Seidenwind - Die Magie des Herzens
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Produktinformationen zu „Seidenwind - Die Magie des Herzens “
Klappentext zu „Seidenwind - Die Magie des Herzens “
Die junge Engländerin Angela reist nach Birma, um dort ihren langjährigen Verlobten zu heiraten. Die intelligente und stolze junge Frau ist im viktorianischen England nach strengen Grundsätzen erzogen. In Birma schließt sie sich einer Gruppe von Missionaren an, die von Banditen überfallen wird. Angela gelingt die Flucht, nachdem sie den Anführer der Banditen getötet hat. Dann lernt sie Kapitän Nathan Vorne kennen, einen skrupellosen Amerikaner, und verliebt sich in ihn.
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Die Magie des Herzens von Alexandra JonesINTERREGNUM
September 1878
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Der alte Mann lag im Sterben. Sein ehrgeiziger Lebensplan war erfüllt. Zweiundsechzigtausend Pfund Sterling-Silber, von diesem Reichtum sprach die Shwe Dagon Pagode, die im Schatten eines Sonnenschirms stand. Der diamantenbesetzte Reichsapfel, die juwelenverzierte Windfahne, Lotusblüten und eine goldene Glocke, all dies würde ihm die große Achtung von Siddharta Gautama Buddha einbringen. König Mindon Mins volle, bleiche Lippen verzogen sich zu einem glücklichen Lächeln, als er in Gedanken all seine Anstrengungen auf Erden, die sich in dieser wundervollen Pagode verkörperten, noch einmal durchlebte.
Abgesehen davon, dass er dem Sangha dieses großzügige Geschenk machen konnte, hatte er aber noch etwas anderes, viel Wichtigeres geleistet. Etwas, das ihm weitaus größeren Ruhm als irgendeine materielle Stiftung einbringen würde, denn es war eine geistige, die ihm einen Platz in den Herzen der Gläubigen und die Unsterblichkeit im Nirwana versprach. Er hatte zweitausendvierhundert Mönche zusammengerufen, um die Tripitaka-Texte, die alle Lehren Buddhas umfassten, gemeinsam zu lesen. In all den Jahrhunderten des buddhistischen Glaubens hatte es nur vier solcher Zusammenkünfte gegeben. Nun würde diese fünfte buddhistische Synode, die ganze sechs Monate gedauert hatte, auf Steintafeln verewigt werden.
Sein heiteres Lächeln wurde nun geradezu ordinär.
In der Vergangenheit hatten die fremden Radschas ihn immer wieder daran gehindert, sein wundervolles Dach des Glaubens einzuweihen. Sie hatten so viel Macht, dass sie nach Lust und Laune über alles und jeden bestimmen konnten. Nun aber konnten sie nicht mehr verhindern, dass die prächtigen Edelsteine die Ausländer, die in Rangun strandenden Kala, unter der heißen Sonne Burmas blendeten. Sie konnten nichts dagegen unternehmen, dass die orthodoxen Texte auf siebenhundertneunundzwanzig weißen Marmortafeln am Fuß des Hügels von Mandalay standen und für immer und ewig als Kuthodaw, das Verdienst des Königs, bezeichnet werden würden. Vor allem aber konnten sie ihm nicht streitig machen, was ihm bereits sicher war: sein Platz im Nirwana.
Ja, Nirwana! Ein sicherer Hafen an einem helleren Ufer.
Endlich konnte der König von Burma, der Herr der weißen Elefanten, auf das Patronat der hochmütigen Radschas verzichten.
Wo er hingehen würde, dorthin konnten sie ihm nicht folgen.
Er murmelte Worte aus den heiligen Schriften des heiligen Pali: »In Ruhe und von guten Lehren geleitet will ich den Hass beschwichtigen.«
Ja, ein friedliches Reich! Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass auch die nächste Generation in Frieden leben würde. Er konnte sein goldenes Königreich noch nicht verlassen, solange eine weitere wichtige Angelegenheit seine Aufmerksamkeit erforderte. Bisher hatte er nämlich eine äußerst wichtige Entscheidung vor sich hergeschoben, jetzt aber musste er sie treffen. Sie betraf seinen Lieblingssohn, Prinz Nyaungyan Min.
Unruhig zupfte der König auf seiner schwarzen Bettdecke aus Seide herum. Seine Fingerspitzen glitten über die groben Goldfäden, mit der sie üppig bestickt war. Das Wissen um den Ruhm seines Königreichs schenkte ihm in diesen letzten Augenblicken vor seinem Tod noch einmal so viel Kraft, dass er vollkommen klar denken konnte. Er rief sich ins Gedächtnis, wie die Briten seine Chinthes, sein Wappen, das Wappen von Burma, umbenannt hatten. Gekrönte Löwen hatten sie daraus gemacht. Er erinnerte sich mit trauriger Entrüstung, wie sein Drachenthron so zum Löwenthron geworden war. Frustriert seufzte er über die imperialistische Haltung der Briten, die allem, was nur entfernt einem englischen Symbol ähnelte, ihre eigene Bezeichnung aufdrückten, sei es ein Drache, eine Eidechse oder ein Löwe.
Der König von Burma erhob seinen Kopf von dem seidenen Kissen, fuhr mit dem Zeigefinger über die Chinthes, die auf der Decke eingestickt waren, und dachte, dass diese mythologischen Tiere Drachen oder Greifvögeln erheblich ähnlicher als irgendwelchen gekrönten Löwen waren. Dann lehnte er sich ein letztes Mal gegen die Eindringlinge auf. König Mindon Min flüsterte seinen letzten Wunsch in das Ohr seiner ergebenen Frau, der Königin Sinpyumashin.
Erstes Kapitel
1
Aus dem Ganges-Tal stiegen warme Luftströme zu den Khazi-Garo Bergen und dann weiter zum Himalaja auf. Der sintflutartige Regen fiel ohne Unterbrechung. Cherrapungi musste der nasseste Ort auf der ganzen Erde sein, dachte Angela, während der Sturm auf sie einpeitschte. Felicity Quentin jammerte monoton vor sich hin. Ihr permanentes Klagen ging Angela so auf die Nerven, dass sie es einfach nicht mehr mit anhören konnte. Sie zog ihre Regenhaube fest um den Kopf und vergrub sich tiefer unter ihrer Decke. So konnte sie Felicitys Genörgel wenigstens nicht mehr hören und kam nicht in Versuchung, sie gereizt anzufahren.
Tropfnass machten sie sich wieder auf den Weg. Der kleine Trupp, bestehend aus Packeseln, einigen Weißen und ihrer bewaffneten Eskorte - Ureinwohner, Feringhi genannt, die viel Geld dafür verlangten, Fremde sicher durch diese Berge zu führen -, bewegte sich träge und scheinbar ohne Ziel. Sie schienen kaum vorwärts gekommen zu sein, seit sie Cherrapungi am frühen Morgen verlassen hatten.
Um gerade einmal fünf Meilen den Berg hinauf zu kommen, hatten sie geschlagene fünf Stunden gebraucht. Wenn sie dieses Tempo beibehielten, würden sie Imphala niemals erreichen, geschweige denn den Chindwin hinüber nach Burma überqueren können, befürchtete Angela.
Hinter den triefenden Vorhängen ihrer Sänfte, die von vier Trägern mit stoischer Gelassenheit den Berg hochbugsiert wurde, beklagte Dora Quentin ihr Unglück, an der Ruhr erkrankt zu sein.
Angela begann Mitleid für den armen, ahnungslosen Kaiser von China, Kuang Hsu, zu empfinden, der die amerikanischen Baptisten-Missionare in Gestalt der Quentins ganz bestimmt eingeladen hatte, ohne zu ahnen, worauf er sich einließ. Der würde sich wundern, dachte Angela grimmig. Sie hatte mittlerweile so oft erzählt bekommen, dass Farley Quentin von Chinas großem Kaiser höchstpersönlich eingeladen worden war, um ihm von der einzig richtigen Wahrheit aus dem Westen zu erzählen, und dass Farley Quentin von Gott, dem Allmächtigen, auserwählt worden war, um auch diesen Heiden zu bekehren. Inzwischen hätte sie die Geschichte im Schlaf nachbeten können. Der arme Farley, er war so schrecklich naiv! Er würde Peking niemals erreichen, wenn er sich nicht grundlegend anders verhielt.
»Halt! Halt!«, schrie der Reverend schon wieder in den Sturm hinein. Haushohe Felsblöcke säumten den Bergpass, den sie gerade überquerten. Auf sein Geschrei hin brachte Angela ihr Maultier zum Stehen. »Ach du lieber Himmel«, murmelte sie, während sie beruhigend über das durchnässte Fell des Esels strich, »lasst uns beten.«
Farley und Dora Quentin hatten nicht damit gerechnet, dass die Verbreitung von Gottes Wort ihnen solche Schwierigkeiten bereiten könnte. Die Menschen hier waren alle so entsetzlich streitsüchtige Querulanten, wie die Bergführer und Gepäckträger ihnen ohne Unterlass demonstrierten. Es handelte sich bei diesen Männern fast ausschließlich um Bergleute aus dem Norden Indiens, harte Burschen, die sich von jedem anheuern ließen, der mutig oder schwachsinnig genug war, die Berge Nord-Indiens zu überqueren, um in den ebenso bergigen Dschungel Nord-Burmas zu gelangen.
Der Versuch, ein Lager aufzuschlagen, war eine Qual, da die Gruppe nicht nur mit dem unaufhörlichen Wind und Regen kämpfte, sondern dazu auch noch die überflüssigen und wenig hilfreichen Anweisungen von Hochwürden Quentin, wann, wie und wo dies zu geschehen habe, über sich ergehen lassen mussten. Er wollte das Lager mitten in den Sturm hineingebaut haben, was
nun einfach nicht möglich war. Und die Bergführer hatten mitnichten das Bedürfnis, gerade im San Mukh, dem so genannten Kuhmaul, oberhalb des Jainta-Passes, anzuhalten, wo sie nicht nur böse Geister, sondern auch Wegelagerer fürchteten.
Reverend Quentin blieb hartnäckig. Sie würden das Lager genau an dieser Stelle aufschlagen, da ein Weitermarsch bei diesem Unwetter einfach zu gefährlich wäre. Mit seinem Rauschebart und in dem triefenden, zerfetzten Umhang Moses in der Wüste nicht unähnlich, gestikulierte er mit den Armen wild in alle Richtungen und erteilte seine Befehle. Aber der heftige Wind, der sich seinen Weg durch die enge Schlucht bahnte, war stärker als die guten Absichten des Baptistenpredigers. Am Ende waren nämlich sämtliche Zelte weggeweht, und die Gruppe musste sich erbärmlich unter ihren durchweichten Decken zusammenkauern. Unter einem gefährlich drohenden Felsüberhang betete Angela, dass keine Steinlawine ihrem Elend ein Ende setzen würde.
2
General Grabanda, auf dessen Schnurrbart die dicken Regentropfen wie fette, durchsichtige Läuse glitzerten, warf Prinz Yoe einen bösen Blick zu. Ihm gab er die Schuld daran, dass sie so weit weg von zu Hause waren.
Yoe, ein burmesischer Prinz von niedrigem Rang, kauerte hinter einem Felsen und ignorierte Grabandas Blick. Was er von ihm hielt, war wenig schmeichelhaft.
Er schüttelte das Wasser von seinem Fernrohr und schob es zusammen, da man in dem peitschenden Regen ohnehin nichts sehen konnte. Der Turban auf seinem Kopf fühlte sich wie ein schwerer Klumpen nasser Wäsche an.
Voll bitteren Hasses tolerierte er Grabanda nur. Er brauchte ihn, um eine Rechnung mit dem Radscha von Manipur und Sir Edwin Tennent-Browne zu begleichen. Letzterer war ein Brite, und die Briten waren der Hauptgrund für seine Bitterkeit und das oberste Ziel seines Hasses. Sie warteten jetzt schon seit vier Tagen auf Sir Edwin, der auf diesem Weg über den Jainta-Pass reisen sollte. Er wollte seiner Aufgabe als Vorsitzender des Appellationsgerichts in Shillong nachkommen. Vor diesem Gericht konnten die Kläger territoriales Unrecht anfechten, das ihnen von der britisch-indischen Regierung und dem Radscha von Manipur, dessen fürstlicher Pufferstaat unter britischem Protektorat stand, zugefügt worden war. Prinz Yoe hatte seine Klage schon vor einem Jahr vorgebracht. Die Grenzkommission, der Sir Edwin ebenfalls vorsaß, hatte sie abgewiesen. Das Gesuch um die Rückerstattung seines Landes war wegen mangelnder Belege seines Eigentumsrechtes abgelehnt worden. Wirklich eine armselige Ausrede, wie Yoe fand. Nun aber würde es keine Anträge mehr geben, sondern nur noch private Auseinandersetzungen mit der Waffe. Sir Edwin Tennent-Browne als Geisel zu haben würde eindeutig von Vorteil sein, dachte Yoe selbstgefällig. Der Radscha wie die Briten würde nicht zögern, ihm sein Land zurückzugeben - jedenfalls nicht, wenn sie Tennet-Brownes Haut retten wollten. Yoe grinste verschlagen. Ja, so würde es laufen! Grabanda und sein Haufen von Söldnern aus ganz Asien - Eurasier, Araber, Mon, Chinesen und Männer von obskurer Abstammung ohne festen Wohnsitz und Religionszugehörigkeit, allesamt geldgierige Banditen - würden Sir Edwin Tennent-Browne fangen!
»Mein Prinz!« Grabandas raue Stimme, in der immer, wenn er Prinz Yoe ansprach, eine Spur von Verachtung mitschwang, schreckte ihn aus seinen Tagträumen auf. »Mein Prinz, wie lange wollt Ihr noch mit Eurem Gewissen ringen? Wir warten auf Euren Befehl, den Angriff zu starten. Oder wäre es Euch lieber, wenn wir uns in der Zwischenzeit alle eine Lungenentzündung holen?«
Prinz Yoe ärgerte sich über Grabandas Respektlosigkeit, spürte zugleich aber, wie sein Herz bei dem Wort Angriff einen Sprung machte. Erneut hielt er sich das Fernrohr vor die Augen und starrte in den Pass hinunter. Der Platzregen hatte nachgelassen, und er konnte durch den Dunst eine kleine Menschengruppe ausmachen, die sich mit ihren Packtieren in den Windschatten eines Felsens drückte. Das war wohl kaum die Art von Begleitung, die sich Sir Edwin für eine Reise auswählen würde! Enttäuscht musterte er die Reisenden im Pass genauer. Er hatte das Gefühl, dass Buddha ihm
einen üblen Streich gespielt hatte, indem er ihm Missionare anstatt Sir Edwin gesandt hatte. Missionare konnte man meilenweit erkennen. Für gewöhnlich waren sie schlecht ausgerüstet, müde, krank, inkompetent und mit einem Eifer, der weit entfernt war von jedem gesunden Menschenverstand. So gaben sie immer eine leichte Beute für Grabanda und seine Halsabschneider ab. Yoe wusste, dass Grabanda diesen kleinen Pulk hilfloser Reisender angreifen würde, wenn nicht wegen ihrer Frauen, dann wegen der Medizin gegen das Schüttelfieber, die sie immer bei sich hatten. In ihrem Lager war das Chinin ausgegangen, und sie brauchten dringend Nachschub.
Prinz Yoe versuchte sein Gewissen zu beruhigen; Grabanda und seine Männer würden den dreckigen Job erledigen, seine eigenen Hände würden rein bleiben. Er beschloss, dass er das Geld und den Schmuck der Missionare später dem Mönch in seinem Dorf geben würde. Auf diese Weise würde Buddha sich beschwichtigen lassen. Alles Blut wäre zu seiner Ehre geflossen. Die Kala, die Fremden, hatten ein Wort dafür: Kreuzzug. Prinz Yoe fand, dass dies ein treffender Ausdruck für die Sache war, der er sich gerade hingab, auch wenn er kein Kreuz trug.
Seine Gedanken grenzten an Selbstquälerei: Er würde niemals den Befehl geben, diese hilflose Gruppe, die sich da unten am Berg unglücklich und voller Angst duckte, anzugreifen. Er würde sich auch sämtliche fleischliche Gelüste verkneifen - schließlich war er ein guter Buddhist, oder versuchte es zumindest zu sein -, und unter den Missionarsleuten befanden sich ganz bestimmt Frauen, da deren Ehrgeiz, die Heiden zu bekehren, immer noch größer war als der von Männern.
»Wer sagt, dass wir ohne die Erlaubnis unseres Prinzen angreifen? Wer sagt, dass wir ihn seinen merkwürdigen Träumen überlassen, während wir die Beute teilen?« Grabanda trommelte seine Leute zusammen, ausgelassen stand er auf einem Felsen und ließ sein Messer in der Luft kreisen, als würde er wirklich zu einem Kreuzzug aufbrechen. Seine Schergen feuerten ihn an, und ihre knurrenden Stimmen erinnerten Yoe an die wilder Tiere. Prinz Yoe verharrte bewegungslos. Dann steckte er das Fernrohr weg und nahm seinen nassen Schal vom Gesicht. Er sah Grabanda nicht an, während er sich zu ihm umwandte:
»Was ich auch sage, du machst ja sowieso, was du willst - wie immer«, murmelte er, bevor er den Felsvorsprung verließ.
Grabandas herzhaftes Lachen hallte unangenehm in Yoes Ohren wider. »Macht Euch nichts daraus, Yoe! Ihr habt einen guten General, der diese Teufelskerle zu kommandieren weiß, die ihren kleinen Prinzen jederzeit bei lebendigem Leibe auffressen würden, wenn man sie nur ließe. Wir werden Euch die rothaarige Frau bringen. Durchs Fernglas sieht sie nach einem netten kleinen Ding aus. Du kannst ihr dann beibringen, Buddhas Lehren zu verbreiten, anstatt die ihres Jesus.«
Grabanda war so widerlich! Prinz Yoe lief ein Schauer über den Rücken. Obwohl ihm sein Diener die nassen Gewänder abgenommen und ihn in warme Wolldecken gehüllt hatte, zitterte er. Es war aber weniger die Feuchtigkeit um ihn herum als vielmehr das Wissen über das, was passieren würde. Sein Gewissen wurde noch schwerer. Er verabscheute schamlose Lüsternheit noch mehr als unnötiges Blutvergießen. Die Vernichtung von Unschuld quälte sein Herz noch viel stärker als eine Kugel aus dem Gewehr. Das wusste er, und er wusste genauso, was er in Kürze sehen würde, denn Grabanda hatte ihm seine Grausamkeit schon oft genug vorgeführt.
Prinz Yoe öffnete sein Buch mit den heiligen Schriften. Vielleicht könnten die Theravada-Schriften ihn für einen Moment vergessen lassen, dass er einen Geächteten namens Grabanda in seinen Diensten hatte, einen Führer von aufständischen Mördern.
3
Es dunkelte bereits, obwohl der Nachmittag noch nicht vorbei war. Angela zog ihre durchnässte Decke enger um sich. Sie war hungrig. Den ganzen Tag hatten sie nichts zu essen bekommen, weil der lethargische Koch nicht in der Lage gewesen war, ein Feuer zu entfachen. Ihre letzte Mahlzeit war eine nicht gerade üppige Portion kalten Breis gewesen, ihr Frühstück, bevor sie in aller Herrgottsfrühe aus Cherrapungi aufgebrochen waren.
Und jetzt hockten sie hier in diesem Unwetter mit der Gefahr im Nacken, jeden Augenblick von einer Steinlawine überrollt zu werden. Angela kam es vor, als ob sich Gottes geballter Zorn über ihnen entladen würde. Sie sah, dass Felicity weinte. Ihre Tränen schienen Angela angesichts der Wassermassen, die auf sie hinuntergingen, genauso unnötig wie der kranke Humor, mit dem Reverend Quentin der ganzen erbärmlichen Situation begegnete.
»Weine nicht, Felicity«, sagte Angela und streckte eine Hand tröstend nach ihr aus.
»Ich fühle mich wie beim Auszug aus Ägypten. Vater und Mutter mögen ja ihr Vertrauen in Gott setzen, aus dem uns alles zufließt, aber was mich angeht, ist das Einzige, was ich hier fließen sehe, der Monsun.«
Angela konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, der armen Felicity blieb nichts erspart.
»Du hast wirklich Glück«, fuhr Felicity fort, »du kannst nach Mandalay gehen und einen netten, gut aussehenden Mann heiraten.«
»Ja, Matthew ist zweifellos nett, aber nicht unbedingt gut aussehend. Obwohl er ganz anziehend ist, sobald er seine Brille absetzt. Aber das ist nicht wichtig, wichtig ist nur sein unendlich freundliches Wesen und seine Warmherzigkeit.«
»Erzähl mir noch einmal, wie ihr euch kennen gelernt habt«, forderte Felicity sie eifrig auf, während sie sich enger an ihre Gefährtin kuschelte.
Angela musste lachen. »Meine liebe Felicity, ich habe dir schon hundertmal von Matthew und mir erzählt, das muss dich doch langsam langweilen.«
»Nein, ich bin mir nur selbst überdrüssig. Ich werde wahrscheinlich einen Chinesen heiraten. Ich werde niemals jemanden auf einer romantischen Schiffsreise nach Bombay kennen lernen.«
»Das Schiff war ziemlich überfüllt und laut. Onkel Adrian Hawes ließ niemals einen Zweifel daran, dass er mein Begleiter und Anstandswauwau war, der mich ausschließlich zu meinem Vater und nicht in die Arme eines >jungen Schnösels<, wie er sich ausdrückte, bringen sollte.« Angela lächelte in Gedanken an ihren Onkel Adrian, der vor der Fahrt nach Mandalay in England gewesen war und nach seinem wohlverdienten Urlaub in Bath auf einmal zehn Jahre jünger ausgesehen hatte. Ein lieber Mann, dachte Angela. Und auf jeden Fall war er so nett gewesen, ein Wort für den >Schnösel< Matthew einzulegen, als der sich um eine Stelle in Mandalay beworben hatte. Und da waren sie beide nun, in Min-don Mins Märchenstadt, über die Angela aus Matthews Briefen so viel gehört hatte.
»Du wirst schon lange in Mandalay sein, bevor ich Peking erreicht habe. Ich wünschte, ich könnte mit dir nach Mandalay gehen.«
»Ich werde nicht direkt nach Mandalay gehen«, sagte Angela. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich zuerst meine Tante Lydell in Loloi besuchen werde. Ich muss zu ihr, sie ist schließlich die Schwester meiner Mutter. Ich werde einige Zeit bei ihr bleiben, und dann werde ich auf dem Irrawaddy hinunter nach Mandalay reisen. Das wird aufregend - genauso aufregend wie deine Reise nach China, um am Hof des Kaisers Kuang Hsu empfangen zu werden. Lass dich nicht so hängen, Felicity, wir alle sind wegen dieses fürchterlichen Wetters deprimiert. Sobald wir aus den Bergen heraus sind, werden wir schneller vorankommen. Immerhin sind wir nicht auf See, wo uns außer dem Regen auch die Wellen zu schaffen machen würden.«
»Denk nur mal an das Gerede meines Vaters!«, erwiderte Felicity bitter.
»Ach, komm jetzt, es wird einem ja ganz elend, wenn man dich so reden hört. Felicity, das Leben ist nicht so furchtbar schlimm.«
Felicity rückte näher und schaute sie mit glühenden Augen an: »Wenn ich dir sagen würde, dass ich meine Eltern hasse, wärst du dann sehr entsetzt?«
Angela zögerte. »Nein ... nein, ich glaube nicht. Das kann ich wirklich nicht beurteilen. Ich kannte meine Eltern kaum - meine Mutter starb, als ich sechs war, und mein Vater schickte mich kurz darauf ins Internat nach Bath. Ich sah ihn in den folgenden Jahren dann nur unregelmäßig, wenn er seinen Heimaturlaub in England verbrachte ... ja, und dann starb er, kurz nachdem ich nach Delhi gekommen war, um bei ihm zu leben.« Sie zuckte die Schultern, ihre grünen Augen glänzten wehmütig. »Ich habe also wenig Erfahrungen mit familiären Beziehungen.«
»Weißt du, sie haben mich nie haben wollen. Ich war nur ein Unfall, kam viel zu spät in ihr Leben. Ich habe sie mal darüber reden hören. Lass mich mit dir nach Mandalay kommen, bitte, Angela!«
»Das geht doch nicht. Sei nicht kindisch.« Angela lächelte sie an und tätschelte ihr beruhigend die Hand. »Du wirst ganz sicher bald einen gut aussehenden jungen Mann treffen, in den du dich Hals über Kopf verliebst.«
»Einen Chinesen!«, schnaubte Felicity mit einem bitteren Lachen. Ihr junges Gesicht war ein Bild des Jammers. Angela empfand plötzlich tiefes Mitleid mit ihr, zumal sie auch wusste, dass Mr. Quentin seiner Tochter sogar jeden Blick in den Spiegel verbot, aus Angst, sie könne der Todsünde der Eitelkeit verfallen.
Garabandas Kugel prallte von dem überhängenden Felsen ab. Der Querschläger verfehlte den Prediger nur knapp. Felicity schrie, die Träger brüllten etwas von >Shaitans<, und alle sprangen in Deckung. Einige Männer aus ihrer Eskorte nutzten die Verwirrung, um aus der Nähe der Missionare zu verschwinden, die ihnen plötzlich völlig gleichgültig waren.
»Hol sie sofort zurück!« Hilflos kreischte Dora Quentin in den Wind hinaus. »Farley, wir sind verloren, wenn sie uns verlassen. Tu doch etwas!«
»Beruhige dich, Liebes. Ich kann nichts tun, wenn sie beim ersten Schuss davonrennen wie die Karnickel. Man kann sich auf Eingeborene eben nicht verlassen.«
»Warum hast du sie denn dann schon bezahlt?« Dora hätte sicher etwas unternommen, wenn ihr geschwächter Zustand es gestattet hätte. Auch die Aussicht auf ein nahes Jenseits konnte sie nicht über einen Tod im Jainta-Pass hinwegtrösten. »Ich habe doch gesagt, wir hätten ihnen nichts bezahlen sollen, bevor sie sich nicht bewährt haben.«
»Lass uns beten.« Quentin kniete nieder, seine Hände umklammerten die Bibel. Angela konnte Felicitys Gefühle ihm gegenüber plötzlich sehr gut verstehen. »Komm, mein Kind, knie dich zu mir und bete. Gott wird uns helfen.«
Angela kniete sich tatsächlich hin. Allerdings faltete sie ihre Hände nicht zum Gebet, sondern zückte eine Elefanten-Büchse, Kaliber 12, die sie in Delhi gekauft hatte. Sie legte ruhig und sorgfältig an.
Hoch auf seinem Felsen lachte Garabanda zufrieden. Seine unregelmäßig stehenden, verfärbten Zähne ließen seinen grinsenden Mund wie das Maul eines blutrünstigen Haifischs erscheinen. Wenigstens ein Mensch da unten hatte Mut. Ihm gefiel es, dass es ausgerechnet die Frau mit dem rotblonden Haar war. »Schießt nicht auf die Frauen, bringt nur die Männer um!«, befahl er unbarmherzig.
...
Übersetzung: Karl-Friedrich Loos
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Der alte Mann lag im Sterben. Sein ehrgeiziger Lebensplan war erfüllt. Zweiundsechzigtausend Pfund Sterling-Silber, von diesem Reichtum sprach die Shwe Dagon Pagode, die im Schatten eines Sonnenschirms stand. Der diamantenbesetzte Reichsapfel, die juwelenverzierte Windfahne, Lotusblüten und eine goldene Glocke, all dies würde ihm die große Achtung von Siddharta Gautama Buddha einbringen. König Mindon Mins volle, bleiche Lippen verzogen sich zu einem glücklichen Lächeln, als er in Gedanken all seine Anstrengungen auf Erden, die sich in dieser wundervollen Pagode verkörperten, noch einmal durchlebte.
Abgesehen davon, dass er dem Sangha dieses großzügige Geschenk machen konnte, hatte er aber noch etwas anderes, viel Wichtigeres geleistet. Etwas, das ihm weitaus größeren Ruhm als irgendeine materielle Stiftung einbringen würde, denn es war eine geistige, die ihm einen Platz in den Herzen der Gläubigen und die Unsterblichkeit im Nirwana versprach. Er hatte zweitausendvierhundert Mönche zusammengerufen, um die Tripitaka-Texte, die alle Lehren Buddhas umfassten, gemeinsam zu lesen. In all den Jahrhunderten des buddhistischen Glaubens hatte es nur vier solcher Zusammenkünfte gegeben. Nun würde diese fünfte buddhistische Synode, die ganze sechs Monate gedauert hatte, auf Steintafeln verewigt werden.
Sein heiteres Lächeln wurde nun geradezu ordinär.
In der Vergangenheit hatten die fremden Radschas ihn immer wieder daran gehindert, sein wundervolles Dach des Glaubens einzuweihen. Sie hatten so viel Macht, dass sie nach Lust und Laune über alles und jeden bestimmen konnten. Nun aber konnten sie nicht mehr verhindern, dass die prächtigen Edelsteine die Ausländer, die in Rangun strandenden Kala, unter der heißen Sonne Burmas blendeten. Sie konnten nichts dagegen unternehmen, dass die orthodoxen Texte auf siebenhundertneunundzwanzig weißen Marmortafeln am Fuß des Hügels von Mandalay standen und für immer und ewig als Kuthodaw, das Verdienst des Königs, bezeichnet werden würden. Vor allem aber konnten sie ihm nicht streitig machen, was ihm bereits sicher war: sein Platz im Nirwana.
Ja, Nirwana! Ein sicherer Hafen an einem helleren Ufer.
Endlich konnte der König von Burma, der Herr der weißen Elefanten, auf das Patronat der hochmütigen Radschas verzichten.
Wo er hingehen würde, dorthin konnten sie ihm nicht folgen.
Er murmelte Worte aus den heiligen Schriften des heiligen Pali: »In Ruhe und von guten Lehren geleitet will ich den Hass beschwichtigen.«
Ja, ein friedliches Reich! Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass auch die nächste Generation in Frieden leben würde. Er konnte sein goldenes Königreich noch nicht verlassen, solange eine weitere wichtige Angelegenheit seine Aufmerksamkeit erforderte. Bisher hatte er nämlich eine äußerst wichtige Entscheidung vor sich hergeschoben, jetzt aber musste er sie treffen. Sie betraf seinen Lieblingssohn, Prinz Nyaungyan Min.
Unruhig zupfte der König auf seiner schwarzen Bettdecke aus Seide herum. Seine Fingerspitzen glitten über die groben Goldfäden, mit der sie üppig bestickt war. Das Wissen um den Ruhm seines Königreichs schenkte ihm in diesen letzten Augenblicken vor seinem Tod noch einmal so viel Kraft, dass er vollkommen klar denken konnte. Er rief sich ins Gedächtnis, wie die Briten seine Chinthes, sein Wappen, das Wappen von Burma, umbenannt hatten. Gekrönte Löwen hatten sie daraus gemacht. Er erinnerte sich mit trauriger Entrüstung, wie sein Drachenthron so zum Löwenthron geworden war. Frustriert seufzte er über die imperialistische Haltung der Briten, die allem, was nur entfernt einem englischen Symbol ähnelte, ihre eigene Bezeichnung aufdrückten, sei es ein Drache, eine Eidechse oder ein Löwe.
Der König von Burma erhob seinen Kopf von dem seidenen Kissen, fuhr mit dem Zeigefinger über die Chinthes, die auf der Decke eingestickt waren, und dachte, dass diese mythologischen Tiere Drachen oder Greifvögeln erheblich ähnlicher als irgendwelchen gekrönten Löwen waren. Dann lehnte er sich ein letztes Mal gegen die Eindringlinge auf. König Mindon Min flüsterte seinen letzten Wunsch in das Ohr seiner ergebenen Frau, der Königin Sinpyumashin.
Erstes Kapitel
1
Aus dem Ganges-Tal stiegen warme Luftströme zu den Khazi-Garo Bergen und dann weiter zum Himalaja auf. Der sintflutartige Regen fiel ohne Unterbrechung. Cherrapungi musste der nasseste Ort auf der ganzen Erde sein, dachte Angela, während der Sturm auf sie einpeitschte. Felicity Quentin jammerte monoton vor sich hin. Ihr permanentes Klagen ging Angela so auf die Nerven, dass sie es einfach nicht mehr mit anhören konnte. Sie zog ihre Regenhaube fest um den Kopf und vergrub sich tiefer unter ihrer Decke. So konnte sie Felicitys Genörgel wenigstens nicht mehr hören und kam nicht in Versuchung, sie gereizt anzufahren.
Tropfnass machten sie sich wieder auf den Weg. Der kleine Trupp, bestehend aus Packeseln, einigen Weißen und ihrer bewaffneten Eskorte - Ureinwohner, Feringhi genannt, die viel Geld dafür verlangten, Fremde sicher durch diese Berge zu führen -, bewegte sich träge und scheinbar ohne Ziel. Sie schienen kaum vorwärts gekommen zu sein, seit sie Cherrapungi am frühen Morgen verlassen hatten.
Um gerade einmal fünf Meilen den Berg hinauf zu kommen, hatten sie geschlagene fünf Stunden gebraucht. Wenn sie dieses Tempo beibehielten, würden sie Imphala niemals erreichen, geschweige denn den Chindwin hinüber nach Burma überqueren können, befürchtete Angela.
Hinter den triefenden Vorhängen ihrer Sänfte, die von vier Trägern mit stoischer Gelassenheit den Berg hochbugsiert wurde, beklagte Dora Quentin ihr Unglück, an der Ruhr erkrankt zu sein.
Angela begann Mitleid für den armen, ahnungslosen Kaiser von China, Kuang Hsu, zu empfinden, der die amerikanischen Baptisten-Missionare in Gestalt der Quentins ganz bestimmt eingeladen hatte, ohne zu ahnen, worauf er sich einließ. Der würde sich wundern, dachte Angela grimmig. Sie hatte mittlerweile so oft erzählt bekommen, dass Farley Quentin von Chinas großem Kaiser höchstpersönlich eingeladen worden war, um ihm von der einzig richtigen Wahrheit aus dem Westen zu erzählen, und dass Farley Quentin von Gott, dem Allmächtigen, auserwählt worden war, um auch diesen Heiden zu bekehren. Inzwischen hätte sie die Geschichte im Schlaf nachbeten können. Der arme Farley, er war so schrecklich naiv! Er würde Peking niemals erreichen, wenn er sich nicht grundlegend anders verhielt.
»Halt! Halt!«, schrie der Reverend schon wieder in den Sturm hinein. Haushohe Felsblöcke säumten den Bergpass, den sie gerade überquerten. Auf sein Geschrei hin brachte Angela ihr Maultier zum Stehen. »Ach du lieber Himmel«, murmelte sie, während sie beruhigend über das durchnässte Fell des Esels strich, »lasst uns beten.«
Farley und Dora Quentin hatten nicht damit gerechnet, dass die Verbreitung von Gottes Wort ihnen solche Schwierigkeiten bereiten könnte. Die Menschen hier waren alle so entsetzlich streitsüchtige Querulanten, wie die Bergführer und Gepäckträger ihnen ohne Unterlass demonstrierten. Es handelte sich bei diesen Männern fast ausschließlich um Bergleute aus dem Norden Indiens, harte Burschen, die sich von jedem anheuern ließen, der mutig oder schwachsinnig genug war, die Berge Nord-Indiens zu überqueren, um in den ebenso bergigen Dschungel Nord-Burmas zu gelangen.
Der Versuch, ein Lager aufzuschlagen, war eine Qual, da die Gruppe nicht nur mit dem unaufhörlichen Wind und Regen kämpfte, sondern dazu auch noch die überflüssigen und wenig hilfreichen Anweisungen von Hochwürden Quentin, wann, wie und wo dies zu geschehen habe, über sich ergehen lassen mussten. Er wollte das Lager mitten in den Sturm hineingebaut haben, was
nun einfach nicht möglich war. Und die Bergführer hatten mitnichten das Bedürfnis, gerade im San Mukh, dem so genannten Kuhmaul, oberhalb des Jainta-Passes, anzuhalten, wo sie nicht nur böse Geister, sondern auch Wegelagerer fürchteten.
Reverend Quentin blieb hartnäckig. Sie würden das Lager genau an dieser Stelle aufschlagen, da ein Weitermarsch bei diesem Unwetter einfach zu gefährlich wäre. Mit seinem Rauschebart und in dem triefenden, zerfetzten Umhang Moses in der Wüste nicht unähnlich, gestikulierte er mit den Armen wild in alle Richtungen und erteilte seine Befehle. Aber der heftige Wind, der sich seinen Weg durch die enge Schlucht bahnte, war stärker als die guten Absichten des Baptistenpredigers. Am Ende waren nämlich sämtliche Zelte weggeweht, und die Gruppe musste sich erbärmlich unter ihren durchweichten Decken zusammenkauern. Unter einem gefährlich drohenden Felsüberhang betete Angela, dass keine Steinlawine ihrem Elend ein Ende setzen würde.
2
General Grabanda, auf dessen Schnurrbart die dicken Regentropfen wie fette, durchsichtige Läuse glitzerten, warf Prinz Yoe einen bösen Blick zu. Ihm gab er die Schuld daran, dass sie so weit weg von zu Hause waren.
Yoe, ein burmesischer Prinz von niedrigem Rang, kauerte hinter einem Felsen und ignorierte Grabandas Blick. Was er von ihm hielt, war wenig schmeichelhaft.
Er schüttelte das Wasser von seinem Fernrohr und schob es zusammen, da man in dem peitschenden Regen ohnehin nichts sehen konnte. Der Turban auf seinem Kopf fühlte sich wie ein schwerer Klumpen nasser Wäsche an.
Voll bitteren Hasses tolerierte er Grabanda nur. Er brauchte ihn, um eine Rechnung mit dem Radscha von Manipur und Sir Edwin Tennent-Browne zu begleichen. Letzterer war ein Brite, und die Briten waren der Hauptgrund für seine Bitterkeit und das oberste Ziel seines Hasses. Sie warteten jetzt schon seit vier Tagen auf Sir Edwin, der auf diesem Weg über den Jainta-Pass reisen sollte. Er wollte seiner Aufgabe als Vorsitzender des Appellationsgerichts in Shillong nachkommen. Vor diesem Gericht konnten die Kläger territoriales Unrecht anfechten, das ihnen von der britisch-indischen Regierung und dem Radscha von Manipur, dessen fürstlicher Pufferstaat unter britischem Protektorat stand, zugefügt worden war. Prinz Yoe hatte seine Klage schon vor einem Jahr vorgebracht. Die Grenzkommission, der Sir Edwin ebenfalls vorsaß, hatte sie abgewiesen. Das Gesuch um die Rückerstattung seines Landes war wegen mangelnder Belege seines Eigentumsrechtes abgelehnt worden. Wirklich eine armselige Ausrede, wie Yoe fand. Nun aber würde es keine Anträge mehr geben, sondern nur noch private Auseinandersetzungen mit der Waffe. Sir Edwin Tennent-Browne als Geisel zu haben würde eindeutig von Vorteil sein, dachte Yoe selbstgefällig. Der Radscha wie die Briten würde nicht zögern, ihm sein Land zurückzugeben - jedenfalls nicht, wenn sie Tennet-Brownes Haut retten wollten. Yoe grinste verschlagen. Ja, so würde es laufen! Grabanda und sein Haufen von Söldnern aus ganz Asien - Eurasier, Araber, Mon, Chinesen und Männer von obskurer Abstammung ohne festen Wohnsitz und Religionszugehörigkeit, allesamt geldgierige Banditen - würden Sir Edwin Tennent-Browne fangen!
»Mein Prinz!« Grabandas raue Stimme, in der immer, wenn er Prinz Yoe ansprach, eine Spur von Verachtung mitschwang, schreckte ihn aus seinen Tagträumen auf. »Mein Prinz, wie lange wollt Ihr noch mit Eurem Gewissen ringen? Wir warten auf Euren Befehl, den Angriff zu starten. Oder wäre es Euch lieber, wenn wir uns in der Zwischenzeit alle eine Lungenentzündung holen?«
Prinz Yoe ärgerte sich über Grabandas Respektlosigkeit, spürte zugleich aber, wie sein Herz bei dem Wort Angriff einen Sprung machte. Erneut hielt er sich das Fernrohr vor die Augen und starrte in den Pass hinunter. Der Platzregen hatte nachgelassen, und er konnte durch den Dunst eine kleine Menschengruppe ausmachen, die sich mit ihren Packtieren in den Windschatten eines Felsens drückte. Das war wohl kaum die Art von Begleitung, die sich Sir Edwin für eine Reise auswählen würde! Enttäuscht musterte er die Reisenden im Pass genauer. Er hatte das Gefühl, dass Buddha ihm
einen üblen Streich gespielt hatte, indem er ihm Missionare anstatt Sir Edwin gesandt hatte. Missionare konnte man meilenweit erkennen. Für gewöhnlich waren sie schlecht ausgerüstet, müde, krank, inkompetent und mit einem Eifer, der weit entfernt war von jedem gesunden Menschenverstand. So gaben sie immer eine leichte Beute für Grabanda und seine Halsabschneider ab. Yoe wusste, dass Grabanda diesen kleinen Pulk hilfloser Reisender angreifen würde, wenn nicht wegen ihrer Frauen, dann wegen der Medizin gegen das Schüttelfieber, die sie immer bei sich hatten. In ihrem Lager war das Chinin ausgegangen, und sie brauchten dringend Nachschub.
Prinz Yoe versuchte sein Gewissen zu beruhigen; Grabanda und seine Männer würden den dreckigen Job erledigen, seine eigenen Hände würden rein bleiben. Er beschloss, dass er das Geld und den Schmuck der Missionare später dem Mönch in seinem Dorf geben würde. Auf diese Weise würde Buddha sich beschwichtigen lassen. Alles Blut wäre zu seiner Ehre geflossen. Die Kala, die Fremden, hatten ein Wort dafür: Kreuzzug. Prinz Yoe fand, dass dies ein treffender Ausdruck für die Sache war, der er sich gerade hingab, auch wenn er kein Kreuz trug.
Seine Gedanken grenzten an Selbstquälerei: Er würde niemals den Befehl geben, diese hilflose Gruppe, die sich da unten am Berg unglücklich und voller Angst duckte, anzugreifen. Er würde sich auch sämtliche fleischliche Gelüste verkneifen - schließlich war er ein guter Buddhist, oder versuchte es zumindest zu sein -, und unter den Missionarsleuten befanden sich ganz bestimmt Frauen, da deren Ehrgeiz, die Heiden zu bekehren, immer noch größer war als der von Männern.
»Wer sagt, dass wir ohne die Erlaubnis unseres Prinzen angreifen? Wer sagt, dass wir ihn seinen merkwürdigen Träumen überlassen, während wir die Beute teilen?« Grabanda trommelte seine Leute zusammen, ausgelassen stand er auf einem Felsen und ließ sein Messer in der Luft kreisen, als würde er wirklich zu einem Kreuzzug aufbrechen. Seine Schergen feuerten ihn an, und ihre knurrenden Stimmen erinnerten Yoe an die wilder Tiere. Prinz Yoe verharrte bewegungslos. Dann steckte er das Fernrohr weg und nahm seinen nassen Schal vom Gesicht. Er sah Grabanda nicht an, während er sich zu ihm umwandte:
»Was ich auch sage, du machst ja sowieso, was du willst - wie immer«, murmelte er, bevor er den Felsvorsprung verließ.
Grabandas herzhaftes Lachen hallte unangenehm in Yoes Ohren wider. »Macht Euch nichts daraus, Yoe! Ihr habt einen guten General, der diese Teufelskerle zu kommandieren weiß, die ihren kleinen Prinzen jederzeit bei lebendigem Leibe auffressen würden, wenn man sie nur ließe. Wir werden Euch die rothaarige Frau bringen. Durchs Fernglas sieht sie nach einem netten kleinen Ding aus. Du kannst ihr dann beibringen, Buddhas Lehren zu verbreiten, anstatt die ihres Jesus.«
Grabanda war so widerlich! Prinz Yoe lief ein Schauer über den Rücken. Obwohl ihm sein Diener die nassen Gewänder abgenommen und ihn in warme Wolldecken gehüllt hatte, zitterte er. Es war aber weniger die Feuchtigkeit um ihn herum als vielmehr das Wissen über das, was passieren würde. Sein Gewissen wurde noch schwerer. Er verabscheute schamlose Lüsternheit noch mehr als unnötiges Blutvergießen. Die Vernichtung von Unschuld quälte sein Herz noch viel stärker als eine Kugel aus dem Gewehr. Das wusste er, und er wusste genauso, was er in Kürze sehen würde, denn Grabanda hatte ihm seine Grausamkeit schon oft genug vorgeführt.
Prinz Yoe öffnete sein Buch mit den heiligen Schriften. Vielleicht könnten die Theravada-Schriften ihn für einen Moment vergessen lassen, dass er einen Geächteten namens Grabanda in seinen Diensten hatte, einen Führer von aufständischen Mördern.
3
Es dunkelte bereits, obwohl der Nachmittag noch nicht vorbei war. Angela zog ihre durchnässte Decke enger um sich. Sie war hungrig. Den ganzen Tag hatten sie nichts zu essen bekommen, weil der lethargische Koch nicht in der Lage gewesen war, ein Feuer zu entfachen. Ihre letzte Mahlzeit war eine nicht gerade üppige Portion kalten Breis gewesen, ihr Frühstück, bevor sie in aller Herrgottsfrühe aus Cherrapungi aufgebrochen waren.
Und jetzt hockten sie hier in diesem Unwetter mit der Gefahr im Nacken, jeden Augenblick von einer Steinlawine überrollt zu werden. Angela kam es vor, als ob sich Gottes geballter Zorn über ihnen entladen würde. Sie sah, dass Felicity weinte. Ihre Tränen schienen Angela angesichts der Wassermassen, die auf sie hinuntergingen, genauso unnötig wie der kranke Humor, mit dem Reverend Quentin der ganzen erbärmlichen Situation begegnete.
»Weine nicht, Felicity«, sagte Angela und streckte eine Hand tröstend nach ihr aus.
»Ich fühle mich wie beim Auszug aus Ägypten. Vater und Mutter mögen ja ihr Vertrauen in Gott setzen, aus dem uns alles zufließt, aber was mich angeht, ist das Einzige, was ich hier fließen sehe, der Monsun.«
Angela konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, der armen Felicity blieb nichts erspart.
»Du hast wirklich Glück«, fuhr Felicity fort, »du kannst nach Mandalay gehen und einen netten, gut aussehenden Mann heiraten.«
»Ja, Matthew ist zweifellos nett, aber nicht unbedingt gut aussehend. Obwohl er ganz anziehend ist, sobald er seine Brille absetzt. Aber das ist nicht wichtig, wichtig ist nur sein unendlich freundliches Wesen und seine Warmherzigkeit.«
»Erzähl mir noch einmal, wie ihr euch kennen gelernt habt«, forderte Felicity sie eifrig auf, während sie sich enger an ihre Gefährtin kuschelte.
Angela musste lachen. »Meine liebe Felicity, ich habe dir schon hundertmal von Matthew und mir erzählt, das muss dich doch langsam langweilen.«
»Nein, ich bin mir nur selbst überdrüssig. Ich werde wahrscheinlich einen Chinesen heiraten. Ich werde niemals jemanden auf einer romantischen Schiffsreise nach Bombay kennen lernen.«
»Das Schiff war ziemlich überfüllt und laut. Onkel Adrian Hawes ließ niemals einen Zweifel daran, dass er mein Begleiter und Anstandswauwau war, der mich ausschließlich zu meinem Vater und nicht in die Arme eines >jungen Schnösels<, wie er sich ausdrückte, bringen sollte.« Angela lächelte in Gedanken an ihren Onkel Adrian, der vor der Fahrt nach Mandalay in England gewesen war und nach seinem wohlverdienten Urlaub in Bath auf einmal zehn Jahre jünger ausgesehen hatte. Ein lieber Mann, dachte Angela. Und auf jeden Fall war er so nett gewesen, ein Wort für den >Schnösel< Matthew einzulegen, als der sich um eine Stelle in Mandalay beworben hatte. Und da waren sie beide nun, in Min-don Mins Märchenstadt, über die Angela aus Matthews Briefen so viel gehört hatte.
»Du wirst schon lange in Mandalay sein, bevor ich Peking erreicht habe. Ich wünschte, ich könnte mit dir nach Mandalay gehen.«
»Ich werde nicht direkt nach Mandalay gehen«, sagte Angela. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich zuerst meine Tante Lydell in Loloi besuchen werde. Ich muss zu ihr, sie ist schließlich die Schwester meiner Mutter. Ich werde einige Zeit bei ihr bleiben, und dann werde ich auf dem Irrawaddy hinunter nach Mandalay reisen. Das wird aufregend - genauso aufregend wie deine Reise nach China, um am Hof des Kaisers Kuang Hsu empfangen zu werden. Lass dich nicht so hängen, Felicity, wir alle sind wegen dieses fürchterlichen Wetters deprimiert. Sobald wir aus den Bergen heraus sind, werden wir schneller vorankommen. Immerhin sind wir nicht auf See, wo uns außer dem Regen auch die Wellen zu schaffen machen würden.«
»Denk nur mal an das Gerede meines Vaters!«, erwiderte Felicity bitter.
»Ach, komm jetzt, es wird einem ja ganz elend, wenn man dich so reden hört. Felicity, das Leben ist nicht so furchtbar schlimm.«
Felicity rückte näher und schaute sie mit glühenden Augen an: »Wenn ich dir sagen würde, dass ich meine Eltern hasse, wärst du dann sehr entsetzt?«
Angela zögerte. »Nein ... nein, ich glaube nicht. Das kann ich wirklich nicht beurteilen. Ich kannte meine Eltern kaum - meine Mutter starb, als ich sechs war, und mein Vater schickte mich kurz darauf ins Internat nach Bath. Ich sah ihn in den folgenden Jahren dann nur unregelmäßig, wenn er seinen Heimaturlaub in England verbrachte ... ja, und dann starb er, kurz nachdem ich nach Delhi gekommen war, um bei ihm zu leben.« Sie zuckte die Schultern, ihre grünen Augen glänzten wehmütig. »Ich habe also wenig Erfahrungen mit familiären Beziehungen.«
»Weißt du, sie haben mich nie haben wollen. Ich war nur ein Unfall, kam viel zu spät in ihr Leben. Ich habe sie mal darüber reden hören. Lass mich mit dir nach Mandalay kommen, bitte, Angela!«
»Das geht doch nicht. Sei nicht kindisch.« Angela lächelte sie an und tätschelte ihr beruhigend die Hand. »Du wirst ganz sicher bald einen gut aussehenden jungen Mann treffen, in den du dich Hals über Kopf verliebst.«
»Einen Chinesen!«, schnaubte Felicity mit einem bitteren Lachen. Ihr junges Gesicht war ein Bild des Jammers. Angela empfand plötzlich tiefes Mitleid mit ihr, zumal sie auch wusste, dass Mr. Quentin seiner Tochter sogar jeden Blick in den Spiegel verbot, aus Angst, sie könne der Todsünde der Eitelkeit verfallen.
Garabandas Kugel prallte von dem überhängenden Felsen ab. Der Querschläger verfehlte den Prediger nur knapp. Felicity schrie, die Träger brüllten etwas von >Shaitans<, und alle sprangen in Deckung. Einige Männer aus ihrer Eskorte nutzten die Verwirrung, um aus der Nähe der Missionare zu verschwinden, die ihnen plötzlich völlig gleichgültig waren.
»Hol sie sofort zurück!« Hilflos kreischte Dora Quentin in den Wind hinaus. »Farley, wir sind verloren, wenn sie uns verlassen. Tu doch etwas!«
»Beruhige dich, Liebes. Ich kann nichts tun, wenn sie beim ersten Schuss davonrennen wie die Karnickel. Man kann sich auf Eingeborene eben nicht verlassen.«
»Warum hast du sie denn dann schon bezahlt?« Dora hätte sicher etwas unternommen, wenn ihr geschwächter Zustand es gestattet hätte. Auch die Aussicht auf ein nahes Jenseits konnte sie nicht über einen Tod im Jainta-Pass hinwegtrösten. »Ich habe doch gesagt, wir hätten ihnen nichts bezahlen sollen, bevor sie sich nicht bewährt haben.«
»Lass uns beten.« Quentin kniete nieder, seine Hände umklammerten die Bibel. Angela konnte Felicitys Gefühle ihm gegenüber plötzlich sehr gut verstehen. »Komm, mein Kind, knie dich zu mir und bete. Gott wird uns helfen.«
Angela kniete sich tatsächlich hin. Allerdings faltete sie ihre Hände nicht zum Gebet, sondern zückte eine Elefanten-Büchse, Kaliber 12, die sie in Delhi gekauft hatte. Sie legte ruhig und sorgfältig an.
Hoch auf seinem Felsen lachte Garabanda zufrieden. Seine unregelmäßig stehenden, verfärbten Zähne ließen seinen grinsenden Mund wie das Maul eines blutrünstigen Haifischs erscheinen. Wenigstens ein Mensch da unten hatte Mut. Ihm gefiel es, dass es ausgerechnet die Frau mit dem rotblonden Haar war. »Schießt nicht auf die Frauen, bringt nur die Männer um!«, befahl er unbarmherzig.
...
Übersetzung: Karl-Friedrich Loos
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Bibliographische Angaben
- 541 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- ISBN-10:
- ISBN-13: 4026411116020
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