See No Evil
Rache wird dich treffen
Die psychisch labile Emily wird beschuldigt, ihren Stiefvater ermordet zu haben. Doch Emilys Tante, die Staatsanwältin Julia Chandler, ist von Emilys Unschuld überzeugt. Ihre Ermittlungen führen sie bald zu Emilys Therapeuten, der ein böses Spiel mit seinen Patienten spielt.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „See No Evil “
Die psychisch labile Emily wird beschuldigt, ihren Stiefvater ermordet zu haben. Doch Emilys Tante, die Staatsanwältin Julia Chandler, ist von Emilys Unschuld überzeugt. Ihre Ermittlungen führen sie bald zu Emilys Therapeuten, der ein böses Spiel mit seinen Patienten spielt.
Klappentext zu „See No Evil “
Die psychisch labile Emily wird des Mordes an ihrem Stiefvater beschuldigt, da sie die Tat zuvor detailliert beschrieben hat. Doch Staatsanwältin Julia Chandler, Emilys Tante, glaubt nicht an die Schuld ihrer Nichte. Gemeinsam mit dem Privatdetektiv Connor Kincaid kommt sie einem Therapeuten auf die Spur, der seine Patienten ermuntert, ihre Mordfantasien in Worte zu kleiden. Einige von ihnen geben sich aber nicht länger mit Worten zufrieden.
Lese-Probe zu „See No Evil “
See no evil – Rache wird dich treffen von Allison BrennanProlog
Das junge Mädchen hatte eine Waffe in der Hand. Paul Judson sollte ihr erster Mord sein. Robbie war der Fahrer und parkte zwei Häuser weiter, wo es dunkel war. Die Nummernschilder hatte er von seinem neuen schwarzen Truck abgeschraubt. Vor dem Haus stand Cami Schmiere. Falls jemand kam, würde sie sich um ihn kümmern. Was genau das heißen sollte, wusste Faye nicht, aber das musste sie auch nicht, solange Cami es tat. Angeblich stammte die Idee ja von ihr. Faye wusste allerdings, dass Cami nicht der Kopf hinter dem Ganzen war. Vielmehr waren sie alle Marionetten in einem Puppenspiel, bei dem jemand anders Regie führte. Und sollten sie mit dieser Nummer hier durchkommen, ging es erst richtig los. »Das wird leicht«, hatte Cami vorhin zu ihr gesagt. »Schieß ihm zwischen die Augen.« Faye konnte Schusswaffen nicht leiden. Jetzt begleitete Skip Faye zu der Tür und stand dann direkt neben ihr auf der Veranda, als sie klopfte. »Ich kann das nicht«, sagte sie. »Was?« Skip sah panisch aus und blickte sich nervös zur Straße um. Offensichtlich war er besorgt, und dabei war er voll und ganz von dem Plan überzeugt gewesen, arrogant und selbstsicher, wie er war wie so viele Jungs an ihrer Schule. »Jetzt kannst du nicht mehr zurück, Faye.« »Ich mag solche Waffen nicht.« »Was hat das denn damit zu tun?« Sie gab ihm die Pistole und holte das Messer aus ihrer Tasche. Die rostfreie Stahlklinge blitzte im Licht der Verandalampe, als Faye sie in der Hand hin und her drehte. »Ich nehme das.« »Sei nicht blöd«, sagte Skip. Die Tür ging auf. Faye umfasste den Messergriff und starrte in die Augen des Mannes, den sie töten sollten. »Wer seid ihr?« Judson blinzelte. »Ich kenne euch
... mehr
nicht. Ihr seid nicht aus der Schule.« Aber er rührte sich nicht. Faye hob das Messer. Sie hatten nachgeforscht und wussten, dass Judson extrem kurzsichtig war. Er sah das Messer nicht gleich, folgte jedoch Fayes Armbewegung mit den Augen. Er begriff genau in dem Moment, als Skip ihm zwei Kugeln hintereinander ins Hirn jagte. »Weg hier, Faye!« Skip steckte die Waffe ein. »Jetzt! Beeil dich!« Sie schob ihr Messer wieder in die Tasche, während sie zum Auto zurückrannten. Dort sprang sie auf die Rückbank. Sie war in Sicherheit. Trotzdem hörte ihr Herz nicht auf zu rasen, als Robbie ruhig wegfuhr, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Der Mord war zu schnell, zu leicht gewesen. Peng, peng und ein Mann war tot. Eine Kugel in jedes Auge, sodass seine Hirnmasse ins Zimmer hinter ihm spritzte.
Dabei hatte sie sein Blut fühlen wollen, es anfassen, schmecken. Sie hasste Schusswaffen. Und eines Tages würde Faye ihr Messer bei jemand anderem als sich selbst benutzen.
1
Wie würdest du ihn töten? Ich weiß nicht. Denk nach. Er hat dir wehgetan. Er hat dich gezwungen, ihn anzufassen, und dich erniedrigt. Du musst doch wollen, dass er dafür bezahlt. Ja, aber ... Du würdest ihn nie wirklich umbringen, das weiß ich. Aber du musst deine Wut überwinden, sie herauslassen. Du kannst dich nur von ihm befreien, indem du ihn dir in einer Situation vorstellst, in der er keinerlei Macht über dich hat. Stell dir den einen Menschen auf der Welt vor, den du am meisten hasst. Kannst du das? Ja. Wie sieht er aus? Er sitzt an seinem Schreibtisch. Und du kommst rein ... Was sagt er zu dir? »Komm her. Knie dich hin. Sofort!« Was machst du? Ich geh hin. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, sonst schicken sie mich wieder weg ... Ich habe schon auf der Straße gelebt und war schon im Jugendknast. Das ist schlimmer, als ihm den Schwanz zu lutschen. Stell dir vor, du gehst auf den Schreibtisch zu. Und dieses Mal wirst du Nein sagen. Dieses Mal lässt du ihn dafür bezahlen, dass er dich betatscht und dich gezwungen hat, ihn anzufassen. Wie? Ich will, dass er erfährt, wie sich das anfühlt. Und? Ich will ihm den Schwanz abschneiden und ihn ihm ins Maul rammen. Soll er ihn doch lutschen! Gut. Sehr gut. Jedes Mal, wenn du wütend oder traurig bist, stell dir vor, wie er an seinem Penis erstickt. Das ist der erste Schritt, um die Wut und den Zorn loszuwerden. Der erste Schritt, alles zu überwinden und normal zu werden. Ich werde nie normal sein.
Emily Chandler Montgomery würde nie normal sein. Ihren VW-Käfer in Leerlauf geschaltet, saß sie da und starrte auf das Haus, das bedrohlich vor ihr aufragte. Sie wollte nicht einmal die Einfahrt hinauf und in die Garage fahren, die sie verschlang und nicht wieder freiließ. Wie sie es hasste, nach Hause zu kommen! Nach Hause. Was für ein Witz! Sie hatte kein Zuhause, nicht mehr, seit ihr Vater gestorben war. Alles, was sie hatte, war ein Haus mit vielen Zimmern, von denen sie in keinem willkommen war, außer oben in ihrem kleinen Versteck. Aber wo sollte sie sonst hin? Sie war schon einmal weggelaufen, und das hatte nicht funktioniert. Auf der Straße zu leben war unmöglich, vor allem für ein verwöhntes, reiches Kind wie sie. Zumindest hatte ihr Seelenklempner ihr das gesagt. Und ein bisschen mehr als nur ein bisschen stimmte es sogar. Sie wollte nicht auf der Straße leben und ihren Körper verkaufen. Ihr blieben also exakt zwei Möglichkeiten: auf den Strich gehen oder unter der Brücke schlafen.
Emily mochte ihr Zimmer, das große Bad, den riesigen Swimmingpool, in dem sie schwimmen konnte, bis ihr die Arme wehtaten und sie nach Luft japste. Und sie mochte die Klamotten in ihrem Kleiderschrank, das Essen, das Dach über dem Kopf. Wenn Victor doch nur weg wäre, könnte sie ohne Angst in diesem Schloss wohnen. Warum hatte ihre Mutter Richter Victor Montgomery überhaupt geheiratet? Er war schon ein Kotzbrocken, als sie zusammen ausgingen, und inzwischen war er noch schlimmer: ein Lügner und Heuchler. Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich! Sie trommelte mit den Fäusten aufs Lenkrad ein, bis ihre Hände schmerzten. Der rasende Zorn in ihr brachte ihre Ohren zum Glühen und trübte ihr die Sicht. Sie wollte am liebsten etwas kaputt machen, aber die Worte ihres Therapeuten rangen mit der Wut. Atme tief ein. Noch mal. Atme langsam wieder aus. Konzentrier dich auf deinen friedlichen Ort. Stell dir eine leere Leinwand vor. Jetzt mal deine Oase, den Ort, an dem du dich sicher fühlst. Mal ihn auf die Leinwand in deinem Kopf. Und bring dich selbst dahin, in dein Bild. Emily ließ die Kupplung los und fuhr langsam in die Garage. Sie stellte sich vor, sie würde mitten im Meer treiben, wo nichts um sie herum war. Das Meer war ruhig, friedlich, das Wasser leuchtend blau, der Himmel orange, rot und violett in der untergehenden Sonne. Ihre Oase. Als Emily ihren Wagen neben Victors Jaguar parkte, verschwand ihr sicherer Ort. Sie hielt ihre Schlüssel in der Hand und überlegte, seinen kostbaren Sportwagen damit zu zerkratzen. Aber sie wüssten, dass sie es war, und würden sich etwas ausdenken, um sie zu bestrafen. Womöglich noch ein Wochenende im Jugendknast. Im Geiste hörte sie ihre Mutter mit strenger und kalter Stimme sagen: »Es ist nur zu deinem Besten, Emily. Mit deinem Benehmen hast du die Familie schon wieder in eine peinliche Situation gebracht.« Wenn du wütend wirst, überlässt du deinen Feinden die Kontrolle. Hol tief Luft. Stell dir vor, diejenigen, die dich quälen, kriegen, was sie verdient haben. Gerechtigkeit für dich und für alle anderen, denen es geht wie dir. Schreib darüber. Rede darüber. Mach dich frei davon. Wenn du die Gefühle in dir einsperrst, gewinnt die Wut. Dann gewinnt dein Feind. Lass ihn nicht gewinnen. Emily holte tief Luft. Einmal. Noch einmal. Das Licht, das durch die Fenster an der anderen Seite der Garage hineinfiel, schien sich verändert zu haben. Wie lange saß sie schon in ihrem Auto? Sie sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Halb sechs? Eine volle Stunde? Das konnte doch nicht sein. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und sah auf die Zeitanzeige. Tatsächlich halb sechs. Es war nicht das erste Mal, dass sie bei dem Versuch, ihre Wut zu kontrollieren, vollkommen die Zeit vergaß. Sie nahm ihren Rucksack und verließ widerwillig die Sicherheit ihres kleinen Wagens. Es war Mittwoch, was bedeutete, dass ihre Mutter erst spät nach Hause kam. Mittwoch, Mittwoch ... ja, genau mittwochs plante sie ihre jährliche Wohltätigkeitsauktion. Dieses Jahr waren es Welpen und kleine Katzen. Letztes Jahr waren es Kinder gewesen. Jedes Jahr war es eine andere gute Sache, die Vorrang hatte. Eine gute Sache, die wichtiger war als ihre Tochter. Die einzige Zeit, in der Emily glaubte, dass ihre Mutter sich tatsächlich für sie interessierte, war das Jahr gewesen, in dem sie für junge Ausreißer sammelte. In dem Jahr verbrachte sie Zeit mit Emily, aber das war alles bloß Show gewesen. Sie war nur das Kind auf dem Plakat, und die Tränen und die Vergebung waren bloß gespielt. Sie galten den Kameras und den Gesellschaftsseiten, und sie sollten Richter Victor Montgomery helfen, wiedergewählt zu werden. Crystal Montgomery interessierte sich nicht für ihre Tochter, und Emily wünschte sich fast, deshalb nicht mehr traurig zu sein. Leider konnte sie das nicht. Manchmal fragte sie sich, ob sie jemals wirklich eine Mom gehabt hatte. Vielleicht waren die Erinnerungen daran, wie sie zusammen am Strand spazieren gingen, mit Barbiepuppen spielten und Kekse buken, nur Träume. Jene Zeiten schienen so weit weg, dass Emily nicht sicher war, ob sie manches vielleicht nur erfunden hatte, um die Abende durchzustehen, an denen ihre Mutter nicht zu Hause war. Dreizehn Monate noch, dann konnte sie fortgehen und allein leben. Dann gehörte der Treuhandfonds rechtmäßig ihr, und sie war nicht mehr von ihrer Mutter und Victor abhängig. Dreizehn Monate. Sie betete, dass sie so lange überlebte. Nicht, dass sie Angst hatte, Victor könnte sie umbringen. Sie fürchtete sich eher vor sich selbst. Sie schloss das riesige Garagentor mit der Fernbedienung und ging zur Seitentür, durch die man zu einem überdachten Weg gelangte. Das Haus war gigantisch groß, viel größer, als es für sie drei nötig gewesen wäre. Aber Crystal und Victor empfingen hier, was hieß, dass sie ein repräsentatives Haus brauchten, dessen Riesenräume sie mit Leuten füllen konnten, die genauso gekünstelt waren wie sie. Merkwürdig, als ihr Vater noch lebte, war Emily das Haus nie so unheimlich groß vorgekommen, obwohl sie da noch viel kleiner war. Aber mit ihrem Dad war alles ein Spiel gewesen. Sie hatten Matchbox-Autos durch die langen Marmorflure flitzen lassen, in den unzähligen Zimmern Versteck gespielt und waren das Geländer der geschwungenen Haupttreppe heruntergerutscht. Der Spaß starb mit Dad. Emily betrat das Haus durch den Nebeneingang, den die Haushaltshilfe gemäß Victors Anweisung zu benutzen hatte. Keine der Haustüren wurde mit einem Schlüssel geöffnet. Das wäre gewöhnlich. Emily tippte den Sicherheitscode in das Schaltbrett an der Wand ein, und die Tür sprang auf. Drinnen war es kühl, was sowohl die Temperaturen als auch die Einrichtung betraf. Ihre Mutter ließ das Erdgeschoss alle zwei Jahre von einem Innenarchitekten umgestalten. Letztes Jahr wollte sie alles nach Ozean aussehen lassen, und so waren die Räume ganz in Blau- und Grüntönen gehalten. Über versteckte Lautsprecher erklangen dazu künstliche Wellengeräusche, wenn ihre Mutter zu Hause war. Kein Wellenrauschen, keine Mutter. Emily wartete darauf, dass die Gegensprechanlage summte. Jede einzelne Nervenzelle in ihrem Körper war in Alarmbereitschaft. Victor war zu Hause, denn sein Jaguar stand in der Garage. Natürlich war er zu Hause, schließlich war Mittwoch. Ihre Mutter war weg, das Personal hatte seinen freien Abend, und Emily musste zu Hause sein, jeden Tag bis spätestens sechs Uhr. Das war gerichtlich angeordnet. Zum Teufel mit der Ausgangssperre! Zum Teufel mit der Polizei. Zum Teufel mit dem ganzen Scheißsystem. Und zum Teufel mit ihr, weil sie so blöd gewesen war, in einem Gericht zu randalieren. Was hatte sie sich dabei gedacht? Nichts natürlich. Genauso wenig wie beim Ausreißen. Alles bloß Gefühle, planlos. Emily konnte ihre Wut nicht in den Griff bekommen, und dafür bezahlte sie jetzt. Vielleicht hatte sie es nicht anders verdient.
Die Gegensprechanlage blieb stumm. Ihr Stiefvater zitierte sie nicht in sein Arbeitszimmer. Sie zog ihre Sandalen aus, um lautlos über den Marmorboden zu tapsen. Langsam schlich sie den langen, breiten Korridor zur Diele entlang und wartete auf das verräterische Klicken der Sprechanlage, dem Richter Montgomerys tiefe, widerliche Stimme folgen würde. Emily, komm bitte in mein Arbeitszimmer. Nichts. Stille. Möglicherweise telefonierte er. Oder er hatte nicht auf das Sicherheitssystem geguckt und nicht mitgekriegt, dass sie nach Hause kam. Oder aber er hatte sich aufgehängt. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Sie stieg die große Treppe hinauf. Ihr Herz raste, und je weiter sie nach oben kam, umso schneller lief sie. Frei! Sie war frei. Sie konnte sich in ihr Zimmer einschließen, weil er es nicht wagte, ihr dort hinein zu folgen. Es musste immer in seinem Arbeitszimmer, an seinem Schreibtisch sein. In seinem Reich. Grinsend verriegelte sie die Tür hinter sich, sprang auf ihr Bett und hüpfte wie ein kleines Kind darauf herum. Dann ging sie in ihr Bad und ließ sich Wasser in die Wanne ein, ganz heiß und mit viel Schaum. Alkohol war ihr verboten; nicht nur, weil sie minderjährig war, sondern auch als Teil der Bewährungsauflagen vom letzten Jahr. Sie war betrunken gewesen, als sie im Gericht wütete. Aber sie hatte eine Flasche dunklen Rum in ihrer Kommode versteckt, die sie regelmäßig an Victors Bar auffüllte. Sie musste einfach etwas haben, um seinen fiesen Geschmack aus ihrem Mund und ihrem Kopf zu spülen. Jetzt jedoch trank sie, weil sie Grund zum Feiern hatte.
Sie feierte, dass sie sicher in ihrem Zimmer eingeschlossen war und in Ruhe gelassen wurde. Unten saß Victor Montgomery in seinem Schreibtischstuhl, tot. Sein blutiger Körper war entsetzlich verstümmelt.
2
Ein Mord sowie ein möglicher Selbstmordversuch. Detective Will Hooper arbeitete allein an dem Fall, denn seine Partnerin Carina Kincaid machte mit ihrem Verlobten Urlaub. Natürlich hatte Carina ihren Urlaub mehr als verdient, aber sie fehlte Will. Er tauschte gern Ideen und Theorien mit ihr aus. Die beiden waren ein Spitzenteam. Und die Gewalt machte keinen Urlaub. Er kam gleichzeitig mit dem Leiter der Kriminaltechnik, Dr. Jim Gage, am Tatort an. Bei Verbrechen wie diesen wurden die ganz schweren Geschütze aufgefahren. Das Mordopfer war ein Richter, Victor Montgomery, was bedeutete, dass sich sofort die Politiker und sonstigen hohen Tiere in den Fall einmischen würden. Und sobald die Presse Wind davon bekam, würden sie hier in Scharen einfallen und den Tatort zertrampeln. Fürs Erste allerdings waren sie nur zu sechst: die beiden Officers, Gage mit seinen zwei Technikern und Will. Ein weiblicher Teenager, Emily Montgomery, war ins Krankenhaus gebracht worden. Anscheinend ein versuchter Suizid. Will wollte keinerlei Vermutungen anstellen, obwohl sie offensichtlich getrunken hatte reichlich sogar und die Polizisten, die auf den Notruf reagierten, eine halb leere Flasche Xanax fanden. Im Krankenhaus würden sie ihr den Magen auspumpen. Danach konnten die Ärzte sagen, ob sie tatsächlich versucht hatte, sich umzubringen. Die Tatsache, dass Richter Montgomery gerade Herman Santos zum Tod durch die Giftspritze verurteilt hatte, durfte nicht außer Acht gelassen werden. In San Diego war Santos das, was einem Mafiapaten am nächsten kam, und das Urteil erfolgte aufgrund seiner Beteiligung an einer drei Jahre zurückliegenden, an eine Hinrichtung erinnernde Ermordung zweier Polizisten. »Warum erfuhren wir nichts von dem Mädchen, als der Notruf einging?«, fragte Gage Will, als sie sich draußen in der Zufahrt trafen. Eine breite Treppe führte von dort aus zu einer großen Flügeltür hinauf, die jetzt weit offen stand und von zwei Uniformierten bewacht wurde. Selbst am späten Abend war es noch so warm, dass Will sein Jackett im Auto ließ. »Die Ehefrau hat die Leiche ihres Mannes gefunden, als sie von einer Veranstaltung zurückkam. Sie lief zu den Nachbarn und rief dann von dort aus die Polizei an, sagte aber nichts über ihre Tochter. Diaz fand das Mädchen oben.« Will winkte Diaz zu. »Schön, dass du wieder dabei bist.« Officer Diaz zeigte ein schiefes Lächeln. »Seit zwei Tagen zurück im Dienst, und endlich fühle ich mich wieder wie ein Mensch.« Im letzten Monat war Diaz im Dienst von einem Gangmitglied angeschossen worden, für das es eine Art Aufnahmeprüfung gewesen war, auf einen Cop zu feuern. Zum Glück überlebte Diaz den Anschlag und durfte seit Kurzem wieder arbeiten. »Was ist mit dem Mädchen passiert?«, fragte Gage, der zu den oberen Fenstern hinaufsah. Diaz schaute in seine Notizen und räusperte sich. »Wir kamen um 22:14 Uhr am Tatort an, neun Minuten nachdem der Notruf einging. Wir sind einmal um das Haus herum, haben versucht reinzukommen, aber die Tür war gesichert. Dann kam Mrs. Crystal Montgomery aus dem Nachbarhaus«, er zeigte nach Norden, »und ließ uns mit ihrem Sicherheitscode rein. Sie blieb im Wohnzimmer, während wir das Erdgeschoss überprüften, wo wir den Toten fanden.« Als Diaz zu Will und Gage aufsah, war er ein bisschen blass. »Das war kein schöner Anblick.« Gage bedeutete ihm fortzufahren. Sie rechneten ohnehin nicht mit einem angenehmen Tatort. Diaz sagte: »Wir fragten, ob sonst noch jemand zu Hause wäre, und da sagte uns Mrs. Montgomery, dass ihre sechzehnjährige Tochter Emily eigentlich zu Hause sein müsste.« Will unterbrach ihn. »Was für einen Eindruck hat sie dabei gemacht?« »So, als würde es ihr in dem Moment erst einfallen.« Ihre Tochter war ihr erst in dem Moment eingefallen? »Und dann?« »Wir haben die Mordkommission angerufen und das Haus abgesucht. Oben haben wir an ihre Tür geklopft, die verriegelt war, und als sich drinnen nichts rührte, haben wir die Tür aufgebrochen. Sie lag im Bademantel neben ihrem Bett, bewusstlos. Wir vergewisserten uns, dass sie noch lebte, riefen den Notarztwagen und haben ihre Vitalfunktionen geprüft, die ziemlich schwach waren. Im Zimmer roch es nach Alkohol, und wir fanden eine leere Halbliterflasche im Bad neben der Wanne. Die Wanne war feucht, und auf dem Boden lagen benutzte Handtücher sowie eine Flasche mit einem verschreibungspflichtigen Medikament.« »Was habt ihr angefasst?« »Außer Emily Montgomery ach ja, und wir haben die Decke von ihrem Bett genommen, um sie warm zu halten
haben wir gar nichts angefasst. Im Zimmer des Mädchens war Blut, aber sie hatte keine sichtbaren Verletzungen.« Gage sagte: »Ich schicke einen meiner Leute ins Krankenhaus, um die Beweise zu sichern.« »Wo ist Mrs. Montgomery jetzt?«, fragte Will. »Immer noch im Wohnzimmer.« »Danke, Diaz.« Nachdem Will und Gage ins Haus gegangen waren, wies Gage einen Techniker an, alle Eingangstüren und Fenster zu überprüfen. Die andere Technikerin folgte Will und Gage mit einer Kamera, um den Tatort zu fotografieren. Richter Montgomery hatte ein sehr großes Arbeitszimmer mit hoher Decke, das dunkel und elegant wirkte. Exakt die Art von dezenter Eleganz, die man bei einem geachteten Juristen erwartet. Ein Schreibset, eine kleine Uhr und ein Foto seiner Frau standen auf seinem riesigen Schreibtisch, der ansonsten tadellos aufgeräumt war. Der dicke weiße Teppich war über und über mit Blut bespritzt, und ein breiter roter Streifen bedeckte Richter Montgomerys Brust, die jedoch keine sichtbare Wunde aufwies. Seine Augen waren offen, glasig und leer. Getrocknetes Blut klebte an seinem geschwollenen Mund, auf seinem Gesicht und in Klecksen im ergrauenden blonden Haar. Auch die Bücherregale hinter ihm waren rot bespritzt. Gage ging um den Schreibtisch herum, blieb abrupt stehen und starrte nach unten. Sogleich trat Will zu ihm. Als er ihm über die Schulter sah, wurde er kreidebleich. Montgomerys Hose und Boxershorts waren bis zu den Knöcheln heruntergeschoben, die Beine gespreizt und sein Schritt eine einzige blutige, klaffende Wunde. Man hatte ihm den Penis auf brutalste Weise entfernt, sodass Muskelund Hautgewebe in Fetzen herunterhing.
»Heilige Scheiße!« Unwillkürlich griff Will sich in den Schritt. »Keine Angst, Alter, deine Ausstattung ist noch da«, sagte Gage mit einem zynischen Grinsen. »Nur dem Richter ist seine abhandengekommen.« Gage schaute sich die Wunde genauer an, wobei er sich so hinstellte, dass seine Kriminaltechnikerin Fotos aus verschiedenen Winkeln machen konnte. »Guck dir das hier mal an. Siehst du die Riffelung?« Will schluckte und versuchte sich auf die Stelle zu konzentrieren, auf die Gage zeigte. »Nein.« Alles, was Will sah, war eine breiige Masse. »Das sieht nach etwas Scharfem aus«, sagte Gage. »Eine Doppelklinge, wie bei einer starken Schere.« »Man kann einen Schwanz mit einer Schere abschneiden?«, fragte Will ungläubig. »Wenn sie scharf genug ist. Und die muss es gewesen sein, denn offenbar genügte ein Schnitt.« Das waren mehr Informationen, als Will haben wollte, vor allem solange er gleichzeitig auf das Resultat blickte. Will sah sich nach dem fehlenden Organ um. »Hat der Täter ihn mitgenommen?« »Guck mal in seinen Mund.« Montgomerys Penis war ihm in den Hals gerammt worden. Sein Mund war nicht geschwollen er war voll. »Siehst du die breiten Spritzer vom Arterienblut?« Gage deutete auf die langen Blutlinien auf dem Schreibtisch, dem Boden und dem Körper des Opfers. »Diese Reichweite und Stärke weist darauf hin, dass das Blut noch zirkulierte. Er hat also während der Amputation noch gelebt. Das sind Blutspuren, wie wir sie bei Teilenthauptungen oder Stichverletzungen an Hauptschlagadern bekommen.«
Deutsche Erstausgabe 02/2010
Copyright © 2007 by Allison Brennan
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion
Übersetzung: Sabine Schilasky
Dabei hatte sie sein Blut fühlen wollen, es anfassen, schmecken. Sie hasste Schusswaffen. Und eines Tages würde Faye ihr Messer bei jemand anderem als sich selbst benutzen.
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Wie würdest du ihn töten? Ich weiß nicht. Denk nach. Er hat dir wehgetan. Er hat dich gezwungen, ihn anzufassen, und dich erniedrigt. Du musst doch wollen, dass er dafür bezahlt. Ja, aber ... Du würdest ihn nie wirklich umbringen, das weiß ich. Aber du musst deine Wut überwinden, sie herauslassen. Du kannst dich nur von ihm befreien, indem du ihn dir in einer Situation vorstellst, in der er keinerlei Macht über dich hat. Stell dir den einen Menschen auf der Welt vor, den du am meisten hasst. Kannst du das? Ja. Wie sieht er aus? Er sitzt an seinem Schreibtisch. Und du kommst rein ... Was sagt er zu dir? »Komm her. Knie dich hin. Sofort!« Was machst du? Ich geh hin. Mir bleibt gar nichts anderes übrig, sonst schicken sie mich wieder weg ... Ich habe schon auf der Straße gelebt und war schon im Jugendknast. Das ist schlimmer, als ihm den Schwanz zu lutschen. Stell dir vor, du gehst auf den Schreibtisch zu. Und dieses Mal wirst du Nein sagen. Dieses Mal lässt du ihn dafür bezahlen, dass er dich betatscht und dich gezwungen hat, ihn anzufassen. Wie? Ich will, dass er erfährt, wie sich das anfühlt. Und? Ich will ihm den Schwanz abschneiden und ihn ihm ins Maul rammen. Soll er ihn doch lutschen! Gut. Sehr gut. Jedes Mal, wenn du wütend oder traurig bist, stell dir vor, wie er an seinem Penis erstickt. Das ist der erste Schritt, um die Wut und den Zorn loszuwerden. Der erste Schritt, alles zu überwinden und normal zu werden. Ich werde nie normal sein.
Emily Chandler Montgomery würde nie normal sein. Ihren VW-Käfer in Leerlauf geschaltet, saß sie da und starrte auf das Haus, das bedrohlich vor ihr aufragte. Sie wollte nicht einmal die Einfahrt hinauf und in die Garage fahren, die sie verschlang und nicht wieder freiließ. Wie sie es hasste, nach Hause zu kommen! Nach Hause. Was für ein Witz! Sie hatte kein Zuhause, nicht mehr, seit ihr Vater gestorben war. Alles, was sie hatte, war ein Haus mit vielen Zimmern, von denen sie in keinem willkommen war, außer oben in ihrem kleinen Versteck. Aber wo sollte sie sonst hin? Sie war schon einmal weggelaufen, und das hatte nicht funktioniert. Auf der Straße zu leben war unmöglich, vor allem für ein verwöhntes, reiches Kind wie sie. Zumindest hatte ihr Seelenklempner ihr das gesagt. Und ein bisschen mehr als nur ein bisschen stimmte es sogar. Sie wollte nicht auf der Straße leben und ihren Körper verkaufen. Ihr blieben also exakt zwei Möglichkeiten: auf den Strich gehen oder unter der Brücke schlafen.
Emily mochte ihr Zimmer, das große Bad, den riesigen Swimmingpool, in dem sie schwimmen konnte, bis ihr die Arme wehtaten und sie nach Luft japste. Und sie mochte die Klamotten in ihrem Kleiderschrank, das Essen, das Dach über dem Kopf. Wenn Victor doch nur weg wäre, könnte sie ohne Angst in diesem Schloss wohnen. Warum hatte ihre Mutter Richter Victor Montgomery überhaupt geheiratet? Er war schon ein Kotzbrocken, als sie zusammen ausgingen, und inzwischen war er noch schlimmer: ein Lügner und Heuchler. Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich! Sie trommelte mit den Fäusten aufs Lenkrad ein, bis ihre Hände schmerzten. Der rasende Zorn in ihr brachte ihre Ohren zum Glühen und trübte ihr die Sicht. Sie wollte am liebsten etwas kaputt machen, aber die Worte ihres Therapeuten rangen mit der Wut. Atme tief ein. Noch mal. Atme langsam wieder aus. Konzentrier dich auf deinen friedlichen Ort. Stell dir eine leere Leinwand vor. Jetzt mal deine Oase, den Ort, an dem du dich sicher fühlst. Mal ihn auf die Leinwand in deinem Kopf. Und bring dich selbst dahin, in dein Bild. Emily ließ die Kupplung los und fuhr langsam in die Garage. Sie stellte sich vor, sie würde mitten im Meer treiben, wo nichts um sie herum war. Das Meer war ruhig, friedlich, das Wasser leuchtend blau, der Himmel orange, rot und violett in der untergehenden Sonne. Ihre Oase. Als Emily ihren Wagen neben Victors Jaguar parkte, verschwand ihr sicherer Ort. Sie hielt ihre Schlüssel in der Hand und überlegte, seinen kostbaren Sportwagen damit zu zerkratzen. Aber sie wüssten, dass sie es war, und würden sich etwas ausdenken, um sie zu bestrafen. Womöglich noch ein Wochenende im Jugendknast. Im Geiste hörte sie ihre Mutter mit strenger und kalter Stimme sagen: »Es ist nur zu deinem Besten, Emily. Mit deinem Benehmen hast du die Familie schon wieder in eine peinliche Situation gebracht.« Wenn du wütend wirst, überlässt du deinen Feinden die Kontrolle. Hol tief Luft. Stell dir vor, diejenigen, die dich quälen, kriegen, was sie verdient haben. Gerechtigkeit für dich und für alle anderen, denen es geht wie dir. Schreib darüber. Rede darüber. Mach dich frei davon. Wenn du die Gefühle in dir einsperrst, gewinnt die Wut. Dann gewinnt dein Feind. Lass ihn nicht gewinnen. Emily holte tief Luft. Einmal. Noch einmal. Das Licht, das durch die Fenster an der anderen Seite der Garage hineinfiel, schien sich verändert zu haben. Wie lange saß sie schon in ihrem Auto? Sie sah auf die Uhr am Armaturenbrett. Halb sechs? Eine volle Stunde? Das konnte doch nicht sein. Sie holte ihr Handy aus der Tasche und sah auf die Zeitanzeige. Tatsächlich halb sechs. Es war nicht das erste Mal, dass sie bei dem Versuch, ihre Wut zu kontrollieren, vollkommen die Zeit vergaß. Sie nahm ihren Rucksack und verließ widerwillig die Sicherheit ihres kleinen Wagens. Es war Mittwoch, was bedeutete, dass ihre Mutter erst spät nach Hause kam. Mittwoch, Mittwoch ... ja, genau mittwochs plante sie ihre jährliche Wohltätigkeitsauktion. Dieses Jahr waren es Welpen und kleine Katzen. Letztes Jahr waren es Kinder gewesen. Jedes Jahr war es eine andere gute Sache, die Vorrang hatte. Eine gute Sache, die wichtiger war als ihre Tochter. Die einzige Zeit, in der Emily glaubte, dass ihre Mutter sich tatsächlich für sie interessierte, war das Jahr gewesen, in dem sie für junge Ausreißer sammelte. In dem Jahr verbrachte sie Zeit mit Emily, aber das war alles bloß Show gewesen. Sie war nur das Kind auf dem Plakat, und die Tränen und die Vergebung waren bloß gespielt. Sie galten den Kameras und den Gesellschaftsseiten, und sie sollten Richter Victor Montgomery helfen, wiedergewählt zu werden. Crystal Montgomery interessierte sich nicht für ihre Tochter, und Emily wünschte sich fast, deshalb nicht mehr traurig zu sein. Leider konnte sie das nicht. Manchmal fragte sie sich, ob sie jemals wirklich eine Mom gehabt hatte. Vielleicht waren die Erinnerungen daran, wie sie zusammen am Strand spazieren gingen, mit Barbiepuppen spielten und Kekse buken, nur Träume. Jene Zeiten schienen so weit weg, dass Emily nicht sicher war, ob sie manches vielleicht nur erfunden hatte, um die Abende durchzustehen, an denen ihre Mutter nicht zu Hause war. Dreizehn Monate noch, dann konnte sie fortgehen und allein leben. Dann gehörte der Treuhandfonds rechtmäßig ihr, und sie war nicht mehr von ihrer Mutter und Victor abhängig. Dreizehn Monate. Sie betete, dass sie so lange überlebte. Nicht, dass sie Angst hatte, Victor könnte sie umbringen. Sie fürchtete sich eher vor sich selbst. Sie schloss das riesige Garagentor mit der Fernbedienung und ging zur Seitentür, durch die man zu einem überdachten Weg gelangte. Das Haus war gigantisch groß, viel größer, als es für sie drei nötig gewesen wäre. Aber Crystal und Victor empfingen hier, was hieß, dass sie ein repräsentatives Haus brauchten, dessen Riesenräume sie mit Leuten füllen konnten, die genauso gekünstelt waren wie sie. Merkwürdig, als ihr Vater noch lebte, war Emily das Haus nie so unheimlich groß vorgekommen, obwohl sie da noch viel kleiner war. Aber mit ihrem Dad war alles ein Spiel gewesen. Sie hatten Matchbox-Autos durch die langen Marmorflure flitzen lassen, in den unzähligen Zimmern Versteck gespielt und waren das Geländer der geschwungenen Haupttreppe heruntergerutscht. Der Spaß starb mit Dad. Emily betrat das Haus durch den Nebeneingang, den die Haushaltshilfe gemäß Victors Anweisung zu benutzen hatte. Keine der Haustüren wurde mit einem Schlüssel geöffnet. Das wäre gewöhnlich. Emily tippte den Sicherheitscode in das Schaltbrett an der Wand ein, und die Tür sprang auf. Drinnen war es kühl, was sowohl die Temperaturen als auch die Einrichtung betraf. Ihre Mutter ließ das Erdgeschoss alle zwei Jahre von einem Innenarchitekten umgestalten. Letztes Jahr wollte sie alles nach Ozean aussehen lassen, und so waren die Räume ganz in Blau- und Grüntönen gehalten. Über versteckte Lautsprecher erklangen dazu künstliche Wellengeräusche, wenn ihre Mutter zu Hause war. Kein Wellenrauschen, keine Mutter. Emily wartete darauf, dass die Gegensprechanlage summte. Jede einzelne Nervenzelle in ihrem Körper war in Alarmbereitschaft. Victor war zu Hause, denn sein Jaguar stand in der Garage. Natürlich war er zu Hause, schließlich war Mittwoch. Ihre Mutter war weg, das Personal hatte seinen freien Abend, und Emily musste zu Hause sein, jeden Tag bis spätestens sechs Uhr. Das war gerichtlich angeordnet. Zum Teufel mit der Ausgangssperre! Zum Teufel mit der Polizei. Zum Teufel mit dem ganzen Scheißsystem. Und zum Teufel mit ihr, weil sie so blöd gewesen war, in einem Gericht zu randalieren. Was hatte sie sich dabei gedacht? Nichts natürlich. Genauso wenig wie beim Ausreißen. Alles bloß Gefühle, planlos. Emily konnte ihre Wut nicht in den Griff bekommen, und dafür bezahlte sie jetzt. Vielleicht hatte sie es nicht anders verdient.
Die Gegensprechanlage blieb stumm. Ihr Stiefvater zitierte sie nicht in sein Arbeitszimmer. Sie zog ihre Sandalen aus, um lautlos über den Marmorboden zu tapsen. Langsam schlich sie den langen, breiten Korridor zur Diele entlang und wartete auf das verräterische Klicken der Sprechanlage, dem Richter Montgomerys tiefe, widerliche Stimme folgen würde. Emily, komm bitte in mein Arbeitszimmer. Nichts. Stille. Möglicherweise telefonierte er. Oder er hatte nicht auf das Sicherheitssystem geguckt und nicht mitgekriegt, dass sie nach Hause kam. Oder aber er hatte sich aufgehängt. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Sie stieg die große Treppe hinauf. Ihr Herz raste, und je weiter sie nach oben kam, umso schneller lief sie. Frei! Sie war frei. Sie konnte sich in ihr Zimmer einschließen, weil er es nicht wagte, ihr dort hinein zu folgen. Es musste immer in seinem Arbeitszimmer, an seinem Schreibtisch sein. In seinem Reich. Grinsend verriegelte sie die Tür hinter sich, sprang auf ihr Bett und hüpfte wie ein kleines Kind darauf herum. Dann ging sie in ihr Bad und ließ sich Wasser in die Wanne ein, ganz heiß und mit viel Schaum. Alkohol war ihr verboten; nicht nur, weil sie minderjährig war, sondern auch als Teil der Bewährungsauflagen vom letzten Jahr. Sie war betrunken gewesen, als sie im Gericht wütete. Aber sie hatte eine Flasche dunklen Rum in ihrer Kommode versteckt, die sie regelmäßig an Victors Bar auffüllte. Sie musste einfach etwas haben, um seinen fiesen Geschmack aus ihrem Mund und ihrem Kopf zu spülen. Jetzt jedoch trank sie, weil sie Grund zum Feiern hatte.
Sie feierte, dass sie sicher in ihrem Zimmer eingeschlossen war und in Ruhe gelassen wurde. Unten saß Victor Montgomery in seinem Schreibtischstuhl, tot. Sein blutiger Körper war entsetzlich verstümmelt.
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Ein Mord sowie ein möglicher Selbstmordversuch. Detective Will Hooper arbeitete allein an dem Fall, denn seine Partnerin Carina Kincaid machte mit ihrem Verlobten Urlaub. Natürlich hatte Carina ihren Urlaub mehr als verdient, aber sie fehlte Will. Er tauschte gern Ideen und Theorien mit ihr aus. Die beiden waren ein Spitzenteam. Und die Gewalt machte keinen Urlaub. Er kam gleichzeitig mit dem Leiter der Kriminaltechnik, Dr. Jim Gage, am Tatort an. Bei Verbrechen wie diesen wurden die ganz schweren Geschütze aufgefahren. Das Mordopfer war ein Richter, Victor Montgomery, was bedeutete, dass sich sofort die Politiker und sonstigen hohen Tiere in den Fall einmischen würden. Und sobald die Presse Wind davon bekam, würden sie hier in Scharen einfallen und den Tatort zertrampeln. Fürs Erste allerdings waren sie nur zu sechst: die beiden Officers, Gage mit seinen zwei Technikern und Will. Ein weiblicher Teenager, Emily Montgomery, war ins Krankenhaus gebracht worden. Anscheinend ein versuchter Suizid. Will wollte keinerlei Vermutungen anstellen, obwohl sie offensichtlich getrunken hatte reichlich sogar und die Polizisten, die auf den Notruf reagierten, eine halb leere Flasche Xanax fanden. Im Krankenhaus würden sie ihr den Magen auspumpen. Danach konnten die Ärzte sagen, ob sie tatsächlich versucht hatte, sich umzubringen. Die Tatsache, dass Richter Montgomery gerade Herman Santos zum Tod durch die Giftspritze verurteilt hatte, durfte nicht außer Acht gelassen werden. In San Diego war Santos das, was einem Mafiapaten am nächsten kam, und das Urteil erfolgte aufgrund seiner Beteiligung an einer drei Jahre zurückliegenden, an eine Hinrichtung erinnernde Ermordung zweier Polizisten. »Warum erfuhren wir nichts von dem Mädchen, als der Notruf einging?«, fragte Gage Will, als sie sich draußen in der Zufahrt trafen. Eine breite Treppe führte von dort aus zu einer großen Flügeltür hinauf, die jetzt weit offen stand und von zwei Uniformierten bewacht wurde. Selbst am späten Abend war es noch so warm, dass Will sein Jackett im Auto ließ. »Die Ehefrau hat die Leiche ihres Mannes gefunden, als sie von einer Veranstaltung zurückkam. Sie lief zu den Nachbarn und rief dann von dort aus die Polizei an, sagte aber nichts über ihre Tochter. Diaz fand das Mädchen oben.« Will winkte Diaz zu. »Schön, dass du wieder dabei bist.« Officer Diaz zeigte ein schiefes Lächeln. »Seit zwei Tagen zurück im Dienst, und endlich fühle ich mich wieder wie ein Mensch.« Im letzten Monat war Diaz im Dienst von einem Gangmitglied angeschossen worden, für das es eine Art Aufnahmeprüfung gewesen war, auf einen Cop zu feuern. Zum Glück überlebte Diaz den Anschlag und durfte seit Kurzem wieder arbeiten. »Was ist mit dem Mädchen passiert?«, fragte Gage, der zu den oberen Fenstern hinaufsah. Diaz schaute in seine Notizen und räusperte sich. »Wir kamen um 22:14 Uhr am Tatort an, neun Minuten nachdem der Notruf einging. Wir sind einmal um das Haus herum, haben versucht reinzukommen, aber die Tür war gesichert. Dann kam Mrs. Crystal Montgomery aus dem Nachbarhaus«, er zeigte nach Norden, »und ließ uns mit ihrem Sicherheitscode rein. Sie blieb im Wohnzimmer, während wir das Erdgeschoss überprüften, wo wir den Toten fanden.« Als Diaz zu Will und Gage aufsah, war er ein bisschen blass. »Das war kein schöner Anblick.« Gage bedeutete ihm fortzufahren. Sie rechneten ohnehin nicht mit einem angenehmen Tatort. Diaz sagte: »Wir fragten, ob sonst noch jemand zu Hause wäre, und da sagte uns Mrs. Montgomery, dass ihre sechzehnjährige Tochter Emily eigentlich zu Hause sein müsste.« Will unterbrach ihn. »Was für einen Eindruck hat sie dabei gemacht?« »So, als würde es ihr in dem Moment erst einfallen.« Ihre Tochter war ihr erst in dem Moment eingefallen? »Und dann?« »Wir haben die Mordkommission angerufen und das Haus abgesucht. Oben haben wir an ihre Tür geklopft, die verriegelt war, und als sich drinnen nichts rührte, haben wir die Tür aufgebrochen. Sie lag im Bademantel neben ihrem Bett, bewusstlos. Wir vergewisserten uns, dass sie noch lebte, riefen den Notarztwagen und haben ihre Vitalfunktionen geprüft, die ziemlich schwach waren. Im Zimmer roch es nach Alkohol, und wir fanden eine leere Halbliterflasche im Bad neben der Wanne. Die Wanne war feucht, und auf dem Boden lagen benutzte Handtücher sowie eine Flasche mit einem verschreibungspflichtigen Medikament.« »Was habt ihr angefasst?« »Außer Emily Montgomery ach ja, und wir haben die Decke von ihrem Bett genommen, um sie warm zu halten
haben wir gar nichts angefasst. Im Zimmer des Mädchens war Blut, aber sie hatte keine sichtbaren Verletzungen.« Gage sagte: »Ich schicke einen meiner Leute ins Krankenhaus, um die Beweise zu sichern.« »Wo ist Mrs. Montgomery jetzt?«, fragte Will. »Immer noch im Wohnzimmer.« »Danke, Diaz.« Nachdem Will und Gage ins Haus gegangen waren, wies Gage einen Techniker an, alle Eingangstüren und Fenster zu überprüfen. Die andere Technikerin folgte Will und Gage mit einer Kamera, um den Tatort zu fotografieren. Richter Montgomery hatte ein sehr großes Arbeitszimmer mit hoher Decke, das dunkel und elegant wirkte. Exakt die Art von dezenter Eleganz, die man bei einem geachteten Juristen erwartet. Ein Schreibset, eine kleine Uhr und ein Foto seiner Frau standen auf seinem riesigen Schreibtisch, der ansonsten tadellos aufgeräumt war. Der dicke weiße Teppich war über und über mit Blut bespritzt, und ein breiter roter Streifen bedeckte Richter Montgomerys Brust, die jedoch keine sichtbare Wunde aufwies. Seine Augen waren offen, glasig und leer. Getrocknetes Blut klebte an seinem geschwollenen Mund, auf seinem Gesicht und in Klecksen im ergrauenden blonden Haar. Auch die Bücherregale hinter ihm waren rot bespritzt. Gage ging um den Schreibtisch herum, blieb abrupt stehen und starrte nach unten. Sogleich trat Will zu ihm. Als er ihm über die Schulter sah, wurde er kreidebleich. Montgomerys Hose und Boxershorts waren bis zu den Knöcheln heruntergeschoben, die Beine gespreizt und sein Schritt eine einzige blutige, klaffende Wunde. Man hatte ihm den Penis auf brutalste Weise entfernt, sodass Muskelund Hautgewebe in Fetzen herunterhing.
»Heilige Scheiße!« Unwillkürlich griff Will sich in den Schritt. »Keine Angst, Alter, deine Ausstattung ist noch da«, sagte Gage mit einem zynischen Grinsen. »Nur dem Richter ist seine abhandengekommen.« Gage schaute sich die Wunde genauer an, wobei er sich so hinstellte, dass seine Kriminaltechnikerin Fotos aus verschiedenen Winkeln machen konnte. »Guck dir das hier mal an. Siehst du die Riffelung?« Will schluckte und versuchte sich auf die Stelle zu konzentrieren, auf die Gage zeigte. »Nein.« Alles, was Will sah, war eine breiige Masse. »Das sieht nach etwas Scharfem aus«, sagte Gage. »Eine Doppelklinge, wie bei einer starken Schere.« »Man kann einen Schwanz mit einer Schere abschneiden?«, fragte Will ungläubig. »Wenn sie scharf genug ist. Und die muss es gewesen sein, denn offenbar genügte ein Schnitt.« Das waren mehr Informationen, als Will haben wollte, vor allem solange er gleichzeitig auf das Resultat blickte. Will sah sich nach dem fehlenden Organ um. »Hat der Täter ihn mitgenommen?« »Guck mal in seinen Mund.« Montgomerys Penis war ihm in den Hals gerammt worden. Sein Mund war nicht geschwollen er war voll. »Siehst du die breiten Spritzer vom Arterienblut?« Gage deutete auf die langen Blutlinien auf dem Schreibtisch, dem Boden und dem Körper des Opfers. »Diese Reichweite und Stärke weist darauf hin, dass das Blut noch zirkulierte. Er hat also während der Amputation noch gelebt. Das sind Blutspuren, wie wir sie bei Teilenthauptungen oder Stichverletzungen an Hauptschlagadern bekommen.«
Deutsche Erstausgabe 02/2010
Copyright © 2007 by Allison Brennan
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH Redaktion
Übersetzung: Sabine Schilasky
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Autoren-Porträt von Allison Brennan
Allison Brennan arbeitete dreizehn Jahre lang als Beraterin der Justiz von Kalifornien, bevor sie ihren Beruf aufgab, um sich ausschließlich dem Schreiben und ihrer Familie zu widmen - mit Erfolg. Allison Brennan ist mittlerweile eine vielfache New-York-Times- und USA-Today-Bestsellerautorin. Zuletzt erschien im Diana Verlag ihr Roman Furcht soll dich begleiten. Sie lebt mit ihrem Ehemann Dan und ihren fünf Kindern im Norden von Kalifornien.
Bibliographische Angaben
- Autor: Allison Brennan
- 2010, 448 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben: Angelika Lieke
- Übersetzer: Sabine Schilasky
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453352793
- ISBN-13: 9783453352797
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