Schokoladenkind
Schokoladenkind von AbiniZöllner
LESEPROBE
Als ich dieDDR nicht mehrverstand
Mein Verstand sagt, die Hochzeitsei der Start, die Ehe sei die Landung.Oder war es Mamel, die das sagte? Jedenfalls sei das eine die Kür und das anderedie Pflicht.
Mein Gefühlmeint, Heiraten bedeute nicht automatisch, dass die Freiheit nun zu Endesei und die Leidenschaft bald aufhöre. Deshalb riet es mir, von nun an aufmeinen Scharfblick zu verzichten, und wenn ich ein bisschen Massel hätte, würde Dirk auch nicht jedes Wort von mir auf dieGoldwaage legen.
Also, wennich ein bisschen blind würde und Dirk ein bisschen taub, dann könnten wir glücklich werden?
Natürlich waren wir nicht sensationell andersals andere Menschen, die sich lieben: «Ich habe noch niejemanden so geliebt wie dich.» - «Wir wollen immer zusammenbleiben.» - «Ohne dich hat mein Leben keinenSinn mehr.» Etwa so romeo-und juliahaft haben wir gedacht. Vielleicht hättees uns ängstigen müssen, dass wir die Liebe derart in den Mittelpunkt stellten.Vielleicht hätten wir sagen sollen:
«Gut, dass wir uns kennen gelernt haben.» - «Ja, lass uns einen Lebensabschnitt langGefährten sein.» - «Du willst doch nichtheiraten?» - «Nein, dafür liebe ichdich zu sehr.» Vielleicht hätten wirdas sagen sollen.
Aber wir sagten aus tiefstem Herzen «Ja». Unddie Standesbeamtin gratulierte uns dazu, dass wir uns«in die Reihen der glücklichen Werktätigen eingeordnethaben».
Wir haben was? Wir wollten Liebe, wir wolltenFreude und vielleicht auch ein paar Eierkuchen, mit denen wir im Ernstfall nachdem anderen werfen konnten. Aber einreihen? Wirstanden mit den anderen nach Bananen oder Jeans,nach Büchern oder H-Milch in einer Reihe. Aber dochnicht nach Glück. Es klang so, als hätte uns diese Standesbeamtin schuldig gesprochen. Schuldig, keine Individuen mehr zu sein, sondern öffentlich Eingereihte. Unddas konnten wir keinem Parteitag, keiner Direktive,keinem Beschluss zuschreiben, sondern nur unserer fahrlässigen Entscheidung, unbedingt heiraten zu wollen. Miteinem Pionierleiterlächeln wollte sieuns in «das sozialistische Eheleben» entlassen.
Dirk und ich schauten uns verdattert an. Dannnahm ich Dirks Hand und versprach, ihn zu lieben wiedie Deutsche Demokratische Republik, den Frieden zu ehren und Freundschaft mit den Kindern der Sowjetunion undaller Bruderländer zu halten. Dirk beteuerte daraufhin, das arbeitende Volk zu achten, überall tüchtig denSozialismus mit aufzubauen undendlich das Abzeichen «Für gutes Wissen»in Gold zu erwerben. Pionierehrenwort.
Wir hätten danach Halstücher austauschen können,aber wir hatten keine dabei, also steckten wiruns die Ringe, die mir eine Bekannte bei einem Juwelier besorgthatte, an die Finger. Die Standesbeamtinhatte uns mit ihrer emotional sparsamen Rede in unsere Kindheit versetzt. Wirwaren plötzlich Jungpioniere. Seidbereit! Immer bereit! Mund auf! Zunge in den Hals! Was für eine Trauung.
Anschließend gingen wir ins Schwalbennest, einstets ausgebuchtes Restaurant im Nikolai-Viertel, in dem mir einefrühere Salon-Kundin einen Tisch reservieren konnte. Wir hatten meine Mamel und Dirks Familie dorthin eingeladen - wasausnahmsweise keiner besonderen Beziehung bedurfte, denn Familien-Beziehungenwaren die einzigen in der DDR, die so ziemlich jeder hatte.
Als wir am Tisch saßen, legten wir in die großeSpeisekarte unser kleines, frisch erworbenes «Buch der Familie». Sieging um den Tisch, und vom Aufschrei bis zum Kopfschütteln zog die Familie alle Register der überraschten Reaktion. Mamel schossensofort die Tränen in die Augen. Sie meinte, sie habe so was schon geahnt, abernun sei sie doch ziemlich verblüfft.Ihr kleines Mäuseschwänzchen war nun eine Ehefrau. Sie drückte mich und sagte:«Du wirst immer meine bessere Hälfte bleiben.»
«Ganz gewiss, Mamel.»
«Ich habe nie geheiratet, und mein einziges Kindlässt sich heimlich trauen. Was denkst du dir dabei?»
«Ich verspreche dir, dass ich dich zu meiner nächsten Hochzeit als Ehrengast einlade.»
«Das muss ja nicht sein, das mit der nächstenHochzeit. Aber ich werde immer zu dir halten. Egal, was passiert.»
«Und ich werde immer deine Tochter bleiben. Und es wird mir nie egal sein, was mit dir passiert.»
«Es wird mir schwer fallen, Raouliund dich zu teilen. Weißt du das?»
© Rowohlt Verlag
Autoren-Porträt von Abini Zöllner
AbiniZöllner wurde 1967 in Berlin-Lichtenberg geboren. Ihre Arbeit als Model,Tänzerin und Nebendarstellerin im DDR-Fernsehen gab sie in den achtziger Jahrenkurz entschlossen auf, nachdem sie sich in einem Abendschullehrgang mit dem"Handwerk des massenwirksamen Schreibens" vertraut gemacht hatte.1990 wurde sie Korrespondentin der "Jungen Welt"; seit 1991 ist sieRedakteurin im Feuilleton der "Berliner Zeitung".
Interview mit Abini Zöllner
In"Schokoladenkind" erzählen Sie die Geschichte Ihres Lebens. Was gabden Anstoß, sie aufzuschreiben und zu veröffentlichen?
Es war ein traumhafterAnstoß. Ich hatte in der "Berliner Zeitung" Kolumnen über meineFamilie geschrieben. Eines Tages rief mich der Verleger Alexander Fest an. Wirtrafen uns, und er überzeugte mich ehrlich davon, ein Buch zu schreiben. Dahatte ich noch keine Ahnung, wie mühsam so ein traumhaftes Angebot sein kann.Aber ich hatte die einmalige Möglichkeit, nicht nur über meine skurrile Familiezu schreiben, sondern auch eine Liebeserklärung an meine Mutter zu machen.
Wie haben SieOstberlin als Kind erlebt?
Also unpolitischer, als esim allgemeinen Rückblick scheinen mag. Obwohl die DDR mich davor "schützte",die Welt kennen zu lernen und Gott meine Familie vor materiellemWohlstand "schützte", war ich glücklich.
Ihre Mutter istJüdin, Ihr Vater Afrikaner. Das Land, in dem Sie leben, hat einen dramatischenSystemwechsel vollzogen. Was ist für Sie Heimat?
Heimat ist etwas, was einemnicht egal ist. Eine individuelle Entscheidung. Heimat ist nichts Fertiges,sondern etwas zum Mitgestalten. Für mich ist die Heimat nicht Folklore, sondern(manchmal auch ein aufreibendes) Bewusstsein. Ich bin sehr oft unterwegs - undHeimweh ist da für mich die ehrlichste Antwort, auf die Frage, was Heimat ist.Meine Heimat ist Berlin. Und wenn ich weiter weg bin, dann ist meine HeimatDeutschland. Deutsch zu sein, ist keine Medaille, die man sich umhängen kann,aber für mich ein Zustand, mit dem ich mich entspannt identifiziere.
Zum Glück ja. Weder dieTurbulenzen, noch die Liebe haben mich verlassen. Ich bin ja ein Mensch desAugenblicks. Mir ist es sehr wichtig, vor lauter Vergangenheitsbewältigung undZukunftsplänen nicht die Gegenwart zu verpassen. Und wenn man die Tage nicht ansich vorbeischlittern lässt, sondern inhaliert - dann bekommt man Stunts mit,von denen man sonst nicht wüsste, dass man sich mittendrin befindet.
Denken Siedaran, ein weiteres Buch zu schreiben?
Ich habe mich sehr über denjetzigen Erfolg gefreut. Aber ein Buch ist für mich die Kür, nicht die Pflicht.Ich sage es mal so: Ich habe auf meinen Lesungen sehr viele Menschen aus demPublikum mit interessanten Biografien kennen gelernt - es wäre eine Sünde, diesnicht aufzuschreiben.
- Autor: Abini Zöllner
- 2003, 256 Seiten, Maße: 13,3 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Rowohlt, Reinbek
- ISBN-10: 3498076620
- ISBN-13: 9783498076627
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