Schweig still, mein Kind
Alte Geheimnisse und mysteriöser Volksglaube - ein Psychokrimi, der unter die Haut geht.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schweig still, mein Kind “
Alte Geheimnisse und mysteriöser Volksglaube - ein Psychokrimi, der unter die Haut geht.
Ein 500-Seelen-Dorf im Schwarzwald. Das pure Idyll, so scheint es. Dann liegt in der nahen Rabenschlucht eine tote Schwangere. Sie war gerade erst nach zehn Jahren in ihre Heimat zurückgekehrt. Hauptkommissar Ehrlinspiel nimmt die Ermittlungen auf - und stößt auf mehr als ein düsteres Dorfgeheimnis. Und eine zweite Leiche.
Lese-Probe zu „Schweig still, mein Kind “
Schweig still, mein Kind von Petra BuschProlog
Anfang Dezember
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Der Schnee schluckt sein Wimmern.
Er sieht auf den Boden. Kommen die weinenden Laute überhaupt aus seinem eigenen Mund? Langsam bückt er sich und berührt vorsichtig die kleine weiße Stirn. Sie ist warm. Er geht in die Hocke und streicht über die Wangen. Abrupt zieht er seine Hand zurück. Die Haut fühlt sich an wie die Blätter einer Rosenblüte, schießt es ihm durch den Kopf. Dann tippt er vorsichtig gegen die kleine Hand, die unter der bunten Decke hervorragt. Sie liegt auf der dünnen Schneeschicht, zu einer schlaffen Faust geballt, greift nicht mehr nach seinen rauhen Fingern. Er bringt seinen Oberkörper dicht über das winzige Gesicht, studiert jeden Zentimeter. Geschlossene Augen-lider, fast durchsichtig. Goldene Wimpern und Härchen, bleich im Abendlicht. Blasse Lippen, leicht geöffnet, als wollte sich noch ein letzter Ruf in die klirrende Dezemberkälte hinausstehlen.
Er merkt, dass er zittert. Er versteht das alles nicht. Der leblose kleine Körper. Und das Beben seiner Hände und Beine. Er zittert sonst nie. Selbst wenn er im Winter zwischen den kahlen Bäumen übernachtet oder mit der Axt das Eis vom Weiher schlägt, um ein paar Züge zu schwimmen, spürt er keine Kälte.
Er versucht, seine Gedanken auf das Baby zu richten, will nachdenken, aber es gelingt ihm nicht. Die Bilder purzeln in seinem Kopf hin und her. Das stille Haus. Die schlafen-de Mutter neben der Wiege. Seine schleichenden Schritte. Es war ihm schwergefallen, leise zu sein. Er hatte die Stiefel ausziehen müssen. Fast hätte er den Reim gesummt. Aber das durfte er nicht. Heute war es verboten. Und dann, später, war das Kind zu Boden gefallen. Leicht und leise wie eine Schneeflocke, direkt vor seine Füße, die Zipfel der Decke hatten für den Bruchteil von Sekunden wie die Flügel eines Raben geflattert. Er mag die Vögel. Und er mag Schneeflocken. Sie schweben so sanft, hüllen die Welt in Stille.
Plötzlich schneidet die Stimme durch seinen Schädel. »Du musst es verschwinden lassen«, sagt sie.
Verwirrt richtet er sich auf, stiert um sich.
»Niemand darf es wissen!«
Er hält sich die Ohren zu, schüttelt den Kopf. Warum? Warum soll es niemand wissen? Er versteht nicht. So hat er es doch gelernt: Sünde braucht Buße. Er tut nichts Unrechtes. Er hat das Kind aus dem Bettchen holen müssen. Das war sein Auftrag. Es war richtig gewesen. Sie würden ihn dafür loben!
»Bring es weg, versteck es! «
Er presst die Hände fester auf seine Ohren, biegt die Schultern nach vorne und krümmt den Oberkörper zusammen, bis er glaubt, nichts mehr wahrzunehmen. Doch die Wörter hallen unbarmherzig in seinem Inneren.
»Du musst es fortschaffen! Du willst doch dein Leben nicht ruinieren! Komm, komm!«
Er weiß, dass er der Stimme gehorchen muss. Das war schon immer so gewesen.
Ein Rabe beginnt zu krächzen. Er drückt noch fester auf seine Ohren. Nein, nicht jetzt! Weg! Weg! Der Schrei des Vogels droht seinen Kopf zu sprengen, er schmerzt. Er muss sich konzentrieren, Ruhe haben. Der Rabe schreit erneut. Zorn erfasst ihn, während er den Blick starr nach unten gerichtet hält. »Krah!«, brüllt er zurück, und ein ersticktes Echo verfängt sich in den Bäumen. »Krah!«
Der Rabe verstummt. Stille senkt sich über die fahle Ebe-ne. Er reißt die Arme herunter, ganz dicht an seine Seiten. Dann beginnt er, seinen Körper rhythmisch vor- und zu-rückzubewegen. Doch das Zittern endet nicht.
»Los jetzt«, zischt die Stimme und windet sich zwischen seinen Schläfen wie eine dünne Schlange. »Beeil dich! Du kannst das Kind nicht hier liegen lassen. Und zurück kannst du es auch nicht bringen.«
Erschrocken hält er inne und dreht sich dann mit einem Ruck um. Ein Stück unter ihm, jenseits des Waldes, zieht sich eine verschneite Wiese den Hang hinab. Er kann die Häuser an ihrem Ende nicht erkennen. Die weiße Fläche verliert sich im dämmrigen Nichts.
Die Stimme hat recht. Er kann nicht zurück.
Wieder sieht er auf das Kind hinunter. Die Lippen haben sich inzwischen blau verfärbt, und unter seinem Kopf sickert ein schmales rotes Rinnsal in den Schnee.
Da lacht er. Kurz. Rauh. Die Räder in seinem Gehirn laufen nun rund. Das Kind war nicht verloren! Er würde dieses Leben bewahren! Die Bilder in seinem Kopf ordnen sich, schieben sich zu einem neuen Bild zusammen. Rosa Osiria. Er hebt den Säugling vom Boden auf und birgt ihn vor seiner Brust unter der Kleidung.
Später, in der Nacht, setzt starker Schneefall ein. Schon bald sind seine Fußspuren verschwunden.
1
Fast zehn Jahre später.
Donnerstag, 19. November
Ihre Karriere war zweifelsfrei im Eimer. Alles, was sie mit diesem Idioten noch zu tun haben wollte, war, ihm einen kräftigen Tritt in seinen fetten Walross-Hintern zu versetzen. Nach dem Gespräch hatte sie ihm einen vernichten-den Blick zugeworfen und war erhobenen Hauptes und zum letzten Mal aus seinem Büro stolziert. Als sie früher als üblich nach Hause gekommen war, hatte Sven sich mit der Verkäuferin aus dem Computerladen im Bett vergnügt. Sein Golden Retriever hatte danebengesessen und sie schwanzwedelnd begrüßt.
Hanna Brock stapfte den steilen Pfad hinauf und fluchte laut über die Brombeerranken und Äste, die sich durch ihre neue Trekkinghose hindurchbohrten. Ihre Wanderschuhe waren noch immer nicht eingelaufen, und sie hatte ihre Zehen vorsorglich mit Pflastern verklebt.
In den letzten Wochen war sie oft in Versuchung geraten, einfach wieder nach Hamburg zurückzufahren. Aber diesen Triumph wollte sie dem Walross nicht gönnen. Bestimmt würde er sich vor Schadenfreude auf die feisten Schenkel klopfen und laut lachen. Und Sven würde um Vergebung winseln und sich in Selbstmitleid suhlen, weil sie seine täglichen Anrufversuche ignoriert hatte. Nein! Sie hatte genug von Männern, die sie hintergingen. Außerdem hatte sie hier einen Job zu erledigen. Und wenn sie so weitermachte, würde sie auch den noch in den Sand setzen. Verdammt!
Als der Pfad endlich auf einen breiteren Weg stieß, hielt sie erleichtert an und setzte sich auf einen großen Stein. Sie musste über eine Stunde gelaufen sein, seit sie um neun Uhr früh aus dem Auto gestiegen und Richtung Südwesten gegangen war. Hanna schnupperte prüfend unter ihrer Achsel und rümpfte die Nase. Was soll's, dachte sie. Ich muss heute weder Gisele Bündchen am Laufsteg interviewen noch mit Fatih Akin über sein neuestes Hollywoodprojekt plaudern. Und mit den Cocktailpartys war es auch vorbei. Es war ein aufregendes Leben gewesen, und sie hatte es in vollen Zügen genossen. Bis diese Sache begonnen hatte.
Hanna öffnete ihren Rucksack und zog die Wanderkarte heraus. Wenn sie sich dort befand, wo sie vermutete, lag das nächste Dorf nur einen knappen halben Kilometer entfernt, direkt unterhalb des Tannenwaldes. Bis zu ihrem eigentlichen Ziel konnten es also höchstens noch dreißig Minuten Fußmarsch sein. Kurz überlegte sie, einen Abstecher in das Dorf einzuschieben, verwarf den Gedanken jedoch. Die Karte wies es als Ort mit rund fünfhundert Einwohnern aus - eine Ansammlung kleiner hellgrauer Rechtecke, ein paar einzelne Quadrate, verstreute Bauern-höfe. Ein hübsches Café würde sie dort kaum finden, und zudem stand ihr der Sinn nicht nach verschrobenen Bauern und einem Haufen stinkender Kühe. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie man in dieser Gegend überhaupt leben konnte. Ein Kaff war langweiliger als das andere. Zum Glück musste sie nicht jedes in ihren Wanderführer aufnehmen.
Entschlossen stopfte sie die Karte in den Rucksack zurück. Sie würde auch ohne Stärkung auskommen. Bis zum Mittag würde sie die Rabenschlucht erkunden, sich Notizen machen und ein paar Fotos schießen. Dann schnur-stracks zum Parkplatz zurückgehen, zwei Stunden später wieder in der Zivilisation sein und sich dort einen großen Salat mit Thunfisch und zwei doppelte Espressi genehmigen. Am Nachmittag bliebe ihr genügend Zeit, um die Aufzeichnungen der letzten Tage in ihren Laptop einzugeben. Und sich zu entspannen.
Hanna presste die Lippen aufeinander.
Der Laptop, ein silbermattes und teures MacBook Pro, war ein Geschenk von Sven gewesen. Sie hatte ihn im Sommer zum achtunddreißigsten Geburtstag bekommen. Die Szene stand ihr noch deutlich vor Augen.
»Nur das Beste für meine Beste«, hatte er gesagt und ihr strahlend das flache Päckchen überreicht.
»Du Schuft«, hatte sie augenzwinkernd erwidert, denn Sven hatte ihren Wunsch stets als Spinnerei abgetan. »Wie komme ich so plötzlich zu der Ehre? Hast du etwa ein schlechtes Gewissen? Oder willst du etwas von mir?«
Grinsend hatte er ihre Hüften umfasst. »Sicher, Schatz. Ich will immer etwas von dir.« Und dann hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, drei Wochen Luxushotel auf Hawaii inklusive.
»Stell dir das mal vor! Von morgens bis abends nur Sonne, Sex und sich faul am Strand rekeln.«
Zornig trat Hanna nach einer Wurzel. Wo Sven sich jetzt rekelte, wollte sie gar nicht wissen.
Sie stand auf und rieb sich die ausgekühlten Glieder. Es war Mitte November, und obwohl der Wetterbericht für die Jahreszeit ungewohnt milde Temperaturen vorausgesagt hatte, war es kühl und nass. Die zähen Nebelschleier zwischen den Tannenwipfeln passten hervorragend zu ihren finsteren Gedanken.
Hanna ging weiter, bis sich die Nadelbäume lichteten. Buchen mit dunkelgelben Blättern setzten jetzt farbige Tupfer zwischen die fast schwarz anmutenden Tannen. Der Boden war mit dickem Moos überwuchert, das sich tiefgrün über Wurzelstöcke und Felsbrocken den Abhang hin unterzog. Hanna hörte ein leises Rauschen und blieb stehen. Das musste der Fluss sein, der sich tief in das Tal unter ihr gegraben hatte. Die Rabenschlucht.
Ob es hier wohl etwas Lohnendes zu entdecken gab? Bei ihren Vorrecherchen war sie weder in den Schwarzwaldführern noch im Internet auf verwertbare Fakten gestoßen. Sie hatte lediglich herausgefunden, dass auf einem Felsplateau in der Rabenschlucht einst eine Hinrichtung stattgefunden haben sollte. Und dass die alten Einheimischen sich noch heute alle möglichen Gruselgeschichten davon erzählten.
Das Rauschen schwoll an und begleitete sie den steiler werdenden Berg hinauf. Keuchend verwünschte sie ihre schlechte Kondition, als der Weg sich nun beinahe senkrecht in kleinen Serpentinen und zwischen Steinblöcken und Bäumen hindurch nach oben wand. Der Untergrund war glitschig, der Weg kaum mehr als ein matschiger Schlammpfad. Kein Geländer bot Schutz vor einem Sturz in den Abgrund, kein Schild mahnte den Wanderer zur Vorsicht. Offenbar war sie eines der überaus seltenen Exemplare Mensch, die dämlich genug waren, sich im kalten, nebligen Spätherbst und in etwa so klettertauglich wie ein holzwurmgeplagter Pinocchio diesen halsbrecherischen Viehpfad hinaufzuquälen.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, tastete sich von einem festen Stück Boden zum nächsten. Schließlich wurde das Gelände eben, und vor ihr ragte das Felsplateau auf. Schwer atmend blieb sie stehen, strich sich die schweißverklebten Haarsträhnen aus dem Gesicht und blickte hinauf.
Aus einem dreieckigen Felsspalt sprudelte mit lautem Dröhnen eine Fontäne kristallklaren Wassers hervor. Sie ergoss sich auf eine darunterliegende, weitläufige Felsplatte und stürzte von dort in unzähligen kleinen Rinnsalen die zerklüftete Tiefe hinab, die das Plateau wie ein Festungsgraben umgab. Die Bäche schienen einander zu jagen. Unten vereinten sie sich in einem Becken und tosten von dort als reißender Strom durch das Tal.
»Wow«, sagte Hanna leise, »nicht schlecht.«
Sie kramte ihre kleine Digitalkamera aus dem Rucksack, machte ein paar Bilder und überlegte, ob sie versuchen sollte, über den Abgrund und die Felsen bis ganz zum Plateau hinaufzuklettern. Einen Zugang sah sie nicht, aber sie hatte im Internet gelesen, dass es einen geben und der Ausblick von oben ebenso grandios wie die Kletterpartie riskant sein sollte.
Neugierig umrundete sie das Felsgebilde, konnte aber keinen Weg hinauf entdecken. Nach einer halben Stunde gab sie die Suche auf.
Den rutschigen Steig, der sie hergeführt hatte, wollte sie kein zweites Mal gehen. Umso mehr freute sie sich, als sie einen überwucherten Nebenpfad bemerkte. Sicher würde er nach unten führen und früher oder später in die Straße zum Parkplatz münden. Lieber würde sie sich Arme und Beine im Unterholz zerschinden, als zerschmettert in der Schlucht zu landen.
Sie bog in das Gestrüpp ab, drückte einige Zweige zur Seite, damit sie ihr nicht ins Gesicht schlugen. Ihre Füße schmerzten. Sie hatte Hunger. Erst war ihr kalt gewesen. Jetzt schwitzte sie. Gebückt kämpfte sie sich vorwärts, bis sie unvermittelt am Rand einer großen Lichtung stand. Hohe Grasbüschel, braunes Laub und abgebrochenes Astwerk breiteten sich vor ihr aus.
Hanna trat auf das offene, baumgesäumte Feld. Die Äste knackten laut unter ihrem Gewicht. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, den Weg auf der anderen Seite der Lichtung zu erspähen. Aus dem Gebüsch stob ein Vogel hervor. Ihre Augen wanderten, und ... Abrupt hielt sie den Atem an. Dort lag etwas, dort, in den Sträuchern, zu Füßen der dunklen Stämme. Etwas Türkisfarbenes. Verwirrt machte sie einige Schritte darauf zu, zögerte, ging weiter und fixierte dabei die Stelle auf dem Boden.
Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund.
»Mein Gott«, flüsterte sie.
Eine kleine Ewigkeit verging. Hanna schmeckte Galle. Würgte. Obwohl ihre Kleider warm auf ihrer Haut klebten, fröstelte sie, zitterte haltlos wie ein kleines Kind. Dann wandte sie sich von dem Anblick ab und ließ die Augen die Lichtung entlanggleiten. Fieberhaft, voller Angst. Da! Ein leises Rascheln. Gleich darauf knackte es hinter einer Baumgruppe. Sie war nicht allein! Langsam ging sie einige Schritte rückwärts, stolperte, fiel, kroch, rappelte sich wieder auf.
Dann rannte sie, als gelte es ihr Leben.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Der Schnee schluckt sein Wimmern.
Er sieht auf den Boden. Kommen die weinenden Laute überhaupt aus seinem eigenen Mund? Langsam bückt er sich und berührt vorsichtig die kleine weiße Stirn. Sie ist warm. Er geht in die Hocke und streicht über die Wangen. Abrupt zieht er seine Hand zurück. Die Haut fühlt sich an wie die Blätter einer Rosenblüte, schießt es ihm durch den Kopf. Dann tippt er vorsichtig gegen die kleine Hand, die unter der bunten Decke hervorragt. Sie liegt auf der dünnen Schneeschicht, zu einer schlaffen Faust geballt, greift nicht mehr nach seinen rauhen Fingern. Er bringt seinen Oberkörper dicht über das winzige Gesicht, studiert jeden Zentimeter. Geschlossene Augen-lider, fast durchsichtig. Goldene Wimpern und Härchen, bleich im Abendlicht. Blasse Lippen, leicht geöffnet, als wollte sich noch ein letzter Ruf in die klirrende Dezemberkälte hinausstehlen.
Er merkt, dass er zittert. Er versteht das alles nicht. Der leblose kleine Körper. Und das Beben seiner Hände und Beine. Er zittert sonst nie. Selbst wenn er im Winter zwischen den kahlen Bäumen übernachtet oder mit der Axt das Eis vom Weiher schlägt, um ein paar Züge zu schwimmen, spürt er keine Kälte.
Er versucht, seine Gedanken auf das Baby zu richten, will nachdenken, aber es gelingt ihm nicht. Die Bilder purzeln in seinem Kopf hin und her. Das stille Haus. Die schlafen-de Mutter neben der Wiege. Seine schleichenden Schritte. Es war ihm schwergefallen, leise zu sein. Er hatte die Stiefel ausziehen müssen. Fast hätte er den Reim gesummt. Aber das durfte er nicht. Heute war es verboten. Und dann, später, war das Kind zu Boden gefallen. Leicht und leise wie eine Schneeflocke, direkt vor seine Füße, die Zipfel der Decke hatten für den Bruchteil von Sekunden wie die Flügel eines Raben geflattert. Er mag die Vögel. Und er mag Schneeflocken. Sie schweben so sanft, hüllen die Welt in Stille.
Plötzlich schneidet die Stimme durch seinen Schädel. »Du musst es verschwinden lassen«, sagt sie.
Verwirrt richtet er sich auf, stiert um sich.
»Niemand darf es wissen!«
Er hält sich die Ohren zu, schüttelt den Kopf. Warum? Warum soll es niemand wissen? Er versteht nicht. So hat er es doch gelernt: Sünde braucht Buße. Er tut nichts Unrechtes. Er hat das Kind aus dem Bettchen holen müssen. Das war sein Auftrag. Es war richtig gewesen. Sie würden ihn dafür loben!
»Bring es weg, versteck es! «
Er presst die Hände fester auf seine Ohren, biegt die Schultern nach vorne und krümmt den Oberkörper zusammen, bis er glaubt, nichts mehr wahrzunehmen. Doch die Wörter hallen unbarmherzig in seinem Inneren.
»Du musst es fortschaffen! Du willst doch dein Leben nicht ruinieren! Komm, komm!«
Er weiß, dass er der Stimme gehorchen muss. Das war schon immer so gewesen.
Ein Rabe beginnt zu krächzen. Er drückt noch fester auf seine Ohren. Nein, nicht jetzt! Weg! Weg! Der Schrei des Vogels droht seinen Kopf zu sprengen, er schmerzt. Er muss sich konzentrieren, Ruhe haben. Der Rabe schreit erneut. Zorn erfasst ihn, während er den Blick starr nach unten gerichtet hält. »Krah!«, brüllt er zurück, und ein ersticktes Echo verfängt sich in den Bäumen. »Krah!«
Der Rabe verstummt. Stille senkt sich über die fahle Ebe-ne. Er reißt die Arme herunter, ganz dicht an seine Seiten. Dann beginnt er, seinen Körper rhythmisch vor- und zu-rückzubewegen. Doch das Zittern endet nicht.
»Los jetzt«, zischt die Stimme und windet sich zwischen seinen Schläfen wie eine dünne Schlange. »Beeil dich! Du kannst das Kind nicht hier liegen lassen. Und zurück kannst du es auch nicht bringen.«
Erschrocken hält er inne und dreht sich dann mit einem Ruck um. Ein Stück unter ihm, jenseits des Waldes, zieht sich eine verschneite Wiese den Hang hinab. Er kann die Häuser an ihrem Ende nicht erkennen. Die weiße Fläche verliert sich im dämmrigen Nichts.
Die Stimme hat recht. Er kann nicht zurück.
Wieder sieht er auf das Kind hinunter. Die Lippen haben sich inzwischen blau verfärbt, und unter seinem Kopf sickert ein schmales rotes Rinnsal in den Schnee.
Da lacht er. Kurz. Rauh. Die Räder in seinem Gehirn laufen nun rund. Das Kind war nicht verloren! Er würde dieses Leben bewahren! Die Bilder in seinem Kopf ordnen sich, schieben sich zu einem neuen Bild zusammen. Rosa Osiria. Er hebt den Säugling vom Boden auf und birgt ihn vor seiner Brust unter der Kleidung.
Später, in der Nacht, setzt starker Schneefall ein. Schon bald sind seine Fußspuren verschwunden.
1
Fast zehn Jahre später.
Donnerstag, 19. November
Ihre Karriere war zweifelsfrei im Eimer. Alles, was sie mit diesem Idioten noch zu tun haben wollte, war, ihm einen kräftigen Tritt in seinen fetten Walross-Hintern zu versetzen. Nach dem Gespräch hatte sie ihm einen vernichten-den Blick zugeworfen und war erhobenen Hauptes und zum letzten Mal aus seinem Büro stolziert. Als sie früher als üblich nach Hause gekommen war, hatte Sven sich mit der Verkäuferin aus dem Computerladen im Bett vergnügt. Sein Golden Retriever hatte danebengesessen und sie schwanzwedelnd begrüßt.
Hanna Brock stapfte den steilen Pfad hinauf und fluchte laut über die Brombeerranken und Äste, die sich durch ihre neue Trekkinghose hindurchbohrten. Ihre Wanderschuhe waren noch immer nicht eingelaufen, und sie hatte ihre Zehen vorsorglich mit Pflastern verklebt.
In den letzten Wochen war sie oft in Versuchung geraten, einfach wieder nach Hamburg zurückzufahren. Aber diesen Triumph wollte sie dem Walross nicht gönnen. Bestimmt würde er sich vor Schadenfreude auf die feisten Schenkel klopfen und laut lachen. Und Sven würde um Vergebung winseln und sich in Selbstmitleid suhlen, weil sie seine täglichen Anrufversuche ignoriert hatte. Nein! Sie hatte genug von Männern, die sie hintergingen. Außerdem hatte sie hier einen Job zu erledigen. Und wenn sie so weitermachte, würde sie auch den noch in den Sand setzen. Verdammt!
Als der Pfad endlich auf einen breiteren Weg stieß, hielt sie erleichtert an und setzte sich auf einen großen Stein. Sie musste über eine Stunde gelaufen sein, seit sie um neun Uhr früh aus dem Auto gestiegen und Richtung Südwesten gegangen war. Hanna schnupperte prüfend unter ihrer Achsel und rümpfte die Nase. Was soll's, dachte sie. Ich muss heute weder Gisele Bündchen am Laufsteg interviewen noch mit Fatih Akin über sein neuestes Hollywoodprojekt plaudern. Und mit den Cocktailpartys war es auch vorbei. Es war ein aufregendes Leben gewesen, und sie hatte es in vollen Zügen genossen. Bis diese Sache begonnen hatte.
Hanna öffnete ihren Rucksack und zog die Wanderkarte heraus. Wenn sie sich dort befand, wo sie vermutete, lag das nächste Dorf nur einen knappen halben Kilometer entfernt, direkt unterhalb des Tannenwaldes. Bis zu ihrem eigentlichen Ziel konnten es also höchstens noch dreißig Minuten Fußmarsch sein. Kurz überlegte sie, einen Abstecher in das Dorf einzuschieben, verwarf den Gedanken jedoch. Die Karte wies es als Ort mit rund fünfhundert Einwohnern aus - eine Ansammlung kleiner hellgrauer Rechtecke, ein paar einzelne Quadrate, verstreute Bauern-höfe. Ein hübsches Café würde sie dort kaum finden, und zudem stand ihr der Sinn nicht nach verschrobenen Bauern und einem Haufen stinkender Kühe. Nicht zum ersten Mal fragte sie sich, wie man in dieser Gegend überhaupt leben konnte. Ein Kaff war langweiliger als das andere. Zum Glück musste sie nicht jedes in ihren Wanderführer aufnehmen.
Entschlossen stopfte sie die Karte in den Rucksack zurück. Sie würde auch ohne Stärkung auskommen. Bis zum Mittag würde sie die Rabenschlucht erkunden, sich Notizen machen und ein paar Fotos schießen. Dann schnur-stracks zum Parkplatz zurückgehen, zwei Stunden später wieder in der Zivilisation sein und sich dort einen großen Salat mit Thunfisch und zwei doppelte Espressi genehmigen. Am Nachmittag bliebe ihr genügend Zeit, um die Aufzeichnungen der letzten Tage in ihren Laptop einzugeben. Und sich zu entspannen.
Hanna presste die Lippen aufeinander.
Der Laptop, ein silbermattes und teures MacBook Pro, war ein Geschenk von Sven gewesen. Sie hatte ihn im Sommer zum achtunddreißigsten Geburtstag bekommen. Die Szene stand ihr noch deutlich vor Augen.
»Nur das Beste für meine Beste«, hatte er gesagt und ihr strahlend das flache Päckchen überreicht.
»Du Schuft«, hatte sie augenzwinkernd erwidert, denn Sven hatte ihren Wunsch stets als Spinnerei abgetan. »Wie komme ich so plötzlich zu der Ehre? Hast du etwa ein schlechtes Gewissen? Oder willst du etwas von mir?«
Grinsend hatte er ihre Hüften umfasst. »Sicher, Schatz. Ich will immer etwas von dir.« Und dann hatte er ihr einen Heiratsantrag gemacht, drei Wochen Luxushotel auf Hawaii inklusive.
»Stell dir das mal vor! Von morgens bis abends nur Sonne, Sex und sich faul am Strand rekeln.«
Zornig trat Hanna nach einer Wurzel. Wo Sven sich jetzt rekelte, wollte sie gar nicht wissen.
Sie stand auf und rieb sich die ausgekühlten Glieder. Es war Mitte November, und obwohl der Wetterbericht für die Jahreszeit ungewohnt milde Temperaturen vorausgesagt hatte, war es kühl und nass. Die zähen Nebelschleier zwischen den Tannenwipfeln passten hervorragend zu ihren finsteren Gedanken.
Hanna ging weiter, bis sich die Nadelbäume lichteten. Buchen mit dunkelgelben Blättern setzten jetzt farbige Tupfer zwischen die fast schwarz anmutenden Tannen. Der Boden war mit dickem Moos überwuchert, das sich tiefgrün über Wurzelstöcke und Felsbrocken den Abhang hin unterzog. Hanna hörte ein leises Rauschen und blieb stehen. Das musste der Fluss sein, der sich tief in das Tal unter ihr gegraben hatte. Die Rabenschlucht.
Ob es hier wohl etwas Lohnendes zu entdecken gab? Bei ihren Vorrecherchen war sie weder in den Schwarzwaldführern noch im Internet auf verwertbare Fakten gestoßen. Sie hatte lediglich herausgefunden, dass auf einem Felsplateau in der Rabenschlucht einst eine Hinrichtung stattgefunden haben sollte. Und dass die alten Einheimischen sich noch heute alle möglichen Gruselgeschichten davon erzählten.
Das Rauschen schwoll an und begleitete sie den steiler werdenden Berg hinauf. Keuchend verwünschte sie ihre schlechte Kondition, als der Weg sich nun beinahe senkrecht in kleinen Serpentinen und zwischen Steinblöcken und Bäumen hindurch nach oben wand. Der Untergrund war glitschig, der Weg kaum mehr als ein matschiger Schlammpfad. Kein Geländer bot Schutz vor einem Sturz in den Abgrund, kein Schild mahnte den Wanderer zur Vorsicht. Offenbar war sie eines der überaus seltenen Exemplare Mensch, die dämlich genug waren, sich im kalten, nebligen Spätherbst und in etwa so klettertauglich wie ein holzwurmgeplagter Pinocchio diesen halsbrecherischen Viehpfad hinaufzuquälen.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, tastete sich von einem festen Stück Boden zum nächsten. Schließlich wurde das Gelände eben, und vor ihr ragte das Felsplateau auf. Schwer atmend blieb sie stehen, strich sich die schweißverklebten Haarsträhnen aus dem Gesicht und blickte hinauf.
Aus einem dreieckigen Felsspalt sprudelte mit lautem Dröhnen eine Fontäne kristallklaren Wassers hervor. Sie ergoss sich auf eine darunterliegende, weitläufige Felsplatte und stürzte von dort in unzähligen kleinen Rinnsalen die zerklüftete Tiefe hinab, die das Plateau wie ein Festungsgraben umgab. Die Bäche schienen einander zu jagen. Unten vereinten sie sich in einem Becken und tosten von dort als reißender Strom durch das Tal.
»Wow«, sagte Hanna leise, »nicht schlecht.«
Sie kramte ihre kleine Digitalkamera aus dem Rucksack, machte ein paar Bilder und überlegte, ob sie versuchen sollte, über den Abgrund und die Felsen bis ganz zum Plateau hinaufzuklettern. Einen Zugang sah sie nicht, aber sie hatte im Internet gelesen, dass es einen geben und der Ausblick von oben ebenso grandios wie die Kletterpartie riskant sein sollte.
Neugierig umrundete sie das Felsgebilde, konnte aber keinen Weg hinauf entdecken. Nach einer halben Stunde gab sie die Suche auf.
Den rutschigen Steig, der sie hergeführt hatte, wollte sie kein zweites Mal gehen. Umso mehr freute sie sich, als sie einen überwucherten Nebenpfad bemerkte. Sicher würde er nach unten führen und früher oder später in die Straße zum Parkplatz münden. Lieber würde sie sich Arme und Beine im Unterholz zerschinden, als zerschmettert in der Schlucht zu landen.
Sie bog in das Gestrüpp ab, drückte einige Zweige zur Seite, damit sie ihr nicht ins Gesicht schlugen. Ihre Füße schmerzten. Sie hatte Hunger. Erst war ihr kalt gewesen. Jetzt schwitzte sie. Gebückt kämpfte sie sich vorwärts, bis sie unvermittelt am Rand einer großen Lichtung stand. Hohe Grasbüschel, braunes Laub und abgebrochenes Astwerk breiteten sich vor ihr aus.
Hanna trat auf das offene, baumgesäumte Feld. Die Äste knackten laut unter ihrem Gewicht. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte, den Weg auf der anderen Seite der Lichtung zu erspähen. Aus dem Gebüsch stob ein Vogel hervor. Ihre Augen wanderten, und ... Abrupt hielt sie den Atem an. Dort lag etwas, dort, in den Sträuchern, zu Füßen der dunklen Stämme. Etwas Türkisfarbenes. Verwirrt machte sie einige Schritte darauf zu, zögerte, ging weiter und fixierte dabei die Stelle auf dem Boden.
Entsetzt schlug sie die Hand vor den Mund.
»Mein Gott«, flüsterte sie.
Eine kleine Ewigkeit verging. Hanna schmeckte Galle. Würgte. Obwohl ihre Kleider warm auf ihrer Haut klebten, fröstelte sie, zitterte haltlos wie ein kleines Kind. Dann wandte sie sich von dem Anblick ab und ließ die Augen die Lichtung entlanggleiten. Fieberhaft, voller Angst. Da! Ein leises Rascheln. Gleich darauf knackte es hinter einer Baumgruppe. Sie war nicht allein! Langsam ging sie einige Schritte rückwärts, stolperte, fiel, kroch, rappelte sich wieder auf.
Dann rannte sie, als gelte es ihr Leben.
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
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Autoren-Porträt von Petra Busch
Petra Busch, geboren 1967 in Meersburg, arbeitet als freie Texterin und Journalistin für internationale Kunden aus Wissenschaft, Technik und Kultur. Sie studierte Mathematik, Informatik, Literaturgeschichte und Musikwissenschaften und promovierte in Mediävistik. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt in Ettlingen. Schweig still, mein Kind, ihr erster Roman, wurde von der Presse und den Lesern begeistert aufgenommen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Petra Busch
- 2012, 1, 448 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868007334
- ISBN-13: 9783868007336
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