Seit du nicht da bist
"Eine berührende Erzählung von Freundschaft und Familie - traurig und herzerwärmend zugleich. Man kann das Buch nicht schnell genug verschlingen."
Cosmopolitan
Die Freundinnen Rachel, Mariel und Jenny geben...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Seit du nicht da bist “
"Eine berührende Erzählung von Freundschaft und Familie - traurig und herzerwärmend zugleich. Man kann das Buch nicht schnell genug verschlingen."
Cosmopolitan
Die Freundinnen Rachel, Mariel und Jenny geben sich das Versprechen, im Ernstfall immer für die anderen da zu sein. Dann stirbt Rachels kleine Tochter - und Rachel will nur noch fliehen: vor der Erinnerung und dem Versprechen ihrer Freundinnen.
Lese-Probe zu „Seit du nicht da bist “
Seit du nicht da bist von Louse Candlish Prolog London, 1988
Ich kann mich nicht mehr erinnern, an welchem Tag genau wir unseren Pakt geschlossen haben, aber natürlich war es Jennys Idee. Von uns dreien neigte sie am ehesten dazu, sich für eine Sache zu begeistern oder zu etwas hinreißen zu lassen. Oliver nannte sie unseren >Hitzkopf<.
Wir saßen in unserem Stammcafé, die Babys schliefen neben uns in ihren Kinderwagen, da ließ Jenny plötzlich den Blick über die Nachbartische schweifen, als befürchtete sie heimliche Zuhörer, und flüsterte dann mit eindringlicher Stimme: »Wir sollten schwören, uns gegenseitig um unsere Mädchen zu kümmern. Ihr wisst schon ..., falls etwas Schreckliches passiert.«
Ich sah leicht schockiert von meinem Kaffee auf. >Schreckliches< passierte doch nur anderen Leuten, oder? Leute, von denen man dann in der Zeitung liest? Uns würde doch sicher nichts geschehen. Mariel neben mir zog eine Augenbraue hoch. Ich beschloss erst ihre Antwort abzuwarten, bevor ich selbst den Mund aufmachte. Wenn Jenny unsere Aktivistin war, dann hatte Mariel die Rolle der gelassenen Realistin.
... mehr
»Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Elternteile gleichzeitig einem Krebsleiden erliegen, ist ziemlich gering«, meinte sie auch prompt ganz vernünftig. »Oder dass sie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen, ohne dass ihr Kind im Sitz zwischen ihnen hockt. Glaub mir, Jen, hier wird niemand zum Waisenkind.«
Jenny verzog das Gesicht und schnappte sich eine Strähne ihres dicken rotgoldenen Haares. Sie besaß die Angewohnheit, Teile davon zu einem festen Zopf zu flechten, der ihr dann über die Schulter hing, bis er sich von selbst wieder auflöste. »Na dann eben auch, falls nur ein Elternteil sterben sollte.« Sie sah Mariel fest in die Augen. »Toby fliegt doch beruflich andauernd um die halbe Welt, oder? Jetzt gerade ist er im Fernen Osten, stimmt's?«
»Jen!« Nun war ich wirklich geschockt, aber Mariel lachte bloß. »Na, danke für diesen aufbauenden Gedanken. Ich werde meinem Gatten ausrichten, dass er seine Lebensversicherung aufstocken sollte.«
»Ich meine es ernst, Mariel. Solche Dinge passieren!«
Schweigend sahen wir uns alle drei an. »Na gut, ich bin dabei«, meinte ich schließlich. Am Gesichtsausdruck meiner Freundinnen konnte ich erkennen, dass meine plötzliche Ernsthaftigkeit sie überraschte. Keine Ahnung, welchen >Part< ich in unserer Runde spielte, aber irgendwie hatte dieses Thema mich nun doch berührt und ich war nicht bereit, das zu ignorieren. Da Oliver nach wie vor bis spät in die Nacht arbeitete und auch nicht gerade wenig trank , gefiel mir die Vorstellung ganz und gar nicht, dass mir etwas zustoßen könnte und Emma damit einer Schar Nannys ausgeliefert wäre überwacht von Olivers Mutter oder, schlimmer noch, seiner Assistentin.
»Mariel?«, drängte Jen.
Mariel nickte, wobei die Seitenpartien ihres dunklen Bobs nach vorne über ihre Wangen fielen. »Natürlich bin ich dabei. Ihr wisst doch, dass ich für die Mädchen alles tun würde.«
»Dann haben wir einen Deal«, strahlte Jen. »Wir werden sie gemeinsam bis zur Uni begleiten, und wenn es das Letzte ist, was wir tun. Oxford, denke ich mal, nein, Harvard!«
Mariel gluckste bei dem Gedanken, doch ich konnte nicht so schnell in Heiterkeit umschwenken. »Und außerdem werden sie auch immer füreinander da sein.«
»Vorausgesetzt, dass sie sich tatsächlich gut verstehen«, warf Mariel vorsichtig ein. »Was redest du denn da? Natürlich werden sie das«, verkündete Jenny mit Bestimmtheit, und nun musste auch ich lächeln. Ich wusste genau, die anderen beiden dachten das Gleiche wie ich: Wenn unsere Töchter auch nur annähernd so gute Freundinnen werden würden wie wir, dann hätten sie extremes Glück. Sie wären dann dreimal so gut fürs Leben gewappnet, dreimal so gut beschützt.
Im Grunde alles mal drei. ERSTER TEIL
»... mit sechs bin ich schlau wie die großen Leute, drum bleib ich für immer sechs ab heute.« A. A. Milne Kapitel 1
London, Juli 1994
Als sie kamen, um ihre Kinder von der Party an Emmas sechstem Geburtstag abzuholen, fragten mich die Mütter, wo denn Oliver sei. Es war schließlich Freitagnachmittag, fast schon Wochenende, und Väter sind nun mal bei Kindergeburtstagen besonders gefragt.
So musste ich mir eine ganze Menge ungläubiger Kommentare anhören:
»Er ist nicht da? Was für eine Schande aber auch.« Ja.
»Dann ist er bestimmt geschäftlich unterwegs, oder? Irgendeine Reise, die er nicht verschieben konnte?«
Nein, bloß in seinem Büro in der Stadt.
»Und er konnte gar nicht weg? Nicht mal für ein paar Stündchen?« Anscheinend nicht.
»Also wenn du mich fragst«, meinte Ruby Sherwoods Mutter Lesley, »für mich wäre das ein Grund zur Scheidung!« Erleichtert stellte ich fest, dass außer Ruby bereits alle Kinder abgeholt worden waren. »Rachel, komm und trink einen Schluck«, rief mir Mariel von der Wohnzimmertür aus zu. Sie hatte vermutlich schon eine ganze Weile dort gestanden und nur auf den richtigen Moment gewartet, sich zu meiner Rettung einschalten zu können. »Die Mädchen sind völlig erschlagen, sieh nur!«
>Die Mädchen< wir benutzten diesen Ausdruck auch, wenn Cats kleiner Bruder Jake mit von der Partie war lümmelten nebeneinander auf dem Sofa, die Partykleidchen um sich herum aufgebauscht, die Füße ausgestreckt, so dass man die schmutzigen Fußsohlen ihrer hellen Strumpfhosen sehen konnte. Wie kleine Debütantinnen, die bei Morgengrauen schließlich ermattet in die Kissen sinken. Um sie herum lagen noch die Reste von Geschenkband und Girlanden, Teller mit Kuchenkrümeln und zerknüllten Servietten. Alle Augen waren gleichermaßen gebannt auf den Fernseher gerichtet. Disney. Dornröschen, wenn mich nicht alles täuschte.
Catherine, Daisy und Emma: unzertrennlich, genau wie wir gehofft hatten. Cat saß in der Mitte und hatte ihren Kopf an Daisys Schulter gelegt. Wieder einmal musste ich denken, dass Cats unterschiedliche Gesichtspartien abwechselnd ihren Eltern ähnlich sahen, wie bei diesem Kindermalspiel, wo man immer einen Körperteil malt und den Streifen dann nach hinten weg faltet, bevor man das Blatt an den nächsten Spieler weiterreicht. Am Schluss wird die endgültige Gestalt in ihrer ganzen Unstimmigkeit enthüllt. Das kräftige braune Haar war Tobys knick , die weit auseinanderstehenden, haselnussbraunen Augen und die kleine Nase Mariels knick , der entschlossene Mund und das energische Kinn wieder aus Tobys Familie knick , der schlanke Hals und die zarten Schlüsselbeine aus der von Mariel.
Daisy war eine andere Art Mischung, mit Jens herzförmigem Gesicht und dem offenen, vertrauensvollen Blick, gepaart mit Bobs schärferem Profil. Nur Emma schien die perfekte Miniaturausgabe eines einzigen Elternteils zu sein, doch ich wusste von Fotos von mir, dass ich selbst in Emmas Alter nicht halb so einnehmend hübsch gewesen war: große blaue Augen, die Iris wie ein leicht verschwommener Blütenkranz um die Pupille; Wangenknochen, die bereits jetzt von Fremden kommentiert wurden; das Buttergelb ihrer Haare könnte kein Frisör je bei einem Erwachsenen imitieren. Das wird mal eine richtige Schönheit, sagten alle. Schwer zu beurteilen, antwortete ich, stets versucht, meinen Stolz zu verbergen. Im Grunde waren sie allesamt bereits kleine Schönheiten, diese drei hier, genau wie sämtliche anderen Wesen, die heute bei uns getanzt und gespielt hatten.
Ich folgte Mariel in die Küche, wo Jen die Reste des abgestandenen Sekts in unsere bereits benutzten Gläser füllte. »Lass das stehen, ich hol uns was Besseres zu trinken.«
Vorbei an einem Meer aus lilafarbenen Luftballons und dem schiefen Turm ungeöffneter Geschenke verschaffte ich mir Zugang zu Olivers Weinlager im Keller, dessen Temperatur und Feuchtigkeit ständig von einem kleinen, komplizierten Apparat an der Tür kontrolliert wurden, und griff wahllos zu. In der Küche fand ich in einem Regal hoch oben, außer Reichweite von Kinderhänden, die schlichten Kristallgläser. »Mhmm, dieser Wein ist echt lecker.« Mariel machte es sich auf einem Küchenhocker bequem.
Jen grinste. »Heh, das ist nicht zufällig ein edles Tröpfchen, das Oliver für Emmas einundzwanzigsten Geburtstag reserviert hat, oder?« Sie ahmte Olivers sonoren und ein wenig theatralischen Tonfall nach, woraufhin Mariel und ich kicherten. Nur meine Mutter, die an der Spülmaschine herumwerkelte, zeigte keine Reaktion. Ich warf ihr einen Blick zu, der hoffentlich signalisierte, dass diese Art der Spöttelei bloß spaßig gemeint war und ganz gewiss nichts mit mangelnder Loyalität zu tun hatte. »Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht zu uns gesellen mögen, Alysa?«, erkundigte Jen sich bei meiner Mutter. Sie hasste es, jemanden auszuschließen. Im Lauf des Nachmittags hatte ich zufällig mitgehört, dass sie Mum fragte, wie denn Kindergeburtstage in Griechenland gefeiert wurden. Da war mir selbst erst wieder bewusst geworden, dass Mum in Emmas Alter ja noch an ihrem Geburtsort, auf der Insel Santorin, gelebt hatte. Bestimmt hatte Jen Geschichten über Festgelage, zerschmetterte Teller und Tänze im großen Kreis erwartet, doch Mum sprach nicht gerne über ihr Heimatland außer um uns zu warnen, dass es >verflucht< sei , und die herzensgute Jen hatte ihre lieb gemeinten Bemühungen um sie schließlich einstellen müssen.
»Mami, wir haben Durst, wir brauchen Saft ...«
»Ah, das Geburtstagskind!« Emma schlang ihre Ärmchen um mich, wobei sie ihren Kopf in meine Rippen bohrte, bis ich mich neben sie kniete, um sie in den Arm zu nehmen und meine Nase in ihrem wunderbaren Haar zu vergraben, das nach einer Mischung aus Zitronen und Karamell duftete. Wie so oft fragte ich mich, wann die Zärtlichkeiten wohl ausbleiben und durch Schmollen ersetzt würden, weil sie einen Fernseher in ihrem Zimmer oder mehr Geld für Klamotten wollte.
Sechs. War sie immer noch mein kleines Mädchen oder schon eine Große? Sie selbst war es gewesen, die den heutigen Tag zu einem solchen Meilenstein deklariert hatte. Seit sie sprechen konnte, sagte sie Dinge wie: >Wenn ich mal sechs bin<, >Ich wäre gerne schon sechs< oder >Sechs ist die beste Zahl überhaupt<. Sie dachte nicht etwa, dass das Leben erst mit sechs begann, so wie viele ältere Mädchen sechzehn als entscheidendes Alter betrachteten. Eine solche Logik lag ihr noch fern. Es schien eher so, als sei sechs für sie der Gipfel all dessen, was es zu erreichen galt.
Nun entzog sie sich meiner Umarmung und schmiegte sich an meine Mutter. »Komm und sieh dir den Film mit uns an, Oma.«
Alysa ergriff ihre ausgestreckte Hand. »Gerne, mein Schatz.« Wie immer freute es mich zu sehen, wie nahe sich die beiden standen. Außerdem war ich dankbar darüber, dass mein eigenes Verhältnis zu meiner Mutter davon profitiert hatte. Ein kleines Wunder in Anbetracht des Schweigens, das vor acht Jahren zwischen uns herrschte, als mein Vater gestorben war und wir uns beinahe gegenseitig aufgegeben hätten. (Zumindest hatte ich sie aufgegeben. Seit es Emma gab, war mir jedoch klar geworden, dass dies umgekehrt für meine Mutter nie in Frage gekommen wäre.) Wahrscheinlich handelte es sich lediglich um eine Art Schachmatt, und wenn jemand festgefahrene Positionen zwischen zwei Erwachsenen auflösen konnte, dann war es ein Kind.
Ich setzte mich ebenfalls ein paar Minuten mit ins Wohnzimmer, denn ich wusste, dass Mum uns gerne beide neben sich hatte, eine auf jeder Seite, so wie sie einst von Ehemann und Kind flankiert wurde. Während des Großteils ihrer eigenen Kindheit hatte sie ihre Eltern für sich gehabt, und so fühlte sie sich in einer Dreierkonstellation sehr wohl. Ihr zwei seid alles, was ich habe ... Sie sprach es nicht laut aus, doch ich wusste, was sie dachte.
Ja, glücklich zu dritt, aber gleichzeitig auch der Risiken gewahr, die diese Dreisamkeit barg.
In der Küche nahm Mariel mich beiseite: »Wo steckt Oliver denn nun wirklich?«
»Bei der Arbeit natürlich. Irgendwelche japanischen Kunden sind in der Stadt. Es stand nie zur Debatte, dass er noch herkommen würde.«
»Mein Gott, er weiß die Grenzen wirklich auszuloten, was?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ist ja kein Weltuntergang.« »Ich finde, du bist zu verständnisvoll«, meinte Jen. Sie warf einen Blick auf die offene Wohnzimmertür. »Besonders nach dieser Geschichte mit Charlotte.«
Diese Geschichte. Schon irgendwie seltsam, Untreue als Geschichte zu bezeichnen. Vor allem in Bezug auf Oliver, der doch alles so rational anging. Charlotte war nach dem Uniabschluss als Trainee bei ihm in der Firma eingestiegen und stellte damit wohl unwiderstehliches Frischfleisch dar. Ich konnte mich noch gut erinnern, wie ich Mariel und Jen heulend von ihr erzählt hatte, wie mein Körper jedes kleinste bisschen Trost brauchte, das sie mir boten. Doch selbst während ich noch weinte, beschloss ich, ihm zu vergeben.
Jens Augen funkelten wütend. »Mein Gott, wenn ich Bob mit einer anderen erwischen würde, dann ginge es mir wie dieser Frau in Amerika. Wie hieß sie doch noch gleich, Mrs Rabbit?«
»Bobbit? Die, die ihrem Mann den Penis abgeschnitten hat?« Mariel kicherte. »Na, die Skalpelle hast du ja als Fußpflegerin zur Hand, vermute ich. Oder zwingt Bob dich dazu, deine Ausrüstung im Auto zu lassen? Das wäre von jetzt ab wahrscheinlich empfehlenswert. Ich möchte nur ungern als Leumundszeugin vor Gericht aussagen, danke, kein Bedarf.«
Ich amüsierte mich prächtig, doch Jenny war noch nicht fertig. »Ich finde einfach, dass Untreue, nun ja, unverzeihlich ist. Wenn man den Partner nicht mehr will, warum trennt man sich dann nicht einfach?«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Ich begegnete Mariels Blick, die sich auf die Lippe bis ein eindeutiges Zeichen, dass sie über vertrauliche Dinge nachdachte. Ich glaubte zu wissen, um was es sich handelte, und konnte bestimmt auf sie zählen, mir zuliebe das Thema zu wechseln. Wir beide waren schon einige Jahre befreundet, bevor wir Jenny kennenlernten, und es gab ein paar Dinge nun ja, eine Sache im Besonderen , die ich nur ihr erzählt hatte. Charlotte war ein Thema für die Dreierrunde gewesen, denn das hatte sich irgendwie richtig angefühlt. Nicht so jedoch das, was danach passiert war.
»Glaubst du denn, dass Bob und du je heiraten werdet?«, fragte sie nun Jen in jenem freundlich-vertraulichen Tonfall, den sie durch ihre jahrelange Arbeit fürs Gesundheitsamt perfektioniert hatte. Natürlich fragte sie damit auch indirekt, ob Jen glaubte, dass sie sich je trennen würden. Die war sich dessen wohl durchaus bewusst, denn sie warf einen weiteren Blick Richtung Tür, bevor sie antwortete. »Er nervt mich manchmal furchtbar, aber er ist nun mal Daisys Vater.«
Mariel nickte. »Stimmt. Und wenn sich alle Paare trennen würden, die sich gegenseitig nerven, gäbe es bald keine mehr.« Das war eine typische Mariel-Bemerkung. Infolge ihrer eigenen sicheren Ehe mit Tony war ihre Toleranz gegenüber anderen, weniger beispielhaften Verbindungen groß: Untreue, Konflikte, >Mini-Aufstände<, wie sie sie gerne nannte. Nichts davon war unüberwindbar. Unvollkommenheit galt es nicht nur zu vergeben, sondern auch zu vergessen. Ich persönlich neigte ein bisschen zu sehr dazu, daran festzuhalten.
»Jen! He, Süße, was ist los?« Mariel hatte Jen plötzlich den Arm um die Schultern gelegt, die zu meiner Verblüffung angefangen hatte zu weinen. Ich beugte mich vor, um die Küchentür zu schließen, bevor ich mich auf Jennys andere Seite schob. Sie zog wütend an ihren Haaren, während dicke Tränen über ihre Wangen kullerten. »Es ist nur so, o Mann, das ist bescheuert, aber diese Art, wie er mich manchmal ansieht. Also Bob. Sein Gesichtsausdruck, das ist pure Verachtung. Er scheint mich viel nerviger zu finden als früher. Aber ich mache nichts anders, da bin ich mir ganz sicher.«
»Ist ja gut«, versuchte ich sie zu trösten. »Natürlich machst du «
»Ich hab es nur alles so satt«, unterbrach sie mich mit einem Schniefen. »Absolut die Schnauze voll!« Sie sah über mich hinweg auf die glänzenden Schränke und hohen Fenster meiner Küche. »Keine Ahnung, wir rackern uns irgendwie pausenlos ab, und dann kommt doch nichts dabei heraus.«
Sanft nahm Mariel Jen das gekippte Glas aus der Hand. »Du bist erschöpft, Liebes. Wie wäre es, wenn Rachel und ich am Wochenende Daisy zu uns nehmen, und ihr zwei fahrt mal für eine Nacht weg?«
Jen schüttelte den Kopf. »Wir sind momentan so pleite, dass wir uns das gar nicht leisten könnten. Und um ehrlich zu sein, bin ich mir gar nicht so sicher, ob ich überhaupt ein ganzes Wochenende mit ihm allein verbringen mag.«
»Dann ein Abendessen«, schlug ich vor. »Morgen Abend. Oder wenigstens einen Drink. Ein bisschen Zeit nur für euch, raus aus der Bude. Mehr braucht ihr gar nicht.« »Danke, das wäre klasse.« Jen schnappte sich eine rosa Partyserviette von der Arbeitsplatte, um sich die Nase zu putzen. »Mein Gott, was mache ich hier bloß? Ich will nicht, dass Daisy mich so sieht.« Ich zeigte auf die geschlossene Tür. »Keine Sorge, die hören keinen Ton. Außerdem sind sie völlig hypnotisiert vom schönen Prinzen.«
Mariel sah lächelnd zwischen uns beiden hin und her. »Wie lange das wohl halten wird?«
Oliver kam um zehn nach Hause, als Emma bereits schlief und ich selbst auch schon sehr schläfrig war. Er sprach von verstopften Straßen, doch in seinen Augen konnte ich immer noch die flackernden Zahlen der Computerbildschirme sehen. Seine einst gute Figur verschwand zunehmend zugunsten den sich ansammelnden Pölsterchen. In der Kombination mit seinem bereits ziemlich ergrauten Haar ließ ihn das älter aussehen, als er war. Man hätte ihm locker zehn Jahre mehr gegeben, einer dieser alternden Finanzheinis, die langsam von ihren Banken aufgefressen wurden. Während ich die Spülmaschine weiter ausräumte, hörte ich, wie er die Treppe hinauftapste er schlich immer so betont leise, als sei er ein Einbrecher in seinem eigenen Haus. Wollte man ungnädig sein, könnte man es als mangelnde Erfahrung bezeichnen, denn wer regelmäßig seine Kinder ins Bett bringt, weiß genau, dass diese nach einer Geburtstagsparty wie der heutigen nicht mal von einer startenden Concorde aufwachen würden.
Die Weinflasche auf dem Tisch war leer. Vielleicht hatte er sie tatsächlich für einen besonderen Anlass zurückgelegt. Armer Oliver. Keine Ahnung, wann ich angefangen hatte, mit in den Spott über meinen Mann einzustimmen ja meine Freundinnen schienen mich sogar dazu zu ermutigen. Eine seltsame Vorstellung, dass er es einem nicht übelnehmen würde, oder schlimmer noch, dass er gar kein Recht dazu hatte. Ich redete mir ein, dass Jen und Mariel wie Schwestern für mich waren, ebenso diskret wie loyal, und dass unsere Bemerkungen sich nicht von denen unterschieden, die wir über Toby oder Bob fallenließen. Doch das stimmte nicht. Bob mit seinen ungeduldigen Temperamentsausbrüchen und seinen Leidenschaften war viel zu kompliziert, um ihn nicht ernst zu nehmen. Ja, an Bob verzweifelten wir vielleicht, aber es käme uns nie in den Sinn, ihn zu verspotten. Toby wiederum war zuallererst mein Freund gewesen, bevor er oder ich Mariel kennenlernten. Darum nahm er eine Sonderstellung ein, durch die ihm entsprechende Bewertungen erspart blieben. Als Ehemann würde er niemals in den Augen der Freundinnen seiner Frau zweidimensional erscheinen. Für Oliver jedoch traf das zu. Und es war noch nicht einmal wirklich unfair, denn das, was er den anderen beiden Paaren und zurzeit auch mir gegenüber präsentierte, war in der Tat mager genug, um als Klischee durchzugehen: ein Wein schwenkender Banker im steifen Zweireiher. Ich wusste, was die anderen dachten, ohne dass sie es aussprechen mussten: Er gehörte zu jener Sorte Menschen, die soweit sympathisch sind, dass man an ihnen nicht direkt etwas auszusetzen hat, die man sich aber nur schwer im normalen Leben vorstellen kann beim Sex zum Beispiel, oder auf dem Klo, beim Müllrausbringen oder, ganz offensichtlich, beim Beaufsichtigen von Kinderspielen. Ich wusste es natürlich besser, zumindest war es früher mal so gewesen. Und als Oliver jetzt wieder in der Küchentür auftauchte, spürte ich erneut, wie sehr sich die Dinge verändrt hatten, genau das, was ich so tapfer hatte verleugnen wollen.
»Wie geht's ihr?« Ich bemühte mich um ein aufrichtiges Lächeln.
»Völlig außer Gefecht.«
Im Kühlschrank fand ich noch eine angebrochene Weißweinflasche und schenkte ihm ein Glas ein. »Sie hatte ja auch einen tollen Tag. Sie findet es fantastisch, sechs zu sein.«
»Na, wem ginge das nicht so? Schließlich muss sie sich noch keine Gedanken um ihre nächste Steuererklärung machen, oder?« Er kippte die Hälfte des Weins in großen, lautlosen Schlucken hinunter. »Ist deine Mutter schon nach Hause gegangen?«
»Ja, sie war mir eine unglaubliche Hilfe. Im Grunde hat sie sich um fast alles gekümmert. Die ganzen Aufräumarbeiten. Ich sollte ihr morgen ein paar Blumen schicken, als Dankeschön.«
Er sah mich skeptisch an, und ich fragte mich, was an dieser Idee falsch sein könnte. Mum war wirklich große Klasse gewesen. Dann wurde mir klar, dass ihn meine Freundlichkeit verwirrte. Er erwartete, dass ich ihm die heimische Hölle heiß machen würde. Der Gedanke versetzte mir einen schuldbewussten Stich, gefolgt vom Gefühl der Ungerechtigkeit, mit Höllenfeuer in Verbindung gebracht zu werden, wo ich doch bloß versuchte, eine vernünftige Ehefrau zu sein.
»Ich hatte jedenfalls einen wirklich beschissenen Tag«, verkündete er und stieß dazu jenen Seufzer aus, auf den ich gewartet hatte. Lang und heldenhaft. Ich nannte das seinen Odysseus-Seufzer, den er stets anbrachte, wenn er als müder Krieger zu seinem Weib heimkehrte, als Versorger, den nun nach gutem Essen und einem Bett verlangte, nicht nach einer Runde Vorhaltungen à la >Wo zum Teufel bist du gewesen?<. »Es tut mir leid, dass ich so spät komme, es war kein «
»Kein Problem«, meinte ich und stellte fest, dass sein kein und meines perfekt synchron waren. Ich legte das Geschirrhandtuch zur Seite. »Ich werde ein Bad nehmen. Bin völlig kaputt.«
Ich zwang mich, beim Vorbeigehen Körperkontakt mit ihm aufzunehmen, indem ich meine Hand leicht auf seinen Bauch legte und mit der Schulter die seine berührte. Er wiederum bemühte sich, meine Geste zu erwidern, indem er nickend seine Lippen in meine Richtung spitzte, der Hauch eines Luftkusses. Danach waren wir beide frei, unserer jeweiligen Wege zu gehen.
Copyright der Originalausgabe © 2007 by Louise Candlish
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2007 by Ullstein Buchverlage GmbH; Berlin.
Übersetzung:»Julia Walther«
Jenny verzog das Gesicht und schnappte sich eine Strähne ihres dicken rotgoldenen Haares. Sie besaß die Angewohnheit, Teile davon zu einem festen Zopf zu flechten, der ihr dann über die Schulter hing, bis er sich von selbst wieder auflöste. »Na dann eben auch, falls nur ein Elternteil sterben sollte.« Sie sah Mariel fest in die Augen. »Toby fliegt doch beruflich andauernd um die halbe Welt, oder? Jetzt gerade ist er im Fernen Osten, stimmt's?«
»Jen!« Nun war ich wirklich geschockt, aber Mariel lachte bloß. »Na, danke für diesen aufbauenden Gedanken. Ich werde meinem Gatten ausrichten, dass er seine Lebensversicherung aufstocken sollte.«
»Ich meine es ernst, Mariel. Solche Dinge passieren!«
Schweigend sahen wir uns alle drei an. »Na gut, ich bin dabei«, meinte ich schließlich. Am Gesichtsausdruck meiner Freundinnen konnte ich erkennen, dass meine plötzliche Ernsthaftigkeit sie überraschte. Keine Ahnung, welchen >Part< ich in unserer Runde spielte, aber irgendwie hatte dieses Thema mich nun doch berührt und ich war nicht bereit, das zu ignorieren. Da Oliver nach wie vor bis spät in die Nacht arbeitete und auch nicht gerade wenig trank , gefiel mir die Vorstellung ganz und gar nicht, dass mir etwas zustoßen könnte und Emma damit einer Schar Nannys ausgeliefert wäre überwacht von Olivers Mutter oder, schlimmer noch, seiner Assistentin.
»Mariel?«, drängte Jen.
Mariel nickte, wobei die Seitenpartien ihres dunklen Bobs nach vorne über ihre Wangen fielen. »Natürlich bin ich dabei. Ihr wisst doch, dass ich für die Mädchen alles tun würde.«
»Dann haben wir einen Deal«, strahlte Jen. »Wir werden sie gemeinsam bis zur Uni begleiten, und wenn es das Letzte ist, was wir tun. Oxford, denke ich mal, nein, Harvard!«
Mariel gluckste bei dem Gedanken, doch ich konnte nicht so schnell in Heiterkeit umschwenken. »Und außerdem werden sie auch immer füreinander da sein.«
»Vorausgesetzt, dass sie sich tatsächlich gut verstehen«, warf Mariel vorsichtig ein. »Was redest du denn da? Natürlich werden sie das«, verkündete Jenny mit Bestimmtheit, und nun musste auch ich lächeln. Ich wusste genau, die anderen beiden dachten das Gleiche wie ich: Wenn unsere Töchter auch nur annähernd so gute Freundinnen werden würden wie wir, dann hätten sie extremes Glück. Sie wären dann dreimal so gut fürs Leben gewappnet, dreimal so gut beschützt.
Im Grunde alles mal drei. ERSTER TEIL
»... mit sechs bin ich schlau wie die großen Leute, drum bleib ich für immer sechs ab heute.« A. A. Milne Kapitel 1
London, Juli 1994
Als sie kamen, um ihre Kinder von der Party an Emmas sechstem Geburtstag abzuholen, fragten mich die Mütter, wo denn Oliver sei. Es war schließlich Freitagnachmittag, fast schon Wochenende, und Väter sind nun mal bei Kindergeburtstagen besonders gefragt.
So musste ich mir eine ganze Menge ungläubiger Kommentare anhören:
»Er ist nicht da? Was für eine Schande aber auch.« Ja.
»Dann ist er bestimmt geschäftlich unterwegs, oder? Irgendeine Reise, die er nicht verschieben konnte?«
Nein, bloß in seinem Büro in der Stadt.
»Und er konnte gar nicht weg? Nicht mal für ein paar Stündchen?« Anscheinend nicht.
»Also wenn du mich fragst«, meinte Ruby Sherwoods Mutter Lesley, »für mich wäre das ein Grund zur Scheidung!« Erleichtert stellte ich fest, dass außer Ruby bereits alle Kinder abgeholt worden waren. »Rachel, komm und trink einen Schluck«, rief mir Mariel von der Wohnzimmertür aus zu. Sie hatte vermutlich schon eine ganze Weile dort gestanden und nur auf den richtigen Moment gewartet, sich zu meiner Rettung einschalten zu können. »Die Mädchen sind völlig erschlagen, sieh nur!«
>Die Mädchen< wir benutzten diesen Ausdruck auch, wenn Cats kleiner Bruder Jake mit von der Partie war lümmelten nebeneinander auf dem Sofa, die Partykleidchen um sich herum aufgebauscht, die Füße ausgestreckt, so dass man die schmutzigen Fußsohlen ihrer hellen Strumpfhosen sehen konnte. Wie kleine Debütantinnen, die bei Morgengrauen schließlich ermattet in die Kissen sinken. Um sie herum lagen noch die Reste von Geschenkband und Girlanden, Teller mit Kuchenkrümeln und zerknüllten Servietten. Alle Augen waren gleichermaßen gebannt auf den Fernseher gerichtet. Disney. Dornröschen, wenn mich nicht alles täuschte.
Catherine, Daisy und Emma: unzertrennlich, genau wie wir gehofft hatten. Cat saß in der Mitte und hatte ihren Kopf an Daisys Schulter gelegt. Wieder einmal musste ich denken, dass Cats unterschiedliche Gesichtspartien abwechselnd ihren Eltern ähnlich sahen, wie bei diesem Kindermalspiel, wo man immer einen Körperteil malt und den Streifen dann nach hinten weg faltet, bevor man das Blatt an den nächsten Spieler weiterreicht. Am Schluss wird die endgültige Gestalt in ihrer ganzen Unstimmigkeit enthüllt. Das kräftige braune Haar war Tobys knick , die weit auseinanderstehenden, haselnussbraunen Augen und die kleine Nase Mariels knick , der entschlossene Mund und das energische Kinn wieder aus Tobys Familie knick , der schlanke Hals und die zarten Schlüsselbeine aus der von Mariel.
Daisy war eine andere Art Mischung, mit Jens herzförmigem Gesicht und dem offenen, vertrauensvollen Blick, gepaart mit Bobs schärferem Profil. Nur Emma schien die perfekte Miniaturausgabe eines einzigen Elternteils zu sein, doch ich wusste von Fotos von mir, dass ich selbst in Emmas Alter nicht halb so einnehmend hübsch gewesen war: große blaue Augen, die Iris wie ein leicht verschwommener Blütenkranz um die Pupille; Wangenknochen, die bereits jetzt von Fremden kommentiert wurden; das Buttergelb ihrer Haare könnte kein Frisör je bei einem Erwachsenen imitieren. Das wird mal eine richtige Schönheit, sagten alle. Schwer zu beurteilen, antwortete ich, stets versucht, meinen Stolz zu verbergen. Im Grunde waren sie allesamt bereits kleine Schönheiten, diese drei hier, genau wie sämtliche anderen Wesen, die heute bei uns getanzt und gespielt hatten.
Ich folgte Mariel in die Küche, wo Jen die Reste des abgestandenen Sekts in unsere bereits benutzten Gläser füllte. »Lass das stehen, ich hol uns was Besseres zu trinken.«
Vorbei an einem Meer aus lilafarbenen Luftballons und dem schiefen Turm ungeöffneter Geschenke verschaffte ich mir Zugang zu Olivers Weinlager im Keller, dessen Temperatur und Feuchtigkeit ständig von einem kleinen, komplizierten Apparat an der Tür kontrolliert wurden, und griff wahllos zu. In der Küche fand ich in einem Regal hoch oben, außer Reichweite von Kinderhänden, die schlichten Kristallgläser. »Mhmm, dieser Wein ist echt lecker.« Mariel machte es sich auf einem Küchenhocker bequem.
Jen grinste. »Heh, das ist nicht zufällig ein edles Tröpfchen, das Oliver für Emmas einundzwanzigsten Geburtstag reserviert hat, oder?« Sie ahmte Olivers sonoren und ein wenig theatralischen Tonfall nach, woraufhin Mariel und ich kicherten. Nur meine Mutter, die an der Spülmaschine herumwerkelte, zeigte keine Reaktion. Ich warf ihr einen Blick zu, der hoffentlich signalisierte, dass diese Art der Spöttelei bloß spaßig gemeint war und ganz gewiss nichts mit mangelnder Loyalität zu tun hatte. »Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht zu uns gesellen mögen, Alysa?«, erkundigte Jen sich bei meiner Mutter. Sie hasste es, jemanden auszuschließen. Im Lauf des Nachmittags hatte ich zufällig mitgehört, dass sie Mum fragte, wie denn Kindergeburtstage in Griechenland gefeiert wurden. Da war mir selbst erst wieder bewusst geworden, dass Mum in Emmas Alter ja noch an ihrem Geburtsort, auf der Insel Santorin, gelebt hatte. Bestimmt hatte Jen Geschichten über Festgelage, zerschmetterte Teller und Tänze im großen Kreis erwartet, doch Mum sprach nicht gerne über ihr Heimatland außer um uns zu warnen, dass es >verflucht< sei , und die herzensgute Jen hatte ihre lieb gemeinten Bemühungen um sie schließlich einstellen müssen.
»Mami, wir haben Durst, wir brauchen Saft ...«
»Ah, das Geburtstagskind!« Emma schlang ihre Ärmchen um mich, wobei sie ihren Kopf in meine Rippen bohrte, bis ich mich neben sie kniete, um sie in den Arm zu nehmen und meine Nase in ihrem wunderbaren Haar zu vergraben, das nach einer Mischung aus Zitronen und Karamell duftete. Wie so oft fragte ich mich, wann die Zärtlichkeiten wohl ausbleiben und durch Schmollen ersetzt würden, weil sie einen Fernseher in ihrem Zimmer oder mehr Geld für Klamotten wollte.
Sechs. War sie immer noch mein kleines Mädchen oder schon eine Große? Sie selbst war es gewesen, die den heutigen Tag zu einem solchen Meilenstein deklariert hatte. Seit sie sprechen konnte, sagte sie Dinge wie: >Wenn ich mal sechs bin<, >Ich wäre gerne schon sechs< oder >Sechs ist die beste Zahl überhaupt<. Sie dachte nicht etwa, dass das Leben erst mit sechs begann, so wie viele ältere Mädchen sechzehn als entscheidendes Alter betrachteten. Eine solche Logik lag ihr noch fern. Es schien eher so, als sei sechs für sie der Gipfel all dessen, was es zu erreichen galt.
Nun entzog sie sich meiner Umarmung und schmiegte sich an meine Mutter. »Komm und sieh dir den Film mit uns an, Oma.«
Alysa ergriff ihre ausgestreckte Hand. »Gerne, mein Schatz.« Wie immer freute es mich zu sehen, wie nahe sich die beiden standen. Außerdem war ich dankbar darüber, dass mein eigenes Verhältnis zu meiner Mutter davon profitiert hatte. Ein kleines Wunder in Anbetracht des Schweigens, das vor acht Jahren zwischen uns herrschte, als mein Vater gestorben war und wir uns beinahe gegenseitig aufgegeben hätten. (Zumindest hatte ich sie aufgegeben. Seit es Emma gab, war mir jedoch klar geworden, dass dies umgekehrt für meine Mutter nie in Frage gekommen wäre.) Wahrscheinlich handelte es sich lediglich um eine Art Schachmatt, und wenn jemand festgefahrene Positionen zwischen zwei Erwachsenen auflösen konnte, dann war es ein Kind.
Ich setzte mich ebenfalls ein paar Minuten mit ins Wohnzimmer, denn ich wusste, dass Mum uns gerne beide neben sich hatte, eine auf jeder Seite, so wie sie einst von Ehemann und Kind flankiert wurde. Während des Großteils ihrer eigenen Kindheit hatte sie ihre Eltern für sich gehabt, und so fühlte sie sich in einer Dreierkonstellation sehr wohl. Ihr zwei seid alles, was ich habe ... Sie sprach es nicht laut aus, doch ich wusste, was sie dachte.
Ja, glücklich zu dritt, aber gleichzeitig auch der Risiken gewahr, die diese Dreisamkeit barg.
In der Küche nahm Mariel mich beiseite: »Wo steckt Oliver denn nun wirklich?«
»Bei der Arbeit natürlich. Irgendwelche japanischen Kunden sind in der Stadt. Es stand nie zur Debatte, dass er noch herkommen würde.«
»Mein Gott, er weiß die Grenzen wirklich auszuloten, was?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ist ja kein Weltuntergang.« »Ich finde, du bist zu verständnisvoll«, meinte Jen. Sie warf einen Blick auf die offene Wohnzimmertür. »Besonders nach dieser Geschichte mit Charlotte.«
Diese Geschichte. Schon irgendwie seltsam, Untreue als Geschichte zu bezeichnen. Vor allem in Bezug auf Oliver, der doch alles so rational anging. Charlotte war nach dem Uniabschluss als Trainee bei ihm in der Firma eingestiegen und stellte damit wohl unwiderstehliches Frischfleisch dar. Ich konnte mich noch gut erinnern, wie ich Mariel und Jen heulend von ihr erzählt hatte, wie mein Körper jedes kleinste bisschen Trost brauchte, das sie mir boten. Doch selbst während ich noch weinte, beschloss ich, ihm zu vergeben.
Jens Augen funkelten wütend. »Mein Gott, wenn ich Bob mit einer anderen erwischen würde, dann ginge es mir wie dieser Frau in Amerika. Wie hieß sie doch noch gleich, Mrs Rabbit?«
»Bobbit? Die, die ihrem Mann den Penis abgeschnitten hat?« Mariel kicherte. »Na, die Skalpelle hast du ja als Fußpflegerin zur Hand, vermute ich. Oder zwingt Bob dich dazu, deine Ausrüstung im Auto zu lassen? Das wäre von jetzt ab wahrscheinlich empfehlenswert. Ich möchte nur ungern als Leumundszeugin vor Gericht aussagen, danke, kein Bedarf.«
Ich amüsierte mich prächtig, doch Jenny war noch nicht fertig. »Ich finde einfach, dass Untreue, nun ja, unverzeihlich ist. Wenn man den Partner nicht mehr will, warum trennt man sich dann nicht einfach?«
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Ich begegnete Mariels Blick, die sich auf die Lippe bis ein eindeutiges Zeichen, dass sie über vertrauliche Dinge nachdachte. Ich glaubte zu wissen, um was es sich handelte, und konnte bestimmt auf sie zählen, mir zuliebe das Thema zu wechseln. Wir beide waren schon einige Jahre befreundet, bevor wir Jenny kennenlernten, und es gab ein paar Dinge nun ja, eine Sache im Besonderen , die ich nur ihr erzählt hatte. Charlotte war ein Thema für die Dreierrunde gewesen, denn das hatte sich irgendwie richtig angefühlt. Nicht so jedoch das, was danach passiert war.
»Glaubst du denn, dass Bob und du je heiraten werdet?«, fragte sie nun Jen in jenem freundlich-vertraulichen Tonfall, den sie durch ihre jahrelange Arbeit fürs Gesundheitsamt perfektioniert hatte. Natürlich fragte sie damit auch indirekt, ob Jen glaubte, dass sie sich je trennen würden. Die war sich dessen wohl durchaus bewusst, denn sie warf einen weiteren Blick Richtung Tür, bevor sie antwortete. »Er nervt mich manchmal furchtbar, aber er ist nun mal Daisys Vater.«
Mariel nickte. »Stimmt. Und wenn sich alle Paare trennen würden, die sich gegenseitig nerven, gäbe es bald keine mehr.« Das war eine typische Mariel-Bemerkung. Infolge ihrer eigenen sicheren Ehe mit Tony war ihre Toleranz gegenüber anderen, weniger beispielhaften Verbindungen groß: Untreue, Konflikte, >Mini-Aufstände<, wie sie sie gerne nannte. Nichts davon war unüberwindbar. Unvollkommenheit galt es nicht nur zu vergeben, sondern auch zu vergessen. Ich persönlich neigte ein bisschen zu sehr dazu, daran festzuhalten.
»Jen! He, Süße, was ist los?« Mariel hatte Jen plötzlich den Arm um die Schultern gelegt, die zu meiner Verblüffung angefangen hatte zu weinen. Ich beugte mich vor, um die Küchentür zu schließen, bevor ich mich auf Jennys andere Seite schob. Sie zog wütend an ihren Haaren, während dicke Tränen über ihre Wangen kullerten. »Es ist nur so, o Mann, das ist bescheuert, aber diese Art, wie er mich manchmal ansieht. Also Bob. Sein Gesichtsausdruck, das ist pure Verachtung. Er scheint mich viel nerviger zu finden als früher. Aber ich mache nichts anders, da bin ich mir ganz sicher.«
»Ist ja gut«, versuchte ich sie zu trösten. »Natürlich machst du «
»Ich hab es nur alles so satt«, unterbrach sie mich mit einem Schniefen. »Absolut die Schnauze voll!« Sie sah über mich hinweg auf die glänzenden Schränke und hohen Fenster meiner Küche. »Keine Ahnung, wir rackern uns irgendwie pausenlos ab, und dann kommt doch nichts dabei heraus.«
Sanft nahm Mariel Jen das gekippte Glas aus der Hand. »Du bist erschöpft, Liebes. Wie wäre es, wenn Rachel und ich am Wochenende Daisy zu uns nehmen, und ihr zwei fahrt mal für eine Nacht weg?«
Jen schüttelte den Kopf. »Wir sind momentan so pleite, dass wir uns das gar nicht leisten könnten. Und um ehrlich zu sein, bin ich mir gar nicht so sicher, ob ich überhaupt ein ganzes Wochenende mit ihm allein verbringen mag.«
»Dann ein Abendessen«, schlug ich vor. »Morgen Abend. Oder wenigstens einen Drink. Ein bisschen Zeit nur für euch, raus aus der Bude. Mehr braucht ihr gar nicht.« »Danke, das wäre klasse.« Jen schnappte sich eine rosa Partyserviette von der Arbeitsplatte, um sich die Nase zu putzen. »Mein Gott, was mache ich hier bloß? Ich will nicht, dass Daisy mich so sieht.« Ich zeigte auf die geschlossene Tür. »Keine Sorge, die hören keinen Ton. Außerdem sind sie völlig hypnotisiert vom schönen Prinzen.«
Mariel sah lächelnd zwischen uns beiden hin und her. »Wie lange das wohl halten wird?«
Oliver kam um zehn nach Hause, als Emma bereits schlief und ich selbst auch schon sehr schläfrig war. Er sprach von verstopften Straßen, doch in seinen Augen konnte ich immer noch die flackernden Zahlen der Computerbildschirme sehen. Seine einst gute Figur verschwand zunehmend zugunsten den sich ansammelnden Pölsterchen. In der Kombination mit seinem bereits ziemlich ergrauten Haar ließ ihn das älter aussehen, als er war. Man hätte ihm locker zehn Jahre mehr gegeben, einer dieser alternden Finanzheinis, die langsam von ihren Banken aufgefressen wurden. Während ich die Spülmaschine weiter ausräumte, hörte ich, wie er die Treppe hinauftapste er schlich immer so betont leise, als sei er ein Einbrecher in seinem eigenen Haus. Wollte man ungnädig sein, könnte man es als mangelnde Erfahrung bezeichnen, denn wer regelmäßig seine Kinder ins Bett bringt, weiß genau, dass diese nach einer Geburtstagsparty wie der heutigen nicht mal von einer startenden Concorde aufwachen würden.
Die Weinflasche auf dem Tisch war leer. Vielleicht hatte er sie tatsächlich für einen besonderen Anlass zurückgelegt. Armer Oliver. Keine Ahnung, wann ich angefangen hatte, mit in den Spott über meinen Mann einzustimmen ja meine Freundinnen schienen mich sogar dazu zu ermutigen. Eine seltsame Vorstellung, dass er es einem nicht übelnehmen würde, oder schlimmer noch, dass er gar kein Recht dazu hatte. Ich redete mir ein, dass Jen und Mariel wie Schwestern für mich waren, ebenso diskret wie loyal, und dass unsere Bemerkungen sich nicht von denen unterschieden, die wir über Toby oder Bob fallenließen. Doch das stimmte nicht. Bob mit seinen ungeduldigen Temperamentsausbrüchen und seinen Leidenschaften war viel zu kompliziert, um ihn nicht ernst zu nehmen. Ja, an Bob verzweifelten wir vielleicht, aber es käme uns nie in den Sinn, ihn zu verspotten. Toby wiederum war zuallererst mein Freund gewesen, bevor er oder ich Mariel kennenlernten. Darum nahm er eine Sonderstellung ein, durch die ihm entsprechende Bewertungen erspart blieben. Als Ehemann würde er niemals in den Augen der Freundinnen seiner Frau zweidimensional erscheinen. Für Oliver jedoch traf das zu. Und es war noch nicht einmal wirklich unfair, denn das, was er den anderen beiden Paaren und zurzeit auch mir gegenüber präsentierte, war in der Tat mager genug, um als Klischee durchzugehen: ein Wein schwenkender Banker im steifen Zweireiher. Ich wusste, was die anderen dachten, ohne dass sie es aussprechen mussten: Er gehörte zu jener Sorte Menschen, die soweit sympathisch sind, dass man an ihnen nicht direkt etwas auszusetzen hat, die man sich aber nur schwer im normalen Leben vorstellen kann beim Sex zum Beispiel, oder auf dem Klo, beim Müllrausbringen oder, ganz offensichtlich, beim Beaufsichtigen von Kinderspielen. Ich wusste es natürlich besser, zumindest war es früher mal so gewesen. Und als Oliver jetzt wieder in der Küchentür auftauchte, spürte ich erneut, wie sehr sich die Dinge verändrt hatten, genau das, was ich so tapfer hatte verleugnen wollen.
»Wie geht's ihr?« Ich bemühte mich um ein aufrichtiges Lächeln.
»Völlig außer Gefecht.«
Im Kühlschrank fand ich noch eine angebrochene Weißweinflasche und schenkte ihm ein Glas ein. »Sie hatte ja auch einen tollen Tag. Sie findet es fantastisch, sechs zu sein.«
»Na, wem ginge das nicht so? Schließlich muss sie sich noch keine Gedanken um ihre nächste Steuererklärung machen, oder?« Er kippte die Hälfte des Weins in großen, lautlosen Schlucken hinunter. »Ist deine Mutter schon nach Hause gegangen?«
»Ja, sie war mir eine unglaubliche Hilfe. Im Grunde hat sie sich um fast alles gekümmert. Die ganzen Aufräumarbeiten. Ich sollte ihr morgen ein paar Blumen schicken, als Dankeschön.«
Er sah mich skeptisch an, und ich fragte mich, was an dieser Idee falsch sein könnte. Mum war wirklich große Klasse gewesen. Dann wurde mir klar, dass ihn meine Freundlichkeit verwirrte. Er erwartete, dass ich ihm die heimische Hölle heiß machen würde. Der Gedanke versetzte mir einen schuldbewussten Stich, gefolgt vom Gefühl der Ungerechtigkeit, mit Höllenfeuer in Verbindung gebracht zu werden, wo ich doch bloß versuchte, eine vernünftige Ehefrau zu sein.
»Ich hatte jedenfalls einen wirklich beschissenen Tag«, verkündete er und stieß dazu jenen Seufzer aus, auf den ich gewartet hatte. Lang und heldenhaft. Ich nannte das seinen Odysseus-Seufzer, den er stets anbrachte, wenn er als müder Krieger zu seinem Weib heimkehrte, als Versorger, den nun nach gutem Essen und einem Bett verlangte, nicht nach einer Runde Vorhaltungen à la >Wo zum Teufel bist du gewesen?<. »Es tut mir leid, dass ich so spät komme, es war kein «
»Kein Problem«, meinte ich und stellte fest, dass sein kein und meines perfekt synchron waren. Ich legte das Geschirrhandtuch zur Seite. »Ich werde ein Bad nehmen. Bin völlig kaputt.«
Ich zwang mich, beim Vorbeigehen Körperkontakt mit ihm aufzunehmen, indem ich meine Hand leicht auf seinen Bauch legte und mit der Schulter die seine berührte. Er wiederum bemühte sich, meine Geste zu erwidern, indem er nickend seine Lippen in meine Richtung spitzte, der Hauch eines Luftkusses. Danach waren wir beide frei, unserer jeweiligen Wege zu gehen.
Copyright der Originalausgabe © 2007 by Louise Candlish
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2007 by Ullstein Buchverlage GmbH; Berlin.
Übersetzung:»Julia Walther«
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Bibliographische Angaben
- Autor: Louise Candlish
- 414 Seiten, Maße: 13,5 x 19,2 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828995411
- ISBN-13: 9783828995413
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