Schutzpatron
Kluftingers neuer Fall
Endlich kehrt der prachtvolle Burgschatz mit der Reliquie von St. Magnus nach Altusried zurück. Nun muss Kluftinger an einer Arbeitsgruppe teilnehmen, die eigens für die Sicherung der Kostbarkeiten gegründet wurde. Priml!
Dabei hat er...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schutzpatron “
Endlich kehrt der prachtvolle Burgschatz mit der Reliquie von St. Magnus nach Altusried zurück. Nun muss Kluftinger an einer Arbeitsgruppe teilnehmen, die eigens für die Sicherung der Kostbarkeiten gegründet wurde. Priml!
Dabei hat er doch ganz andere Probleme: Er hat den Mord an einer alten Frau aufzuklären. Oder hat das eine gar mit dem anderen zu tun? Kluftingers Nachforschungen werden dadurch erheblich erschwert, dass sein Auto gestohlen wird. Dies bringt ihn mehr als einmal in Bedrängnis, vor allem natürlich, wenn Dr. Langhammer mit von der Partie ist.
SPIEGEL Bestseller Platz 1 (26/2011)!
Lese-Probe zu „Schutzpatron “
Schutzpatron - Kluftingers neuer Fall von Volker Klüpfel & Michael KobrProlog
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»Wotan?« Reglos lauschte er in die vorabendliche Stille hinein. Kein Laut. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, doch das diffuse Licht der heraufziehenden Dämmerung, das durch die Wipfel der knorrigen Bäume hinunter zum feuchten Waldboden drang, ließ ihn nur wenige Meter weit sehen. »Wotan!« Wie immer, wenn er den Namen rief, war er ihm ein wenig peinlich. Selbst schuld, dachte er, niemand hat dich gezwungen, deinem winzigen Hund einen derart martialischen Namen zu geben. Aber er hatte den Kontrast so putzig gefunden: der kleine Dackel mit den krummen Beinchen und der Name der germanischen Gottheit. Langsam begann er sich Sorgen um ihn zu machen. Es war nicht Wotans Art, einfach so fortzulaufen. »Wotan?« Er schnippte seine Zigarette weg, trat sie aus und hielt inne. Hatte er da nicht etwas gehört? Er blickte zurück auf den Weg, der, mit Baumstämmen befestigt, hinunter ans Flussufer führte. Nichts. Vor ihm ragte das Plateau mit der Ruine auf. Bei ihrem Anblick fröstelte es ihn. Nebelschwaden hatten sich auf der Wiese ausgebreitet und hüllten die moosbewachsenen Steine des Turms in einen fahlen Schleier. Das Dämmerlicht hatte die Farben aus der Natur gewaschen, alles wirkte grau, trostlos und unheimlich. Er gestand es sich nur ungern ein, aber der Schauder, der von ihm Besitz ergriff, kam nicht von der Temperatur. Er versuchte sich einzureden, dass es nur die Angst um seinen Hund war, denn er wagte gar nicht, sich auszumalen, was passiert sein könnte, wenn Wotan nicht in Richtung Auto, sondern zum Steilufer gelaufen war. Mühelos hätte er unter den Latten des Zauns dort hindurchschlüpfen können, um dann ... Gerade als er seinen Blick mit einer bösen Vorahnung in Richtung Abgrund wandte, hörte er ihn. Es war ein ungewöhnlich aggressives Knurren, aber es kam zweifellos von seinem Hund. Ohne zu zögern, rannte er los, achtete nicht auf die Äste, die ihm ins Gesicht peitschten, sprang über Wurzeln und welkes Laub, blieb stehen und lauschte, den Kopf geneigt, den Blick unbestimmt in die Dämmerung gerichtet. Da! Erneut ein Knurren. Es kam ... er kniff die Augen zusammen, als könne er so seine Sinne schärfen ... ja, es kam eindeutig von der Lichtung. Aus der Richtung des Gedenksteins flog Erde und Laub in hohem Bogen auf die Lichtung. »Wotan!« Sein Hund scharrte wie verrückt in der Erde und knurrte den Waldboden an. Gar nicht auszudenken, was dieser Dreck auf den Polstern des neuen Autos anrichten würde. Nur noch Wotans Hinterteil ragte hinter dem Tuffstein hervor, dessen altertümliche Inschrift an die »Veste Alt-Kalden« erinnerte, eine mächtige Burg, die einst hier in Altusried gestanden hatte. Er erinnerte sich noch, dass irgendeine Katastrophe ihr ein jähes Ende bereitet hatte. »Hör - jetzt - auf!«, schrie er wutentbrannt, da das Tier nicht reagierte. Er stampfte dabei mit dem Fuß auf, was ein merkwürdig dumpfes Geräusch verursachte, als sei es unter der Grasnarbe hohl. Erschrocken hob der Dackel den Kopf, jaulte einmal kurz und kam auf ihn zu, da spürte der Mann einen Zug modriger Luft von unten, hörte das Krachen berstenden Holzes und fiel ins Bodenlose. Dann wurde es dunkel. Finsternis und Kälte. Mehr nahm er zunächst nicht wahr, als er wieder zu sich kam. Doch sofort gesellten sich rasende Kopfschmerzen hinzu, ein Hämmern hinter der Schläfe, als wolle ihm jemand von innen den Schädel sprengen. Unwillkürlich fasste er sich an den Kopf, spürte ein feuchtes, warmes Rinnsal und wusste, auch ohne es zu sehen, worum es sich dabei handelte: Blut. Sein
Blut. Urplötzlich drängte sein Mageninhalt mit aller Gewalt nach oben und er übergab sich heftig. Mit dem Handrücken fuhr er sich zittrig über den Mund. Er versuchte, seine Gedanken trotz des mörderischen Pochens in seinem Schädel zu sammeln. Was war passiert? Sein Spaziergang auf dem engen Waldweg zum Fluss fiel ihm wieder ein, der Aufstieg, die Ruine, der Stein, Wotans plötzliches Verschwinden ... »Wotan?«
Jetzt erst bemerkte er das verzweifelte Bellen über sich. Er legte den Kopf in den Nacken, was das Hämmern in seinen Schläfen noch verstärkte. Oder war es die Tatsache, dass über ihm nichts war als undurchdringliche Schwärze? Wie lange war ich weg? Er hatte keinerlei Gefühl für die Zeit, die seit seinem Sturz vergangen war. Sein Sturz! Hektisch tastete er seinen Körper ab. Er schien einigermaßen glimpflich davongekommen zu sein. Offensichtlich war nichts gebrochen, nur sein Schädel brummte erbärmlich. Doch die Erleichterung wurde sofort von einem beängstigenden Gedanken verdrängt: Wie sollte er hier je wieder rauskommen? Wotans Bellen klang, als käme es aus mindestens vier, fünf Metern Höhe. Der Hund musste an der Stelle stehen, wo er eingebrochen war, doch nicht ein einziger Lichtstrahl drang bis hier unten vor. Ächzend stand er auf, breitete die Arme aus und drehte sich mehrmals um die eigene Achse. Blind stolperte er ein paar Schritte nach links, bis er gegen eine feuchte Wand stieß. Seine Finger tasteten über behauene Steine. Er versuchte, sich an ihnen hochzuziehen, aber sie waren glitschig, und er fand keinen Halt. Verzweifelt ließ er sich zu Boden sinken und lehnte seinen malträtierten Kopf an die kühle Mauer. Was würde er jetzt für eine Zigarette geben. Er hielt inne. Die Streichhölzer! Aufgeregt kramte er sie aus seiner Hosentasche, schob die verbeulte Packung vorsichtig auf und zündete eines an. Zuerst fiel sein Blick auf seine vom Dreck beinahe schwarzen Finger. Sie zitterten, als er das Hölzchen hob. Die Wände des Lochs schienen im flackernden Schein der Flamme einen schaurigen Tanz aufzuführen. Sein Verlies maß höchstens fünf auf fünf Meter, und ihm war sofort klar, dass er keine Chance hatte, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien. Zu steil und glitschig waren die Wände. Er drehte sich noch ein Stückchen weiter, dann musste er das Streichholz fallen lassen, und es verlosch. »Scheiße«, zischte er. Es waren vielleicht noch ein Dutzend Hölzer in der Packung. Er musste sie sich gut einteilen. Auch wenn es hier unten stockfinster war, schloss er die Augen, um sich das Bild, das er sich von dem Raum gemacht hatte, noch einmal in Erinnerung zu rufen. Plötzlich riss er sie wieder auf. »Das Gitter«, flüsterte er, zündete ein weiteres Streichholz an und hielt es mit ausgestreckter Hand nach vorn. Tatsächlich, er hatte sich nicht getäuscht: In die gegenüberliegende Wand war ein rostiges Gitter eingelassen. Er starrte so fasziniert darauf, dass er die Flamme ganz vergaß und erst wieder daran dachte, als sie ihm die Fingerkuppe ansengte. Doch er ignorierte den Schmerz, krabbelte zu dem Gitter und rüttelte mit aller Kraft daran. Er merkte schnell, dass es nicht lange dauern würde, bis er es aus seiner Verankerung herausgerissen hätte. Stück für Stück löste es sich aus der Mauer. In einer letzten Anstrengung zerrte er keuchend daran, biss die Zähne zusammen, als das rostige Metall in seine Finger schnitt - und riss es schließlich mit einem Krachen aus der bröckeligen Steinwand. Er warf es neben sich und entzündete ein weiteres Streichholz: Vor ihm tat sich ein etwa fünfzig Zentimeter hoher Gang auf, der in eine ungewisse Schwärze führte.
Er hielt kurz inne und faltete die Hände. Da er nicht wusste, welcher Schutzheilige für seine missliche Situation zuständig war, schickte er einfach ein kurzes Stoßgebet gen Himmel. Er bekreuzigte sich hastig und kroch hinein. Schon nach wenigen Metern jedoch bereute er seine Entscheidung: Der Gang war so eng und schwarz, dass sich die Panik wie ein enger, dunkler Mantel um ihn legte. Er holte hektisch ein weiteres Streichholz heraus. Er brauchte
Licht, musste etwas sehen - und schrie auf. Direkt vor ihm, ausgestreckt auf dem Boden, lag ein Mensch. Das heißt: Das, was von ihm übrig war, denn er starrte direkt in die schwarzen Höhlen eines Totenschädels. Er erschrak so heftig, dass er das Streichholz fallen ließ, worauf er sofort ein neues entzündete. Der Schädel sah nicht so aus wie die Skelette, die er aus dem Fernsehen kannte. Dieser hier war nicht weiß, sondern dunkel, fast schwarz, und in seiner Stirn klaffte ein Loch. Er veränderte seine Haltung etwas, und das Licht der Flamme brach sich nun in Metall, offenbar Teile einer uralten Rüstung. Als er die knöchernen Überreste einer Hand sah, war seine Angst urplötzlich wie weggeblasen. Denn an einem der Finger prangte ein schillernder, blitzender Ring, dahinter lag ein mit Edelsteinen besetzter Armreif. In diesem Moment erlosch die Flamme wieder. Mein Gott, ein Schatz, dachte er, kramte ein weiteres Hölzchen heraus, nicht mehr darauf bedacht, es für seine beschwerliche Rückkehr an die Oberfläche aufzusparen. Er leuchtete den Boden ab, entdeckte die andere Hand, deren Fingerknochen auf etwas zu zeigen schienen. Und tatsächlich: In einem Spalt zwischen zwei Steinen steckte ein Messer, dessen Griff ebenfalls mit Edelsteinen besetzt war. Ohne nachzudenken, griff er danach, zog es heraus, worauf sich einer der Mauersteine löste und einen Hohlraum freigab. Er entfernte noch weitere Steine aus der Wand, dann wurde es wieder finster. Was kommt denn jetzt noch?, fragte er sich, streckte seine Hand im Dunkeln aus und fasste in das Loch. Er bekam etwas Weiches zu fassen, griff zu, merkte, dass darunter etwas Metallisches war, zog es heraus und zündete eines seiner letzten Streichhölzer an: Er starrte auf einen halb verfaulten Stofffetzen, der um etwas Großes, Metallisches geschlagen war. Sein Mund war trocken, als er den Stoff abzog - und einen selbst unter all dem Dreck golden schimmernden Gegenstand in Händen hielt, der über und über mit Edelsteinen besetzt war. Er wusste nicht genau, was es war, das er da in Händen hielt: Ein prächtiger Strahlenkranz ging von der Mitte aus, unten besaß es einen massiven Fuß, der ebenfalls aus Gold zu sein schien. Fahrig suchte er im Dunkeln nach weiteren Gegenständen. Neben einigen Ringen ertastete er noch einen Kelch und zwei verzierte Armreifen. Er raffte seinen Fund zusammen, schlug alles notdürftig wieder in den Stoff ein und robbte damit weiter. Sein ganzes Denken kreiste nun nicht mehr um seinen Weg nach draußen, sondern um die geheimnisvollen Gegenstände. Wie sind sie hierhergekommen? Warum hat sie vor mir niemand entdeckt? Woher kommt das Loch in
dem Totenschädel? Bin ich jetzt reich? Er merkte gar nicht, wie der Gang um ihn herum sich weitete, immer geräumiger wurde. Erst als er statt Erde feuchte Holzplanken spürte, hielt er inne. Er erhob sich ganz langsam und stand plötzlich wieder aufrecht. Wo bin ich bloß?
Er kramte die Streichholzschachtel hervor. Nur noch ein Hölzchen befand sich darin. Er biss sich auf die Lippen: Das muss jetzt klappen. Atemlos stand er da, als sich die Flamme flackernd entzündete. Dann seufzte er erleichtert. Er ahnte, wo er war. Kaum eine halbe Stunde später atmete er wieder die klare, kalte Nachtluft. Der Gang hatte ihn in einen Hohlraum unter der Turmruine geführt, von dort hatte er sich mithilfe ein paar herumliegender Hölzer durch die brüchige Mauer einen Weg nach draußen gebahnt, wo Wotan winselnd einen Freudentanz um ihn herum vollführt hatte. Jetzt saß er in seinem Wagen und sog gierig den Rauch der Zigarette in seine Lungen. Seine neuen Polster waren ihm nun vollkommen egal. Er starrte nur ungläubig auf die Dinge, die er aus der Unterwelt mitgebracht hatte. Jetzt musste er eine Entscheidung treffen. Ein warmes Gefühl der Selbstzufriedenheit im Bauch sagte ihm, dass er den richtigen Entschluss gefasst hatte. Er lenkte seinen Wagen zielsicher durch die dunkle Kemptener Innenstadt. Außer den riesigen Köpfen auf den Wahlplakaten, die die Straßen säumten, war keine Menschenseele zu sehen. Als er anhielt und ausstieg, fiel sein Blick für einen Moment auf das Plakat in der Mitte des Rathausplatzes. Beim Anblick des dicken Mannes mit dem roten Kopf musste er grinsen. Dass ein Bayer Bundeskanzler werden könnte, schien selbst hier im Allgäu äußerst unwahrscheinlich. Doch die Wahl, für die er sich noch vor wenigen Stunden so brennend interessiert hatte, war ihm nun nicht mehr als einen flüchtigen Gedanken wert. »Komm, Wotan«, zischte er, nahm die Sachen vom Beifahrersitz und betrat das Gebäude.
»Moment, Hunde ham da herin nix zu ...« Der junge Mann am Schreibtisch verstummte mitten im Satz. Seine Augen weiteten sich, als die verdreckte Gestalt mit dem blutverkrusteten Gesicht in den Schein der Lampe trat. Der Mann wurde begleitet von einem nicht minder schmutzigen Dackel. »Kohler. Andreas Kohler mein Name, grüß Gott. Lassen Sie sich nicht von meinem Aussehen täuschen«, rief die Gestalt durch das Zimmer, lief zum Tresen und legte ohne weitere Erklärungen seine Fundstücke darauf. »Ich glaub, ich hab da was für Sie.« Dem jungen Beamten klappte der Kiefer nach unten. Er erhob sich langsam aus seinem Stuhl und ging auf den Tresen zu, wobei er die Gegenstände, die nun dort lagen, nicht aus den Augen ließ. Kohler schätzte den Polizeibeamten auf etwa fünfundzwanzig Jahre, auch wenn ihn sein schütteres Haar älter wirken ließ. Der Polizist war schlank und in seiner Uniform wirkte er sportlich. Als er den Tresen erreicht hatte, schluckte er und murmelte nur ein Wort: »Priml!« »Aus Dietmannsried?« »Aus Dietmannsried.« »Andreas Kohler, richtig?« »Richtig.« Der Beamte tippte die letzten Angaben umständlich in die Schreibmaschine ein, wobei er immer wieder fluchend unterbrach und mit Tipp-Ex auf dem Papier herummalte. Schließlich zog er den Bogen heraus und reichte ihn über den Tresen. »Gut, wenn Sie das Protokoll bitte hier unterschreiben, Herr Kohler.« »Und wie geht es jetzt weiter?« Der junge Beamte kratzte sich am Kopf. »Ehrlich gesagt: Das weiß ich nicht. Also, einen Schatz, das haben wir hier meines Wissens noch nie gehabt.« »Aber ich krieg doch eine Belohnung?« »Ja, sicher. Das steht Ihnen ja zu. Obwohl Sie die ja wohl garnicht nötig haben.« Der Polizist grinste und deutete durch die Scheibe auf das nagelneue graue Auto, das vor der Wache im Schein einer Laterne parkte. »Ja, schön, gell? Aber es gehört nicht mir.« Der Blick seines Gegenübers verfinsterte sich. »Ich meine, doch, doch, schon meins, aber ich bin Autoverkäufer und fahre immer die neuesten Vorführwagen.« »Sie meinen, der wär zu verkaufen?» Kohler hob die Augenbrauen. Warum sollte er nicht auch noch ein Geschäft machen, so ganz nebenbei, auf der Polizeiwache? Der Tag war ohnehin schon verrückt genug verlaufen. »Sind Sie interessiert?« »Mei, schon. Käme halt auf den Preis an. Was ist es denn für ein Modell?» »Ein Volkswagen. Der nagelneue Passat Variant - als Diesel. Ist erst seit ein paar Tagen auf dem Markt. Der hält ewig. Und ist sparsam obendrein.« »Sparsam?« Der Polizeibeamte zog interessiert die Brauen hoch. »Sie verstehen Ihr Handwerk. Aber ewig muss er ja gar nicht halten, bloß ein paar Jahre.«
Der Autoverkäufer fischte mit seinen schmutzigen Fingern eine Visitenkarte aus dem Geldbeutel. »Rufen Sie mich einfach an.« Dann winkte er seinem Hund und ging.
Dienstag, 7. September
»Himmelarsch!« Missmutig knallte Kluftinger die Fahrertür seines alten Passats zu. Dabei war er vor zwanzig Minuten noch leidlich gut gelaunt zu Hause aufgebrochen. Und die kurze Fahrt von seinem Wohnort Altusried bis zu seinem Büro in der Kemptener Innenstadt hatte ihn sogar noch fröhlicher gestimmt. Kluftinger liebte es, wenn sich der Sommer allmählich seinem Ende entgegenneigte. Endlich durfte man sich wieder guten Gewissens drinnen aufhalten, und seine Frau würde ihn nicht mehr mit absurden Vorschlägen wie »Wollen wir nicht zum Baden gehen?« traktieren. Über der Iller standen wieder erste Nebelschwaden, die ungemütliche Hitze des kurzen Sommers war einer herrlichen Frische gewichen, und die Septembersonne tauchte die Landschaft in mildes Licht. Doch wieder einmal hatte Kluftingers Freude über diesen wunderschönen Tag keinen Bestand angesichts eines beinahe allmorgendlichen Ärgernisses: Seit die Kemptener Kriminalpolizei vor einigen Monaten in ein neues Gebäude umgezogen war, gab es keine reservierten Parkplätze für die Mitarbeiter mehr. Noch nicht einmal für ihn als leitenden Kriminalhauptkommissar. Nur Dienstautos durften im Hof abgestellt werden. Aber er fuhr halt lieber mit seinem eigenen Wagen und rechnete die gefahrenen Kilometer ab. Er hatte einmal mittels eines komplizierten Rechenvorgangs, den er selbst nicht mehr nachvollziehen konnte, herausgefunden, dass ihm dies finanzielle Vorteile brachte. Nun wurde er das Gefühl nicht los, dass es sich bei der neuen Parkplatzregelung um eine Art Erziehungsmethode für renitente Selbstfahrer handelte. Aber er dachte nicht daran, mit dieser Gewohnheit zu brechen. Jetzt erst recht nicht! Dennoch verfluchte er sich regelmäßig dafür, denn hier in der Innenstadt waren die kostenfreien Parkplätze mehr als rar. Zwar gab es in hundert Meter Entfernung ein Parkhaus, in dem mittlerweile die meisten seiner Kollegen Plätze zu einem reduzierten Preis gemietet hatten, doch für Kluftinger kam das nie und nimmer infrage. Allein der Gedanke, dafür zu zahlen, dass er während der Arbeit sein Auto abstellen durfte, trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn.
Heute war es jedoch besonders schlimm. Kein einziger der ihm bekannten Gratisparkplätze war mehr frei gewesen. Und jetzt war er auch noch zu spät dran. Wenigstens bekam das sein oberster Vorgesetzter, Polizeipräsident Lodenbacher, nun nicht mehr mit. Denn der residierte weiterhin im Polizeikomplex am Stadtrand. Für Kluftinger eigentlich die beste Neuerung, die der Umzug mit sich gebracht hatte. Nach langer Suche überquerte der Kommissar nun mit hastigen Schritten die Straße. Er nickte dem Bordellbesitzer von nebenan freundlich zu, der wie fast jeden Morgen seinen ziemlich ungemütlich aussehenden Hund ausführte, von dem aber sowohl das Herrchen als auch die für ihn arbeitenden Frauen behaupteten, dass er ein »ganz ein Lieber« sei. Der Kommissar schmunzelte. Niemals hätte er gedacht, dass sich ein so gutes nachbarschaftliches Verhältnis zwischen den beiden doch so gegensätzlichen Etablissements entwickeln würde. Gedankenversunken stieg er die Treppe zu »seinem Stockwerk« hoch; sein Büro lag in der zweiten Etage. »So, so! Wenn die Katz ausm Haus is, tanzn die Mäus aufm Tisch, oda, Kluftinga? I glaub, i muass wieder a bisserl mehr kontrollieren, in Ihrem Saustall da heroben!« Kluftinger hielt kaum merklich einen kurzen Moment inne und schloss die Augen. Priml. Lodenbacher! Die iederbayerische Heimsuchung! Noch bevor er den Treppenabsatz erreicht hatte, presste er hervor: »Ah, Herr Lodenbacher, was verschafft uns denn heut schon so früh die ... Ehre?« Mit zusammengezogenen Brauen musterte der Polizeipräsident den Kommissar, auf dessen Stirn sich winzige Schweißtröpfchen bildeten - sei es wegen seines Zuspätkommens oder wegen des hastigen Tempos, mit dem er die Treppen genommen hatte. Schließlich fasste Lodenbacher den Kommissar am Arm und zog ihn in Richtung der Büros.
Copyright der Originalausgabe © 2011 by Piper Verlag GmbH, München
»Wotan?« Reglos lauschte er in die vorabendliche Stille hinein. Kein Laut. Er drehte sich einmal um die eigene Achse, doch das diffuse Licht der heraufziehenden Dämmerung, das durch die Wipfel der knorrigen Bäume hinunter zum feuchten Waldboden drang, ließ ihn nur wenige Meter weit sehen. »Wotan!« Wie immer, wenn er den Namen rief, war er ihm ein wenig peinlich. Selbst schuld, dachte er, niemand hat dich gezwungen, deinem winzigen Hund einen derart martialischen Namen zu geben. Aber er hatte den Kontrast so putzig gefunden: der kleine Dackel mit den krummen Beinchen und der Name der germanischen Gottheit. Langsam begann er sich Sorgen um ihn zu machen. Es war nicht Wotans Art, einfach so fortzulaufen. »Wotan?« Er schnippte seine Zigarette weg, trat sie aus und hielt inne. Hatte er da nicht etwas gehört? Er blickte zurück auf den Weg, der, mit Baumstämmen befestigt, hinunter ans Flussufer führte. Nichts. Vor ihm ragte das Plateau mit der Ruine auf. Bei ihrem Anblick fröstelte es ihn. Nebelschwaden hatten sich auf der Wiese ausgebreitet und hüllten die moosbewachsenen Steine des Turms in einen fahlen Schleier. Das Dämmerlicht hatte die Farben aus der Natur gewaschen, alles wirkte grau, trostlos und unheimlich. Er gestand es sich nur ungern ein, aber der Schauder, der von ihm Besitz ergriff, kam nicht von der Temperatur. Er versuchte sich einzureden, dass es nur die Angst um seinen Hund war, denn er wagte gar nicht, sich auszumalen, was passiert sein könnte, wenn Wotan nicht in Richtung Auto, sondern zum Steilufer gelaufen war. Mühelos hätte er unter den Latten des Zauns dort hindurchschlüpfen können, um dann ... Gerade als er seinen Blick mit einer bösen Vorahnung in Richtung Abgrund wandte, hörte er ihn. Es war ein ungewöhnlich aggressives Knurren, aber es kam zweifellos von seinem Hund. Ohne zu zögern, rannte er los, achtete nicht auf die Äste, die ihm ins Gesicht peitschten, sprang über Wurzeln und welkes Laub, blieb stehen und lauschte, den Kopf geneigt, den Blick unbestimmt in die Dämmerung gerichtet. Da! Erneut ein Knurren. Es kam ... er kniff die Augen zusammen, als könne er so seine Sinne schärfen ... ja, es kam eindeutig von der Lichtung. Aus der Richtung des Gedenksteins flog Erde und Laub in hohem Bogen auf die Lichtung. »Wotan!« Sein Hund scharrte wie verrückt in der Erde und knurrte den Waldboden an. Gar nicht auszudenken, was dieser Dreck auf den Polstern des neuen Autos anrichten würde. Nur noch Wotans Hinterteil ragte hinter dem Tuffstein hervor, dessen altertümliche Inschrift an die »Veste Alt-Kalden« erinnerte, eine mächtige Burg, die einst hier in Altusried gestanden hatte. Er erinnerte sich noch, dass irgendeine Katastrophe ihr ein jähes Ende bereitet hatte. »Hör - jetzt - auf!«, schrie er wutentbrannt, da das Tier nicht reagierte. Er stampfte dabei mit dem Fuß auf, was ein merkwürdig dumpfes Geräusch verursachte, als sei es unter der Grasnarbe hohl. Erschrocken hob der Dackel den Kopf, jaulte einmal kurz und kam auf ihn zu, da spürte der Mann einen Zug modriger Luft von unten, hörte das Krachen berstenden Holzes und fiel ins Bodenlose. Dann wurde es dunkel. Finsternis und Kälte. Mehr nahm er zunächst nicht wahr, als er wieder zu sich kam. Doch sofort gesellten sich rasende Kopfschmerzen hinzu, ein Hämmern hinter der Schläfe, als wolle ihm jemand von innen den Schädel sprengen. Unwillkürlich fasste er sich an den Kopf, spürte ein feuchtes, warmes Rinnsal und wusste, auch ohne es zu sehen, worum es sich dabei handelte: Blut. Sein
Blut. Urplötzlich drängte sein Mageninhalt mit aller Gewalt nach oben und er übergab sich heftig. Mit dem Handrücken fuhr er sich zittrig über den Mund. Er versuchte, seine Gedanken trotz des mörderischen Pochens in seinem Schädel zu sammeln. Was war passiert? Sein Spaziergang auf dem engen Waldweg zum Fluss fiel ihm wieder ein, der Aufstieg, die Ruine, der Stein, Wotans plötzliches Verschwinden ... »Wotan?«
Jetzt erst bemerkte er das verzweifelte Bellen über sich. Er legte den Kopf in den Nacken, was das Hämmern in seinen Schläfen noch verstärkte. Oder war es die Tatsache, dass über ihm nichts war als undurchdringliche Schwärze? Wie lange war ich weg? Er hatte keinerlei Gefühl für die Zeit, die seit seinem Sturz vergangen war. Sein Sturz! Hektisch tastete er seinen Körper ab. Er schien einigermaßen glimpflich davongekommen zu sein. Offensichtlich war nichts gebrochen, nur sein Schädel brummte erbärmlich. Doch die Erleichterung wurde sofort von einem beängstigenden Gedanken verdrängt: Wie sollte er hier je wieder rauskommen? Wotans Bellen klang, als käme es aus mindestens vier, fünf Metern Höhe. Der Hund musste an der Stelle stehen, wo er eingebrochen war, doch nicht ein einziger Lichtstrahl drang bis hier unten vor. Ächzend stand er auf, breitete die Arme aus und drehte sich mehrmals um die eigene Achse. Blind stolperte er ein paar Schritte nach links, bis er gegen eine feuchte Wand stieß. Seine Finger tasteten über behauene Steine. Er versuchte, sich an ihnen hochzuziehen, aber sie waren glitschig, und er fand keinen Halt. Verzweifelt ließ er sich zu Boden sinken und lehnte seinen malträtierten Kopf an die kühle Mauer. Was würde er jetzt für eine Zigarette geben. Er hielt inne. Die Streichhölzer! Aufgeregt kramte er sie aus seiner Hosentasche, schob die verbeulte Packung vorsichtig auf und zündete eines an. Zuerst fiel sein Blick auf seine vom Dreck beinahe schwarzen Finger. Sie zitterten, als er das Hölzchen hob. Die Wände des Lochs schienen im flackernden Schein der Flamme einen schaurigen Tanz aufzuführen. Sein Verlies maß höchstens fünf auf fünf Meter, und ihm war sofort klar, dass er keine Chance hatte, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien. Zu steil und glitschig waren die Wände. Er drehte sich noch ein Stückchen weiter, dann musste er das Streichholz fallen lassen, und es verlosch. »Scheiße«, zischte er. Es waren vielleicht noch ein Dutzend Hölzer in der Packung. Er musste sie sich gut einteilen. Auch wenn es hier unten stockfinster war, schloss er die Augen, um sich das Bild, das er sich von dem Raum gemacht hatte, noch einmal in Erinnerung zu rufen. Plötzlich riss er sie wieder auf. »Das Gitter«, flüsterte er, zündete ein weiteres Streichholz an und hielt es mit ausgestreckter Hand nach vorn. Tatsächlich, er hatte sich nicht getäuscht: In die gegenüberliegende Wand war ein rostiges Gitter eingelassen. Er starrte so fasziniert darauf, dass er die Flamme ganz vergaß und erst wieder daran dachte, als sie ihm die Fingerkuppe ansengte. Doch er ignorierte den Schmerz, krabbelte zu dem Gitter und rüttelte mit aller Kraft daran. Er merkte schnell, dass es nicht lange dauern würde, bis er es aus seiner Verankerung herausgerissen hätte. Stück für Stück löste es sich aus der Mauer. In einer letzten Anstrengung zerrte er keuchend daran, biss die Zähne zusammen, als das rostige Metall in seine Finger schnitt - und riss es schließlich mit einem Krachen aus der bröckeligen Steinwand. Er warf es neben sich und entzündete ein weiteres Streichholz: Vor ihm tat sich ein etwa fünfzig Zentimeter hoher Gang auf, der in eine ungewisse Schwärze führte.
Er hielt kurz inne und faltete die Hände. Da er nicht wusste, welcher Schutzheilige für seine missliche Situation zuständig war, schickte er einfach ein kurzes Stoßgebet gen Himmel. Er bekreuzigte sich hastig und kroch hinein. Schon nach wenigen Metern jedoch bereute er seine Entscheidung: Der Gang war so eng und schwarz, dass sich die Panik wie ein enger, dunkler Mantel um ihn legte. Er holte hektisch ein weiteres Streichholz heraus. Er brauchte
Licht, musste etwas sehen - und schrie auf. Direkt vor ihm, ausgestreckt auf dem Boden, lag ein Mensch. Das heißt: Das, was von ihm übrig war, denn er starrte direkt in die schwarzen Höhlen eines Totenschädels. Er erschrak so heftig, dass er das Streichholz fallen ließ, worauf er sofort ein neues entzündete. Der Schädel sah nicht so aus wie die Skelette, die er aus dem Fernsehen kannte. Dieser hier war nicht weiß, sondern dunkel, fast schwarz, und in seiner Stirn klaffte ein Loch. Er veränderte seine Haltung etwas, und das Licht der Flamme brach sich nun in Metall, offenbar Teile einer uralten Rüstung. Als er die knöchernen Überreste einer Hand sah, war seine Angst urplötzlich wie weggeblasen. Denn an einem der Finger prangte ein schillernder, blitzender Ring, dahinter lag ein mit Edelsteinen besetzter Armreif. In diesem Moment erlosch die Flamme wieder. Mein Gott, ein Schatz, dachte er, kramte ein weiteres Hölzchen heraus, nicht mehr darauf bedacht, es für seine beschwerliche Rückkehr an die Oberfläche aufzusparen. Er leuchtete den Boden ab, entdeckte die andere Hand, deren Fingerknochen auf etwas zu zeigen schienen. Und tatsächlich: In einem Spalt zwischen zwei Steinen steckte ein Messer, dessen Griff ebenfalls mit Edelsteinen besetzt war. Ohne nachzudenken, griff er danach, zog es heraus, worauf sich einer der Mauersteine löste und einen Hohlraum freigab. Er entfernte noch weitere Steine aus der Wand, dann wurde es wieder finster. Was kommt denn jetzt noch?, fragte er sich, streckte seine Hand im Dunkeln aus und fasste in das Loch. Er bekam etwas Weiches zu fassen, griff zu, merkte, dass darunter etwas Metallisches war, zog es heraus und zündete eines seiner letzten Streichhölzer an: Er starrte auf einen halb verfaulten Stofffetzen, der um etwas Großes, Metallisches geschlagen war. Sein Mund war trocken, als er den Stoff abzog - und einen selbst unter all dem Dreck golden schimmernden Gegenstand in Händen hielt, der über und über mit Edelsteinen besetzt war. Er wusste nicht genau, was es war, das er da in Händen hielt: Ein prächtiger Strahlenkranz ging von der Mitte aus, unten besaß es einen massiven Fuß, der ebenfalls aus Gold zu sein schien. Fahrig suchte er im Dunkeln nach weiteren Gegenständen. Neben einigen Ringen ertastete er noch einen Kelch und zwei verzierte Armreifen. Er raffte seinen Fund zusammen, schlug alles notdürftig wieder in den Stoff ein und robbte damit weiter. Sein ganzes Denken kreiste nun nicht mehr um seinen Weg nach draußen, sondern um die geheimnisvollen Gegenstände. Wie sind sie hierhergekommen? Warum hat sie vor mir niemand entdeckt? Woher kommt das Loch in
dem Totenschädel? Bin ich jetzt reich? Er merkte gar nicht, wie der Gang um ihn herum sich weitete, immer geräumiger wurde. Erst als er statt Erde feuchte Holzplanken spürte, hielt er inne. Er erhob sich ganz langsam und stand plötzlich wieder aufrecht. Wo bin ich bloß?
Er kramte die Streichholzschachtel hervor. Nur noch ein Hölzchen befand sich darin. Er biss sich auf die Lippen: Das muss jetzt klappen. Atemlos stand er da, als sich die Flamme flackernd entzündete. Dann seufzte er erleichtert. Er ahnte, wo er war. Kaum eine halbe Stunde später atmete er wieder die klare, kalte Nachtluft. Der Gang hatte ihn in einen Hohlraum unter der Turmruine geführt, von dort hatte er sich mithilfe ein paar herumliegender Hölzer durch die brüchige Mauer einen Weg nach draußen gebahnt, wo Wotan winselnd einen Freudentanz um ihn herum vollführt hatte. Jetzt saß er in seinem Wagen und sog gierig den Rauch der Zigarette in seine Lungen. Seine neuen Polster waren ihm nun vollkommen egal. Er starrte nur ungläubig auf die Dinge, die er aus der Unterwelt mitgebracht hatte. Jetzt musste er eine Entscheidung treffen. Ein warmes Gefühl der Selbstzufriedenheit im Bauch sagte ihm, dass er den richtigen Entschluss gefasst hatte. Er lenkte seinen Wagen zielsicher durch die dunkle Kemptener Innenstadt. Außer den riesigen Köpfen auf den Wahlplakaten, die die Straßen säumten, war keine Menschenseele zu sehen. Als er anhielt und ausstieg, fiel sein Blick für einen Moment auf das Plakat in der Mitte des Rathausplatzes. Beim Anblick des dicken Mannes mit dem roten Kopf musste er grinsen. Dass ein Bayer Bundeskanzler werden könnte, schien selbst hier im Allgäu äußerst unwahrscheinlich. Doch die Wahl, für die er sich noch vor wenigen Stunden so brennend interessiert hatte, war ihm nun nicht mehr als einen flüchtigen Gedanken wert. »Komm, Wotan«, zischte er, nahm die Sachen vom Beifahrersitz und betrat das Gebäude.
»Moment, Hunde ham da herin nix zu ...« Der junge Mann am Schreibtisch verstummte mitten im Satz. Seine Augen weiteten sich, als die verdreckte Gestalt mit dem blutverkrusteten Gesicht in den Schein der Lampe trat. Der Mann wurde begleitet von einem nicht minder schmutzigen Dackel. »Kohler. Andreas Kohler mein Name, grüß Gott. Lassen Sie sich nicht von meinem Aussehen täuschen«, rief die Gestalt durch das Zimmer, lief zum Tresen und legte ohne weitere Erklärungen seine Fundstücke darauf. »Ich glaub, ich hab da was für Sie.« Dem jungen Beamten klappte der Kiefer nach unten. Er erhob sich langsam aus seinem Stuhl und ging auf den Tresen zu, wobei er die Gegenstände, die nun dort lagen, nicht aus den Augen ließ. Kohler schätzte den Polizeibeamten auf etwa fünfundzwanzig Jahre, auch wenn ihn sein schütteres Haar älter wirken ließ. Der Polizist war schlank und in seiner Uniform wirkte er sportlich. Als er den Tresen erreicht hatte, schluckte er und murmelte nur ein Wort: »Priml!« »Aus Dietmannsried?« »Aus Dietmannsried.« »Andreas Kohler, richtig?« »Richtig.« Der Beamte tippte die letzten Angaben umständlich in die Schreibmaschine ein, wobei er immer wieder fluchend unterbrach und mit Tipp-Ex auf dem Papier herummalte. Schließlich zog er den Bogen heraus und reichte ihn über den Tresen. »Gut, wenn Sie das Protokoll bitte hier unterschreiben, Herr Kohler.« »Und wie geht es jetzt weiter?« Der junge Beamte kratzte sich am Kopf. »Ehrlich gesagt: Das weiß ich nicht. Also, einen Schatz, das haben wir hier meines Wissens noch nie gehabt.« »Aber ich krieg doch eine Belohnung?« »Ja, sicher. Das steht Ihnen ja zu. Obwohl Sie die ja wohl garnicht nötig haben.« Der Polizist grinste und deutete durch die Scheibe auf das nagelneue graue Auto, das vor der Wache im Schein einer Laterne parkte. »Ja, schön, gell? Aber es gehört nicht mir.« Der Blick seines Gegenübers verfinsterte sich. »Ich meine, doch, doch, schon meins, aber ich bin Autoverkäufer und fahre immer die neuesten Vorführwagen.« »Sie meinen, der wär zu verkaufen?» Kohler hob die Augenbrauen. Warum sollte er nicht auch noch ein Geschäft machen, so ganz nebenbei, auf der Polizeiwache? Der Tag war ohnehin schon verrückt genug verlaufen. »Sind Sie interessiert?« »Mei, schon. Käme halt auf den Preis an. Was ist es denn für ein Modell?» »Ein Volkswagen. Der nagelneue Passat Variant - als Diesel. Ist erst seit ein paar Tagen auf dem Markt. Der hält ewig. Und ist sparsam obendrein.« »Sparsam?« Der Polizeibeamte zog interessiert die Brauen hoch. »Sie verstehen Ihr Handwerk. Aber ewig muss er ja gar nicht halten, bloß ein paar Jahre.«
Der Autoverkäufer fischte mit seinen schmutzigen Fingern eine Visitenkarte aus dem Geldbeutel. »Rufen Sie mich einfach an.« Dann winkte er seinem Hund und ging.
Dienstag, 7. September
»Himmelarsch!« Missmutig knallte Kluftinger die Fahrertür seines alten Passats zu. Dabei war er vor zwanzig Minuten noch leidlich gut gelaunt zu Hause aufgebrochen. Und die kurze Fahrt von seinem Wohnort Altusried bis zu seinem Büro in der Kemptener Innenstadt hatte ihn sogar noch fröhlicher gestimmt. Kluftinger liebte es, wenn sich der Sommer allmählich seinem Ende entgegenneigte. Endlich durfte man sich wieder guten Gewissens drinnen aufhalten, und seine Frau würde ihn nicht mehr mit absurden Vorschlägen wie »Wollen wir nicht zum Baden gehen?« traktieren. Über der Iller standen wieder erste Nebelschwaden, die ungemütliche Hitze des kurzen Sommers war einer herrlichen Frische gewichen, und die Septembersonne tauchte die Landschaft in mildes Licht. Doch wieder einmal hatte Kluftingers Freude über diesen wunderschönen Tag keinen Bestand angesichts eines beinahe allmorgendlichen Ärgernisses: Seit die Kemptener Kriminalpolizei vor einigen Monaten in ein neues Gebäude umgezogen war, gab es keine reservierten Parkplätze für die Mitarbeiter mehr. Noch nicht einmal für ihn als leitenden Kriminalhauptkommissar. Nur Dienstautos durften im Hof abgestellt werden. Aber er fuhr halt lieber mit seinem eigenen Wagen und rechnete die gefahrenen Kilometer ab. Er hatte einmal mittels eines komplizierten Rechenvorgangs, den er selbst nicht mehr nachvollziehen konnte, herausgefunden, dass ihm dies finanzielle Vorteile brachte. Nun wurde er das Gefühl nicht los, dass es sich bei der neuen Parkplatzregelung um eine Art Erziehungsmethode für renitente Selbstfahrer handelte. Aber er dachte nicht daran, mit dieser Gewohnheit zu brechen. Jetzt erst recht nicht! Dennoch verfluchte er sich regelmäßig dafür, denn hier in der Innenstadt waren die kostenfreien Parkplätze mehr als rar. Zwar gab es in hundert Meter Entfernung ein Parkhaus, in dem mittlerweile die meisten seiner Kollegen Plätze zu einem reduzierten Preis gemietet hatten, doch für Kluftinger kam das nie und nimmer infrage. Allein der Gedanke, dafür zu zahlen, dass er während der Arbeit sein Auto abstellen durfte, trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn.
Heute war es jedoch besonders schlimm. Kein einziger der ihm bekannten Gratisparkplätze war mehr frei gewesen. Und jetzt war er auch noch zu spät dran. Wenigstens bekam das sein oberster Vorgesetzter, Polizeipräsident Lodenbacher, nun nicht mehr mit. Denn der residierte weiterhin im Polizeikomplex am Stadtrand. Für Kluftinger eigentlich die beste Neuerung, die der Umzug mit sich gebracht hatte. Nach langer Suche überquerte der Kommissar nun mit hastigen Schritten die Straße. Er nickte dem Bordellbesitzer von nebenan freundlich zu, der wie fast jeden Morgen seinen ziemlich ungemütlich aussehenden Hund ausführte, von dem aber sowohl das Herrchen als auch die für ihn arbeitenden Frauen behaupteten, dass er ein »ganz ein Lieber« sei. Der Kommissar schmunzelte. Niemals hätte er gedacht, dass sich ein so gutes nachbarschaftliches Verhältnis zwischen den beiden doch so gegensätzlichen Etablissements entwickeln würde. Gedankenversunken stieg er die Treppe zu »seinem Stockwerk« hoch; sein Büro lag in der zweiten Etage. »So, so! Wenn die Katz ausm Haus is, tanzn die Mäus aufm Tisch, oda, Kluftinga? I glaub, i muass wieder a bisserl mehr kontrollieren, in Ihrem Saustall da heroben!« Kluftinger hielt kaum merklich einen kurzen Moment inne und schloss die Augen. Priml. Lodenbacher! Die iederbayerische Heimsuchung! Noch bevor er den Treppenabsatz erreicht hatte, presste er hervor: »Ah, Herr Lodenbacher, was verschafft uns denn heut schon so früh die ... Ehre?« Mit zusammengezogenen Brauen musterte der Polizeipräsident den Kommissar, auf dessen Stirn sich winzige Schweißtröpfchen bildeten - sei es wegen seines Zuspätkommens oder wegen des hastigen Tempos, mit dem er die Treppen genommen hatte. Schließlich fasste Lodenbacher den Kommissar am Arm und zog ihn in Richtung der Büros.
Copyright der Originalausgabe © 2011 by Piper Verlag GmbH, München
... weniger
Autoren-Porträt von Volker Klüpfel, Michael Kobr
Volker Klüpfel hat viele Jahre in Altusried gewohnt. Wer dort aufwächst, verfällt für gewöhnlich der Schauspielerei mit Leib und Seele. Bei Freilichtspielen und vielen Inszenierungen im Theaterkästle wirkte er mit. Seine neue Leidenschaft heißt allerdings: Krimis schreiben. Klüpfel, Redakteur in der Kultur-/ Journal-Redaktion der Augsburger Allgemeinen, studierte vor seinem Einstieg in den Redakteursberuf Politikwissenschaft, Journalistik und Geschichte in Bamberg, arbeitete als Praktikant bei einer Zeitung in den USA und beim Bayerischen Rundfunk.Michael Kobr, geb. 1973 in Kempten, aufgewachsen in Kempten und Durach, ist Realschullehrer für Deutsch und Französisch. Mit seiner Frau und seinen Töchtern lebt er im Allgäu.
Die beiden Autoren sind seit ihrer Schulzeit befreundet und erhielten 2008 für "Laienspiel" den Corine Weltbild-Leserpreis.
Autoren-Interview mit Volker Klüpfel
»Unter uns Pfarrerstöchtern ...« Von den Autoren (A) Klüpfel und Kobr wurde das Treffen mit Spannung erwartet: Zum ersten Mal sollten sie mit Kommissar (K) Kluftinger zusammentreffen, dessen beruflichen Alltag und privates Leben sie in ihrer Romanreihe öffentlich machen.
Unzählige Fragen hatten sie sich zurechtgelegt und danken wollten sie dem Vorzeigepolizisten aus dem Allgäu auch. Doch dann kam alles ganz anders ...
A: Grüß Gott, Herr Kommissar, es ist für uns eine große Ehre, Sie ...
K: Sie sind das also, die das ...Zeug da immer schreiben über mich?
A: Ja, das sind wir.
K: (betrachtet sie lange) Aha, so was hab ich mir schon gedacht.
A: Wir verstehen nicht ganz ...
K: Na ja, ein siebeng'scheiter Lehrer und so ein Journalisten-Fatzke. Geht's eigentlich noch? Wisst ihr, was ich mir jeden Abend anhören kann von der Erika?
A: Aber Sie sind doch jetzt berühmt ... irgendwie.
K: Eben! Meine Frau liegt mir deshalb doch immer in den Ohren: Da hast du's, jetzt wissen alle, wie unordentlich du bist. Wie du wieder aussiehst mit deinem zu engen Trachtenjäckle!
A: Aber Sie sind doch ein stattlicher Mann.
K: Aufpassen, Bua, gell! Und jetzt mal zum Doktor. Das ist ja auch unmöglich, was ihr mit dem anstellt!
A: Finden Sie, er kommt zu schlecht weg?
K: Nein, viel zu gut! Wisst ihr, wie sich seine Sprechstundenhilfe inzwischen am Telefon melden muss? Praxis Dr. Martin Langhammer, bekannt aus Funk und Fernsehen, was kann ich für Sie tun?
A: Was schlagen Sie vor?
K: Mei, ich weiß auch nicht. So ein kleiner Unfall vielleicht ... oder
... mehr
eine Privatinsolvenz?
A: Aber die Leser würden nur ungern auf ihn verzichten.
K: Die Leser sind mir scheißegal. Denen ist doch auch wurscht, wie ich mich abplagen muss! Komische Leut müssen das sein.
A: Nein, die sind sehr nett. Wir haben noch viel vor mit dem Doktor. Und mit Ihnen. Da wäre als Nächstes die Geschichte mit dem Schatz in Altusried.
K: (entsetzt) Was? Aber das mit dem Auto und meinem ersten Flug, das habt ihr doch nicht geschrieben, oder?
A: Ich fürchte doch.
K: Ja, seid's ihr narrisch? (denkt nach) Ich hätt einen besseren Vorschlag. Könnt ihr nicht mal schreiben, wie ich ein Theater anschau? Oder ein Ballett vielleicht.
A: Aber das glaubt uns doch keiner.
K: Nicht? Schade! Aber jetzt mal unter uns Pfarrerstöchtern: Da kommt doch ganz schön was rum bei der Schreiberei, oder?
A: Wie meinen Sie das?
K: Jetzt stellt's euch nicht blöder, als ihr seid. (er reibt Daumen und Zeigefinger aneinander) Diridari ...
A: Ach so, ja gut, wir haben unser Auskommen.
K: Wie wär's, wenn wir uns da auf einen Obolus für mich einigen könnten? Ein neues Auto wär vielleicht nicht verkehrt ...
A: Was würde denn der Lodenbacher dazu sagen?
K: (bekommt große Augen) Der Lodenbacher? Ach so, ja, nein, das war ja jetzt eh bloß Spaß. Ha! Ich will doch nicht von so einem Geschreibsel profitieren. Liest denn das überhaupt jemand?
A: Ja, ein paar Millionen.
K: MILLIONEN? Kreizkruzifix, jetzt wundert mich nix mehr. Wenn ich zum Verhör erscheine, dann lachen die meisten Verbrecher ja inzwischen nur noch. Und stellen mir blöde Fragen: »Na, im Hotel wieder die Pröbchen eingepackt?«
A: Sagen Sie, wir hätten da eine wichtige Frage: Würden Sie uns ihre Vornamen verraten?
Kluftinger zeigt ihnen seinen Dienstausweis.
A: Oh ... das ... tut uns natürlich leid. Da bleiben wir vielleicht doch lieber bei »Klufti«.
K: Gibt's noch was? Ich müsst wieder was arbeiten, bei mir türmen sich die Akten.
A: Wo denn?
K: (blickt sich um, Schreibtisch und Schränke sind leer) Ui, wie habt's ihr denn jetzt des gemacht?
A: Ich bitte Sie, Herr Kluftinger, wir sind Ihre Autoren, wir können alles machen.
K: (steht auf) Also, das wird mir langsam ein bissle ... unheimlich. Das hat mich jetzt ja wirklich sehr gefreut, dass Sie da waren, gell? Und nix für ungut. ... Pfia Gott, gell?
Interview aus "Zwei Einzelzimmer, bitte!" von Volker Klüpfel und Michael Kobr
A: Aber die Leser würden nur ungern auf ihn verzichten.
K: Die Leser sind mir scheißegal. Denen ist doch auch wurscht, wie ich mich abplagen muss! Komische Leut müssen das sein.
A: Nein, die sind sehr nett. Wir haben noch viel vor mit dem Doktor. Und mit Ihnen. Da wäre als Nächstes die Geschichte mit dem Schatz in Altusried.
K: (entsetzt) Was? Aber das mit dem Auto und meinem ersten Flug, das habt ihr doch nicht geschrieben, oder?
A: Ich fürchte doch.
K: Ja, seid's ihr narrisch? (denkt nach) Ich hätt einen besseren Vorschlag. Könnt ihr nicht mal schreiben, wie ich ein Theater anschau? Oder ein Ballett vielleicht.
A: Aber das glaubt uns doch keiner.
K: Nicht? Schade! Aber jetzt mal unter uns Pfarrerstöchtern: Da kommt doch ganz schön was rum bei der Schreiberei, oder?
A: Wie meinen Sie das?
K: Jetzt stellt's euch nicht blöder, als ihr seid. (er reibt Daumen und Zeigefinger aneinander) Diridari ...
A: Ach so, ja gut, wir haben unser Auskommen.
K: Wie wär's, wenn wir uns da auf einen Obolus für mich einigen könnten? Ein neues Auto wär vielleicht nicht verkehrt ...
A: Was würde denn der Lodenbacher dazu sagen?
K: (bekommt große Augen) Der Lodenbacher? Ach so, ja, nein, das war ja jetzt eh bloß Spaß. Ha! Ich will doch nicht von so einem Geschreibsel profitieren. Liest denn das überhaupt jemand?
A: Ja, ein paar Millionen.
K: MILLIONEN? Kreizkruzifix, jetzt wundert mich nix mehr. Wenn ich zum Verhör erscheine, dann lachen die meisten Verbrecher ja inzwischen nur noch. Und stellen mir blöde Fragen: »Na, im Hotel wieder die Pröbchen eingepackt?«
A: Sagen Sie, wir hätten da eine wichtige Frage: Würden Sie uns ihre Vornamen verraten?
Kluftinger zeigt ihnen seinen Dienstausweis.
A: Oh ... das ... tut uns natürlich leid. Da bleiben wir vielleicht doch lieber bei »Klufti«.
K: Gibt's noch was? Ich müsst wieder was arbeiten, bei mir türmen sich die Akten.
A: Wo denn?
K: (blickt sich um, Schreibtisch und Schränke sind leer) Ui, wie habt's ihr denn jetzt des gemacht?
A: Ich bitte Sie, Herr Kluftinger, wir sind Ihre Autoren, wir können alles machen.
K: (steht auf) Also, das wird mir langsam ein bissle ... unheimlich. Das hat mich jetzt ja wirklich sehr gefreut, dass Sie da waren, gell? Und nix für ungut. ... Pfia Gott, gell?
Interview aus "Zwei Einzelzimmer, bitte!" von Volker Klüpfel und Michael Kobr
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Volker Klüpfel , Michael Kobr
- 2012, 1, 432 Seiten, Maße: 13,7 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009353
- ISBN-13: 9783868009354
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