Seidentochter
Der koreanische Staat ermöglicht dreißig Adoptierten aus der ganzen Welt, ihr Geburtsland kennen zu lernen und sich mit der Kultur des Landes vertraut zu machen -
Anneli ist einundzwanzig, als dieser Brief in ihr Leben flattert, und schnell ist klar: sie wird die Einladung annehmen und ihr Geburtsland kennen lernen. Sie wird endlich spüren, wie es ist, einmal äußerlich nicht aufzufallen, Gleiche unter Gleichen zu sein.
Und sie wird alles versuchen, um mehr über ihre Herkunft zu erfahren.
Sie tritt in einer koreanischen Familienshow auf, und dort erzählt sie das Wenige, das sie über die ersten Monate ihres Lebens weiß.
Das Unglaubliche passiert: Ihre leiblichen Eltern erkennen sie wieder - sie ist das Kind, das sie jahrelang tot geglaubt hatten. Was nun folgt, ist der manchmal langsame, dann wieder extrem beschleunigte Weg einer Annäherung an eine doch sehr fremde Welt -
Seidentochtervon Anneli Schinkel
LESEPROBE
Auf demWeg nach Korea
Mein BruderJannik und ich sind auf dem Weg nach Südkorea, einer Halbinsel vor China, dieetwas kleiner ist als Baden-Württemberg und Bayern zusammen. Es soll ein sehrbergiges Land sein, in dessen Hauptstadt Seoul etwa zehn Millionen Menschenleben, also ein knappes Viertel aller Südkoreaner. Es ist das Land, in dem ichim Juli 1982 geboren wurde und das ich im November 1982 als Adoptivkind verlassenhabe.
Damals wardie Reisezeit doppelt so lange wie heute; nach einem 24-Stunden-Flug trug micheine Stewardess aus der Maschine und übergab mich in der Empfangshalle des FrankfurterFlughafens meinen Adoptiveltern. Janniks Ankunft drei Jahre später verliefähnlich. Und heute fliegen wir als junge Erwachsene gemeinsam von dem gleichenFlughafen aus in die entgegengesetzte Richtung -zurück in unser Geburtsland.
Während wirauf das Boarding warten, kreisen meine Gedanken immerwieder um meine Ankunft hier in Deutschland vor ungefähr 20 Jahren.
Früherkonnte ich nicht oft genug hören, wie mich meine Eltern erwartet und empfangenhaben. Und als ich einmal eine schwangere Frau sah, fragte ich Mama: »Bin ichauch aus deinem Bauch gekommen?« Mama verneinte es,und gemeinsam schauten wir uns das Album mit den Bildern an, die kurz nachmeiner Landung in Deutschland entstanden sind. Ich wollte alles immer ganzgenau wissen, auch warum sie keine eigenen Kinder hatten. Und meine Elterngaben mir auf alle Fragen eine Antwort. Von Beginn an haben sie mir erzählt,dass sie mich adoptiert haben - mein asiatisches Aussehen ließ ihnen aber auchkeine andere Wahl. Sie nahmen Bilder- und Kinderbücher zu Hilfe und habenwirklich mit einer Engelsgeduld auch meine neugierigsten Fragen beantwortet. Siemüssen vor meiner Ankunft sehr aufgeregt gewesen sein. »Dieses Warten in derEmpfangshalle vor dem Ausgang ist mir so vorgekommen wie das Warten auf eineNiederkunft im Kreißsaal«, erzählt Papa heute noch gern.
»Das hateine Ewigkeit gedauert«, fügt Mama dann jedes Mal hinzu.
Im Wartenhatten meine Eltern Übung. Statt zehn Monate wie bei einem leiblichen Kindhatten sie von der ersten Auskunft über eine Adoption bis zu dem Zeitpunkt, andem ich rechtmäßig, also auch »auf dem Papier«, ihr Kind geworden war, zweiJahre Geduld aufbringen müssen, eine lange Zeit, in der es sich manche Paarevielleicht auch noch einmal anders überlegen.
Erst imSommer 1982 erfuhren meine Eltern, dass terre des hommes ihnen ein Adoptivkind vermitteln würde. Damals musstensie festlegen, aus welchem Land ihr Kind stammen sollte. Sie entschieden sichfür ein Waisenkind aus Südkorea, weil die Chance, einen Säugling oder einKleinkind zu bekommen, größer war als bei Adoptionen aus den meisten anderenLändern.
Auch zumGeschlecht ihres Adoptivkindes durften sie einen Wunsch äußern. Meiner Mutterwar es nicht wichtig, ob ein Junge oder ein Mädchen zu ihnen kam, mein Vaterjedoch wollte als erstes Kind am liebsten eine Tochter.
Als meineEltern schließlich die Zusage für ein Mädchen aus Südkorea erhielten, suchtensie sogleich fieberhaft nach einem passenden Namen. Sie wollten ihn selbst mitLiebe auswählen, und nicht das fortführen, was vielleicht irgendein koreanischerSachbearbeiter begonnen hatte. Sie entschieden sich schließlich für Anneli, sohieß eine Spielkameradin von Papa, als er noch klein war, und dieser Name hatteihm immer gefallen. Anneli konnte man außerdem in Anne- Li abwandeln, für denFall, dass ich mir später einmal einen asiatisch klingenden Namen wünschenwürde. Mama erzählte, dass sie total aufgeregt gewesen sei, als sie endlich denBrief mit dem »Kindervorschlag« in Händen hielt, in dem sie zum ersten Mal vonmir erfuhr und auch zwei Fotos von mir sah. Noch heute gefallen mir dieseersten beiden Bilder, die es von mir gibt, nicht so richtig. Im Spaß habe ichsogar einmal behauptet: »Bei den Bildern hätte ich mich nicht genommen.«
Aber Mamasagt immer, sie habe sich sofort in mich verliebt und von diesem Tag an hättensie es kaum erwarten können, mich am Flughafen in Empfang zu nehmen.Adoptivmütter verlieben sich anscheinend genauso blind in ihre Kinder wieandere Mütter auch.
DieGeschichte meiner Ankunft habe ich durch die wiederholten Erzählungen meinerEltern so verinnerlicht, dass ich die Bilder wie einen Film vor meinem innerenAuge abspulen kann. Während sich die Wartehalle immer mehr füllt, sehe ich inGedanken alles genau vor mir: Am Donnerstag, den 25.November 1982 um 9.20 Uhr,harren meine Eltern nervös in der Empfangshalle des Frankfurter Flughafens aus.Mama steht gewappnet mit einer Tasche da, in der sind Windeln, Babycreme, eineKinderdecke mit einem weißen Pferdchen und Herzen darauf und einem kleinenPlüschbär, den ich später einmal »Eumelchen« taufenwürde. Sie und Papa sind nervös, denn sie wissen nicht sicher, ob ichtatsächlich in dem Flieger bin.
Das Gefühl,als sie mich endlich in ihren Armen halten dürfen, ist überwältigend. MamasAugen glänzen, wenn sie davon erzählt.
»Du hattesteinen schicken türkisfarbenen kleinen Anzug aus Frotteestoff an, der eigentlichviel zu warm war, und um das Handgelenk trugst du ein kleines Namensschild, wiees Neugeborene im Krankenhaus auch tragen«, höre ich ihre Stimme. »Und du hastaus Leibeskräften geschrien. Wir konnten dich zuerstgar nicht beruhigen.«
Ich warbestimmt völlig übermüdet, wollte eine frische Windel, etwas zu essen und schlafen
©Verlagsgruppe Lübbe
- Autor: Anneli Schinkel
- 2007, 264 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Ehrenwirth
- ISBN-10: 3431037364
- ISBN-13: 9783431037364
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