Sehnsucht nach Elena
Sehnsucht nach Elena von Joel Haahtela
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Vor drei Monaten begegnete ich ihr zum ersten Mal. Es war der zwölfte Januar. Ich habe den Tag in meinem Wandkalender schwarz markiert. Dort steht schlicht und einfach: Heute habe ich sie gesehen.
Normalerweise ist es gar nicht meine Strecke. Meistens fahre ich nördlich vom Stadtzentrum los, am Busdepot entlang, an der Sternwarte und dem Ge müsehändler vorbei. Direkt vor meinem Haus steige ich in die Straßenbahn und an der siebten Haltestelle wieder aus. Warum ich an diesem Tag nur fünf Sta tionen fuhr, weiß ich nicht. Ich habe vergeblich nach einer Erklärung gesucht. Vielleicht war es einfach ein Ver sehen.
Der Tag brach gerade an, und es war noch dunkel, als mir auf dem Weg durch den Park eine Frau ent gegenkam. Ich sah ihr ins Gesicht, doch ihr Blick war in Richtung Himmel abgewandt. Nachdem wir an einander vorbeigegangen waren, blieb ich stehen und drehte mich um. Ich stand dort eine ganze Weile, auch wenn sie schon lange nicht mehr da war.
Am nächsten Morgen stieg ich an der fünften Haltestelle aus und spazierte durch den Park. Ich drehte etliche Runden und war mir bereits sicher, dass sie nicht kommen würde. Vielleicht hatte sie sich am Tag zuvor geirrt, so wie ich, oder war nur auf der Durchreise in der Stadt. Viele Menschen habe ich nur einmal getroffen und danach nie wieder.
Am Tag darauf ging ich ihr nicht entgegen. Ich setzte mich früh auf die Bank, in den Schutz der Kastanie, die im Januar noch ohne Blätter war. Der Wind rauschte durch die blanken Zweige, und der Regen hatte die Steine nass zurückgelassen. 5
Ich weiß, wohin ihr Weg sie führt: Sie geht durch den Park, am Springbrunnen vorbei und durch die Pforte hinaus auf eine Allee mit Weißdornbäumen. Am Ende der Straße steht eine Kirche, auf die sie zusteuert, während die Turmuhr halb neun schlägt. Vor der Kirche biegt sie rechts zum Markt ab. Dort befindet sich die Universität mit ihrer Säulenreihe, durch die hindurch sie im Gebäude verschwindet.
Auch ich habe diese Hochschule besucht, aber nie einen Abschluss gemacht. Mein Vater wollte, dass ich weiterstudiere, doch ich hatte anderes im Sinn. Meine Mutter teilte die Ansicht ihres Mannes; was sie wirklich dachte, weiß ich nicht. Sie vertrat oft seine Meinung, obwohl ich mir sicher war, dass die Sache anders lag.
Ich weiß, wohin sie geht, aber nicht, woher sie kommt. Sie muss in der Nähe wohnen, sonst würde sie die Bahn nehmen. Ich weiß auch nicht, wann sie zurückkommt. Manchmal wird es spät, einmal sah ich sie in der letzten Straßenbahn. Sie starrte aus dem Fenster, ihr Gesicht spiegelte sich im Glas. Die ganze Fahrt hindurch betrachtete ich sie – bis sie ausstieg und in der Dunkelheit verschwand.
Heute ist sie spät dran, ich muss lange warten. Es gibt auch Tage, an denen sie gar nicht kommt. Eine Dame mit Pudel durchquert den Park und schaut mich kurz an. Im Baum sitzen Dohlen, es ist still und heller als gestern. Bald wird alles voller Blätter sein. Ich bleibe noch eine halbe Stunde, auch wenn mir klar ist, dass sie heute nicht kommen wird. Als die Uhr neun schlägt, gehe ich in Richtung Ausgang. Einmal drehe ich mich noch um, doch es ist niemand zu sehen. 6
In der Stadt fand heute eine Demonstration statt. Ich meinte, ihr Gesicht in der Menge auszumachen, aber vielleicht täuschte ich mich auch. Es waren Fabrik arbeiter, die mit Streik drohten. Sie klagten lautstark über den Staub in ihren Lungen, der sie krank macht. Die Polizei stand daneben und war ganz ihrer Meinung. Viele der Männer sahen fahl und angeschlagen aus.
Am Nachmittag löste der Zug sich auf, die meisten Teilnehmer gingen nach Hause zu ihren Frauen. Andere kehrten in den Cafés am Markt ein. Sie hatten eigene Flaschen dabei, aus denen sie die Gläser füllten. Sie grölten und betranken sich. Einer rannte quer über den Platz und bedrängte eine Passantin. Die Polizei packte ihn unter den Achseln und schob ihn in einen schwarzen Wagen.
Die Frau aus der Menge, die ihr ähnlich gesehen hatte, sah ich nicht mehr wieder. Trotzdem blieb ich lange sitzen und machte mich erst spät am Abend auf den Heimweg. Überall funkelten die Lichter der Stadt, und von der Straßenbahn aus sah ich die Treppe, die zur Brücke hinaufführt. Letzte Woche las ich in der Zeitung von einem Mann, der sich dort hinuntergestürzt hatte. In seiner Tasche steckte ein Brief für seine Frau, doch die Tinte war verlaufen und die Schrift nicht mehr zu entziffern. 7
Als ich ein Kind war, erzählte meine Mutter mir von einer Frau, die auf einem weißen Pferd ritt. Eigentlich ritt sie nicht, sondern saß reglos auf dem Rücken des Tieres. In der Hand hielt sie eine weiße Fahne, ihr dunkles Haar wehte im Wind. Auch die Fahne flatterte und war von sehr reinem Weiß. Als ich wissen wollte, was sie machte, schüttelte meine Mutter den Kopf: nichts, sie stand nur im Wind und wartete. Ich fragte, worauf sie wartete, doch meine Mutter hatte darauf keine Antwort. Alles, was sie mir sagen konnte, war, dass die Frau etwas wusste, das wir nicht wussten.
Manchmal träume ich von dieser Reiterin. Sie steht in der Landschaft, die meine Mutter sich ausgedacht hat. Im Hintergrund sind Bäume, aber ich erkenne keine Farben, nur Schwarz und Weiß. Was weiß diese Frau, und worauf wartet sie? Oder trauert sie um etwas?
Heute Nacht kann ich nicht schlafen. Ich stehe auf und gehe ins Nebenzimmer, in der Dunkelheit knarrt und knirscht der Boden unter meinen Füßen. Mit einem Glas Zitronensaft setze ich mich ans Fenster. Draußen regnet es, durch einen Spalt zwischen den Vorhängen dringt Licht. Der Garten liegt im Dunkeln, nur eine einzelne Lampe beleuchtet die Mauer. Laubwerk versperrt die Sicht durch die Baumkronen, doch darüber hellt sich ein Stück vom Himmel auf. Der Apfel auf der Fensterbank ist verschrumpelt. Der Saft ist herb, seine Säure prickelt am Gaumen. Über mir poltert es. Die Frau, die dort wohnt, wacht immer um diese Zeit auf. Sie behauptet, schon fünfzig Jahre nicht mehr durchgeschlafen zu haben. Seitdem sie den Ausbruch des Krieges miterlebt hat.
Später spüre ich das Laken an der Wange, das Rauschen des Regens hat aufgehört. Ich lausche der Stille und nicke kurz ein. Im Traum ist sie mir näher, doch als ich aufwache, bin ich wieder allein. Auf meiner Zunge liegt der saure Geschmack der Zitrone. 8
Heute sehe ich sie schon zum zweiten Mal. Morgens lief sie an mir vorbei, jetzt sitzt sie am Marktplatz und liest. Es ist ein warmer Tag, und die Sonne erhellt ihr Gesicht. Sie trägt die Winterjacke offen, der Hals liegt frei, kein Schmuck. Nur weiße Haut.
Wie sie so zwischen den Säulen sitzt, die Füße im Schatten, sehe ich an ihr Dinge, die mir aus weiter Ferne in Erinnerung kommen. Vielleicht ist es ihre Haltung oder die Art, wie sie sich auf die Hand stützt, den Blick vom Buch in den Himmel wandern lässt. All das ist vertraut und schmerzhaft zugleich – die Be wegung ihrer Arme, das bedächtige Umblättern der Seiten.
Plötzlich leuchten ihre Augen auf, sie ruft jemandem etwas zu. Am Rande des Platzes entdecke ich eine winkende Frau. Sie legt ihre Lektüre auf die Stufen und läuft der Frau entgegen, beinahe wäre sie gestürzt. Was sie sagen, kann ich nicht hören, aber ich sehe ihre Gesichter, die Wiedersehensfreude. Sie lachen und umarmen sich.
Ich stehe mitten im Getümmel, jemand rempelt mich an. Ich stolpere und starre auf das Buch, das auf der Treppe liegen geblieben ist. Die beiden sind noch einmal kurz zu sehen, bevor sie in der Menge verschwinden. Einen Augenblick warte ich noch, dann gehe ich auf das Buch zu, das niemand beachtet, und nehme es an mich. Ich schaue mich um. Der Idiot. Teil eins. Von F. M. Dostojewski. Auf der Innenseite steht: Elena
Ihr Name. Ich habe oft überlegt, wie sie heißen könnte, doch auf Elena wäre ich nie gekommen. Der Wind schlägt ein paar Seiten um, und ich schaue eine Weile zum Kirchturm hinüber. Scharen von Vögeln umkreisen ihn; sie drehen eine Runde und kehren zu ihrem Ausgangspunkt zurück, als sei ihre Bahn vorherbestimmt. 9
Ich weiß fast nichts über sie. Jetzt kenne ich ihren Namen. Elena. Ich weiß, wie sie geht und wie sie sich kleidet. Ich habe ihr Gesicht gesehen, das die Welt zu einem besseren Ort macht. Sie hat eine gerade Nase, mit einer ganz leichten Krümmung vielleicht, und ausgeprägte Ohrläppchen. Sie wird kaum älter als fünfundzwanzig sein.
Ich denke mir ein Leben für Elena aus: Ihre Eltern wohnen in einer anderen Stadt, sie hat eine Schwester oder einen Bruder. Sie lebt allein, ist unordentlich. In ihrem Zimmer stehen Blumen, die zweimal wöchentlich Wasser brauchen. Sie lehnt an der Fensterbank und überlegt sich, wen sie heute Abend anrufen soll. Dostojewski langweilt sie – sonst hätte sie das Buch nicht auf der Treppe liegen lassen.
Doch nichts davon ist wahr. Elena ist eine ande re, die ich überhaupt nicht kenne. Sie hat Geheimnisse, von denen niemand etwas weiß. Woher hat sie ihr Lächeln? Wofür schämt sie sich? Wen hat sie geliebt?
Das Buch liegt auf dem Küchentisch, ich habe Tee darauf verschüttet. Immer wieder lese ich ihren Namen, der mit Bleistift geschrieben ist, in durchscheinenden, zarten Buchstaben. Ich fürchte, sie könnten sich auflösen. Durch ihren Namen ist sie anwesend, mir näher – als wäre sie gerade aufgestanden und in ein anderes Zimmer gegangen. Beinahe höre ich ihre Stimme, ihre vorsichtigen Schritte auf dem Holzfußboden. Die Teetasse ist halbleer, und das Klirren des Löffels hängt wie ein Echo in der Luft. 13
Heute ist es windig. Baumkronen biegen sich, die Fensterläden klappern. Öffnet man die Haustür, steigt der Wind ins Treppenhaus, braust um die Beine – eine unfassbare Zeit, in der wir leben. Wolken jagen über den Himmel und sammeln sich jenseits der Stadt. Ein Hut fliegt die Gasse entlang. Als ich nachmittags nach Hause komme, stehen die Leute auf der Straße, den Blick nach oben gerichtet. Alle in Jacken, braun oder grau, einreihig oder zweireihig geknöpft. Auf meine Frage hin erfahre ich, dass ein Teil des Daches sich gelöst hat. In den obersten Stockwerken wohnen sie jetzt unter freiem Himmel und fürchten sich vor dem Regen. Aber in einer klaren Nacht, sagt ein kleiner Junge, könnten sie von der Küche aus die Sterne sehen. 14
Gerade als ich gehen will, bemerke ich Elena. Ich steuere geradewegs auf sie zu und kann nicht mehr zurück. Sie kommt so überraschend wie immer, nur diesmal habe ich ihre Schritte nicht gehört. Ich senke den Blick und sehe ihre bloßen Beine unter dem Mantel, schmale schwarze Schuhe, und als ich wieder aufschaue, sieht sie mir in die Augen, und plötzlich gibt es keinen Ort, an den ich flüchten kann, keine Kastanie, die sich über mich breitet.
Elena lächelt mich an, aber so wie einen Fremden, distanziert und höflich. Wie Menschen sich ansehen, wenn sie aneinander vorübergehen, ein Lächeln, das nichts bedeutet. Als sie mir ganz nah ist, spüre ich ihre Bewegung, als befänden wir uns in einem engen Raum, und ich fühle mich gleichzeitig unwohl und selig. Ich nehme den Duft ihres Parfüms wahr und das Rascheln ihrer Jacke, die unerträgliche Stille und das Rauschen, wenn zwei Welten aneinander vorüberziehen.
Erst sehr viel später bleibe ich stehen. Mit klopfendem Herzen, das Hemd von Schweiß durchnässt. Ich stelle fest, dass ich ziellos umhergerannt bin und mich verirrt habe. In einem Kiosk mit qualmendem Schornstein verkauft ein Mann Würstchen. Ich frage ihn, wo wir sind, und er sieht mich an, als wäre ich verrückt. Zwei Kilometer nördlich vom Marktplatz, sagt er, und kein Mensch kauft hier Würstchen. Früher gab es nebenan eine Schuhfabrik, aber jetzt nicht mehr, das war einmal. Der Mann tut mir leid. Lässt sich das Häuschen nicht versetzen, mit einem Kran vielleicht? Er schüttelt den Kopf: doch, wahrscheinlich schon, nur wohin soll einer umziehen, der vierzig Jahre lang an einem Ort gewesen ist. 15
Ich würde gern von etwas anderem reden, aber alles auf der Welt steht still. Die Tage vergehen, die Bäume haben bereits Blätter. Mit jedem Tag ist es länger hell, und abends muss ich schon Gardinen vorziehen. Am Montag trug Elena eine leichtere Jacke, am Dienstag kam sie gar nicht. Am Mittwoch verdeckte ein Regenschirm ihr Gesicht, und am Donnerstag war sie in Gedanken versunken, ihre Miene geistesabwesend.
Morgens sitze ich im Park, am Nachmittag komme ich um kurz vor fünf nach Hause. Ich brate mir Eier und Fleisch in der Pfanne und koche einen Topf Kartoffeln. Als ich in den Spiegel sehe, fällt mir eine Wunde im Gesicht auf. Das muss heute Früh beim Rasieren passiert sein. Niemand hat mich darauf aufmerksam gemacht, obwohl eine feine Blutspur an meinem Hals angetrocknet ist.
Diese Woche ist alles wie immer. Ich setze Elena aus kleinen Teilen zusammen, nehme ihr Lächeln, den Widerhall ihrer Schritte, die Buchstaben auf dem Papier, die Abdrücke ihrer Schuhe nach dem Regen. Abends spreche ich mit ihr, aber das Zimmer nebenan bleibt verschlossen und leer. Ich erzähle ihr ganz gewöhnliche Dinge: was ich in der Zeitung gelesen habe, oder wie ich als Kind mit meinem Bruder zum Schwimmen an den Fluss gelaufen bin, dessen Wasser tief und kalt war. Ich möchte sie berühren. Nein, dieser Gedanke führt zu nichts, lieber denke ich daran, dass der Sommer bald kommen und der Garten vor meinem Fenster verwildern wird. Im Hochsommer lassen die Zweige kaum einen Blick durch, und nachts wirft ein Baum seinen Schatten an die Wand. 29
Am Mittwochmorgen kommt sie nicht, und ich schreibe in meinen Kalender: Heute war sie nicht da. Ich hocke in der Küche, kann aber nicht stillsitzen. Die Dinge geraten durcheinander, Herdplatten bleiben an, und ich starre auf die Tür, hinter der das leere Zimmer liegt. Ich versuche zu essen, aber als ich den Kühlschrank öffne, fällt mir auf, dass ich nicht einkaufen war. Im Regal ist noch Tee. Ich blättere in Dostojewskis Idiot. Der Buchdeckel hat einen Fettfleck bekommen. Ich reibe mit dem feuchten Ärmel darauf herum, aber die Pappe ist spröde und löst sich auf. Verzweifelt versuche ich, den Schaden mit Tesafilm zu beheben. Ich fürchte, ihr Name könnte abnutzen, sich auflösen, vergehen. Elena. Ich beklebe auch ihren Schriftzug mit einem Stück durchsichtigen Klebeband und streiche immer wieder über die glatte Fläche.
Später versuche ich zu schlafen. Über mir lärmt die Nachbarin, scheppert mit Blechschüsseln. Ich denke an Dinge, die ich vergessen wollte. Die Bilder drängen sich mit aller Macht auf, bis ich mich unter der Decke verstecke. Etwas Licht dringt durch sie hindurch, das aus dem Garten kommt, so wie all die Düfte, die die Büsche im Sommer bis ins Zimmer hinein verströmen. Morgen gehe ich in den Park, und dann kommt sie. Piper NordiskaAus dem Finnischen von Sandra Doyen
- Autor: Joel Haahtela
- 2009, 151 Seiten, Maße: 13,4 x 21,3 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Finn. v. Doyen, Sandra
- Übersetzer: Sandra Doyen
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 349205238X
- ISBN-13: 9783492052382
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