Seidenwind - Der Zaubergarten
Das sorglose Leben der jungen Inderin Saroj findet ein jähes Ende, als der Vater ihr die bevorstehende Heirat mit dem Sohn eines Geschäftsfreundes verkündet. Mit aller Kraft setzt Saroj sich dagegen zur Wehr und gewinnt den Kampf um die...
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Produktinformationen zu „Seidenwind - Der Zaubergarten “
Das sorglose Leben der jungen Inderin Saroj findet ein jähes Ende, als der Vater ihr die bevorstehende Heirat mit dem Sohn eines Geschäftsfreundes verkündet. Mit aller Kraft setzt Saroj sich dagegen zur Wehr und gewinnt den Kampf um die Freiheit. Sie geht nach London, um Medizin zu studieren und trifft dort Nat, einen indischen Kommilitonen. Die Liebe trifft beide wie einen Blitzschlag, doch allmählich kommen unerwartete und beunruhigende Zusammenhänge zwischen ihren Familien ans Licht.
Lese-Probe zu „Seidenwind - Der Zaubergarten “
Der Zaubergarten von Sharon Maas1. KAPITEL
Nat
Tamil Nadu, Bundesstaat Madras, 1947
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Paul war vier Jahre alt, als ihn der Sahib von dort, wo die vielen Kinder waren, fortholte. Diesen Tag würde er niemals vergessen. Er wachte von einem dröhnenden Klang auf, als jemand auf einen großen Messinggong schlug: Das war Schwester Maria, die die Kinder weckte. Draußen krächzten aufgeregt die Krähen, so als wüßten sie, daß dies ein besonderer Tag war, und stoben mit flatterndem Flügelschlag davon. Paul kniete sich zum Gebet auf seine Matte, streckte sich ausgiebig, gähnte, stand auf und ging hinaus, um Wasser zu lassen.
Am Brunnen neben dem Wasserhahn standen gefüllte Eimer bereit, an deren Rand jeweils drei Blechtassen hingen. Die Kinder drängelten sich plappernd und lachend vor, und Paul war wie immer der letzte. Er schöpfte eine Tasse Wasser und goß sich die eine Hälfte davon über die Brust, die andere über den Rücken, so daß seine Haut glänzte und alle seine Körperhärchen aufstanden wie bei einem gerupften Huhn. Er hatte ein Stück Seife ganz für sich allein, das jetzt allerdings nur noch so groß wie eine Ein-Rupien-Münze war. Damit seifte er sich ein, bis er überall mit Schaum bedeckt war. Dann spülte er den Seifenschaum mit drei Tassen kaltem Wasser ab. Das machte er alles ganz allein. Sie mußten beim Baden mit vier Tassen Wasser auskommen, sagte Schwester. Bernadette, denn Wasser war kostbar, der Brunnen fast leer, und niemand wußte, ob der Ostmonsun dieses Jahr kommen würde. Wenn dies nicht geschah, nun, dann würden sie sich eben nicht mehr baden können. Schließlich würden sie auch nichts mehr zu trinken haben, und dann würden sie sterben. Paul betete jeden Tag, daß der Monsun kam.
Am Hosenschlitz seiner blauen Shorts fehlte ein Knopf. Er hatte seine Hose einer der feinen Damen in Weiß, die Schwester Bernadette hieß und seine Lieblingsschwester war, gezeigt. Sie hatte gesagt, daß er den verlorenen Knopf suchen sollte. Als er ihn jedoch nicht finden konnte, sagte sie, daß es dann eben auch so gehen müsse, weil sie keine Knöpfe mehr hätten. Auch an seinem weißen Hemd fehlten zwei Knöpfe, aber das war nicht so schlimm wie der fehlende Knopf an seinem Hosenschlitz. Den meisten Kindern fehlten Knöpfe an den Hemden. Wo mochten nur all die verlorenen Knöpfe bleiben? fragte sich Paul manchmal. Wie konnte es sein, daß sie einfach verschwanden und nie wieder gefunden wurden? Einmal hatte er Schwester Bernadette gefragt, wo all die Knöpfe von den Hemden, Kleidern und Shorts der Kinder hinkämen. Schwester Bernadette hatte gelächelt und gesagt, daß vielleicht das Jesuskind die Knöpfe nähme, um damit zu spielen. »Aber wenn das Jesuskind die Knöpfe nimmt, dann ist das Stehlen«, sagte Paul. Schwester Bernadette lächelte nur und korrigierte sich: »Nein, nein, Paul, das Jesuskind stiehlt nicht, es ist der kleine Krishna, der die Knöpfe stiehlt und sie in den Himmel bringt, damit er und das Jesuskind damit spielen können.«
»Das Jesuskind und der kleine Krishna sind sehr gute Freunde«, sagte Schwester Bernadette zu Paul und den anderen Kindern. Schwester Bernadette kannte viele Geschichten vom kleinen Krishna, durfte sie aber nicht erzählen, weil Mutter Immaculata sagte, daß der kleine Krishna ungezogen sei. Er würde nämlich Quark und Butter stehlen, das Jesuskind hingegen sei brav. Deshalb meinte Schwester Bernadette, daß es der kleine Krishna sei, der die Knöpfe stahl, und deshalb durfte sie die Geschichten vom kleinen Krishna nicht erzählen. Aber sie tat es manchmal trotzdem. Heimlich.
Es war noch dunkel, und in der Luft lag nächtliche Kühle; die Krähen flogen schon, und wenn man bis zum Dach hinaufstieg, konnte man im Osten bereits einen rosagelben Schimmer sehen. Sie versammelten sich alle auf dem zentralen Hof zwischen dem Heim und der Schule. Dort mußten sie jetzt still sein, sich in den Sand knien, der Paul an den Knien weh tat, und die Handflächen aneinanderlegen. Mutter Immaculata, die hochgewachsene, dicke Dame in Weiß mit dem großen Holzkreuz auf dem üppigen Busen, die immer so böse dreinsah, daß Paul Angst vor ihr hatte, stellte sich vor sie hin. Sie sprachen dann alle zusammen das Gebet: »Vater unser, der du bist im Himmel ...«
Nach dem Gebet setzten sie sich auf der Schulveranda auf ihre Matten und frühstückten, einen guten, krümeligen Iddly mit einem Löffel Jaggary. Dazu gab es süßen Tee mit Milch. Danach sammelte eine Dame im weißen Sari die Teller aus Bananenblättern ein, und eine andere Dame kam mit einem großen Eimer und einer Schöpfkelle und goß den Kindern Wasser über die Hände, um den Iddly und den Jaggary abzuwaschen. Dann war es Zeit für den Unterricht, der gleich hier auf den Matten stattfand.
An diesem Morgen hatten sie in der ersten Stunde Englisch. Die Lehrerin rief Paul auf, obwohl alle Kinder die Hände gehoben hatten und damit in der Luft herumfuchtelten; alle bis auf zwei oder drei, die das Alphabet noch nicht kannten. Paul aber konnte es aufsagen: »A, B, C, D...«, begann er und zögerte nur ein einziges Mal, und zwar vor dem M, da er das M und das N immer miteinander verwechselte. Diesmal aber sagte er es richtig, und als er fertig war, klatschten die Kinder und die Lehrerin Beifall. In der zweiten und dritten Stunde hatten sie Hindi und Tamil, danach gingen die Jungen und Mädchen auf die Toilette. Sie mußten im Gänsemarsch gehen, wobei sich jedes Kind an den Schultern seines Vordermanns festhielt. Sie durften dabei nicht rennen. Die Toilette, das war das Feld. Man mußte auf die Dornen aufpassen, da Paul jedoch eine dicke Hornhaut an den Füßen hatte, störten ihn die Dornen nicht besonders, es sei denn, er trat sich einmal einen ganz tief ein. Paul weinte nie, wenn das geschah. Er sagte es einfach der Lehrerin, worauf diese ihm den Dorn mit einer rostigen Pinzette, die sie auf dem Sims über dem Fenster aufbewahrte, herauszog. Die Lehrerin war nett. Wenn ein Kind einmal mußte, bekam es von der Lehrerin eine Tasse Wasser, damit es sich den Popo abwaschen konnte, und eine kleine Schaufel, um das Geschäft mit Sand zu bedecken. Man mußte aufpassen, um nicht auf die Häufchen der anderen Kinder zu treten, aber die lagen ohnehin meistens hinter den Büschen und Felsen.
Nach der Toilettenpause ging der Unterricht weiter, dann gab es Mittagessen. Die Kinder saßen auf ihren Matten, während zwei Damen einen Wagen, auf dem ein großer Kessel stand, zwischen den Reihen hindurchschoben. Jedes Kind bekam einen Schlag Reis auf einem Bananenblatt-Teller und dazu einen Löffel Sambar. Paul hatte immer solchen Hunger, daß er alles bis aufs letzte Reiskörnchen aufaß und seinen Teller dann noch mit dem Zeigefinger sauberwischte, so daß dieser hinterher wieder leuchtend grün glänzte. Nach dem Mittagessen legten sich die Kinder auf ihre Matten schlafen. Inzwischen stand die Sonne hoch am Himmel, und der Boden war so heiß, daß man sich die Fußsohlen verbrannte. Die Veranda wurde jedoch durch ein Dach aus Palmenblättern beschattet. Der Wind, der durch die Veranda strich, war ebenfalls heiß, machte einen aber auf angenehme Weise schläfrig.
Paul war fast eingeschlafen, als er hörte, wie ein Motorrad mit knatterndem Motor auf den Hof fuhr und der Kies wegspritzte. Er drehte sein Gesicht in Richtung des Geräuschs und öffnete die Augen einen Spalt. Er sah sofort, daß der Fahrer ein Sahib war, auch wenn er eine weiße Lungi und ein weißes Hemd trug wie die Männer hier, denn sein Gesicht war zwar braun wie bei allen Leuten, aber es war ein rötlich-goldenes Braun. Auch sein Haar war goldbraun, nicht schwarz. Paul hatte noch nie zuvor einen Sahib oder eine Memsahib gesehen, er kannte sie nur von den Bildern in seinen Schulbüchern. Also tat er jetzt so, als würde er schlafen, während er, durch halbgeschlossene Lider blinzelnd, den Sahib beobachtete, als dieser ein Bein über den Sitz des Motorrads schwang, die Maschine auf den Ständer stellte und dann über den Hof ging. Er machte den Eindruck, als würde er erwarten, daß man ihn begrüßte. Paul sah, daß er hinkte und daß er, was wirklich seltsam war, unter seinen Chappals Socken trug. Paul hatte in seinem englischen Lesebuch Socken gesehen - S wie Socke -, noch nie zuvor hatte er jedoch tatsächlich jemanden welche tragen sehen. Die des Sahibs waren grau und hatten einen blauen Streifen.
Mutter Immaculata eilte zu dem Mann hinaus. Der Speckring zwischen ihrer Saribluse und dem Rock wabbelte heftig, während sie rannte. Paul wußte, daß die Sahibs sich bei der Begrüßung die Hände schüttelten, dieser Sahib jedoch machte vor Mutter Immaculata eine Pranam, wobei er seine Handflächen aneinanderlegte, so wie sie es beim Beten auch immer taten. Mutter Immaculata schien das jedoch nicht zu gefallen. Sie streckte die Hand aus, die der Mann ergriff und schüttelte. Paul sah genau zu, denn dies alles war sehr ungewöhnlich und sehr interessant. Was wollte der Mann hier? Manchmal - nicht sehr oft - wurden die Kinder von Frauen und Männern besucht. Paul wußte, daß das die Tanten und Onkel der Kinder waren, wohingegen er selbst weder eine Tante noch einen Onkel hatte. Niemals aber kamen Sahibs zu Besuch. War dieser Mann gekommen, um sich ein Kind auszusuchen?
Paul spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Es geschah nur sehr selten, daß sich jemand ein Kind aussuchte, und diesmal war das bestimmt nicht der Fall, denn dann würde den Sahib eine Dame begleiten. Einmal, kurz vor Weihnachten, waren ein Mann und eine feine Dame in einem großen schwarzen Auto gekommen. Mutter Immaculata hatte den Kindern tags zuvor erklärt, daß die beiden kämen, um sich ein Kind auszusuchen, weil die Dame ein Kind verloren hatte - was Paul sehr unachtsam von ihr fand, denn er konnte sich zwar vorstellen, daß man einen Knopf verlor, wie aber konnte jemand ein Kind verlieren? Oder hatte es etwa der kleine Krishna gestohlen? - und daß das glückliche Kind dann bei ihnen leben und sie Mama und Papa nennen dürfte. Also waren alle Kinder schreiend, hüpfend und winkend zu den Besuchern hinausgestürzt, hatten sie umringt, hatten an ihrer Kleidung gezerrt und Namaste! Namaste! gerufen, weil sie alle ausgesucht werden wollten.
Paul hatte gebetet, daß man ihn aussuchen würde. Es hatte auch so ausgesehen, als würde das geschehen, denn die feine Dame, die traurige Augen hatte und einen purpurfarbenen Sari und viele goldene Armreifen trug, war stehengeblieben, hatte ihn angesehen und gelächelt. »Er hat ein hübsches helles Gesicht«, hörte Paul sie auf englisch sagen. »Stammt er aus dem Norden?« Paul hatte ganz fest gebetet und hatte sogar zu hoffen begonnen, denn er wußte einfach, daß die feine Dame ihn haben wollte.
Mutter Immaculata hatte jedoch entschieden den Kopf geschüttelt. Sie hatte die feine Dame beim Arm genommen und beiseite geführt, während sie ihr, den Kopf zu ihr hinübergeneigt, etwas Schreckliches über Paul erzählte, etwas, das er nicht wissen sollte, etwas, was die feine Dame veranlaßte, verständnisvoll zu nicken und sich ein anderes Kind auszusuchen, ein sehr kleines, eines, das noch so klein war, daß es nicht einmal in die Schule ging. Paul gehörte zu den ältesten Kindern. Wenn er fünf war, würde er nach Madras ins Good Shepherd kommen, ein schreckliches Heim für ältere Kinder, die nie jemand ausgesucht hatte. Mutter Immaculata sagte, daß die Kinder im Good Shepherd Jesu liebe kleinen Lämmer seien. Paul aber wollte kein Lamm sein, er war nämlich ein Junge. Oh, liebes Jesuskind, bitte mach, daß der Sahib mich aussucht! Oh, bitte mach, daß er mich aussucht, liebes Jesuskind! betete Paul, dann schlief er ein. Das Jesuskind hatte seine Gebete das letzte Mal nicht erhört, es würde es auch diesmal nicht tun.
Er wachte auf, weil ihn jemand an der Schulter rüttelte und »Paul! Paul!. rief. Paul rieb sich die Augen und sah auf. Es war die Lehrerin, und sie lächelte. Hinter ihr standen der große Sahib und Mutter Immaculata. Die beiden redeten miteinander. Der große Mann beobachtete ihn. Paul wagte es nicht zu hoffen. Er wußte, daß Mutter Immaculata dem Sahib gleich das schreckliche Geheimnis über ihn erzählen würde, so daß sich der Sahib dann voller Abscheu abwenden müßte. Aber nein. Mutter Immaculata kam zu ihm und streckte ihm eine Hand entgegen. Als Paul nicht sofort reagierte, winkte sie ihn ungeduldig herbei und sagte: »Komm, komm, Paul, steh auf, steh auf!. Also rappelte sich Paul auf die Füße. Da stand er nun und starrte den Sahib an, der vor ihm aufragte. Der Sahib hatte freundliche, graublaue Augen und riesige Hände. Eine davon legte er Paul jetzt auf den Kopf. Sie fühlte sich wie ein schöner, kühler Hut an, ein kühler weißer Hut, wie ihn der Sahib auf den Bildern in seinem Schulbuch trug. Dieser Sahib aber hatte keinen Hut auf, so als störe ihn die Sonne nicht.
Sie sprachen Englisch, Paul konnte ein wenig davon verstehen. Mutter Immaculata nannte den Mann Daktah, was Paul überraschte, denn er war doch gar nicht krank, warum also wollte der Daktah ihn sehen? Oder war er gekommen, um Paul eine Nadel in den Arm zu stechen, wie die Daktahs das manchmal machten? Und warum hing ihm kein Schlauch aus den Ohren, wie bei dem anderen Daktah, der manchmal kam? Paul hoffte, daß der Mann kein Daktah war, da er sonst nämlich wieder gehen würde. Er hoffte, daß dieser Mann gekommen war, um sich ein Kind auszusuchen; und daß er, Paul, dieses Kind sein würde.
Der Sahib sagte etwas über seine Frau, die gestorben war, und Mutter Immaculata lobte Paul wegen seiner hellen Haut. Sie sagte auch, daß er klug sei.
»Er ist ein kluger Junge«, hörte Paul sie sagen. »Ein sehr kluger Junge. «, woraufhin der Sahib nickte und zu ihm hinuntersah. Er schien erfreut. »Paul, zähle bis hundert! « sagte Mutter Immaculata. Sofort ratterte Paul die Zahlen von eins bis hundert herunter und machte dabei kaum eine Pause zum Atemholen. Der Mann lächelte ihn währenddessen einfach weiter mit diesem warmen Blick aus seinen graublauen Augen an, so daß Paul sich so wohlig fühlte wie ein Welpe, der sich neben seiner Hundemutter zusammengerollt hat.
Diese Augen erinnerten ihn an etwas sehr Kostbares. Ja - jetzt wußte er es: an den graublauen Wirbel in der Mitte der Murmel, die er in seiner Hosentasche trug. Er griff hinein, um sicherzugehen, daß sie noch da war, und da war sie. Er umschloß sie mit der Hand. Die Murmel war sein Weihnachtsgeschenk gewesen. Jeder Junge hatte eine Murmel bekommen und jedes Mädchen ein Stück Schnur, das zu einer Schlinge zusammengebunden war. Sie spielten damit ein Fadenspiel, Paul war seine Murmel jedoch lieber. Einige der Jungen taten sich zusammen, um mit ihren Murmeln zu spielen, Paul jedoch spielte damit lieber allein im Sand, denn er wollte nicht, daß sie zwischen die anderen geriet, auch wenn er sie immer wiedererkennen würde, weil er so oft in diesen graublauen Wirbel hineingesehen hatte, daß er ihn in- und auswendig kannte. Die Murmel war sein kostbarster Besitz. Er wußte, daß sie ihm Glück bringen würde, und das Glück, das war vielleicht dieser Sahib, dessen Augen genau die gleiche Farbe hatten, aber sich dennoch von der Murmel unterschieden, denn sie waren nicht still und kalt wie die Murmel, sondern lebendig und warm. Wenn er in diese Augen sah, dann rührte sich in dieser großen, traurigen Leere in ihm ein kleines Etwas. Wie ein Samenkorn, das zu sprießen beginnt.
Pauls Herz hämmerte so laut, daß er es hören konnte. Er rieb sich an dem Fleck hinter seinem Ohr und betete: Bitte, Jesuskind, oh, bitte, Jesuskind, bitte, bitte Jesuskind; wieder und immer wieder. Er hatte Angst, daß Mutter Immaculata dem Sahib von dem schrecklichen Geheimnis erzählen und dieser ihn dann doch nicht auswählen würde.
»... als winziger Säugling, erst wenige Tage alt, eingewickelt in einen schmutzigen alten Sari ... draußen am Tor«, hörte er Mutter Immaculata gerade sagen. Sprach sie von ihm? War er auf diese Weise hierher gekommen? »Ein Zettel mit seinem Namen - Nataraj - stand darauf. Und noch etwas anderes. Widerwärtig, Doktor. Widerwärtig!.
Paul hätte heulen können. Sie hatte es ihm also doch gesagt! Hatte dem Sahib von dieser schrecklichen Sache erzählt! Was bedeutete »widerwärtig « ? War es schlimmer als schrecklich? Mutter Immaculata machte dabei ein so böses Gesicht, daß es viel schlimmer als schrecklich sein mußte. Jetzt würde der Sahib... Aber der Mann hatte seine Hand genommen, sah sie an und streichelte Pauls Finger, während er Mutter Immaculata zuhörte, dabei hin und wieder zu Paul hinuntersah und lächelte, so als würde Mutter Immaculata nur nette Dinge über Paul sagen. Sie wird ihm auch noch erzählen, daß ich einmal im Klassenzimmer Pipi gemacht habe, weil ich nicht mehr warten konnte, dachte Paul. Er fragte sich, ob das schreckliche Geheimnis, das ihn betraf, schlimmer als dieses Ereignis war, und kam zu dem Schluß, daß es nicht sehr viel schlimmer sein konnte. Mutter Immaculata hatte damals gesagt, daß Jesus deswegen ganz, ganz traurig wäre, und hatte ihn einen ganzen Nachmittag lang auf Reiskörnern knien und Ave-Maria beten lassen, damit das Jesuskind wieder froh würde. Bitte, bitte Jesuskind, hämmerte sein Herz, da zog der Sahib ihn sachte an der Hand und führte ihn zwischen den schlafenden Kindern hindurch die Veranda hinunter zu Mutter Immaculatas Büro. Paul hielt den Sahib ganz fest am Zeigefinger, damit er ihn nicht stehenließ. Sie betraten das Büro. Mutter Immaculata klatschte in die Hände und sagte zu Schwester Maria, die herbeigeeilt war, sie solle zwei Tassen Tee bringen. Der Sahib setzte sich an Mutter Immaculatas Schreibtisch und las ein paar Papiere durch, während Pauls Herz lauter denn je schlug, denn es schien, als hätte der Sahib ihn völlig vergessen. Dann aber hob der Sahib seine rechte Hand, sah Paul an und lachte, weil Paul immer noch mit aller Kraft seinen Finger umklammerte.
»Da werde ich wohl einfach mit der linken Hand unterschreiben müssen«, sagte der Sahib, immer noch lächelnd, und unterzeichnete mit seiner freien Hand die Papiere. Mutter Immaculata legte einige davon in eine große Aktenmappe aus Pappe, während der Sahib ein anderes unbeholfen mit der linken Hand zusammenfaltete und es in seine Hemdtasche steckte. Dann ging er mit Paul in den sonnigen Hof zu dem Motorrad.
»Bist du schon einmal auf einem Motorrad mitgefahren?« fragte er Paul, der den Kopf schüttelte. »Nun, du wirst allerdings meinen Finger loslassen müssen, damit du hinaufklettern kannst«, sagte der Sahib, lachte und löste Pauls Finger einen nach dem anderen von dem seinen. »Du kannst dich während der Fahrt an meinen Handgelenken festhalten... sieh her, du sitzt vorn. Rutsch einfach noch ein Stückchen vor, damit ich hinter dir Platz habe.«
Der Sahib schob das Motorrad von seinem Ständer.
»Warst du schon einmal in Madras, Nataraj ?« fragte er, diesmal auf Tamil, während er einen Zipfel seiner Lungi, in der er einen Schlüssel eingebunden hatte, aufknotete.
»Hie, Sahib, sah«, sagte Paul.
»Also, los geht's«, sagte der Sahib auf englisch, band den Saum seiner Lungi oberhalb seiner Knie fest und schwang ein Bein über das Motorrad, das Bein, das in einem Fuß aus Holz endete. Den Holzfuß sah Paul aber erst später, als sie in Madras waren und der Sahib den grauen Socken auszog.
Der Sahib beugte sich vor. »Hör zu«, sagte er, »ich möchte nicht, daß du mich >Sir< nennst. Von jetzt an darfst du Daddy zu mir sagen. Und ich werde dich Nataraj nennen. Nat.«
...
Übersetzung: Gloria Ernst
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Paul war vier Jahre alt, als ihn der Sahib von dort, wo die vielen Kinder waren, fortholte. Diesen Tag würde er niemals vergessen. Er wachte von einem dröhnenden Klang auf, als jemand auf einen großen Messinggong schlug: Das war Schwester Maria, die die Kinder weckte. Draußen krächzten aufgeregt die Krähen, so als wüßten sie, daß dies ein besonderer Tag war, und stoben mit flatterndem Flügelschlag davon. Paul kniete sich zum Gebet auf seine Matte, streckte sich ausgiebig, gähnte, stand auf und ging hinaus, um Wasser zu lassen.
Am Brunnen neben dem Wasserhahn standen gefüllte Eimer bereit, an deren Rand jeweils drei Blechtassen hingen. Die Kinder drängelten sich plappernd und lachend vor, und Paul war wie immer der letzte. Er schöpfte eine Tasse Wasser und goß sich die eine Hälfte davon über die Brust, die andere über den Rücken, so daß seine Haut glänzte und alle seine Körperhärchen aufstanden wie bei einem gerupften Huhn. Er hatte ein Stück Seife ganz für sich allein, das jetzt allerdings nur noch so groß wie eine Ein-Rupien-Münze war. Damit seifte er sich ein, bis er überall mit Schaum bedeckt war. Dann spülte er den Seifenschaum mit drei Tassen kaltem Wasser ab. Das machte er alles ganz allein. Sie mußten beim Baden mit vier Tassen Wasser auskommen, sagte Schwester. Bernadette, denn Wasser war kostbar, der Brunnen fast leer, und niemand wußte, ob der Ostmonsun dieses Jahr kommen würde. Wenn dies nicht geschah, nun, dann würden sie sich eben nicht mehr baden können. Schließlich würden sie auch nichts mehr zu trinken haben, und dann würden sie sterben. Paul betete jeden Tag, daß der Monsun kam.
Am Hosenschlitz seiner blauen Shorts fehlte ein Knopf. Er hatte seine Hose einer der feinen Damen in Weiß, die Schwester Bernadette hieß und seine Lieblingsschwester war, gezeigt. Sie hatte gesagt, daß er den verlorenen Knopf suchen sollte. Als er ihn jedoch nicht finden konnte, sagte sie, daß es dann eben auch so gehen müsse, weil sie keine Knöpfe mehr hätten. Auch an seinem weißen Hemd fehlten zwei Knöpfe, aber das war nicht so schlimm wie der fehlende Knopf an seinem Hosenschlitz. Den meisten Kindern fehlten Knöpfe an den Hemden. Wo mochten nur all die verlorenen Knöpfe bleiben? fragte sich Paul manchmal. Wie konnte es sein, daß sie einfach verschwanden und nie wieder gefunden wurden? Einmal hatte er Schwester Bernadette gefragt, wo all die Knöpfe von den Hemden, Kleidern und Shorts der Kinder hinkämen. Schwester Bernadette hatte gelächelt und gesagt, daß vielleicht das Jesuskind die Knöpfe nähme, um damit zu spielen. »Aber wenn das Jesuskind die Knöpfe nimmt, dann ist das Stehlen«, sagte Paul. Schwester Bernadette lächelte nur und korrigierte sich: »Nein, nein, Paul, das Jesuskind stiehlt nicht, es ist der kleine Krishna, der die Knöpfe stiehlt und sie in den Himmel bringt, damit er und das Jesuskind damit spielen können.«
»Das Jesuskind und der kleine Krishna sind sehr gute Freunde«, sagte Schwester Bernadette zu Paul und den anderen Kindern. Schwester Bernadette kannte viele Geschichten vom kleinen Krishna, durfte sie aber nicht erzählen, weil Mutter Immaculata sagte, daß der kleine Krishna ungezogen sei. Er würde nämlich Quark und Butter stehlen, das Jesuskind hingegen sei brav. Deshalb meinte Schwester Bernadette, daß es der kleine Krishna sei, der die Knöpfe stahl, und deshalb durfte sie die Geschichten vom kleinen Krishna nicht erzählen. Aber sie tat es manchmal trotzdem. Heimlich.
Es war noch dunkel, und in der Luft lag nächtliche Kühle; die Krähen flogen schon, und wenn man bis zum Dach hinaufstieg, konnte man im Osten bereits einen rosagelben Schimmer sehen. Sie versammelten sich alle auf dem zentralen Hof zwischen dem Heim und der Schule. Dort mußten sie jetzt still sein, sich in den Sand knien, der Paul an den Knien weh tat, und die Handflächen aneinanderlegen. Mutter Immaculata, die hochgewachsene, dicke Dame in Weiß mit dem großen Holzkreuz auf dem üppigen Busen, die immer so böse dreinsah, daß Paul Angst vor ihr hatte, stellte sich vor sie hin. Sie sprachen dann alle zusammen das Gebet: »Vater unser, der du bist im Himmel ...«
Nach dem Gebet setzten sie sich auf der Schulveranda auf ihre Matten und frühstückten, einen guten, krümeligen Iddly mit einem Löffel Jaggary. Dazu gab es süßen Tee mit Milch. Danach sammelte eine Dame im weißen Sari die Teller aus Bananenblättern ein, und eine andere Dame kam mit einem großen Eimer und einer Schöpfkelle und goß den Kindern Wasser über die Hände, um den Iddly und den Jaggary abzuwaschen. Dann war es Zeit für den Unterricht, der gleich hier auf den Matten stattfand.
An diesem Morgen hatten sie in der ersten Stunde Englisch. Die Lehrerin rief Paul auf, obwohl alle Kinder die Hände gehoben hatten und damit in der Luft herumfuchtelten; alle bis auf zwei oder drei, die das Alphabet noch nicht kannten. Paul aber konnte es aufsagen: »A, B, C, D...«, begann er und zögerte nur ein einziges Mal, und zwar vor dem M, da er das M und das N immer miteinander verwechselte. Diesmal aber sagte er es richtig, und als er fertig war, klatschten die Kinder und die Lehrerin Beifall. In der zweiten und dritten Stunde hatten sie Hindi und Tamil, danach gingen die Jungen und Mädchen auf die Toilette. Sie mußten im Gänsemarsch gehen, wobei sich jedes Kind an den Schultern seines Vordermanns festhielt. Sie durften dabei nicht rennen. Die Toilette, das war das Feld. Man mußte auf die Dornen aufpassen, da Paul jedoch eine dicke Hornhaut an den Füßen hatte, störten ihn die Dornen nicht besonders, es sei denn, er trat sich einmal einen ganz tief ein. Paul weinte nie, wenn das geschah. Er sagte es einfach der Lehrerin, worauf diese ihm den Dorn mit einer rostigen Pinzette, die sie auf dem Sims über dem Fenster aufbewahrte, herauszog. Die Lehrerin war nett. Wenn ein Kind einmal mußte, bekam es von der Lehrerin eine Tasse Wasser, damit es sich den Popo abwaschen konnte, und eine kleine Schaufel, um das Geschäft mit Sand zu bedecken. Man mußte aufpassen, um nicht auf die Häufchen der anderen Kinder zu treten, aber die lagen ohnehin meistens hinter den Büschen und Felsen.
Nach der Toilettenpause ging der Unterricht weiter, dann gab es Mittagessen. Die Kinder saßen auf ihren Matten, während zwei Damen einen Wagen, auf dem ein großer Kessel stand, zwischen den Reihen hindurchschoben. Jedes Kind bekam einen Schlag Reis auf einem Bananenblatt-Teller und dazu einen Löffel Sambar. Paul hatte immer solchen Hunger, daß er alles bis aufs letzte Reiskörnchen aufaß und seinen Teller dann noch mit dem Zeigefinger sauberwischte, so daß dieser hinterher wieder leuchtend grün glänzte. Nach dem Mittagessen legten sich die Kinder auf ihre Matten schlafen. Inzwischen stand die Sonne hoch am Himmel, und der Boden war so heiß, daß man sich die Fußsohlen verbrannte. Die Veranda wurde jedoch durch ein Dach aus Palmenblättern beschattet. Der Wind, der durch die Veranda strich, war ebenfalls heiß, machte einen aber auf angenehme Weise schläfrig.
Paul war fast eingeschlafen, als er hörte, wie ein Motorrad mit knatterndem Motor auf den Hof fuhr und der Kies wegspritzte. Er drehte sein Gesicht in Richtung des Geräuschs und öffnete die Augen einen Spalt. Er sah sofort, daß der Fahrer ein Sahib war, auch wenn er eine weiße Lungi und ein weißes Hemd trug wie die Männer hier, denn sein Gesicht war zwar braun wie bei allen Leuten, aber es war ein rötlich-goldenes Braun. Auch sein Haar war goldbraun, nicht schwarz. Paul hatte noch nie zuvor einen Sahib oder eine Memsahib gesehen, er kannte sie nur von den Bildern in seinen Schulbüchern. Also tat er jetzt so, als würde er schlafen, während er, durch halbgeschlossene Lider blinzelnd, den Sahib beobachtete, als dieser ein Bein über den Sitz des Motorrads schwang, die Maschine auf den Ständer stellte und dann über den Hof ging. Er machte den Eindruck, als würde er erwarten, daß man ihn begrüßte. Paul sah, daß er hinkte und daß er, was wirklich seltsam war, unter seinen Chappals Socken trug. Paul hatte in seinem englischen Lesebuch Socken gesehen - S wie Socke -, noch nie zuvor hatte er jedoch tatsächlich jemanden welche tragen sehen. Die des Sahibs waren grau und hatten einen blauen Streifen.
Mutter Immaculata eilte zu dem Mann hinaus. Der Speckring zwischen ihrer Saribluse und dem Rock wabbelte heftig, während sie rannte. Paul wußte, daß die Sahibs sich bei der Begrüßung die Hände schüttelten, dieser Sahib jedoch machte vor Mutter Immaculata eine Pranam, wobei er seine Handflächen aneinanderlegte, so wie sie es beim Beten auch immer taten. Mutter Immaculata schien das jedoch nicht zu gefallen. Sie streckte die Hand aus, die der Mann ergriff und schüttelte. Paul sah genau zu, denn dies alles war sehr ungewöhnlich und sehr interessant. Was wollte der Mann hier? Manchmal - nicht sehr oft - wurden die Kinder von Frauen und Männern besucht. Paul wußte, daß das die Tanten und Onkel der Kinder waren, wohingegen er selbst weder eine Tante noch einen Onkel hatte. Niemals aber kamen Sahibs zu Besuch. War dieser Mann gekommen, um sich ein Kind auszusuchen?
Paul spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Es geschah nur sehr selten, daß sich jemand ein Kind aussuchte, und diesmal war das bestimmt nicht der Fall, denn dann würde den Sahib eine Dame begleiten. Einmal, kurz vor Weihnachten, waren ein Mann und eine feine Dame in einem großen schwarzen Auto gekommen. Mutter Immaculata hatte den Kindern tags zuvor erklärt, daß die beiden kämen, um sich ein Kind auszusuchen, weil die Dame ein Kind verloren hatte - was Paul sehr unachtsam von ihr fand, denn er konnte sich zwar vorstellen, daß man einen Knopf verlor, wie aber konnte jemand ein Kind verlieren? Oder hatte es etwa der kleine Krishna gestohlen? - und daß das glückliche Kind dann bei ihnen leben und sie Mama und Papa nennen dürfte. Also waren alle Kinder schreiend, hüpfend und winkend zu den Besuchern hinausgestürzt, hatten sie umringt, hatten an ihrer Kleidung gezerrt und Namaste! Namaste! gerufen, weil sie alle ausgesucht werden wollten.
Paul hatte gebetet, daß man ihn aussuchen würde. Es hatte auch so ausgesehen, als würde das geschehen, denn die feine Dame, die traurige Augen hatte und einen purpurfarbenen Sari und viele goldene Armreifen trug, war stehengeblieben, hatte ihn angesehen und gelächelt. »Er hat ein hübsches helles Gesicht«, hörte Paul sie auf englisch sagen. »Stammt er aus dem Norden?« Paul hatte ganz fest gebetet und hatte sogar zu hoffen begonnen, denn er wußte einfach, daß die feine Dame ihn haben wollte.
Mutter Immaculata hatte jedoch entschieden den Kopf geschüttelt. Sie hatte die feine Dame beim Arm genommen und beiseite geführt, während sie ihr, den Kopf zu ihr hinübergeneigt, etwas Schreckliches über Paul erzählte, etwas, das er nicht wissen sollte, etwas, was die feine Dame veranlaßte, verständnisvoll zu nicken und sich ein anderes Kind auszusuchen, ein sehr kleines, eines, das noch so klein war, daß es nicht einmal in die Schule ging. Paul gehörte zu den ältesten Kindern. Wenn er fünf war, würde er nach Madras ins Good Shepherd kommen, ein schreckliches Heim für ältere Kinder, die nie jemand ausgesucht hatte. Mutter Immaculata sagte, daß die Kinder im Good Shepherd Jesu liebe kleinen Lämmer seien. Paul aber wollte kein Lamm sein, er war nämlich ein Junge. Oh, liebes Jesuskind, bitte mach, daß der Sahib mich aussucht! Oh, bitte mach, daß er mich aussucht, liebes Jesuskind! betete Paul, dann schlief er ein. Das Jesuskind hatte seine Gebete das letzte Mal nicht erhört, es würde es auch diesmal nicht tun.
Er wachte auf, weil ihn jemand an der Schulter rüttelte und »Paul! Paul!. rief. Paul rieb sich die Augen und sah auf. Es war die Lehrerin, und sie lächelte. Hinter ihr standen der große Sahib und Mutter Immaculata. Die beiden redeten miteinander. Der große Mann beobachtete ihn. Paul wagte es nicht zu hoffen. Er wußte, daß Mutter Immaculata dem Sahib gleich das schreckliche Geheimnis über ihn erzählen würde, so daß sich der Sahib dann voller Abscheu abwenden müßte. Aber nein. Mutter Immaculata kam zu ihm und streckte ihm eine Hand entgegen. Als Paul nicht sofort reagierte, winkte sie ihn ungeduldig herbei und sagte: »Komm, komm, Paul, steh auf, steh auf!. Also rappelte sich Paul auf die Füße. Da stand er nun und starrte den Sahib an, der vor ihm aufragte. Der Sahib hatte freundliche, graublaue Augen und riesige Hände. Eine davon legte er Paul jetzt auf den Kopf. Sie fühlte sich wie ein schöner, kühler Hut an, ein kühler weißer Hut, wie ihn der Sahib auf den Bildern in seinem Schulbuch trug. Dieser Sahib aber hatte keinen Hut auf, so als störe ihn die Sonne nicht.
Sie sprachen Englisch, Paul konnte ein wenig davon verstehen. Mutter Immaculata nannte den Mann Daktah, was Paul überraschte, denn er war doch gar nicht krank, warum also wollte der Daktah ihn sehen? Oder war er gekommen, um Paul eine Nadel in den Arm zu stechen, wie die Daktahs das manchmal machten? Und warum hing ihm kein Schlauch aus den Ohren, wie bei dem anderen Daktah, der manchmal kam? Paul hoffte, daß der Mann kein Daktah war, da er sonst nämlich wieder gehen würde. Er hoffte, daß dieser Mann gekommen war, um sich ein Kind auszusuchen; und daß er, Paul, dieses Kind sein würde.
Der Sahib sagte etwas über seine Frau, die gestorben war, und Mutter Immaculata lobte Paul wegen seiner hellen Haut. Sie sagte auch, daß er klug sei.
»Er ist ein kluger Junge«, hörte Paul sie sagen. »Ein sehr kluger Junge. «, woraufhin der Sahib nickte und zu ihm hinuntersah. Er schien erfreut. »Paul, zähle bis hundert! « sagte Mutter Immaculata. Sofort ratterte Paul die Zahlen von eins bis hundert herunter und machte dabei kaum eine Pause zum Atemholen. Der Mann lächelte ihn währenddessen einfach weiter mit diesem warmen Blick aus seinen graublauen Augen an, so daß Paul sich so wohlig fühlte wie ein Welpe, der sich neben seiner Hundemutter zusammengerollt hat.
Diese Augen erinnerten ihn an etwas sehr Kostbares. Ja - jetzt wußte er es: an den graublauen Wirbel in der Mitte der Murmel, die er in seiner Hosentasche trug. Er griff hinein, um sicherzugehen, daß sie noch da war, und da war sie. Er umschloß sie mit der Hand. Die Murmel war sein Weihnachtsgeschenk gewesen. Jeder Junge hatte eine Murmel bekommen und jedes Mädchen ein Stück Schnur, das zu einer Schlinge zusammengebunden war. Sie spielten damit ein Fadenspiel, Paul war seine Murmel jedoch lieber. Einige der Jungen taten sich zusammen, um mit ihren Murmeln zu spielen, Paul jedoch spielte damit lieber allein im Sand, denn er wollte nicht, daß sie zwischen die anderen geriet, auch wenn er sie immer wiedererkennen würde, weil er so oft in diesen graublauen Wirbel hineingesehen hatte, daß er ihn in- und auswendig kannte. Die Murmel war sein kostbarster Besitz. Er wußte, daß sie ihm Glück bringen würde, und das Glück, das war vielleicht dieser Sahib, dessen Augen genau die gleiche Farbe hatten, aber sich dennoch von der Murmel unterschieden, denn sie waren nicht still und kalt wie die Murmel, sondern lebendig und warm. Wenn er in diese Augen sah, dann rührte sich in dieser großen, traurigen Leere in ihm ein kleines Etwas. Wie ein Samenkorn, das zu sprießen beginnt.
Pauls Herz hämmerte so laut, daß er es hören konnte. Er rieb sich an dem Fleck hinter seinem Ohr und betete: Bitte, Jesuskind, oh, bitte, Jesuskind, bitte, bitte Jesuskind; wieder und immer wieder. Er hatte Angst, daß Mutter Immaculata dem Sahib von dem schrecklichen Geheimnis erzählen und dieser ihn dann doch nicht auswählen würde.
»... als winziger Säugling, erst wenige Tage alt, eingewickelt in einen schmutzigen alten Sari ... draußen am Tor«, hörte er Mutter Immaculata gerade sagen. Sprach sie von ihm? War er auf diese Weise hierher gekommen? »Ein Zettel mit seinem Namen - Nataraj - stand darauf. Und noch etwas anderes. Widerwärtig, Doktor. Widerwärtig!.
Paul hätte heulen können. Sie hatte es ihm also doch gesagt! Hatte dem Sahib von dieser schrecklichen Sache erzählt! Was bedeutete »widerwärtig « ? War es schlimmer als schrecklich? Mutter Immaculata machte dabei ein so böses Gesicht, daß es viel schlimmer als schrecklich sein mußte. Jetzt würde der Sahib... Aber der Mann hatte seine Hand genommen, sah sie an und streichelte Pauls Finger, während er Mutter Immaculata zuhörte, dabei hin und wieder zu Paul hinuntersah und lächelte, so als würde Mutter Immaculata nur nette Dinge über Paul sagen. Sie wird ihm auch noch erzählen, daß ich einmal im Klassenzimmer Pipi gemacht habe, weil ich nicht mehr warten konnte, dachte Paul. Er fragte sich, ob das schreckliche Geheimnis, das ihn betraf, schlimmer als dieses Ereignis war, und kam zu dem Schluß, daß es nicht sehr viel schlimmer sein konnte. Mutter Immaculata hatte damals gesagt, daß Jesus deswegen ganz, ganz traurig wäre, und hatte ihn einen ganzen Nachmittag lang auf Reiskörnern knien und Ave-Maria beten lassen, damit das Jesuskind wieder froh würde. Bitte, bitte Jesuskind, hämmerte sein Herz, da zog der Sahib ihn sachte an der Hand und führte ihn zwischen den schlafenden Kindern hindurch die Veranda hinunter zu Mutter Immaculatas Büro. Paul hielt den Sahib ganz fest am Zeigefinger, damit er ihn nicht stehenließ. Sie betraten das Büro. Mutter Immaculata klatschte in die Hände und sagte zu Schwester Maria, die herbeigeeilt war, sie solle zwei Tassen Tee bringen. Der Sahib setzte sich an Mutter Immaculatas Schreibtisch und las ein paar Papiere durch, während Pauls Herz lauter denn je schlug, denn es schien, als hätte der Sahib ihn völlig vergessen. Dann aber hob der Sahib seine rechte Hand, sah Paul an und lachte, weil Paul immer noch mit aller Kraft seinen Finger umklammerte.
»Da werde ich wohl einfach mit der linken Hand unterschreiben müssen«, sagte der Sahib, immer noch lächelnd, und unterzeichnete mit seiner freien Hand die Papiere. Mutter Immaculata legte einige davon in eine große Aktenmappe aus Pappe, während der Sahib ein anderes unbeholfen mit der linken Hand zusammenfaltete und es in seine Hemdtasche steckte. Dann ging er mit Paul in den sonnigen Hof zu dem Motorrad.
»Bist du schon einmal auf einem Motorrad mitgefahren?« fragte er Paul, der den Kopf schüttelte. »Nun, du wirst allerdings meinen Finger loslassen müssen, damit du hinaufklettern kannst«, sagte der Sahib, lachte und löste Pauls Finger einen nach dem anderen von dem seinen. »Du kannst dich während der Fahrt an meinen Handgelenken festhalten... sieh her, du sitzt vorn. Rutsch einfach noch ein Stückchen vor, damit ich hinter dir Platz habe.«
Der Sahib schob das Motorrad von seinem Ständer.
»Warst du schon einmal in Madras, Nataraj ?« fragte er, diesmal auf Tamil, während er einen Zipfel seiner Lungi, in der er einen Schlüssel eingebunden hatte, aufknotete.
»Hie, Sahib, sah«, sagte Paul.
»Also, los geht's«, sagte der Sahib auf englisch, band den Saum seiner Lungi oberhalb seiner Knie fest und schwang ein Bein über das Motorrad, das Bein, das in einem Fuß aus Holz endete. Den Holzfuß sah Paul aber erst später, als sie in Madras waren und der Sahib den grauen Socken auszog.
Der Sahib beugte sich vor. »Hör zu«, sagte er, »ich möchte nicht, daß du mich >Sir< nennst. Von jetzt an darfst du Daddy zu mir sagen. Und ich werde dich Nataraj nennen. Nat.«
...
Übersetzung: Gloria Ernst
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- 607 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4026411114866
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