erlebt hat. Als
er acht Jahre alt war und im Kongo lebte, entdeckte er eines Tages
einen roten Fleck auf seinem Bein; nichts Dramatisches, nur
ein kleiner Pips, den er für einen Mückenstich hielt. Am nächs-
ten Tag juckte der Fleck noch mehr, und wieder einen Tag später
sah er plötzlich, wie ein Wurm aus seinem Bein kroch.
Einige Wochen danach passierte Ma Hamrick, so nenne ich
Hughs Mutter Joan, das Gleiche, und obwohl der Wurm etwas
kürzer war, dürfte das Erlebnis ungleich traumatischer gewesen
sein. Wenn ich ein Kind wäre und etwas aus dem Bein meiner
Mutter kriechen sähe, würde ich zum nächsten Waisenhaus gehen
und mich auf die Adoptionsliste setzen. Ich würde alle Fotos
von ihr verbrennen, alles vernichten, was von ihr stammt,
und ganz von vorn anfangen, so sehr ekelte mich. Ein Dad kann
meinetwegen Parasiten am ganzen Körper haben, was soll's,
aber bei der eigenen Mutter oder sonst irgendeiner Frau ist es
unverzeihlich.
»Also, das ist ganz schön chauvinistisch, findest du nicht?«,
sagte Ma Hamrick. Sie war über die Weihnachtstage zu Besuch
in Paris, ebenso Lisa und ihr Mann Bob. Alle hatten ihre Geschenke
ausgepackt, und Ma sammelte das Geschenkpapier vom
Boden ein und strich es mit den Händen glatt.
»Es war bloß ein Guineawurm, das kam ständig vor.« Sie sah
zur Küche rüber, wo Hugh irgendetwas mit einer Gans anstellte.
»Liebling, wo soll ich das Papier hin tun?«
»Verbrenn es«, sagte Hugh.
»Oh, aber es ist tadellos. Meinst du nicht, dass ihr es noch mal
gebrauchen könnt?«
»Verbrenn es«, wiederholte Hugh.
»Wie war das mit dem Wurm?«, fragte Lisa. Sie lag unter einer
Decke auf der Couch, noch leicht benommen von ihrem Mittagsschlaf.
»Joan hatte einen Wurm, der bei ihr im Bein lebte«, sagte ich.
Ma Hamrick warf einen Bogen Geschenkpapier ins Feuer und
sagte: »Also, leben würde ich das nicht nennen.«
»Aber er war in Ihrem Bein?«, fragte Lisa, und ich sah, wie die
Rädchen in ihrem Kopf arbeiteten: War ich schon mal unmittelbar
nach dieser Frau auf der Toilette? Habe ich eine Kaffeetasse
von ihr in der Hand gehabt oder von ihrem Teller gegessen?
Wann kann ich einen Test machen lassen? Sind die Krankenhäuser
an Weihnachten geöffnet oder muss ich bis morgen warten?
»Es ist schon viele Jahre er«, sagte Joan.
»Wie viele genau?«, fragte Lisa.
»Ich weiß gar nicht mehr - 1968 vielleicht.«
Meine Schwester nickte wie jemand, der gerade Zahlen im
Kopf addiert. »Okay«, sagte sie, und ich bereute es, überhaupt
damit angefangen zu haben. Sie sah Ma Hamrick nicht an, sondern
durch sie hindurch, als könnte sie mit einem Röntgenblick
das blanke Knochengerüst sehen und dazwischen das Gewimmel
der tausend Würmer, die ihren Wirt 1968 nicht verlassen hatten.
Mir war es anfangs genauso gegangen, aber nach etwa fünfzehn
Jahren hatte ich mich daran gewöhnt und jetzt sehe ich
einfach nur Ma Hamrick. Ma Hamrick beim Bügeln, Ma Hamrick
beim Spülen, Ma Hamrick beim Entsorgen des Mülls. Sie
will ein angenehmer Gast sein und sucht ständig nach irgendeiner
Aufgabe.
»Kann ich vielleicht ...?«, fragt sie, und noch bevor sie zu
Ende geredet hat, platze ich heraus, aber sicher, kein Problem.
»Hast du meiner Mutter aufgetragen, auf Händen und Knien
durchs Wohnzimmer zu kriechen?«, fragt Hugh, und ich antworte:
»Aber nein, jedenfalls nicht direkt. Ich habe nur gesagt,
wenn sie die Fußleisten wischen möchte, geht es so am besten.«
Wenn Ma Hamrick zu Besuch ist, rühre ich keinen Finger. Meine
sämtlichen Haushaltspflichten gehen automatisch auf sie über,
und ich sitze bloß im Schaukelstuhl und hebe ab und zu einen
Fuß, damit sie mit dem Staubsauger durch kann. Das ist unglaublich
entspannend, sieht aber unschön aus, besonders wenn sie
anstrengende Dinge erledigt, zum Beispiel irgendwelche Möbelstücke
in den Keller schafft, wobei das allein ihre Idee war. Ich
hatte bloß angedeutet, dass wir die Frisierkommode kaum nutzen
und sie irgendwer einmal nach unten schaffen könnte. Dabei
meinte ich nicht ausdrücklich sie, obwohl sie mit ihren dreiundsiebzig
Jahren noch viel rüstiger ist, als Hugh ihr zutraut.
Harte Arbeit ist sie aus Kentucky gewohnt. Ich glaube sogar, sie
liegt ihr in den Genen.
Problematisch wird es nur dann, wenn andere Leute im Haus
sind und sehen, wie dieser zierlichen, weißhaarigen Person der
Schweiß über die Stirn rinnt. Lisa und Bob zum Beispiel, die in
Patsys freiem Apartment übernachteten. Jeden Abend kamen sie
zu uns zum Essen herüber, und Ma Hamrick nahm ihnen die
Mäntel ab, um anschließend die Servietten zu bügeln und den
Tisch zu decken. Danach reichte sie den Aperitif und eilte zu
Hugh in die Küche.
»Mein Gott, habt ihr einen Massel«, sagte Lisa und seufzte, als
Joan hereinflitzte und meinen Aschenbecher leerte. Ihre Schwiegermutter
war erst kurz zuvor in ein Heim für betreutes Wohnen
gezogen, jene Sorte Häuser, die das Wort »Senioren« vermeiden
und stattdessen lieber von »grauen Tigern« sprechen.
»Ich liebe Bobs Mom von Herzen, aber Hughs Mom, mein
Gott! Und sich dann noch vorzustellen, dass sie von Würmern
zerfressen wurde.«
»Also, zerfressen haben die Würmer sie nicht«, sagte ich.
»Aber von irgendwas müssen sie sich ernährt haben. Oder
willst du behaupten, sie hätten ihr eigenes Futter mitgebracht?«
Vermutlich hatte sie Recht, aber wovon leben Guineawürmer?
Bestimmt nicht von Fett, sonst hätten sie sich garantiert nicht bei
Joan einquartiert, die höchstens neunzig Pfund wiegt und immer
noch spielend in ihr Kleid vom Abschlussball passt. Auch nicht
von Muskeln, sonst könnte sie mir niemals die ganze Hausarbeit
abnehmen. Trinken sie Blut? Oder bohren sie Löcher in die
Knochen und saugen das Mark aus? Ich wollte schon fragen,
aber als Ma Hamrick ins Wohnzimmer zurückkam, fiel das Gespräch
umgehend auf Cholesterin, und Lisa fragte: »Ich will ja
nicht neugierig sein, Joan, aber wie hoch sind Ihre Werte?«
Es war eins dieser Themen, zu denen ich wenig beisteuern
konnte. Nicht nur, weil ich noch nie einen Test gemacht habe.
Ich weiß nicht einmal so genau, was Cholesterin überhaupt ist.
Wenn ich das Wort höre, stelle ich mir eine von Hand gerührte,
weißliche Soße vor, in der dicke Klumpen schwimmen.
»Haben Sie schon mal Fischtran probiert?«, fragte Lisa. »Bob
hat damit seinen Wert von dreiundachtzig auf zweiundzwanzig
gesenkt. Vorher hat er Lipitor genommen.« Meine Schwester
kennt die genaue Bezeichnung für jede bekannte Krankheit sowie
das entsprechende Medikament, eine beachtliche Leistung,
besonders wenn man bedenkt, dass sie sich alles selbst beigebracht
hat. Angeborene Ichthyose, Myositis ossificans und
Spondylolisthesis werden mit Celebrex, Flexeril und Oxyconhydrochlorid
behandelt. Ich sagte im Scherz, sie habe in ihrem
Leben noch keine Zeitschrift gekauft, sondern lese nur die im
Wartezimmer von Arztpraxen, woraufhin sie mich sogleich nach
meinem Cholesterinspiegel fragte. »Du solltest lieber mal zum
Arzt gehen, mein Freund, du bist auch nicht mehr so jung, wie
du glaubst. Und wenn du schon mal da bist, solltest du auch
gleich diese Muttermale untersuchen lassen.«
Die Sache war nichts, worüber ich länger nachdenken wollte,
schon gar nicht an Weihnachten, während ein Feuer im Kamin
brannte und Bratenduft durch die Wohnung zog. »Reden wir lieber
über Unfälle«, schlug ich vor. »Hat jemand eine gute Geschichte
auf Lager?«
»Also, eigentlich ist es kein Unfall«, sagte Lisa, »aber wusstet
ihr, dass sich jährlich fünftausend Kinder zu Tode erschrecken?«
Zum besseren Verständnis warf sie die Decke zurück und spielte
eine Szene nach. »Stellt euch vor, ein kleines Mädchen spielt
mit ihren Eltern im Haus Verstecken. Sie rennt den Flur entlang,
und plötzlich springt ihr Vater hinter einer Ecke hervor und ruft:
›Uah!‹ oder ›Hab dich!‹ oder irgendwas in der Art. Tatsächlich
kann das Kind sich dabei so erschrecken, dass es einen Herzschlag
erleidet und stirbt.«
»Die Geschichte gefällt mir nicht«, sagte Ma Hamrick.
»Mir auch nicht«, sagte Lisa. »Ich sage nur, dass es mindestens
fünftausend Kinder im Jahr trifft.«
»In Amerika oder weltweit?«, fragte Joan. Meine Schwester
rief ihren Mann nebenan: »Bob, sind es fünftausend Kinder in
den USA oder weltweit, die jährlich zu Tode erschreckt werden?
« Weil keine Antwort kam, entschied Lisa, dass die Zahl sich
allein auf die USA bezog. »Und das sind nur die Fälle, wo es bekannt
wird«, sagte sie. »Viele Eltern wollen es vermutlich nicht
öffentlich machen und schieben eine andere Todesursache vor.«
»Die armen Kinder«, sagte Ma Hamrick.
»Und die Eltern!«, fügte Lisa hinzu. »Stellen Sie sich nur vor.«
Tragisch war es für beide Seiten, nur musste ich an die Kinder
denken, die überlebt hatten, oder, schlimmer noch, an die nachrückenden
Stellvertreter, die in einer Atmosphäre spaßfreier
Vorsorge groß wurden.
»Also, hör zu, Caitlin 2, wenn wir gleich nach Hause kommen,
springen überall Leute hinter den Möbeln hervor und rufen
›Happy birthday!‹. Ich verrat's dir jetzt, damit du nachher
keinen Schrecken bekommst.«
Keine Überraschungen, keine Streiche, nichts Unerwartetes,
allerdings können Eltern unmöglich alles kontrollieren, und
außerdem ist da auch noch die Welt jenseits der Haustür, eine
Welt der Autofehlzündungen und deren menschlicher Entsprechungen.
Eines Tages blickt man zufällig an sich herab und sieht das
blinde, runzlige Haupt eines Wurms, der aus einer Luke im Bein
hervorschaut. Wenn einem dabei nicht das Herz stehen bleibt,
weiß ich es auch nicht, aber Hugh und seine Mutter scheinen es
überlebt zu haben. Mehr noch, sie sind dadurch erst richtig aufgeblüht.
Die Hamricks sind aus einem anderen Holz geschnitzt
als ich. Darum lasse ich auch lieber sie die Gans braten, die Möbel
durchs Haus tragen und heimtückisches Viehzeug aus meinen
Secondhand-Klamotten waschen. Wenn sie etwas zu Tode
erschrecken könnte, dann mein Vorschlag, mich behilflich zu
machen. Also mache ich es mir neben meiner Schwester auf dem
Sofa bequem und schwenke meine Kaffeetasse durch die Luft,
damit sie sehen, dass sie nachschenken können.
Immer dranbleiben
Meine Straße in Paris ist nach dem Arzt benannt, der an der nahe
gelegenen medizinischen Hochschule lehrte und eine ungewöhnliche
Krankheit entdeckte, ein Zusammenziehen der Haut,
durch das sich die Finger nach innen krümmen und die Hand
schließlich zu einer Faust wird. Obwohl die Straße kurz und
nicht aufregender als der Rest des Viertels ist, verirren sich immer
wieder amerikanische Touristen hierher und beschließen,
sich ausgerechnet unter dem Fenster meines Arbeitszimmers
anzuschreien.
Manche streiten über die Sprache. Vielleicht hatte sich eine
Frau gewisse Vorkenntnisse zugetraut und gesagt: »Ich habe mir
Kassetten angehört.« Oder auch »Die romanischen Sprachen sind
sich alle sehr ähnlich, und mit meinem Spanisch schlagen wir uns
schon durch.« Doch dann reden die Leute Umgangssprache
oder stellen unerwartete Fragen, und alles geht den Bach runter.
»Du hast doch behauptet, Französisch zu sprechen.« Diesen
Satz höre ich ständig, und wenn ich ans Fenster gehe, sehe ich ein
Paar Fußspitze an Fußspitze auf dem Bürgersteig stehen.
»Ja doch«, sagt die Frau. »Ich versuche es wenigstens.«
»Na, dann gib dir gefälligst mehr Mühe, verdammt noch mal.
Kein Mensch versteht dich.«
Orientierungsstreitigkeiten sind am häufigsten. Die Leute stellen
fest, dass sie schon einmal in meiner Straße waren, vielleicht
vor einer halben Stunde, als sie lediglich glaubten, müde und
hungrig zu sein und eine Toilette finden zu müssen.
»Herrgott, Philip, ist es so schwer, jemanden zu fragen?«
Ich liege auf meinem Sofa und denke: Warum fragst du nicht?
Warum muss Philip das tun? Allerdings sind diese Dinge oft
komplizierter, als sie auf den ersten Blick scheinen. Vielleicht war
Philip schon einmal vor zwanzig Jahren hier und hat behauptet,
sich auszukennen. Vielleicht ist er einer von denen, die den Stadtplan
nicht aus der Hand geben oder ihn gar nicht erst aus der
Tasche holen, damit sie nicht als Tourist erkannt werden.
Der Wunsch, für einen Einheimischen gehalten zu werden, ist
vermintes Gelände und kann zu den hässlichsten Szenen führen.
»Du willst als Französin durchgehen, Mary Francis, das ist dein
Problem, aber du bist einfach nur eine ganz gewöhnliche Amerikanerin.
« Der Satz lockte mich ans Fenster, von wo aus ich das
Ende einer Ehe beobachtete. Die arme Mary Francis mit ihrer
beigefarbenen Baskenmütze. Im Hotel hatte sie vermutlich ganz
passabel ausgesehen, aber jetzt klebte sie ihr wie ein alberner
Filzpfannkuchen am Hinterkopf. Sogar ein Halstuch hatte sie
um, und das mitten im Sommer. Es hätte noch schlimmer kommen
können, dachte ich, sie hätte auch ein gestreiftes Seemannshemd
anziehen können, aber auch so war ihr Aufzug schlimm
genug, eher ein billiges Kostüm.
Manche Touristen schreien die halbe Straße zusammen und
scheren sich nicht im Geringsten darum, aber Mary Francis flüsterte
nur. Auf ihren Mann wirkte auch das wie bloßes Gehabe
und machte ihn nur noch wütender. »Amerikaner«, wiederholte
er. »Wir leben nicht in Frankreich, wir leben in Virginia. Vienna,
Virginia, kapiert?«
Ich sah den Mann an und wusste sofort, dass wenn wir uns auf
einer Party begegneten, er sagen würde, er käme aus Washington,
D.C. Und wenn man ihn nach der Adresse fragte, würde er
sich zur Seite drehen und irgendwas von »Na ja, draußen am
Stadtrand« brummeln.
Wenn man sich in den eigenen vier Wänden streitet, kann die
beleidigte Person sich immer noch in einen anderen Teil des
Hauses zurückziehen oder im Garten auf Blechbüchsen schießen,
aber unter meinem Fenster gibt es nur die Möglichkeit zu
weinen, zu schmollen oder ins Hotel zurückzustürmen. »Herrgott
noch mal«, höre ich. »Können wir uns nicht einfach einen
schönen Tag machen?« Das ist so, als würde man aufgefordert,
sein Gegenüber attraktiv zu finden, und es funktioniert nie. Ich
hab's versucht.
Auf Reisen geraten Hugh und ich uns meistens wegen des
Schritttempos in die Haare. Ich gehe durchaus zügig, aber er hat
längere Beine und hält meistens sieben Meter Vorsprung. Ein zufälliger
Beobachter könnte glauben, Hugh laufe vor mir davon
und flitze um die Ecken, um mich abzuschütteln. Fragt mich jemand,
wie der letzte Urlaub war, gebe ich immer die gleiche Antwort.
Ob in Bangkok, Ljubljana, Budapest oder Bonn: Was habe
ich gesehen? Hughs Rücken, wie er im nächsten Moment in der
Menschenmenge verschwindet. Ich bin sicher, bevor wir irgendwo
hinfahren, ruft er im Fremdenverkehrsbüro an und fragt,
welche Art Jacken in welcher Farbe die Einheimischen zurzeit
tragen. Ist es beispielsweise eine blaue Windjacke, packt er die
ein. Es ist geradezu unheimlich, wie er sich der Umgebung anpasst.
Sind wir in einem asiatischen Land, könnte ich schwören,
dass er sich kleiner macht. Ich weiß auch nicht, wie er das hinbekommt,
aber es ist so. In London gibt es einen Laden, der neben
Reiseführern auch Romane verkauft, die in dem jeweiligen
Land spielen. Die Idee ist, dass man die Reiseführer der Information
wegen und die Romane der Atmosphäre wegen liest -
kein schlechter Gedanke, nur käme für mich einzig das Buch Wo
steckt die kleine Maus? infrage. Meine ganze Energie ist darauf
gerichtet, Hugh nicht aus den Augen zu verlieren, und deswegen
verpasse ich alles andere.
Das letzte Mal ist es mir so in Australien ergangen, wo ich an
einer Konferenz teilnahm. Hugh hatte alle Zeit der Welt, während
mir gerade einmal vier freie Stunden am Samstagvormittag
blieben. Sydney bietet jede Menge, aber ganz oben auf meiner
Liste stand ein Besuch im Taronga Zoo, wo ich einen Dingo zu
sehen hoffte. Ich hatte den Film mit Meryl Streep nie gesehen,
und das Tier war mir ein einziges Rätsel. Hätte jemand gesagt:
»Ich habe das Fenster aufgelassen, und ein Dingo flog ins Haus«,
hätte ich das genauso geglaubt, wie wenn jemand gesagt hätte:
»Dingos? Unser Teich ist voll davon.« Zwei Beine, vier Beine,
Flossen oder Flügel: Ich hatte keinerlei Vorstellung, was tatsächlich
sehr aufregend war - eine echte Seltenheit im Zeitalter
von Fernsehkanälen, die rund um die Uhr Naturfilme zeigen.
Hugh bot an, eine Zeichnung zu machen, aber nachdem ich
schon so nahe dran war, wollte ich bis zuletzt ahnungslos bleiben
und dann vor dem Käfig oder Becken stehen und das Ding
mit eigenen Augen sehen. Es wäre ein erhebender Moment, den
ich mir nicht noch in letzter Minute verderben wollte. Allerdings
wollte ich auch nicht alleine gehen, und genau da fing unser
Problem an.
Hugh war fast die ganze Woche über schwimmen gewesen
und hatte von seiner Schwimmbrille dunkle Ringe unter den Augen.
Sobald er irgendwo am Meer ist, verbringt er Stunden im
Wasser und schwimmt an den Bojen der Strandwacht vorbei bis
hinaus in internationale Gewässer. Es sieht so aus, als wolle er
nach Hause schwimmen, was sehr peinlich für den ist, der am
Strand mit den Gastgebern zurückbleibt. »Ihm gefällt es hier
sehr«, sage ich. »Ganz bestimmt.«
Bei Regen wäre er vielleicht mitgekommen, aber so hatte
Hugh kein Interesse an Dingos. Ich musste eine Stunde lang
jammern, bis ich ihn herumgekriegt hatte, und selbst dann tat er
es nur widerwillig. Das war offensichtlich. Wir fuhren mit der
Fähre zum Zoo. Während der gesamten Überfahrt starrte er
sehnsüchtig aufs Wasser und machte kleine Kraulbewegungen
mit den Händen. Mit jeder Sekunde wurde er angespannter, und
kaum waren wir da, musste ich buchstäblich hinter ihm her rennen,
um ihn nicht zu verlieren. Die Koalabären nahm ich nur als
Schemen wahr, genau wie die Besucher, die vor dem Gehege
standen und sich fotografieren ließen. »Können wir nicht ...«,
keuchte ich, doch Hugh zog schon am Emu-Gehege vorbei und
hörte mich nicht.
Er verfügt über den besten Orientierungssinn, den ich je bei
einem Säugetier gesehen habe. Selbst in Venedig, wo die Straßen
offenbar von Ameisen geplant wurden, trat er aus dem Bahnhof,
sah kurz auf einen Stadtplan und führte uns schnurstracks zu unserem
Hotel. Eine Stunde nachdem wir eingecheckt hatten, erklärte
er Fremden den Weg, und als wir abfuhren, schlug er den
Gondolieri Abkürzungen vor. Vielleicht roch er die Dingos.
Vielleicht hatte er ihr Gehege vom Flugzeug aus gesehen, jedenfalls
marschierte er geradewegs darauf los. Ich traf eine Minute
nach ihm ein und musste mich erst einmal vorbeugen, um wieder
zu Atem zu kommen. Danach hielt ich mir die Hände vors
Gesicht, richtete mich auf und schob langsam die Finger auseinander.
Zuerst sah ich einen Zaun, und dann, dahinter, einen
flachen Wassergraben. Ich sah ein paar Bäume, einen Schwanz,
und dann konnte ich es nicht länger aushalten und ließ die Hände
fallen.
»Aber die sehen ja aus wie Hunde«, sagte ich. »Bist du sicher,
dass wir hier richtig sind?«
Niemand antwortete, und als ich mich umdrehte, stand neben
mir eine leicht verschüchterte Japanerin. »Entschuldigung«, sagte
ich. »Ich dachte, Sie wären die Person, die ich um den halben
Erdball mit hierhergenommen habe. Erster Klasse.«
Ein Zoo ist ein guter Ort, um aus der Rolle zu fallen, da die Leute
um einen herum noch viel unheimlichere und fotogenere Dinge
bestaunen können. Ein Gorilla, der genüsslich einen Kopf
Eisbergsalat verspeist und sich dabei einen runterholt, ist um einiges
unterhaltsamer als ein Mann in den mittleren Jahren, der
wild hin und her rennt und mit sich selber redet. Das Selbstgespräch
dreht sich immer um die gleiche Sache: die Probe für meine
Abschiedsrede. »... denn diesmal, mein Freund, ist es vorbei.
Und das meine ich ernst.« Ich stelle mir vor, wie ich meinen Koffer
packe und alles achtlos hineinwerfe. »Solltest du mich vermissen,
schaff dir einen Hund an, ein feistes, altes Tier, das dir
nachrennen muss, dann hörst du auch weiterhin dieses Hecheln
hinter dir, das dir so vertraut ist. Ich jedenfalls bin damit durch.«
Ich werde durch die Tür gehen, ohne mich noch einmal umzudrehen,
werde seine Anrufe ignorieren und keinen seiner Briefe
öffnen. Die Töpfe und Pfannen, das ganze Zeug, das wir zusammen
angeschafft haben, soll er alles behalten, es bedeutet mir
nichts. Meine Devise lautet: »Ein sauberer Neuanfang.« Was
soll ich da mit einem Schuhkarton voller Fotos oder mit dem
braunen Gürtel, den er mir zum dreiunddreißigsten Geburtstag
geschenkt hat, als wir uns gerade kannten und er noch nicht
wusste, dass man einen Gürtel von seiner Tante, aber nicht von
seinem Lover bekommt, auch wenn er ihn selbst gemacht hat?
Seitdem allerdings hatte er ein gutes Händchen für Geschenke:
ein täuschend echt wirkender Aufziehhund mit einem Fell aus
Schweinsleder, ein professionelles Mikroskop, das ich während
meiner Spinnen-Phase bekam, und als Krönung von allem ein
Gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert, das eine holländische
Bäuerin beim Windelnwechseln zeigt. Diese Dinge würde
ich behalten - warum auch nicht? Genau wie den Tisch, den er
mir geschenkt hat, und die Kaminverkleidung und, allein aus
Prinzip, den Zeichentisch, den er eindeutig für sich gekauft hatte
und mir als Weihnachtsgeschenk andrehen wollte.
Inzwischen sah es so aus, als würde ich eher mit einem Lastwagen
als zu Fuß meinen Abschied nehmen, aber egal, ich würde
es tun. Ich sah mich mit dem Wagen davonfahren, bis mir einfiel,
dass ich gar keinen Führerschein habe. Hugh müsste das
übernehmen, aber er hatte es auch nicht besser verdient, nach
allem, was er mir angetan hatte. Ein anderes Problem war die
Frage, wohin der Lastwagen fahren sollte. Selbstverständlich zu
einer Wohnung, nur wie sollte ich die besorgen? Ich kriege mit
Mühe meinen Mund im Postamt auf, aber wie sollte ich mit einem
Immobilienmakler reden? Dabei liegt es nicht einmal an der
Sprache, da ich in New York genauso wenig an eine Wohnung
kommen könnte wie in Paris. Wenn es um Summen über sechzig
Dollar geht, bricht mir der Schweiß aus. Nicht nur auf der
Stirn, sondern überall. Fünf Minuten in der Bank, und mein
Hemd ist durchsichtig. Zehn Minuten, und ich klebe auf meinem
Stuhl fest. Bei unserer letzten Wohnung verlor ich zwölf Pfund,
obwohl ich nichts weiter tun musste als einmal zu unterschreiben.
Alles andere erledigte Hugh.
Das Erfreuliche ist, dass ich Geld habe, auch wenn ich nicht
so genau weiß, wie ich drankommen kann. Zwar treffen regelmäßig
die Kontoauszüge ein, aber ich öffne keinen Brief, der
nicht persönlich an mich adressiert ist oder nach einer Gratisprobe
aussieht. Hugh schlägt sich damit herum. Er öffnet die unangenehme
Post und liest sie auch noch. Er weiß, wann unsere
Versicherungsbeiträge fällig sind, wann unsere Visa verlängert
werden müssen und wann die Garantie für die Waschmaschine
abläuft. »Ich denke, wir sollten die Garantie verlängern lassen«,
schlägt er vor, obwohl er genau weiß, dass, sollte die Maschine
den Geist aufgeben, er selbst die Reparatur übernehmen würde,
so wie bei allen anderen Dingen auch. Ich würde es ganz bestimmt
nicht. Wenn ich allein lebte und etwas ginge kaputt, würde
ich mir anderweitig helfen: statt der Toilette einen Farbeimer
benutzen oder mir eine Kühlbox zulegen und den defekten
Kühlschrank zum Kleiderschrank umfunktionieren. Einen Handwerker
anrufen? Niemals. Es selber reparieren? Den Tag möchte
ich erleben.
Ich bin fast ein halbes Jahrhundert alt und fürchte mich immer
noch vor allem und jedem. Im Flugzeug sitzt ein Kind neben mir
und unterhält sich mit mir, und ich mache mir Sorgen, wie bescheuert
ich klinge. Die Nachbarn von unten laden mich zu
einer Party ein, doch ich gebe vor, eine andere Verabredung zu
haben. Anschließend verbringe ich den ganzen Abend im Bett,
aus Angst, sie könnten meine Schritte hören. Ich weiß nicht, wie
man die Heizung anmacht, eine E-Mail schreibt, telefonisch den
Anrufbeantworter abfragt oder auch nur etwas halbwegs Kreatives
mit einem Hühnchen anstellt. Hugh kümmert sich um alle
diese Dinge, und wenn er mal nicht da ist, ernähre ich mich wie
ein wildes Tier von halb rohem Fleisch, an dem hier und da
noch Fellreste oder Federn hängen. Ist es da ein Wunder, dass er
vor mir davonläuft? Wie wütend ich auch immer bin, es läuft
stets auf das Gleiche hinaus: Ich werde ihn verlassen, und was
dann? Bei meinem Dad einziehen? Dreißig Minuten tobe ich vor
Wut, und wenn ich ihn dann endlich entdecke, spüre ich, noch
nie über den bloßen Anblick eines Menschen so glücklich gewesen
zu sein.
»Da bist du ja«, sage ich. Und wenn er fragt, wo ich gewesen
bin, antworte ich aufrichtig und sage, ich bin verlorengegangen.
Zweite Besetzung
Im Frühjahr 1967 verreisten mein Vater und meine Mutter für ein
Wochenende und ließen meine Schwestern und mich in der Obhut
einer Frau namens Mrs. Byrd, die alt und schwarz war und
bei einem unserer Nachbarn im Haushalt arbeitete. Sie traf am
Freitagnachmittag bei uns ein, und nachdem ich ihren Koffer ins
Schlafzimmer meiner Eltern gebracht hatte, gab ich ihr eine kleine
Führung durchs Haus, wie ich es mir in Hotels vorstellte.
»Das ist unser Fernseher, das ist Ihre private Sonnenterrasse, und
hier drüben ist Ihr Badezimmer, nur für Sie.«
Mrs. Byrd legte eine Hand auf ihre Wange. »Zwick mich bitte
wer, ich glaube, ich werde gleich ohnmächtig.«
Sie tat erneut überrascht, als ich eine Kommodenschublade
aufzog und ihr erklärte, für Mäntel und so weiter hätten wir ein
eigenes kleines Zimmer, das Ankleidezimmer hieß. »Es gibt davon
zwei drüben gegenüber der Wand, Sie können das rechte benutzen.«
Ich dachte, es müsse ihr wie ein Traum vorkommen: Ihr Telefon,
Ihr festes Bett, Ihre Duschkabine mit Glasfront.
Einige Monate später verreisten meine Eltern ein zweites Mal.
Diesmal passte Mrs. Robbins auf uns auf, die ebenfalls schwarz
war und mir wie Mrs. Byrd erlaubte, mich als Wundertäter zu
fühlen.
Die Originalausgabe WHEN YOU ARE ENGULFED iN
FLAMES erschien bei Little Brown and Company, London
Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 03/2010
Copyright © 2008 by David Sedaris
Copyright © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe by
Karl Blessing Verlag, München
Copyright © 2010 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag,
München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2011
Umschlagabbildung: Vincent Van Gogh (1853-1890) Skull of a
skeleton with burning cigarette, Antwerpen 1885 / 1886
© Amsterdam, Van Gogh Museum
(Vincent Van Gogh Foundation)
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur,
München - Zürich
2. Auflage
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
iSBN: 978-3-453-40733-6
www.heyne.de
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier
München Super liefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.
Ist das typisch amerikanisch oder denken die Leute überall so?
In Paris sah ich einmal im Supermarkt um die Ecke einen Mann,
der seinen Papagei zum Einkaufen mitgenommen hatte. Der Vogel
war so groß wie ein halbwüchsiger Adler und hockte auf der
Stange des Einkaufswagens.
»Siehst du«, sagte Lisa. »Wer weiß, was für eine Krallenkrankheit
das Tier vielleicht hat.«
Das stimmte zwar, aber nicht jeder schleppt einen Papagei
mit in den Supermarkt. In meinem ganzen Einkaufsleben war
dies der erste exotische Vogel, der mir an der Fleischtheke begeg-
nete.
Meine einzige Vorsichtsmaßnahme besteht darin, alle Klamotten
aus dem Secondhandladen zu waschen, seit ich mir einmal
durch eine gebrauchte Jeans Filzläuse geholt habe. Ich war
damals Mitte zwanzig und hätte mich bis auf die Knochen wund
gekratzt, wenn mich nicht ein Freund in die Apotheke geschleppt
hätte, wo man mir ein Mittel namens Quell in die Hand
drückte. Nachdem ich mich damit eingerieben hatte, kämmte ich
mir mit einem speziellen Nissenkamm durchs Schamhaar und
staunte nicht schlecht: das also waren die Biester, die sich seit
Wochen von meinem Fleisch ernährten. Ich glaube, Patsy hat genau
das Bild vor Augen, wenn sie den Sitz im Kino sieht, oder
Lisa, wenn sie einen Einkaufswagen schiebt.
Doch ist das alles nichts gegen das, was Hugh erlebt hat. Als
er acht Jahre alt war und im Kongo lebte, entdeckte er eines Tages
einen roten Fleck auf seinem Bein; nichts Dramatisches, nur
ein kleiner Pips, den er für einen Mückenstich hielt. Am nächs-
ten Tag juckte der Fleck noch mehr, und wieder einen Tag später
sah er plötzlich, wie ein Wurm aus seinem Bein kroch.
Einige Wochen danach passierte Ma Hamrick, so nenne ich
Hughs Mutter Joan, das Gleiche, und obwohl der Wurm etwas
kürzer war, dürfte das Erlebnis ungleich traumatischer gewesen
sein. Wenn ich ein Kind wäre und etwas aus dem Bein meiner
Mutter kriechen sähe, würde ich zum nächsten Waisenhaus gehen
und mich auf die Adoptionsliste setzen. Ich würde alle Fotos
von ihr verbrennen, alles vernichten, was von ihr stammt,
und ganz von vorn anfangen, so sehr ekelte mich. Ein Dad kann
meinetwegen Parasiten am ganzen Körper haben, was soll's,
aber bei der eigenen Mutter oder sonst irgendeiner Frau ist es
unverzeihlich.
»Also, das ist ganz schön chauvinistisch, findest du nicht?«,
sagte Ma Hamrick. Sie war über die Weihnachtstage zu Besuch
in Paris, ebenso Lisa und ihr Mann Bob. Alle hatten ihre Geschenke
ausgepackt, und Ma sammelte das Geschenkpapier vom
Boden ein und strich es mit den Händen glatt.
»Es war bloß ein Guineawurm, das kam ständig vor.« Sie sah
zur Küche rüber, wo Hugh irgendetwas mit einer Gans anstellte.
»Liebling, wo soll ich das Papier hin tun?«
»Verbrenn es«, sagte Hugh.
»Oh, aber es ist tadellos. Meinst du nicht, dass ihr es noch mal
gebrauchen könnt?«
»Verbrenn es«, wiederholte Hugh.
»Wie war das mit dem Wurm?«, fragte Lisa. Sie lag unter einer
Decke auf der Couch, noch leicht benommen von ihrem Mittagsschlaf.
»Joan hatte einen Wurm, der bei ihr im Bein lebte«, sagte ich.
Ma Hamrick warf einen Bogen Geschenkpapier ins Feuer und
sagte: »Also, leben würde ich das nicht nennen.«
»Aber er war in Ihrem Bein?«, fragte Lisa, und ich sah, wie die
Rädchen in ihrem Kopf arbeiteten: War ich schon mal unmittelbar
nach dieser Frau auf der Toilette? Habe ich eine Kaffeetasse
von ihr in der Hand gehabt oder von ihrem Teller gegessen?
Wann kann ich einen Test machen lassen? Sind die Krankenhäuser
an Weihnachten geöffnet oder muss ich bis morgen warten?
»Es ist schon viele Jahre er«, sagte Joan.
»Wie viele genau?«, fragte Lisa.
»Ich weiß gar nicht mehr - 1968 vielleicht.«
Meine Schwester nickte wie jemand, der gerade Zahlen im
Kopf addiert. »Okay«, sagte sie, und ich bereute es, überhaupt
damit angefangen zu haben. Sie sah Ma Hamrick nicht an, sondern
durch sie hindurch, als könnte sie mit einem Röntgenblick
das blanke Knochengerüst sehen und dazwischen das Gewimmel
der tausend Würmer, die ihren Wirt 1968 nicht verlassen hatten.
Mir war es anfangs genauso gegangen, aber nach etwa fünfzehn
Jahren hatte ich mich daran gewöhnt und jetzt sehe ich
einfach nur Ma Hamrick. Ma Hamrick beim Bügeln, Ma Hamrick
beim Spülen, Ma Hamrick beim Entsorgen des Mülls. Sie
will ein angenehmer Gast sein und sucht ständig nach irgendeiner
Aufgabe.
»Kann ich vielleicht ...?«, fragt sie, und noch bevor sie zu
Ende geredet hat, platze ich heraus, aber sicher, kein Problem.
»Hast du meiner Mutter aufgetragen, auf Händen und Knien
durchs Wohnzimmer zu kriechen?«, fragt Hugh, und ich antworte:
»Aber nein, jedenfalls nicht direkt. Ich habe nur gesagt,
wenn sie die Fußleisten wischen möchte, geht es so am besten.«
Wenn Ma Hamrick zu Besuch ist, rühre ich keinen Finger. Meine
sämtlichen Haushaltspflichten gehen automatisch auf sie über,
und ich sitze bloß im Schaukelstuhl und hebe ab und zu einen
Fuß, damit sie mit dem Staubsauger durch kann. Das ist unglaublich
entspannend, sieht aber unschön aus, besonders wenn sie
anstrengende Dinge erledigt, zum Beispiel irgendwelche Möbelstücke
in den Keller schafft, wobei das allein ihre Idee war. Ich
hatte bloß angedeutet, dass wir die Frisierkommode kaum nutzen
und sie irgendwer einmal nach unten schaffen könnte. Dabei
meinte ich nicht ausdrücklich sie, obwohl sie mit ihren dreiundsiebzig
Jahren noch viel rüstiger ist, als Hugh ihr zutraut.
Harte Arbeit ist sie aus Kentucky gewohnt. Ich glaube sogar, sie
liegt ihr in den Genen.
Problematisch wird es nur dann, wenn andere Leute im Haus
sind und sehen, wie dieser zierlichen, weißhaarigen Person der
Schweiß über die Stirn rinnt. Lisa und Bob zum Beispiel, die in
Patsys freiem Apartment übernachteten. Jeden Abend kamen sie
zu uns zum Essen herüber, und Ma Hamrick nahm ihnen die
Mäntel ab, um anschließend die Servietten zu bügeln und den
Tisch zu decken. Danach reichte sie den Aperitif und eilte zu
Hugh in die Küche.
»Mein Gott, habt ihr einen Massel«, sagte Lisa und seufzte, als
Joan hereinflitzte und meinen Aschenbecher leerte. Ihre Schwiegermutter
war erst kurz zuvor in ein Heim für betreutes Wohnen
gezogen, jene Sorte Häuser, die das Wort »Senioren« vermeiden
und stattdessen lieber von »grauen Tigern« sprechen.
»Ich liebe Bobs Mom von Herzen, aber Hughs Mom, mein
Gott! Und sich dann noch vorzustellen, dass sie von Würmern
zerfressen wurde.«
»Also, zerfressen haben die Würmer sie nicht«, sagte ich.
»Aber von irgendwas müssen sie sich ernährt haben. Oder
willst du behaupten, sie hätten ihr eigenes Futter mitgebracht?«
Vermutlich hatte sie Recht, aber wovon leben Guineawürmer?
Bestimmt nicht von Fett, sonst hätten sie sich garantiert nicht bei
Joan einquartiert, die höchstens neunzig Pfund wiegt und immer
noch spielend in ihr Kleid vom Abschlussball passt. Auch nicht
von Muskeln, sonst könnte sie mir niemals die ganze Hausarbeit
abnehmen. Trinken sie Blut? Oder bohren sie Löcher in die
Knochen und saugen das Mark aus? Ich wollte schon fragen,
aber als Ma Hamrick ins Wohnzimmer zurückkam, fiel das Gespräch
umgehend auf Cholesterin, und Lisa fragte: »Ich will ja
nicht neugierig sein, Joan, aber wie hoch sind Ihre Werte?«
Es war eins dieser Themen, zu denen ich wenig beisteuern
konnte. Nicht nur, weil ich noch nie einen Test gemacht habe.
Ich weiß nicht einmal so genau, was Cholesterin überhaupt ist.
Wenn ich das Wort höre, stelle ich mir eine von Hand gerührte,
weißliche Soße vor, in der dicke Klumpen schwimmen.
»Haben Sie schon mal Fischtran probiert?«, fragte Lisa. »Bob
hat damit seinen Wert von dreiundachtzig auf zweiundzwanzig
gesenkt. Vorher hat er Lipitor genommen.« Meine Schwester
kennt die genaue Bezeichnung für jede bekannte Krankheit sowie
das entsprechende Medikament, eine beachtliche Leistung,
besonders wenn man bedenkt, dass sie sich alles selbst beigebracht
hat. Angeborene Ichthyose, Myositis ossificans und
Spondylolisthesis werden mit Celebrex, Flexeril und Oxyconhydrochlorid
behandelt. Ich sagte im Scherz, sie habe in ihrem
Leben noch keine Zeitschrift gekauft, sondern lese nur die im
Wartezimmer von Arztpraxen, woraufhin sie mich sogleich nach
meinem Cholesterinspiegel fragte. »Du solltest lieber mal zum
Arzt gehen, mein Freund, du bist auch nicht mehr so jung, wie
du glaubst. Und wenn du schon mal da bist, solltest du auch
gleich diese Muttermale untersuchen lassen.«
Die Sache war nichts, worüber ich länger nachdenken wollte,
schon gar nicht an Weihnachten, während ein Feuer im Kamin
brannte und Bratenduft durch die Wohnung zog. »Reden wir lieber
über Unfälle«, schlug ich vor. »Hat jemand eine gute Geschichte
auf Lager?«
»Also, eigentlich ist es kein Unfall«, sagte Lisa, »aber wusstet
ihr, dass sich jährlich fünftausend Kinder zu Tode erschrecken?«
Zum besseren Verständnis warf sie die Decke zurück und spielte
eine Szene nach. »Stellt euch vor, ein kleines Mädchen spielt
mit ihren Eltern im Haus Verstecken. Sie rennt den Flur entlang,
und plötzlich springt ihr Vater hinter einer Ecke hervor und ruft:
›Uah!‹ oder ›Hab dich!‹ oder irgendwas in der Art. Tatsächlich
kann das Kind sich dabei so erschrecken, dass es einen Herzschlag
erleidet und stirbt.«
»Die Geschichte gefällt mir nicht«, sagte Ma Hamrick.
»Mir auch nicht«, sagte Lisa. »Ich sage nur, dass es mindestens
fünftausend Kinder im Jahr trifft.«
»In Amerika oder weltweit?«, fragte Joan. Meine Schwester
rief ihren Mann nebenan: »Bob, sind es fünftausend Kinder in
den USA oder weltweit, die jährlich zu Tode erschreckt werden?
« Weil keine Antwort kam, entschied Lisa, dass die Zahl sich
allein auf die USA bezog. »Und das sind nur die Fälle, wo es bekannt
wird«, sagte sie. »Viele Eltern wollen es vermutlich nicht
öffentlich machen und schieben eine andere Todesursache vor.«
»Die armen Kinder«, sagte Ma Hamrick.
»Und die Eltern!«, fügte Lisa hinzu. »Stellen Sie sich nur vor.«
Tragisch war es für beide Seiten, nur musste ich an die Kinder
denken, die überlebt hatten, oder, schlimmer noch, an die nachrückenden
Stellvertreter, die in einer Atmosphäre spaßfreier
Vorsorge groß wurden.
»Also, hör zu, Caitlin 2, wenn wir gleich nach Hause kommen,
springen überall Leute hinter den Möbeln hervor und rufen
›Happy birthday!‹. Ich verrat's dir jetzt, damit du nachher
keinen Schrecken bekommst.«
Keine Überraschungen, keine Streiche, nichts Unerwartetes,
allerdings können Eltern unmöglich alles kontrollieren, und
außerdem ist da auch noch die Welt jenseits der Haustür, eine
Welt der Autofehlzündungen und deren menschlicher Entsprechungen.
Eines Tages blickt man zufällig an sich herab und sieht das
blinde, runzlige Haupt eines Wurms, der aus einer Luke im Bein
hervorschaut. Wenn einem dabei nicht das Herz stehen bleibt,
weiß ich es auch nicht, aber Hugh und seine Mutter scheinen es
überlebt zu haben. Mehr noch, sie sind dadurch erst richtig aufgeblüht.
Die Hamricks sind aus einem anderen Holz geschnitzt
als ich. Darum lasse ich auch lieber sie die Gans braten, die Möbel
durchs Haus tragen und heimtückisches Viehzeug aus meinen
Secondhand-Klamotten waschen. Wenn sie etwas zu Tode
erschrecken könnte, dann mein Vorschlag, mich behilflich zu
machen. Also mache ich es mir neben meiner Schwester auf dem
Sofa bequem und schwenke meine Kaffeetasse durch die Luft,
damit sie sehen, dass sie nachschenken können.
Immer dranbleiben
Meine Straße in Paris ist nach dem Arzt benannt, der an der nahe
gelegenen medizinischen Hochschule lehrte und eine ungewöhnliche
Krankheit entdeckte, ein Zusammenziehen der Haut,
durch das sich die Finger nach innen krümmen und die Hand
schließlich zu einer Faust wird. Obwohl die Straße kurz und
nicht aufregender als der Rest des Viertels ist, verirren sich immer
wieder amerikanische Touristen hierher und beschließen,
sich ausgerechnet unter dem Fenster meines Arbeitszimmers
anzuschreien.
Manche streiten über die Sprache. Vielleicht hatte sich eine
Frau gewisse Vorkenntnisse zugetraut und gesagt: »Ich habe mir
Kassetten angehört.« Oder auch »Die romanischen Sprachen sind
sich alle sehr ähnlich, und mit meinem Spanisch schlagen wir uns
schon durch.« Doch dann reden die Leute Umgangssprache
oder stellen unerwartete Fragen, und alles geht den Bach runter.
»Du hast doch behauptet, Französisch zu sprechen.« Diesen
Satz höre ich ständig, und wenn ich ans Fenster gehe, sehe ich ein
Paar Fußspitze an Fußspitze auf dem Bürgersteig stehen.
»Ja doch«, sagt die Frau. »Ich versuche es wenigstens.«
»Na, dann gib dir gefälligst mehr Mühe, verdammt noch mal.
Kein Mensch versteht dich.«
Orientierungsstreitigkeiten sind am häufigsten. Die Leute stellen
fest, dass sie schon einmal in meiner Straße waren, vielleicht
vor einer halben Stunde, als sie lediglich glaubten, müde und
hungrig zu sein und eine Toilette finden zu müssen.
»Herrgott, Philip, ist es so schwer, jemanden zu fragen?«
Ich liege auf meinem Sofa und denke: Warum fragst du nicht?
Warum muss Philip das tun? Allerdings sind diese Dinge oft
komplizierter, als sie auf den ersten Blick scheinen. Vielleicht war
Philip schon einmal vor zwanzig Jahren hier und hat behauptet,
sich auszukennen. Vielleicht ist er einer von denen, die den Stadtplan
nicht aus der Hand geben oder ihn gar nicht erst aus der
Tasche holen, damit sie nicht als Tourist erkannt werden.
Der Wunsch, für einen Einheimischen gehalten zu werden, ist
vermintes Gelände und kann zu den hässlichsten Szenen führen.
»Du willst als Französin durchgehen, Mary Francis, das ist dein
Problem, aber du bist einfach nur eine ganz gewöhnliche Amerikanerin.
« Der Satz lockte mich ans Fenster, von wo aus ich das
Ende einer Ehe beobachtete. Die arme Mary Francis mit ihrer
beigefarbenen Baskenmütze. Im Hotel hatte sie vermutlich ganz
passabel ausgesehen, aber jetzt klebte sie ihr wie ein alberner
Filzpfannkuchen am Hinterkopf. Sogar ein Halstuch hatte sie
um, und das mitten im Sommer. Es hätte noch schlimmer kommen
können, dachte ich, sie hätte auch ein gestreiftes Seemannshemd
anziehen können, aber auch so war ihr Aufzug schlimm
genug, eher ein billiges Kostüm.
Manche Touristen schreien die halbe Straße zusammen und
scheren sich nicht im Geringsten darum, aber Mary Francis flüsterte
nur. Auf ihren Mann wirkte auch das wie bloßes Gehabe
und machte ihn nur noch wütender. »Amerikaner«, wiederholte
er. »Wir leben nicht in Frankreich, wir leben in Virginia. Vienna,
Virginia, kapiert?«
Ich sah den Mann an und wusste sofort, dass wenn wir uns auf
einer Party begegneten, er sagen würde, er käme aus Washington,
D.C. Und wenn man ihn nach der Adresse fragte, würde er
sich zur Seite drehen und irgendwas von »Na ja, draußen am
Stadtrand« brummeln.
Wenn man sich in den eigenen vier Wänden streitet, kann die
beleidigte Person sich immer noch in einen anderen Teil des
Hauses zurückziehen oder im Garten auf Blechbüchsen schießen,
aber unter meinem Fenster gibt es nur die Möglichkeit zu
weinen, zu schmollen oder ins Hotel zurückzustürmen. »Herrgott
noch mal«, höre ich. »Können wir uns nicht einfach einen
schönen Tag machen?« Das ist so, als würde man aufgefordert,
sein Gegenüber attraktiv zu finden, und es funktioniert nie. Ich
hab's versucht.
Auf Reisen geraten Hugh und ich uns meistens wegen des
Schritttempos in die Haare. Ich gehe durchaus zügig, aber er hat
längere Beine und hält meistens sieben Meter Vorsprung. Ein zufälliger
Beobachter könnte glauben, Hugh laufe vor mir davon
und flitze um die Ecken, um mich abzuschütteln. Fragt mich jemand,
wie der letzte Urlaub war, gebe ich immer die gleiche Antwort.
Ob in Bangkok, Ljubljana, Budapest oder Bonn: Was habe
ich gesehen? Hughs Rücken, wie er im nächsten Moment in der
Menschenmenge verschwindet. Ich bin sicher, bevor wir irgendwo
hinfahren, ruft er im Fremdenverkehrsbüro an und fragt,
welche Art Jacken in welcher Farbe die Einheimischen zurzeit
tragen. Ist es beispielsweise eine blaue Windjacke, packt er die
ein. Es ist geradezu unheimlich, wie er sich der Umgebung anpasst.
Sind wir in einem asiatischen Land, könnte ich schwören,
dass er sich kleiner macht. Ich weiß auch nicht, wie er das hinbekommt,
aber es ist so. In London gibt es einen Laden, der neben
Reiseführern auch Romane verkauft, die in dem jeweiligen
Land spielen. Die Idee ist, dass man die Reiseführer der Information
wegen und die Romane der Atmosphäre wegen liest -
kein schlechter Gedanke, nur käme für mich einzig das Buch Wo
steckt die kleine Maus? infrage. Meine ganze Energie ist darauf
gerichtet, Hugh nicht aus den Augen zu verlieren, und deswegen
verpasse ich alles andere.
Das letzte Mal ist es mir so in Australien ergangen, wo ich an
einer Konferenz teilnahm. Hugh hatte alle Zeit der Welt, während
mir gerade einmal vier freie Stunden am Samstagvormittag
blieben. Sydney bietet jede Menge, aber ganz oben auf meiner
Liste stand ein Besuch im Taronga Zoo, wo ich einen Dingo zu
sehen hoffte. Ich hatte den Film mit Meryl Streep nie gesehen,
und das Tier war mir ein einziges Rätsel. Hätte jemand gesagt:
»Ich habe das Fenster aufgelassen, und ein Dingo flog ins Haus«,
hätte ich das genauso geglaubt, wie wenn jemand gesagt hätte:
»Dingos? Unser Teich ist voll davon.« Zwei Beine, vier Beine,
Flossen oder Flügel: Ich hatte keinerlei Vorstellung, was tatsächlich
sehr aufregend war - eine echte Seltenheit im Zeitalter
von Fernsehkanälen, die rund um die Uhr Naturfilme zeigen.
Hugh bot an, eine Zeichnung zu machen, aber nachdem ich
schon so nahe dran war, wollte ich bis zuletzt ahnungslos bleiben
und dann vor dem Käfig oder Becken stehen und das Ding
mit eigenen Augen sehen. Es wäre ein erhebender Moment, den
ich mir nicht noch in letzter Minute verderben wollte. Allerdings
wollte ich auch nicht alleine gehen, und genau da fing unser
Problem an.
Hugh war fast die ganze Woche über schwimmen gewesen
und hatte von seiner Schwimmbrille dunkle Ringe unter den Augen.
Sobald er irgendwo am Meer ist, verbringt er Stunden im
Wasser und schwimmt an den Bojen der Strandwacht vorbei bis
hinaus in internationale Gewässer. Es sieht so aus, als wolle er
nach Hause schwimmen, was sehr peinlich für den ist, der am
Strand mit den Gastgebern zurückbleibt. »Ihm gefällt es hier
sehr«, sage ich. »Ganz bestimmt.«
Bei Regen wäre er vielleicht mitgekommen, aber so hatte
Hugh kein Interesse an Dingos. Ich musste eine Stunde lang
jammern, bis ich ihn herumgekriegt hatte, und selbst dann tat er
es nur widerwillig. Das war offensichtlich. Wir fuhren mit der
Fähre zum Zoo. Während der gesamten Überfahrt starrte er
sehnsüchtig aufs Wasser und machte kleine Kraulbewegungen
mit den Händen. Mit jeder Sekunde wurde er angespannter, und
kaum waren wir da, musste ich buchstäblich hinter ihm her rennen,
um ihn nicht zu verlieren. Die Koalabären nahm ich nur als
Schemen wahr, genau wie die Besucher, die vor dem Gehege
standen und sich fotografieren ließen. »Können wir nicht ...«,
keuchte ich, doch Hugh zog schon am Emu-Gehege vorbei und
hörte mich nicht.
Er verfügt über den besten Orientierungssinn, den ich je bei
einem Säugetier gesehen habe. Selbst in Venedig, wo die Straßen
offenbar von Ameisen geplant wurden, trat er aus dem Bahnhof,
sah kurz auf einen Stadtplan und führte uns schnurstracks zu unserem
Hotel. Eine Stunde nachdem wir eingecheckt hatten, erklärte
er Fremden den Weg, und als wir abfuhren, schlug er den
Gondolieri Abkürzungen vor. Vielleicht roch er die Dingos.
Vielleicht hatte er ihr Gehege vom Flugzeug aus gesehen, jedenfalls
marschierte er geradewegs darauf los. Ich traf eine Minute
nach ihm ein und musste mich erst einmal vorbeugen, um wieder
zu Atem zu kommen. Danach hielt ich mir die Hände vors
Gesicht, richtete mich auf und schob langsam die Finger auseinander.
Zuerst sah ich einen Zaun, und dann, dahinter, einen
flachen Wassergraben. Ich sah ein paar Bäume, einen Schwanz,
und dann konnte ich es nicht länger aushalten und ließ die Hände
fallen.
»Aber die sehen ja aus wie Hunde«, sagte ich. »Bist du sicher,
dass wir hier richtig sind?«
Niemand antwortete, und als ich mich umdrehte, stand neben
mir eine leicht verschüchterte Japanerin. »Entschuldigung«, sagte
ich. »Ich dachte, Sie wären die Person, die ich um den halben
Erdball mit hierhergenommen habe. Erster Klasse.«
Ein Zoo ist ein guter Ort, um aus der Rolle zu fallen, da die Leute
um einen herum noch viel unheimlichere und fotogenere Dinge
bestaunen können. Ein Gorilla, der genüsslich einen Kopf
Eisbergsalat verspeist und sich dabei einen runterholt, ist um einiges
unterhaltsamer als ein Mann in den mittleren Jahren, der
wild hin und her rennt und mit sich selber redet. Das Selbstgespräch
dreht sich immer um die gleiche Sache: die Probe für meine
Abschiedsrede. »... denn diesmal, mein Freund, ist es vorbei.
Und das meine ich ernst.« Ich stelle mir vor, wie ich meinen Koffer
packe und alles achtlos hineinwerfe. »Solltest du mich vermissen,
schaff dir einen Hund an, ein feistes, altes Tier, das dir
nachrennen muss, dann hörst du auch weiterhin dieses Hecheln
hinter dir, das dir so vertraut ist. Ich jedenfalls bin damit durch.«
Ich werde durch die Tür gehen, ohne mich noch einmal umzudrehen,
werde seine Anrufe ignorieren und keinen seiner Briefe
öffnen. Die Töpfe und Pfannen, das ganze Zeug, das wir zusammen
angeschafft haben, soll er alles behalten, es bedeutet mir
nichts. Meine Devise lautet: »Ein sauberer Neuanfang.« Was
soll ich da mit einem Schuhkarton voller Fotos oder mit dem
braunen Gürtel, den er mir zum dreiunddreißigsten Geburtstag
geschenkt hat, als wir uns gerade kannten und er noch nicht
wusste, dass man einen Gürtel von seiner Tante, aber nicht von
seinem Lover bekommt, auch wenn er ihn selbst gemacht hat?
Seitdem allerdings hatte er ein gutes Händchen für Geschenke:
ein täuschend echt wirkender Aufziehhund mit einem Fell aus
Schweinsleder, ein professionelles Mikroskop, das ich während
meiner Spinnen-Phase bekam, und als Krönung von allem ein
Gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert, das eine holländische
Bäuerin beim Windelnwechseln zeigt. Diese Dinge würde
ich behalten - warum auch nicht? Genau wie den Tisch, den er
mir geschenkt hat, und die Kaminverkleidung und, allein aus
Prinzip, den Zeichentisch, den er eindeutig für sich gekauft hatte
und mir als Weihnachtsgeschenk andrehen wollte.
Inzwischen sah es so aus, als würde ich eher mit einem Lastwagen
als zu Fuß meinen Abschied nehmen, aber egal, ich würde
es tun. Ich sah mich mit dem Wagen davonfahren, bis mir einfiel,
dass ich gar keinen Führerschein habe. Hugh müsste das
übernehmen, aber er hatte es auch nicht besser verdient, nach
allem, was er mir angetan hatte. Ein anderes Problem war die
Frage, wohin der Lastwagen fahren sollte. Selbstverständlich zu
einer Wohnung, nur wie sollte ich die besorgen? Ich kriege mit
Mühe meinen Mund im Postamt auf, aber wie sollte ich mit einem
Immobilienmakler reden? Dabei liegt es nicht einmal an der
Sprache, da ich in New York genauso wenig an eine Wohnung
kommen könnte wie in Paris. Wenn es um Summen über sechzig
Dollar geht, bricht mir der Schweiß aus. Nicht nur auf der
Stirn, sondern überall. Fünf Minuten in der Bank, und mein
Hemd ist durchsichtig. Zehn Minuten, und ich klebe auf meinem
Stuhl fest. Bei unserer letzten Wohnung verlor ich zwölf Pfund,
obwohl ich nichts weiter tun musste als einmal zu unterschreiben.
Alles andere erledigte Hugh.
Das Erfreuliche ist, dass ich Geld habe, auch wenn ich nicht
so genau weiß, wie ich drankommen kann. Zwar treffen regelmäßig
die Kontoauszüge ein, aber ich öffne keinen Brief, der
nicht persönlich an mich adressiert ist oder nach einer Gratisprobe
aussieht. Hugh schlägt sich damit herum. Er öffnet die unangenehme
Post und liest sie auch noch. Er weiß, wann unsere
Versicherungsbeiträge fällig sind, wann unsere Visa verlängert
werden müssen und wann die Garantie für die Waschmaschine
abläuft. »Ich denke, wir sollten die Garantie verlängern lassen«,
schlägt er vor, obwohl er genau weiß, dass, sollte die Maschine
den Geist aufgeben, er selbst die Reparatur übernehmen würde,
so wie bei allen anderen Dingen auch. Ich würde es ganz bestimmt
nicht. Wenn ich allein lebte und etwas ginge kaputt, würde
ich mir anderweitig helfen: statt der Toilette einen Farbeimer
benutzen oder mir eine Kühlbox zulegen und den defekten
Kühlschrank zum Kleiderschrank umfunktionieren. Einen Handwerker
anrufen? Niemals. Es selber reparieren? Den Tag möchte
ich erleben.
Ich bin fast ein halbes Jahrhundert alt und fürchte mich immer
noch vor allem und jedem. Im Flugzeug sitzt ein Kind neben mir
und unterhält sich mit mir, und ich mache mir Sorgen, wie bescheuert
ich klinge. Die Nachbarn von unten laden mich zu
einer Party ein, doch ich gebe vor, eine andere Verabredung zu
haben. Anschließend verbringe ich den ganzen Abend im Bett,
aus Angst, sie könnten meine Schritte hören. Ich weiß nicht, wie
man die Heizung anmacht, eine E-Mail schreibt, telefonisch den
Anrufbeantworter abfragt oder auch nur etwas halbwegs Kreatives
mit einem Hühnchen anstellt. Hugh kümmert sich um alle
diese Dinge, und wenn er mal nicht da ist, ernähre ich mich wie
ein wildes Tier von halb rohem Fleisch, an dem hier und da
noch Fellreste oder Federn hängen. Ist es da ein Wunder, dass er
vor mir davonläuft? Wie wütend ich auch immer bin, es läuft
stets auf das Gleiche hinaus: Ich werde ihn verlassen, und was
dann? Bei meinem Dad einziehen? Dreißig Minuten tobe ich vor
Wut, und wenn ich ihn dann endlich entdecke, spüre ich, noch
nie über den bloßen Anblick eines Menschen so glücklich gewesen
zu sein.
»Da bist du ja«, sage ich. Und wenn er fragt, wo ich gewesen
bin, antworte ich aufrichtig und sage, ich bin verlorengegangen.
Zweite Besetzung
Im Frühjahr 1967 verreisten mein Vater und meine Mutter für ein
Wochenende und ließen meine Schwestern und mich in der Obhut
einer Frau namens Mrs. Byrd, die alt und schwarz war und
bei einem unserer Nachbarn im Haushalt arbeitete. Sie traf am
Freitagnachmittag bei uns ein, und nachdem ich ihren Koffer ins
Schlafzimmer meiner Eltern gebracht hatte, gab ich ihr eine kleine
Führung durchs Haus, wie ich es mir in Hotels vorstellte.
»Das ist unser Fernseher, das ist Ihre private Sonnenterrasse, und
hier drüben ist Ihr Badezimmer, nur für Sie.«
Mrs. Byrd legte eine Hand auf ihre Wange. »Zwick mich bitte
wer, ich glaube, ich werde gleich ohnmächtig.«
Sie tat erneut überrascht, als ich eine Kommodenschublade
aufzog und ihr erklärte, für Mäntel und so weiter hätten wir ein
eigenes kleines Zimmer, das Ankleidezimmer hieß. »Es gibt davon
zwei drüben gegenüber der Wand, Sie können das rechte benutzen.«
Ich dachte, es müsse ihr wie ein Traum vorkommen: Ihr Telefon,
Ihr festes Bett, Ihre Duschkabine mit Glasfront.
Einige Monate später verreisten meine Eltern ein zweites Mal.
Diesmal passte Mrs. Robbins auf uns auf, die ebenfalls schwarz
war und mir wie Mrs. Byrd erlaubte, mich als Wundertäter zu
fühlen.
Die Originalausgabe WHEN YOU ARE ENGULFED iN
FLAMES erschien bei Little Brown and Company, London
Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 03/2010
Copyright © 2008 by David Sedaris
Copyright © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe by
Karl Blessing Verlag, München
Copyright © 2010 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag,
München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2011
Umschlagabbildung: Vincent Van Gogh (1853-1890) Skull of a
skeleton with burning cigarette, Antwerpen 1885 / 1886
© Amsterdam, Van Gogh Museum
(Vincent Van Gogh Foundation)
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur,
München - Zürich
2. Auflage
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
iSBN: 978-3-453-40733-6
www.heyne.de
Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100
Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier
München Super liefert Arctic Paper Mochenwangen GmbH.
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Autoren-Porträt von David Sedaris
David Sedaris, geboren 1956 in Johnson City, New York, lebt in der Normandie und London. Er schreibt u. a. für die New York Times, den New Yorker und Esquire. Mit Büchern wie "Naked" und "Fuselfieber" wurde er zum Bestsellerautor.
Bibliographische Angaben
- Autor: David Sedaris
- 2010, Erstmals im TB, 320 Seiten, Maße: 11,9 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Georg Deggerich
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453407334
- ISBN-13: 9783453407336
- Erscheinungsdatum: 03.02.2010
Rezension zu „Schöner wird's nicht “
"Ein Magier, der aus Leiden Lachen macht."
Pressezitat
"Satire, Sozialstudie und Eigentherapie in einem." Süddeutsche Zeitung
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