senk ju vor träwelling (Doppelband)
Nur bei uns: Zwei Kultbücher für Bahnfahrer jetzt im preiswerten Doppelband!
Mit vielen nützlichen Tipps für das Abenteuer Bahnfahrt in Deutschland. Vom richtigen Umgang mit dem Zugbegleiter bis zu Hilfestellungen,...
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Produktinformationen zu „senk ju vor träwelling (Doppelband) “
Nur bei uns: Zwei Kultbücher für Bahnfahrer jetzt im preiswerten Doppelband!
Mit vielen nützlichen Tipps für das Abenteuer Bahnfahrt in Deutschland. Vom richtigen Umgang mit dem Zugbegleiter bis zu Hilfestellungen, Bahndurchsagen richtig zu interpretieren.
Falsch oder viel zu spät einfahrende Züge, wirre Durchsagen, überfüllte Bahnhöfe, unwissendes Bahnpersonal – Alltag für viele Bahnreisende. Auchfür die beiden Autoren, bekennend leidenschaftliche Zugreisende. In dieser witzig-bissigen Abhandlung erzählen sie, wie man Bahn fahren und trotzdem am Ziel ankommen kann.
Mit folgenden Tipps:
- Die Schlacht auf dem Bahnsteig: Wie Sie der Erste im Zug sind
- Gute Planung ist das Wichtigste: Wohin Sie niemals mit der Bahn fahren sollten
- Bizarre Begegnungen im Zug: Wie Sie sich im Zweifelsfall verhalten
- u.v.m.
Lese-Probe zu „senk ju vor träwelling (Doppelband) “
Senk ju vor träwelling von Mark Spörrle und Lutz SchumacherProlog
Liebe Juristen der Deutschen Bahn,
wir gestehen: Alles, was in diesem Buch steht, ist erstunken und erlogen. Wir wissen so gut wie Sie, dass alle Züge der Deutschen Bahn stets pünktlich sind, alle Zugbegleiter immer greifbar und kompetent und sämtliche Bahnreisenden satt, sauber und zufrieden. Außerdem ist die Bahn ganz ohne Zweifel das umweltfreundlichste Schienenreiseverkehrsmittel Deutschlands, und wir wissen sehr wohl, dass man ein derart gemeinnütziges Unternehmen nicht kritisieren darf, zumal wenn die Spitze dieses Unternehmens immer noch auf einen Börsengang hofft (der das mit der Gemeinnützigkeit endgültig ändern will). Also - aber das war von uns auch nicht anders zu erwarten -: Den wahrlich haarsträubenden Inhalten dieses Buches fehlt jegliche reale Grundlage. Jeder Leser und Bahnfahrer wird schon nach den ersten Seiten voll Abscheu und Entsetzen merken, dass es sich hier um billigste und effekthascherischste »Satire« handelt, dass sämtliche Inhalte, Namen, Beispiele, Anwürfe haltlos, weil völlig frei erfunden sind.
Lieber Bahnchef, seien auch Sie ganz unbesorgt: Nach Erscheinen dieses Buches werden Sie von den Heerscharen zufriedener Bahnkunden jede Menge Solidaritätsschreiben bekommen - containerweise, waschkörbeweise, stapelweise. Zumindest aber - es gibt ja bei Ihnen noch ein paar getreue Beamte - zwei oder drei.
Hamburg/Berlin, im Dezember 2007 Die Verfasser
VOR REISEANTRITT:
Warum dieses Buch so überlebenswichtig ist
... mehr
Würden Sie eines schönen Morgens ganz spontan an den Amazonas reisen? Einfach in das nächste Flugzeug steigen, sich im kurzärmligen Business-Hemd und mit Slippern an den Füßen über Pistolero-West abwerfen lassen und dann mal schauen, wie's so läuft auf dem 856 Kilometer langen Marsch nach Pistolero-Ost durch von Krokodilen wimmelnde Sümpfe und malariaverseuchtes Unterholz? Nein, das würden Sie vermutlich nicht, es sei denn, Sie wären ein lebensmüder Irrer. Aber selbst wenn: Gibt es nicht angenehmere Arten zu sterben?
Seltsamerweise aber denken viele Menschen immer noch, sie könnten sich einfach in einen Zug setzen und losfahren. Von Bochum nach Stuttgart. Von Kiel nach Berlin. Oder gar von Heidelberg nach Passau.
Sie denken das glücklicherweise nicht, denn Sie haben sich dieses Buch gekauft . Oder ein wohlmeinender Mitmensch hat es Ihnen geschenkt, einer, der weiß: Ein Abenteuerurlaub im Busch ist nichts gegen eine Fahrt mit der Deutschen Bahn. Vor allem aber: Ohne gründliche Vorbereitung haben Sie nicht den Hauch einer Chance. Dabei ist Reisen mit der Bahn nicht nur tatsächlich sehr ökologisch (vor allem, weil im Winter in den liegengebliebenen Zügen die Heizung ausgeschaltet wird und im Sommer die Klimaanlage), sondern auch ungemein spannend: Bahnfahren, das ist in unserem überraschungsarmen und durchgetakteten Alltag das letzte große Abenteuer. Eine Reise ins Ungewisse, bei der man nie weiß, was als Nächstes passiert.
Ob beispielsweise der Zug nach Fulda wirklich nach Fulda fährt. Oder ob nicht während der Fahrt auf ein geheimes Signal hin sämtliche Zugbegleiter verschwinden und der Zug anschließend - laut Durchsage »aus technischen Gründen« - in Richtung Rostock umgeleitet wird, bevor es in Berlin nach mehrstündiger Wartezeit »betriebsbedingt« zurück nach München geht. Wer trotzdem immer noch nach Fulda will, der erhält einen Gutschein für einen Gratis-Kaffee im Bordbistro - oder schafft es, sich in Augsburg in den Zug in die Gegenrichtung zu werfen. Der fährt tatsächlich nach Fulda. Allerdings erst nachts, mit verschlossenen Toiletten, ohne Bordbistro und »wegen einer Störung am Triebfahrzeug« mit halber Geschwindigkeit. Aber das ist erst der Anfang ...
Dieser Überlebensführer soll Ihnen auf Ihrer nächsten Reise mit der Deutschen Bahn helfen. Sie werden erfahren, was Sie in Ihrem Handgepäck mit sich führen müssen, um für Zwischenfälle aller Art gerüstet zu sein. Worauf es bei der Routenplanung wirklich ankommt. Bei wem Sie Ihre Fahrkarte keinesfalls kaufen sollten. Wie Sie sich durchschlagen, wenn Sie zur richtigen Zeit den richtigen Bahnsteig erreicht haben. Und wie Sie es am Ende sogar schaff en, nicht nur eine Fahrt zu überstehen, sondern auch Ihr Reiseziel tatsächlich zu erreichen - Ihr eigentliches Ziel oder zumindest ein anderes.
Bei der Recherche zu diesem Buch haben die Autoren unzählige Fahrten mit der Deutschen Bahn zurückgelegt. Sie haben sich auf bitterkalten Bahnhöfen Erfrierungen geholt und sind in sommers vergessenen Zügen fast gegrillt worden. Sie sind ausgehungert und unterzuckert in vom Personal aufgegebene Bordbistros eingedrungen, um mit anderen um das letzte trockene Brötchen zu kämpfen. Sie haben in stehen gebliebenen, zum Bersten vollen Zügen mit Plastiktüten den von der Decke tropfenden Schweiß ihrer Mitreisenden aufgefangen, gefiltert, löffelweise über dem schmelzenden Feuerzeug abgekocht und glücklicherweise dann doch nicht getrunken (denn in diesem Moment - an den niemand mehr glaubte - fuhr der Zug ächzend und wie durch ein Wunder wieder an).
Sollten wir trotzdem noch etwas übersehen haben: Bitte zögern Sie nicht, uns dies für die Neuauflage dieses Überlebensführers mitzuteilen. Im Anhang finden Sie eine E-Mail- Adresse, die wir in unserem Asyl im Amazonas abrufen.
TIPP Wollen Sie mit der Bahn fahren und tatsächlich ankommen? Dann lesen Sie dieses Buch gründlich durch und führen Sie es bei Ihrer nächsten Zugreise griffbereit und dicht am Körper mit sich. Sie werden sehr dankbar dafür sein.
PSYCHOTEST VORWEG:
Welcher Bahntyp sind Sie?
FRAGE 1 Sie wollen von Flensburg nach Passau reisen. Für welches Beförderungsmittel entscheiden Sie sich?
A) Natürlich die Bahn. Da komme ich entspannt an und kann unterwegs noch was arbeiten. Und die 37 Stunden Fahrt vergehen wie im Flug.
B) Mein Auto ist seit drei Jahren vom TÜV stillgelegt. Der Langstreckenbus fährt leider nicht über Passau, und zu Fuß wär's wohl zu weit. Also fahre ich wohl Zug. Obwohl: Sagen Sie mal, fährt da nicht ein Schiff nach Passau?
C) Ich fliege von Flensburg nach Augsburg, warte dort so lange, bis jemand in Richtung Passau fliegt, und springe dann mit dem Fallschirm ab. Das habe ich zwar noch nie gemacht, es geht aber um ein Vielfaches schneller als Bahnfahren und ist halb so riskant.
FRAGE 2 Sie kommen zehn Minuten vor der potenziellen Abfahrtszeit Ihres Zuges (es ist der letzte heute) verschwitzt und abgehetzt am Bahnhof an und haben noch keine Fahrkarte. Wie verhalten Sie sich?
A) Ich versuche, am Fahrkartenautomaten eine Karte zu erstehen, und finde es schön, dass die Automatenguides trotz ihres schweren Jobs dabei wenigstens über mich lachen können.
B) Die 180 Meter lange Warteschlange vor dem Reisezentrum schreckt mich nicht. In Würzburg waren es neulich 240, in Bruchsal sogar 277 Meter. Der Zug ist sowieso mindestens zwei Stunden zu spät, und wenn ich ein paar Leute wegekle, habe ich eine echt reelle Chance. Wenn nicht, bin ich selbst schuld und penne die Nacht in der kalten Bahnhofshalle. Es wäre nicht das erste Mal.
C) Stress ist schlecht für den Teint. Ich buche eine Nacht im Steigenberger-Hotel, schiebe das geplatzte Meeting auf die Bahn und nehme morgen einen Leihwagen.
FRAGE 3 Der Zugzielanzeiger kündigt eine Verspätung »auf unbestimmte Zeit« an. Wie reagieren Sie?
A) Ich rufe die Bahnhotline an und lasse mir alternative Verbindungen heraussuchen. Anschließend wende ich mich an den zuständigen Berater am DB Service Point und diskutiere gemeinsam mit Betroffenen über alternative Beförderungsmöglichkeiten unter Einschluss von U-Bahnen, Bussen, Sprint, Schienenersatzverkehr und einer Kurzstrecke mit dem Nachtzug »Saturn«.
B) Ich verstehe die Frage nicht. Das ist doch jeden Tag so. Irgendwann kommt schon ein Zug.
C) Ich verstehe die Frage nicht. In meinem Leihwagen gibt es zwar Tempomat und jede Menge anderen Schnickschnack, aber keinen Zugzielanzeiger.
FRAGE 4 Bahnfahren bedeutet für mich:
A) Die totale Erfüllung. Abenteuer. Einen Mikrokosmos aus Kommen und Gehen, Geburt und Wiedergeburt. Der Weg ist das Ziel. Carpe Bahnem!
B) Tagesinhalt. Leider. Der Rest geht mit Schlafen und Zum-Bahnhof-Rennen drauf.
C) Eine sehr schöne Sache. Ich schaue immer im Fernsehen die Bahnwerbung an und denke: So viel Zeit möchte ich irgendwann auch mal haben.
FRAGE 5 Nachdem Ihr Zug die letzte Stunde rund zehn Kilometer zurückgelegt hat, hält er nun auf offener Strecke. Eine Stunde später räumt der Zugchef eine »Signalstörung« ein. Möglicherweise könnten am nächsten Knotenpunkt nicht alle Anschluss- Verbindungen erreicht werden. Was ist Ihr nächster Schritt?
A) Ich gehe ins BordBistro, bestelle eine Litchi-Bionade (bzw., weil ausverkauft, ein Leitungswasser) und lasse mir später vom freundlichen Zugbegleiter alle theoretisch erreichbaren Alternativen aufzeigen. Die Tatsache, dass die Zahl dieser Verbindungen null ist, ignoriere ich lächelnd. Was kann der arme Mann dafür!
B) Ich gehe geistig meine Checkliste durch: Isomatte habe ich, Platz vorm Klo ist reserviert, mein Getränkevorrat reicht für eine Woche, zu Hause vermisst mich niemand, meine sozialen Beziehungen sind glücklicherweise, seit ich Bahn fahre, ohnehin nur noch oberflächlich. Nun, ich bin gerüstet.
C) Ich löse die Türverriegelung und gehe zu Fuß bis zur nächsten Mietwagenfirma. Morgen verklage ich die Bahn wegen Geschäftsschädigung und Freiheitsberaubung.
FRAGE 7 An Bahnhöfen fühle ich mich immer ...
A) ... total aufgeregt. Der Duft der weiten Welt. Züge fahren von hier nach da. Mobilität, Menschen aus allen Ländern. Ich könnte schreien vor Glück.
B) ... daheim. Ich lebe hier.
C) ... sehr wohl. Denn wo es Bahnhöfe gibt, gibt es auch Autovermietungen.
AUSWERTUNG
ÜBERWIEGEND A.): DER BAHN-IDEALIST
Sie lassen sich doch nicht die gute Laune und den Optimismus von Kleinigkeiten wie Personen im Gleis oder Böschungsbränden nehmen. Sie sind der ideale Bahnkunde, der auch bereit ist, eine Woche Urlaub zu nehmen, um von München nach Augsburg zu reisen und doch in Kiel zu stranden. Bravo - schließlich ist Ankommen nicht alles!
ÜBERWIEGEND B.) : DER BAHN-REALIST
Leider sind Sie auf die Bahn angewiesen. Damit haben Sie die Lebensqualitätscard50 gebucht. Halber Spaß, doppelte Zeit: Glücklicherweise haben Sie schnell jede Hoffnung aufgegeben. Damit können Ihnen Signalstörungen oder Koppelungsprobleme doch nur noch ein Schulterzucken abnötigen. Und immerhin: So schaffen Sie Ihre Bücher.
ÜBERWIEGEND C.): DER BAHN-SKEPTIKER
Schade, dass die Lufthansa nicht von München nach Augsburg fliegt. Denn eins ist Ihnen klar: Bevor Sie freiwillig in einen Zug steigen, müsste einiges passieren: 80 Prozent aller Züge wären höchstens eine Stunde verspätet, die Wagen würden einmal im Monat gereinigt und das BordRestaurant hätte zumindest Rudimente der Speisekarte vorrätig. Leider erleben Sie das auf Ihren seltenen Fahrten immer anders. Kein Wunder, dass es nichts wird mit dem Kyoto-Protokoll.
GUTE PLANUNG IST DAS WICHTIGSTE:
Wohin Sie niemals mit der Bahn fahren sollten
Mit der Bahn zu fahren, das hört sich ganz einfach an, solange man nur von Hamburg nach Berlin oder von München nach Nürnberg will.
Aber was, wenn Sie von Hamburg oder Berlin nach Freiburg oder Heilbronn wollen? Ganz zu schweigen von Regensburg, Aachen, Weimar oder - Prerow an der Ostsee? Sicher, in solchen Fällen werden Sie immer Leute treffen, die Ihrem Blick ausweichen und tapfer behaupten: »Alles ganz easy: Abfahrt München 6.35 Uhr, Ankunft Hamburg 11.55 Uhr, Abfahrt Hamburg 12.02 Uhr, Ankunft Rostock 13.49 Uhr, Abfahrt Rostock 13.51 Uhr, Ankunft Ribnitz-Damgarten West 14.35 Uhr, Abfahrt Bus nach Ostseebad Prerow 14.41 Uhr, keine Sorge, Sie schaff en das. Sie sind doch jung und kräftig und können Ihr Gepäck notfalls zurücklassen?«
Um es klar zu sagen: Wenn Sie sich auf so etwas einlassen, sind Sie so gut wie verloren. 634 Menschen verschwinden jedes Jahr in Deutschland. Subtrahiert man davon die angeblichen Zigarettenholer, bleiben noch 423 auf der Strecke (die Dunkelziffer ist weit höher, weil Verwandte oft die Rente oder das Gehalt der Verschwundenen einstreichen, solange es geht, dann versuchen, die Bahn zu erpressen, und sich nach langen Verhandlungen mit einem Gutschein fürs Bistro abfinden lassen).
Es sind Menschen wie Günter Ärmel, pensionierter Verwaltungsangestellter aus Offenburg, der nach Düsseldorf zum Kleiderkaufen wollte, beim Umsteigen versehentlich in den Zug nach Bruchsal geriet und sich drei weitere Umstiege und 24 Stunden später auf dem Bahnhof in Andernach wiederfand. Er hatte Glück im Unglück: Nach drei Tagen erkannte ihn eine zufällig vorbeikommende entfernte Cousine, als er schluchzend auf einen Wagenstandsanzeiger einschlug; schon acht Tage später war Ärmel wieder zu Hause.
Oder Irene Westerhagen, passionierte Hausfrau aus Jena, die zum Kaffeeklatsch nach Magdeburg aufbrach, wo sie nach dem Umsteigen in Leipzig und dem Kauf eines Blumenstraußes im Bahnhofsuntergeschoss niemals ankam. Ihre Familie ortete schließlich ihr Handy auf dem Bahnhof von Westerland/Sylt. Sie schlug sich vor der Reiseauskunft als Wahrsagerin durch und weigerte sich trotzdem hysterisch, einen Zug zu besteigen.
Oder auch Peter Mempelmann-Federsen aus Gütersloh, der am 23. November um 11.05 Uhr zum verschobenen 30-jährigen Abiturtreff en nach Garmisch-Partenkirchen wollte. Als langjähriger Bahnfahrer kannte er die Tücken einer Zugfahrt, und er wusste, wie wichtig es ist, gut vorbereitet zu sein. Ein halbes Jahr vorher begann er zu recherchieren. Prägte sich Route, Fahrzeiten, Zugnummern, die Grundrisse der Züge (IC, ICE, Regionalbahn) und der Umsteigebahnhöfe Hannover und München-Pasing genauestens ein. Ermittelte in unzähligen Gesprächen mit Hotline und Fahrkartenschalter die idealen Sitzplätze. Spielte, die johlenden Nachbarn tapfer ignorierend, mithilfe einer Stoppuhr im Garten wieder und wieder sämtliche Abläufe beim Umsteigen durch. Trainierte, als die Nachbarn schließlich begannen, Zaunplätze an gut zahlende Fremde zu vermieten, in der Küche an einem selbstgebauten Zugtüren-Modell weiter: jeden Handgriff, jeden Fußschritt, das Öffnen der Tür, das Absetzen und Wiederaufnehmen der (ohne Wurstbrot) exakt 4,78 Kilo wiegenden Tasche. Mempelmann-Federsen bereitete sich so gut vor, dass er gar nicht mitbekam, dass ihn seine Frau unplanmäßig verließ.
Doch am 23. November fuhr auf Gleis 3 des Gütersloher Bahnhofs der Zug nach Hannover Hauptbahnhof zehn Minuten verspätet ein und machte alles zunichte: alle auswendig gelernten Zeiten, Abläufe, Übergänge und Handgriffe samt sämtlicher Kaffee- und Mittagspausen, vor allem aber den Umstieg in Hannover; den Umstieg in München-Pasing sowieso.
Weswegen Mempelmann-Federsen sich spontan dazu durchrang, lieber ein Jahr später zum Abitreffen zu fahren, weil dann alles (mit Ausnahme der Jahreszahl) wieder haargenau stimmen würde. Bis dahin wartete er, seine geschiedene Frau hatte das Haus ohnehin verkauft, auf dem Gütersloher Bahnhof. Jedenfalls wartete er so lange, bis ihn der Rettungsdienst trotz heftiger Gegenwehr (denn er hatte dafür ja weder Ticket noch Reservierung) in die psychiatrische Abteilung des Kreiskrankenhauses überführte.
Möchten Sie kein derartiges Schicksal erleiden, sollten Sie sich einen der wichtigsten Tipps dieses Führers gründlich einprägen:
TIPP Meiden Sie möglichst jede Zugverbindung mit Umsteigen! Meiden Sie erst recht jede Zugverbindung, bei der Sie mehrmals umsteigen müssten - Sie wollen doch irgendwann ankommen, oder?
Wer umsteigen muss, ist rettungslos verloren
Denn das einzig gültige Auswahlkriterium aller erfahrenen Bahnfahrer ist die durchgehende Verbindung. Sie allein garantiert, dass man das Ziel noch am gleichen Tag erreicht. Sofern es weder schneit noch stürmt oder zu heiß ist. Sofern weder Bundesligaspiele noch Ferien anstehen und es sich um einen einfachen Werktag handelt, der kein Brückentag ist, auch nicht in Sachsen-Anhalt. Und natürlich sofern der Fahrplan nicht vor wenigen Wochen umgestellt wurde oder in wenigen Wochen umgestellt wird. »Wenig« ist allerdings bei der Bahn ein bis zu einem halben Jahr dehnbarer Begriff (weswegen Fahrplanumstellungen halbjährlich stattfinden).
Ansonsten aber, sofern Sie nichts dagegen haben, morgens gegen 6.00 Uhr zu starten, und der Zielbahnhof nicht weiter als 500 Kilometer entfernt ist, sind Sie mit einer durchgehenden Verbindung auf der sicheren Seite.
Dabei ist es ganz egal, um welche Art von Zug es sich handelt: Auch mit der ältesten Regionalbahn kann man die Strecke Saarbrücken-Altenburg auf direktem Weg - rein rechnerisch - immer schneller (und billiger) zurücklegen als unter Zuhilfenahme zweier oder noch mehr nagelneuer ICEs, in die man jeweils umsteigen muss, was jeweils nur mit viel Glück klappt. Und selbst dann ist die Gefahr groß, dass man vor Aufregung den falschen Zug erwischt, nämlich einen ohne Lok, der vor Wochen nur schnell zum Reinigen auf dem gegenüberliegenden Gleis abgestellt und dort vergessen wurde.
Spätestens beim zweiten Umsteigen sollten Sie ohnehin einen weiteren Reisetag einplanen. Ab viermaligem Umsteigen ist es faktisch, ab fünfmaligem Umsteigen (wie von Saarbrücken nach Altenburg notwendig) prinzipiell ausgeschlossen, dass Sie den Zielbahnhof jemals erreichen - unter anderem weil Sie den für die Reise notwendigen Proviant allein nicht mehr transportieren könnten.
Gibt es dagegen wirklich keine direkte Verbindung, sollten Sie alle Ideologien über Bord werfen und ernsthaft überlegen, ein anderes Verkehrsmittel zu nehmen. Selbst ein Fußmarsch von zwanzig Kilometern mit schwerem Gepäck ist für Psyche und Körper immer noch erholsamer als die Aussicht, eine ungewisse Zahl von Tagen mit knurrendem Magen in nach nassem Rucksack riechenden Abteilen herumlungern zu müssen.
Partnertausch ist manchmal besser
Wer auf die Bahn angewiesen und/oder Bahnfahrer aus (verzweifelter) Leidenschaft ist, sucht auf Dauer ohnehin berufliche Kontakte, Freunde und Verwandte am besten danach aus, ob diese ohne Umsteigen zu erreichen sind. Falls das noch nicht so ist, sollten Sie überlegen: Ist Ihre Großtante/ der Geschäftskontakt/Ihr problematischer Sohn wirklich so wichtig? Könnten Sie nicht auch von jemand anderem, jemandem, zu dem Sie einfach durchfahren können, etwas erben, vielleicht sogar viel mehr? Mit jemandem, der verkehrsgünstiger arbeitet, nicht viel bessere Geschäft e machen? Einen deutlich besser erreichbaren und wesentlich dankbareren jungen Mann an Sohnes statt annehmen?
Wenn Sie zu allem Elend Wochenendheimfahrer sind, sind Sie es möglicherweise sowieso leid, sich zweimal pro Woche in (zufälligerweise immer dann) überfüllten Zügen auf eine Odyssee mit mehrfachem Umsteigen begeben zu müssen, die Tage dauern kann (wodurch Sie mehr Zeit in der Bahn verbringen als im Job und zu Hause zusammen).
Aber vielleicht gibt es ja schon ein, zwei umstiegslose Stationen weiter einen anderen Partner? Eine andere Familie? Eine, die viel netter ist als Ihre alte oder die zumindest in einem viel schöneren Haus lebt?
TIPP Sehen Sie sich im Bedarfsfall bei unvermeidlichen Wartezeiten auf günstig gelegenen Bahnhöfen doch ganz unverbindlich nach netten Menschen um - vorerst ohne Ihrem bisherigen Partner/Ihrer bisherigen Familie etwas davon zu erzählen.
Wollen Sie nicht so weit gehen, sollten Sie an Ihre kostbare Freizeit denken: Müssen Sie, wenn Sie im Ruhrgebiet leben, unbedingt in einem Kaff an der Ostsee Urlaub machen und für die Anfahrt jeweils mehrere Tage einplanen, wo doch eine Stadt wie Bochum auch ihren ganz besonderen Reiz hat - den nämlich, ohne Umsteigen erreichbar zu sein?
Nach dem Börsengang der Bahn werden die meisten Zugfahrer ohnehin keine andere Wahl haben; dank der gewinnorientierten Investoren werden bald nur die lukrativsten Direktverbindungen, die überfülltesten Regionalzüge übrig bleiben. (Hinter den Kulissen laufen bereits Gespräche mit erfahrenen »Pressure-Teams« aus Tokio, die es bei relativ geringen Verlusten schaff en, während der Hauptverkehrszeit 299 statt 83 Pendler in einen U-Bahn-Wagen zu pressen.
Die Grundversorgung hoffnungslos abgelegener Zielbahnhöfe wie Freiburg, Hildesheim oder Weimar sollen dann, so stellt es sich die Bahnspitze vor, aus Steuermitteln oder von Bußgeldern der Bahngewerkschaften bezahlte Auto-Stau- Taxis oder Buschpiloten aus dem Amazonas übernehmen.
TIPP Ist Ihr Zielort so abgelegen, dass keine Alternative zu mehrmaligem Umsteigen existiert, fahren Sie nicht. Wozu gibt es Telefone und Videokonferenzen? Will man Sie trotzdem zwingen zu fahren, tun Sie nur so, als säßen Sie im Zug. Rufen Sie dann denjenigen, der Sie treffen wollte, stündlich mit dem Handy an, um immer verzweifeltere Katastrophenmeldungen durchzugeben. (Lesen Sie zur Inspiration dieses Buch.) Ab dem vierten Anruf - vorgeblich von einer namenlosen Regionalbahnstation irgendwo bei Hameln, an der man Sie ohne Erklärung und ohne Wasser ausgesetzt hat - wird niemand mehr mit Ihrem Auftauchen rechnen.
MACHEN SIE JETZT BLOSS KEINEN FEHLER:
Wie Sie (vielleicht) an Ihre Fahrkarte kommen
Wie aber finden Sie heraus, ob Sie den Ort Ihrer Wahl ohne Umsteigen erreichen können? Und wie bekommen Sie eine Fahrkarte dorthin? Ob Sie es glauben oder nicht: Früher - damals nannte man die Zugbegleiter noch Schaffner - konnte man angeblich in seinem Wohnort zum Bahnhof gehen (es gab fast überall einen) und dort an einem Schalter nach der Verbindung fragen. Man bekam von einem uniformierten Bahnbeamten eine verbindliche Auskunft nebst kartonierter Fahrkarte und hielt sich daran, denn auch der Zug war pünktlich(!).
Wir geben zu: Damals fuhr man allerdings seltener irgendwohin, auch mit der Bahn. Weswegen es mehr Bahnbeamte, Bahnhöfe und pünktliche Züge gab.
Heute fährt man deutlich häufiger weg, auch mit der Bahn. Weswegen es folgerichtig viel weniger Beamte gibt. Zum Ausgleich aber jede Menge Probleme: An vielen Wohnorten (oder beliebigen anderen Orten) existiert gar keine Bahn. Oder kein Bahnhof. Oder nur ein »Haltepunkt«, an dem sich zu regelmäßigen Zeiten Menschen mit resignierten Gesichtern versammeln und an dem zu unregelmäßigen Zeiten Züge einfahren.
Oder es existiert zwar ein Bahnhof, der wird aber mittlerweile bewohnt, und die neuen Eigentümer, ein Grundschullehrerpaar mit drei Kindern, mögen es gar nicht, wenn jemand erst durch ihr Rosenbeet trampelt und dann ans zugige Küchenfenster klopft und ein Ticket zweiter Klasse nach Ennepetal verlangt. Es kann auch sein, dass der Bahnhof längst als Getränkeabholmarkt und/oder Bordell genutzt wird, weswegen die Frage nach einer schnellen Verbindung nach Hodenhagen, aber ohne Umsteigen ganz unverhofft Befremden hervorruft.
Der Schalter und die große Angst vor Jessica Schipp
Doch es geht auch anders. Haben Sie das seltene Glück, in der Nähe eines modernen Hauptbahnhofs wohnen zu dürfen, finden Sie dort alles, was Sie benötigen - Fastfoodstände, Boutiquen, Juweliere, Senioren mit viel Tagesfreizeit und sogar intakte Schalter. Allerdings: Die Schalterhalle heißt heutzutage DB-Reisezentrum. Und dieses hat Öffnungszeiten, die sich minütlich ändern können.
Beginnen Sie also mehrere Wochen vor Antritt Ihrer Reise, spontan und zu unterschiedlichsten Tages- und Nachtzeiten den Hauptbahnhof Ihrer Wahl zu besuchen. (Idealerweise beginnen Sie schon damit, wenn Sie noch gar kein Reiseziel haben.) Haben Sie irgendwann Glück, Sie und 62 andere auf Verdacht Wartende, und die gläsernen Türen sind eines Tages zufälligerweise geöffnet (bevor Sie Hals über Kopf hineinstürzen, prüfen Sie sicherheitshalber, ob sie nicht nur eine Putztruppe gereinigt hat), benötigen Sie nur noch Geduld. Versuchen Sie, sich mit Musik oder mithilfe einer Lektüre (etwa dieses Buches) zu entspannen. Trinken Sie das mitgebrachte Wasser in kleinen Schlucken, damit Sie lange davon haben. Ein unauffällig unter einem weiten Mantel drapierter Urinbeutel wird Ihr Durchhaltevermögen erheblich verlängern.
Und das Wichtigste: Machen Sie sich nicht unnötig Gedanken, warum ausgerechnet Sie, der Sie dies am allerwenigsten verdient haben, in der Schlange so quälend langsam vorrücken. Versetzen Sie lieber dem vor Ihnen Stehenden so lange unauffällige Schläge auf den Hinterkopf, bis er frustriert aufgibt, und vertreiben Sie weitere Anstehende durch das Vortäuschen von lautstarken Blähungen und/oder Alkoholkonsum. Sehr effektiv ist auch ein Baby. Haben Sie gerade keins dabei, besorgen Sie sich eine batteriebetriebene Schrei- Attrappe aus dem Versandhandel (in diversen Stimmlagen mit und ohne Kinderwagen erhältlich). Lassen Sie sich vor allem immer wieder für ein paar Stunden von dem Freund, Verwandten oder bezahlten Helfer ablösen, der Ihnen zu essen bringt, und versuchen Sie in dieser Zeit an eine Wand gelehnt zu schlafen oder massieren Sie Ihre Beinmuskeln, damit Sie bis zum Ende durchhalten.
Bis dahin wird es auf jeden Fall noch etwas dauern. Denn, und daran werden Sie nichts ändern können, von 17 Schaltern sind im Schnitt zwei besetzt (immerhin, nach den nächsten Sparmaßnahmen wird es höchstens noch einer sein), wobei an mindestens einem immer Jessica Schipp arbeitet.
Jessica Schipp ist Auszubildende der Deutschen Bahn; aber sie wäre im Grunde ihres Herzens lieber Stylistin geworden oder hätte gerne »irgendwas mit Menschen« gemacht; den Umgang mit Kunden der Deutschen Bahn zählt sie nicht dazu. Sie versteht auch nicht, dass Sie unbedingt eine »durchgehende Verbindung« nach Gütersloh wollen. Ehrlich gesagt (aber das verrät sie nicht, das wäre uncool) weiß sie gar nicht, was eine »durchgehende Verbindung« ist, denn sie fährt - wie ihre Chefs auch - immer mit dem Auto, zumindest bis sie auf den nächsten Stau trifft . Deshalb kann sich Jessica Schipp sehr gut vorstellen, dass eine »durchgehende Verbindung« irgendetwas Unanständiges ist, so ähnlich wie »Einlauf« oder »strammer Max«.
Vergessen Sie trotzdem nicht, dass Sie von Jessica Schipp abhängig sind.
Wenn Sie also irgendwann an der Reihe sind, erklären Sie Jessica Schipp so freundlich, wie Sie es noch können, was Sie genau wollen. Jessica Schipp wird dann sicherlich so freundlich sein, im Computer nachzusehen, und unter Umständen gibt es tatsächlich keine durchgehende Verbindung, weil diese entweder niemals existierte oder längst gestrichen wurde. Oder weil Jessica Schipp auf der Abfragemaske im Computer ein falsches Häkchen gesetzt hat. Bleiben Sie in diesem Fall möglichst ruhig, widerstehen Sie der Versuchung, ihr die Tastatur aus der Hand zu nehmen, und bitten Sie sie, es noch einmal zu versuchen (vor allem, wenn es sich um durchgehende Verbindungen handelt, die Sie schon gefahren sind). Dabei sollten Sie versuchen, sie mit freundlichen Worten, Witzen über dämliche Bahnreisende oder der Herausgabe Ihrer letzten Gummibärchen bei Laune zu halten. Unter Umständen fällt ihr bereits beim vierten oder fünft en Versuch auf, dass das doofe Häkchen bei »direkte Verbindungen vermeiden « doch nicht so zweckdienlich ist.
Vielleicht findet Jessica Schipp aber auch auf Anhieb Ihre Traumverbindung - ein Glückstreff er! Lassen Sie nun trotz aller Euphorie ja keine Pause aufkommen. Jessica Schipp könnte sich sonst dem nächsten Kunden zuwenden (dem mit den Schlägen auf den Hinterkopf, der sich mittlerweile fast wieder bis hinter Sie vorgearbeitet hat und ziemlich sauer auf Sie ist). Oder schlimmer, sie könnte eine Taste am Computer drücken.
Machen Sie also gleich mit der Buchung weiter. Vorausgesetzt, Sie wissen, welche Klasse Sie bevorzugen (falls nicht, hatten Sie während des Wartens genügend Zeit, unsere Entscheidungshilfe auf Seite 83 ff. zu lesen), müssen Sie nun noch wählen zwischen Abteil und Großraum, Tisch oder keinem Tisch, Fahrtrichtung oder nicht. Ja Sie können sogar einen ganz bestimmten Platz, etwa Sitz 46 in Wagen 27, buchen - und haben Jessica Schipp mit diesem Wissen sehr viel voraus.
Die wird nämlich nur ungläubig den Mund verziehen. Lassen Sie sich nicht auf unnötige Diskussionen mit ihr ein (»In der obersten Schublade vor Ihnen liegen die Sitzpläne sämtlicher buchbaren Züge, daneben die bahninterne Anweisung 123/4, wie Einzelsitze zu buchen sind - es kann doch nicht sein, dass Sie das nicht wissen!!!«). Denn in Wirklichkeit haben Sie nur theoretisch die Wahl: Egal, was Jessica Schipp eingeben würde, wenn sie wüsste, was einzugeben ist - das bahninterne Buchungssystem wird Ihnen unerbittlich einen Mittelplatz ohne Tisch im vollstmöglichen und ältesten Abteil zuweisen.
Aber wiederum keine Sorge, nicht einmal so weit wird es meist kommen. Denn dadurch, dass Jessica Schipp auf der Rückfahrt von ihrem Freund - ebenfalls Azubi bei der Deutschen Bahn - mit ihrem kleinen, alten Opel ständig im Stau steht, traf sie in den letzten anderthalb Jahren immer erst dann in der Berufsschule ein, wenn das Fach »Angewandte EDV für weibliche Azubis« gerade zu Ende war. So verwendet sie am Computer bis heute das Einfinger-Suchsystem, und das etwas zögerlich. Sie vertippt sich auch, aber erst nach dem viertelstündigen Buchungsgespräch, und zwar bevorzugt bei der Eingabe der Platzreservierung oder beim Befehl für den Ausdruck der Zugverbindung nebst Fahrkarte. Dann gibt der Computer einen hässlichen Ton von sich, oder auch gar keinen Ton. Und Jessica Schipp kommt aus dem überlasteten komplizierten Buchungssystem »nicht mehr raus«. Egal, welche von den beiden Tasten sie auch drückt.
Warum Heidemarie Wessenhagen jetzt auch nicht hilft
Erst nach etwa zehn Minuten sind ihre Bemühungen ein plötzliches Signal für Heidemarie Wessenhagen. Heidemarie Wessenhagen ist eine erfahrene Bahnmitarbeiterin und sitzt am zweiten Schalter, dem, an dem es bisher mit drei- bis vierfacher Geschwindigkeit voranging.
Nun allerdings lässt Heidemarie Wessenhagen unmittelbar vor dem Fahrkartenausdruck ihren schon fast fertig bedienten Kunden stehen und stellt sich hinter Jessica Schipp. Dann zieht sie die Stirn in Falten und sagt: »Gib mal Sternchen, Raute und dann die 4 ein.« Darauf zieht Jessica Schipp die Stirn kraus und sagt: »Jetzt geht gar nichts mehr.« Das ist ernst zu nehmen. Von nun an stehen Jessica und Heidemarie mit verkniffenen Gesichtern hinter Jessicas Schirm, und im ganzen DB-Reisezentrum passiert nichts mehr, von Amok laufenden oder in Ohnmacht fallenden Anstehenden einmal abgesehen.
Was auch daran liegt, dass der nächste bahneigene EDV-Techniker in einer anderen Stadt sitzt und man ihn nicht anrufen kann. Das heißt, Heidemarie Wessenhagen und Jessica Schipp könnten ihn natürlich anrufen. Und er könnte auch, wenn er einen guten Tag hat, online auf das System zugreifen (sofern das System einen guten Tag hat und ihn lässt) und den Bug beheben. Heidemarie Wessenhagen und Jessica Schipp würden ihn aber nicht im Traum um Hilfe bitten: Der EDV-Techniker kommt aus dem strukturschwachen Franken, und allein sein rollendes R ist für Heidemarie Wessenhagen deutlicher Ausweis einer arroganten, präpotenten Jungmachoattitüde. Jessica Schipp hingegen weiß sehr genau, dass der Techniker kein Jungmacho ist, sondern, wie sie anlässlich einer ihr sehr peinlichen Kurzaffäre herausfand, ein furchtbarer Langweiler, der im Kofferraum seines Dienstkombis getragene, übel riechende Synthetikhemden hortet
Die beiden Schalterfrauen sind also fest entschlossen, lieber die Verzweiflung ihrer Kunden zu ertragen (mithilfe von Beamten der Bundespolizei, die einen Kordon vor den Schaltern bilden). Durchaus mit einer gewissen Berechtigung: Kommt es angesichts der von den hier Versammelten bereits angehäuft en Wartezeit wirklich noch auf läppische anderthalb Stunden an? Dann nämlich - in der mittlerweile geschätzte 500 Meter langen Warteschlange kämpft trotz wiederholten Tränengaseinsatzes mittlerweile jeder gegen jeden - fällt Heidemarie Wessenhagen ein, dass es fast 17.22 Uhr ist und es gleich beim Bäcker das Brot vom Vortag zum Supersparpreis gibt. Und sie schließt das DB-Kundenzentrum.
Sie können auch das unverschämte Glück haben, am schnelleren Schalter von Heidemarie Wessenhagen zu landen - zumindest bis zum Börsengang, denn danach werden alle erfahreneren Mitarbeiter den neuen Großaktionären (die von Geburt an über Chauffeure verfügen und nie in einem Kundenzentrum anstehen mussten) viel zu teuer sein. Heidemarie Wessenhagen wäre auch deshalb die bessere Alternative, weil Sie von ihr frei heraus ein Ticket nach Hodenhagen verlangen könnten, statt herumstottern zu müssen, Sie wollten nach Offenburg, bloß weil Jessica Schipp sich von Ihnen angemacht fühlen und Sie schreiend des Schalters verweisen könnte. Doch noch bevor Sie den Mund öffnen, wird Heidemarie Wessenhagen aufstehen, um Jessica Schipp zu helfen. Oder um vor der Tür in der Sonne ihre nach 27 Jahren im Job wahrlich verdiente Pause zu nehmen. An ihrer Stelle erscheint nach kaum zehn bis fünfzehn Minuten - leicht missmutig, denn draußen scheint die Sonne, hier drinnen hingegen hat sie es mit lauter Typen zu tun, die irgendetwas von ihr wollen - Jessica Schipp.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Würden Sie eines schönen Morgens ganz spontan an den Amazonas reisen? Einfach in das nächste Flugzeug steigen, sich im kurzärmligen Business-Hemd und mit Slippern an den Füßen über Pistolero-West abwerfen lassen und dann mal schauen, wie's so läuft auf dem 856 Kilometer langen Marsch nach Pistolero-Ost durch von Krokodilen wimmelnde Sümpfe und malariaverseuchtes Unterholz? Nein, das würden Sie vermutlich nicht, es sei denn, Sie wären ein lebensmüder Irrer. Aber selbst wenn: Gibt es nicht angenehmere Arten zu sterben?
Seltsamerweise aber denken viele Menschen immer noch, sie könnten sich einfach in einen Zug setzen und losfahren. Von Bochum nach Stuttgart. Von Kiel nach Berlin. Oder gar von Heidelberg nach Passau.
Sie denken das glücklicherweise nicht, denn Sie haben sich dieses Buch gekauft . Oder ein wohlmeinender Mitmensch hat es Ihnen geschenkt, einer, der weiß: Ein Abenteuerurlaub im Busch ist nichts gegen eine Fahrt mit der Deutschen Bahn. Vor allem aber: Ohne gründliche Vorbereitung haben Sie nicht den Hauch einer Chance. Dabei ist Reisen mit der Bahn nicht nur tatsächlich sehr ökologisch (vor allem, weil im Winter in den liegengebliebenen Zügen die Heizung ausgeschaltet wird und im Sommer die Klimaanlage), sondern auch ungemein spannend: Bahnfahren, das ist in unserem überraschungsarmen und durchgetakteten Alltag das letzte große Abenteuer. Eine Reise ins Ungewisse, bei der man nie weiß, was als Nächstes passiert.
Ob beispielsweise der Zug nach Fulda wirklich nach Fulda fährt. Oder ob nicht während der Fahrt auf ein geheimes Signal hin sämtliche Zugbegleiter verschwinden und der Zug anschließend - laut Durchsage »aus technischen Gründen« - in Richtung Rostock umgeleitet wird, bevor es in Berlin nach mehrstündiger Wartezeit »betriebsbedingt« zurück nach München geht. Wer trotzdem immer noch nach Fulda will, der erhält einen Gutschein für einen Gratis-Kaffee im Bordbistro - oder schafft es, sich in Augsburg in den Zug in die Gegenrichtung zu werfen. Der fährt tatsächlich nach Fulda. Allerdings erst nachts, mit verschlossenen Toiletten, ohne Bordbistro und »wegen einer Störung am Triebfahrzeug« mit halber Geschwindigkeit. Aber das ist erst der Anfang ...
Dieser Überlebensführer soll Ihnen auf Ihrer nächsten Reise mit der Deutschen Bahn helfen. Sie werden erfahren, was Sie in Ihrem Handgepäck mit sich führen müssen, um für Zwischenfälle aller Art gerüstet zu sein. Worauf es bei der Routenplanung wirklich ankommt. Bei wem Sie Ihre Fahrkarte keinesfalls kaufen sollten. Wie Sie sich durchschlagen, wenn Sie zur richtigen Zeit den richtigen Bahnsteig erreicht haben. Und wie Sie es am Ende sogar schaff en, nicht nur eine Fahrt zu überstehen, sondern auch Ihr Reiseziel tatsächlich zu erreichen - Ihr eigentliches Ziel oder zumindest ein anderes.
Bei der Recherche zu diesem Buch haben die Autoren unzählige Fahrten mit der Deutschen Bahn zurückgelegt. Sie haben sich auf bitterkalten Bahnhöfen Erfrierungen geholt und sind in sommers vergessenen Zügen fast gegrillt worden. Sie sind ausgehungert und unterzuckert in vom Personal aufgegebene Bordbistros eingedrungen, um mit anderen um das letzte trockene Brötchen zu kämpfen. Sie haben in stehen gebliebenen, zum Bersten vollen Zügen mit Plastiktüten den von der Decke tropfenden Schweiß ihrer Mitreisenden aufgefangen, gefiltert, löffelweise über dem schmelzenden Feuerzeug abgekocht und glücklicherweise dann doch nicht getrunken (denn in diesem Moment - an den niemand mehr glaubte - fuhr der Zug ächzend und wie durch ein Wunder wieder an).
Sollten wir trotzdem noch etwas übersehen haben: Bitte zögern Sie nicht, uns dies für die Neuauflage dieses Überlebensführers mitzuteilen. Im Anhang finden Sie eine E-Mail- Adresse, die wir in unserem Asyl im Amazonas abrufen.
TIPP Wollen Sie mit der Bahn fahren und tatsächlich ankommen? Dann lesen Sie dieses Buch gründlich durch und führen Sie es bei Ihrer nächsten Zugreise griffbereit und dicht am Körper mit sich. Sie werden sehr dankbar dafür sein.
PSYCHOTEST VORWEG:
Welcher Bahntyp sind Sie?
FRAGE 1 Sie wollen von Flensburg nach Passau reisen. Für welches Beförderungsmittel entscheiden Sie sich?
A) Natürlich die Bahn. Da komme ich entspannt an und kann unterwegs noch was arbeiten. Und die 37 Stunden Fahrt vergehen wie im Flug.
B) Mein Auto ist seit drei Jahren vom TÜV stillgelegt. Der Langstreckenbus fährt leider nicht über Passau, und zu Fuß wär's wohl zu weit. Also fahre ich wohl Zug. Obwohl: Sagen Sie mal, fährt da nicht ein Schiff nach Passau?
C) Ich fliege von Flensburg nach Augsburg, warte dort so lange, bis jemand in Richtung Passau fliegt, und springe dann mit dem Fallschirm ab. Das habe ich zwar noch nie gemacht, es geht aber um ein Vielfaches schneller als Bahnfahren und ist halb so riskant.
FRAGE 2 Sie kommen zehn Minuten vor der potenziellen Abfahrtszeit Ihres Zuges (es ist der letzte heute) verschwitzt und abgehetzt am Bahnhof an und haben noch keine Fahrkarte. Wie verhalten Sie sich?
A) Ich versuche, am Fahrkartenautomaten eine Karte zu erstehen, und finde es schön, dass die Automatenguides trotz ihres schweren Jobs dabei wenigstens über mich lachen können.
B) Die 180 Meter lange Warteschlange vor dem Reisezentrum schreckt mich nicht. In Würzburg waren es neulich 240, in Bruchsal sogar 277 Meter. Der Zug ist sowieso mindestens zwei Stunden zu spät, und wenn ich ein paar Leute wegekle, habe ich eine echt reelle Chance. Wenn nicht, bin ich selbst schuld und penne die Nacht in der kalten Bahnhofshalle. Es wäre nicht das erste Mal.
C) Stress ist schlecht für den Teint. Ich buche eine Nacht im Steigenberger-Hotel, schiebe das geplatzte Meeting auf die Bahn und nehme morgen einen Leihwagen.
FRAGE 3 Der Zugzielanzeiger kündigt eine Verspätung »auf unbestimmte Zeit« an. Wie reagieren Sie?
A) Ich rufe die Bahnhotline an und lasse mir alternative Verbindungen heraussuchen. Anschließend wende ich mich an den zuständigen Berater am DB Service Point und diskutiere gemeinsam mit Betroffenen über alternative Beförderungsmöglichkeiten unter Einschluss von U-Bahnen, Bussen, Sprint, Schienenersatzverkehr und einer Kurzstrecke mit dem Nachtzug »Saturn«.
B) Ich verstehe die Frage nicht. Das ist doch jeden Tag so. Irgendwann kommt schon ein Zug.
C) Ich verstehe die Frage nicht. In meinem Leihwagen gibt es zwar Tempomat und jede Menge anderen Schnickschnack, aber keinen Zugzielanzeiger.
FRAGE 4 Bahnfahren bedeutet für mich:
A) Die totale Erfüllung. Abenteuer. Einen Mikrokosmos aus Kommen und Gehen, Geburt und Wiedergeburt. Der Weg ist das Ziel. Carpe Bahnem!
B) Tagesinhalt. Leider. Der Rest geht mit Schlafen und Zum-Bahnhof-Rennen drauf.
C) Eine sehr schöne Sache. Ich schaue immer im Fernsehen die Bahnwerbung an und denke: So viel Zeit möchte ich irgendwann auch mal haben.
FRAGE 5 Nachdem Ihr Zug die letzte Stunde rund zehn Kilometer zurückgelegt hat, hält er nun auf offener Strecke. Eine Stunde später räumt der Zugchef eine »Signalstörung« ein. Möglicherweise könnten am nächsten Knotenpunkt nicht alle Anschluss- Verbindungen erreicht werden. Was ist Ihr nächster Schritt?
A) Ich gehe ins BordBistro, bestelle eine Litchi-Bionade (bzw., weil ausverkauft, ein Leitungswasser) und lasse mir später vom freundlichen Zugbegleiter alle theoretisch erreichbaren Alternativen aufzeigen. Die Tatsache, dass die Zahl dieser Verbindungen null ist, ignoriere ich lächelnd. Was kann der arme Mann dafür!
B) Ich gehe geistig meine Checkliste durch: Isomatte habe ich, Platz vorm Klo ist reserviert, mein Getränkevorrat reicht für eine Woche, zu Hause vermisst mich niemand, meine sozialen Beziehungen sind glücklicherweise, seit ich Bahn fahre, ohnehin nur noch oberflächlich. Nun, ich bin gerüstet.
C) Ich löse die Türverriegelung und gehe zu Fuß bis zur nächsten Mietwagenfirma. Morgen verklage ich die Bahn wegen Geschäftsschädigung und Freiheitsberaubung.
FRAGE 7 An Bahnhöfen fühle ich mich immer ...
A) ... total aufgeregt. Der Duft der weiten Welt. Züge fahren von hier nach da. Mobilität, Menschen aus allen Ländern. Ich könnte schreien vor Glück.
B) ... daheim. Ich lebe hier.
C) ... sehr wohl. Denn wo es Bahnhöfe gibt, gibt es auch Autovermietungen.
AUSWERTUNG
ÜBERWIEGEND A.): DER BAHN-IDEALIST
Sie lassen sich doch nicht die gute Laune und den Optimismus von Kleinigkeiten wie Personen im Gleis oder Böschungsbränden nehmen. Sie sind der ideale Bahnkunde, der auch bereit ist, eine Woche Urlaub zu nehmen, um von München nach Augsburg zu reisen und doch in Kiel zu stranden. Bravo - schließlich ist Ankommen nicht alles!
ÜBERWIEGEND B.) : DER BAHN-REALIST
Leider sind Sie auf die Bahn angewiesen. Damit haben Sie die Lebensqualitätscard50 gebucht. Halber Spaß, doppelte Zeit: Glücklicherweise haben Sie schnell jede Hoffnung aufgegeben. Damit können Ihnen Signalstörungen oder Koppelungsprobleme doch nur noch ein Schulterzucken abnötigen. Und immerhin: So schaffen Sie Ihre Bücher.
ÜBERWIEGEND C.): DER BAHN-SKEPTIKER
Schade, dass die Lufthansa nicht von München nach Augsburg fliegt. Denn eins ist Ihnen klar: Bevor Sie freiwillig in einen Zug steigen, müsste einiges passieren: 80 Prozent aller Züge wären höchstens eine Stunde verspätet, die Wagen würden einmal im Monat gereinigt und das BordRestaurant hätte zumindest Rudimente der Speisekarte vorrätig. Leider erleben Sie das auf Ihren seltenen Fahrten immer anders. Kein Wunder, dass es nichts wird mit dem Kyoto-Protokoll.
GUTE PLANUNG IST DAS WICHTIGSTE:
Wohin Sie niemals mit der Bahn fahren sollten
Mit der Bahn zu fahren, das hört sich ganz einfach an, solange man nur von Hamburg nach Berlin oder von München nach Nürnberg will.
Aber was, wenn Sie von Hamburg oder Berlin nach Freiburg oder Heilbronn wollen? Ganz zu schweigen von Regensburg, Aachen, Weimar oder - Prerow an der Ostsee? Sicher, in solchen Fällen werden Sie immer Leute treffen, die Ihrem Blick ausweichen und tapfer behaupten: »Alles ganz easy: Abfahrt München 6.35 Uhr, Ankunft Hamburg 11.55 Uhr, Abfahrt Hamburg 12.02 Uhr, Ankunft Rostock 13.49 Uhr, Abfahrt Rostock 13.51 Uhr, Ankunft Ribnitz-Damgarten West 14.35 Uhr, Abfahrt Bus nach Ostseebad Prerow 14.41 Uhr, keine Sorge, Sie schaff en das. Sie sind doch jung und kräftig und können Ihr Gepäck notfalls zurücklassen?«
Um es klar zu sagen: Wenn Sie sich auf so etwas einlassen, sind Sie so gut wie verloren. 634 Menschen verschwinden jedes Jahr in Deutschland. Subtrahiert man davon die angeblichen Zigarettenholer, bleiben noch 423 auf der Strecke (die Dunkelziffer ist weit höher, weil Verwandte oft die Rente oder das Gehalt der Verschwundenen einstreichen, solange es geht, dann versuchen, die Bahn zu erpressen, und sich nach langen Verhandlungen mit einem Gutschein fürs Bistro abfinden lassen).
Es sind Menschen wie Günter Ärmel, pensionierter Verwaltungsangestellter aus Offenburg, der nach Düsseldorf zum Kleiderkaufen wollte, beim Umsteigen versehentlich in den Zug nach Bruchsal geriet und sich drei weitere Umstiege und 24 Stunden später auf dem Bahnhof in Andernach wiederfand. Er hatte Glück im Unglück: Nach drei Tagen erkannte ihn eine zufällig vorbeikommende entfernte Cousine, als er schluchzend auf einen Wagenstandsanzeiger einschlug; schon acht Tage später war Ärmel wieder zu Hause.
Oder Irene Westerhagen, passionierte Hausfrau aus Jena, die zum Kaffeeklatsch nach Magdeburg aufbrach, wo sie nach dem Umsteigen in Leipzig und dem Kauf eines Blumenstraußes im Bahnhofsuntergeschoss niemals ankam. Ihre Familie ortete schließlich ihr Handy auf dem Bahnhof von Westerland/Sylt. Sie schlug sich vor der Reiseauskunft als Wahrsagerin durch und weigerte sich trotzdem hysterisch, einen Zug zu besteigen.
Oder auch Peter Mempelmann-Federsen aus Gütersloh, der am 23. November um 11.05 Uhr zum verschobenen 30-jährigen Abiturtreff en nach Garmisch-Partenkirchen wollte. Als langjähriger Bahnfahrer kannte er die Tücken einer Zugfahrt, und er wusste, wie wichtig es ist, gut vorbereitet zu sein. Ein halbes Jahr vorher begann er zu recherchieren. Prägte sich Route, Fahrzeiten, Zugnummern, die Grundrisse der Züge (IC, ICE, Regionalbahn) und der Umsteigebahnhöfe Hannover und München-Pasing genauestens ein. Ermittelte in unzähligen Gesprächen mit Hotline und Fahrkartenschalter die idealen Sitzplätze. Spielte, die johlenden Nachbarn tapfer ignorierend, mithilfe einer Stoppuhr im Garten wieder und wieder sämtliche Abläufe beim Umsteigen durch. Trainierte, als die Nachbarn schließlich begannen, Zaunplätze an gut zahlende Fremde zu vermieten, in der Küche an einem selbstgebauten Zugtüren-Modell weiter: jeden Handgriff, jeden Fußschritt, das Öffnen der Tür, das Absetzen und Wiederaufnehmen der (ohne Wurstbrot) exakt 4,78 Kilo wiegenden Tasche. Mempelmann-Federsen bereitete sich so gut vor, dass er gar nicht mitbekam, dass ihn seine Frau unplanmäßig verließ.
Doch am 23. November fuhr auf Gleis 3 des Gütersloher Bahnhofs der Zug nach Hannover Hauptbahnhof zehn Minuten verspätet ein und machte alles zunichte: alle auswendig gelernten Zeiten, Abläufe, Übergänge und Handgriffe samt sämtlicher Kaffee- und Mittagspausen, vor allem aber den Umstieg in Hannover; den Umstieg in München-Pasing sowieso.
Weswegen Mempelmann-Federsen sich spontan dazu durchrang, lieber ein Jahr später zum Abitreffen zu fahren, weil dann alles (mit Ausnahme der Jahreszahl) wieder haargenau stimmen würde. Bis dahin wartete er, seine geschiedene Frau hatte das Haus ohnehin verkauft, auf dem Gütersloher Bahnhof. Jedenfalls wartete er so lange, bis ihn der Rettungsdienst trotz heftiger Gegenwehr (denn er hatte dafür ja weder Ticket noch Reservierung) in die psychiatrische Abteilung des Kreiskrankenhauses überführte.
Möchten Sie kein derartiges Schicksal erleiden, sollten Sie sich einen der wichtigsten Tipps dieses Führers gründlich einprägen:
TIPP Meiden Sie möglichst jede Zugverbindung mit Umsteigen! Meiden Sie erst recht jede Zugverbindung, bei der Sie mehrmals umsteigen müssten - Sie wollen doch irgendwann ankommen, oder?
Wer umsteigen muss, ist rettungslos verloren
Denn das einzig gültige Auswahlkriterium aller erfahrenen Bahnfahrer ist die durchgehende Verbindung. Sie allein garantiert, dass man das Ziel noch am gleichen Tag erreicht. Sofern es weder schneit noch stürmt oder zu heiß ist. Sofern weder Bundesligaspiele noch Ferien anstehen und es sich um einen einfachen Werktag handelt, der kein Brückentag ist, auch nicht in Sachsen-Anhalt. Und natürlich sofern der Fahrplan nicht vor wenigen Wochen umgestellt wurde oder in wenigen Wochen umgestellt wird. »Wenig« ist allerdings bei der Bahn ein bis zu einem halben Jahr dehnbarer Begriff (weswegen Fahrplanumstellungen halbjährlich stattfinden).
Ansonsten aber, sofern Sie nichts dagegen haben, morgens gegen 6.00 Uhr zu starten, und der Zielbahnhof nicht weiter als 500 Kilometer entfernt ist, sind Sie mit einer durchgehenden Verbindung auf der sicheren Seite.
Dabei ist es ganz egal, um welche Art von Zug es sich handelt: Auch mit der ältesten Regionalbahn kann man die Strecke Saarbrücken-Altenburg auf direktem Weg - rein rechnerisch - immer schneller (und billiger) zurücklegen als unter Zuhilfenahme zweier oder noch mehr nagelneuer ICEs, in die man jeweils umsteigen muss, was jeweils nur mit viel Glück klappt. Und selbst dann ist die Gefahr groß, dass man vor Aufregung den falschen Zug erwischt, nämlich einen ohne Lok, der vor Wochen nur schnell zum Reinigen auf dem gegenüberliegenden Gleis abgestellt und dort vergessen wurde.
Spätestens beim zweiten Umsteigen sollten Sie ohnehin einen weiteren Reisetag einplanen. Ab viermaligem Umsteigen ist es faktisch, ab fünfmaligem Umsteigen (wie von Saarbrücken nach Altenburg notwendig) prinzipiell ausgeschlossen, dass Sie den Zielbahnhof jemals erreichen - unter anderem weil Sie den für die Reise notwendigen Proviant allein nicht mehr transportieren könnten.
Gibt es dagegen wirklich keine direkte Verbindung, sollten Sie alle Ideologien über Bord werfen und ernsthaft überlegen, ein anderes Verkehrsmittel zu nehmen. Selbst ein Fußmarsch von zwanzig Kilometern mit schwerem Gepäck ist für Psyche und Körper immer noch erholsamer als die Aussicht, eine ungewisse Zahl von Tagen mit knurrendem Magen in nach nassem Rucksack riechenden Abteilen herumlungern zu müssen.
Partnertausch ist manchmal besser
Wer auf die Bahn angewiesen und/oder Bahnfahrer aus (verzweifelter) Leidenschaft ist, sucht auf Dauer ohnehin berufliche Kontakte, Freunde und Verwandte am besten danach aus, ob diese ohne Umsteigen zu erreichen sind. Falls das noch nicht so ist, sollten Sie überlegen: Ist Ihre Großtante/ der Geschäftskontakt/Ihr problematischer Sohn wirklich so wichtig? Könnten Sie nicht auch von jemand anderem, jemandem, zu dem Sie einfach durchfahren können, etwas erben, vielleicht sogar viel mehr? Mit jemandem, der verkehrsgünstiger arbeitet, nicht viel bessere Geschäft e machen? Einen deutlich besser erreichbaren und wesentlich dankbareren jungen Mann an Sohnes statt annehmen?
Wenn Sie zu allem Elend Wochenendheimfahrer sind, sind Sie es möglicherweise sowieso leid, sich zweimal pro Woche in (zufälligerweise immer dann) überfüllten Zügen auf eine Odyssee mit mehrfachem Umsteigen begeben zu müssen, die Tage dauern kann (wodurch Sie mehr Zeit in der Bahn verbringen als im Job und zu Hause zusammen).
Aber vielleicht gibt es ja schon ein, zwei umstiegslose Stationen weiter einen anderen Partner? Eine andere Familie? Eine, die viel netter ist als Ihre alte oder die zumindest in einem viel schöneren Haus lebt?
TIPP Sehen Sie sich im Bedarfsfall bei unvermeidlichen Wartezeiten auf günstig gelegenen Bahnhöfen doch ganz unverbindlich nach netten Menschen um - vorerst ohne Ihrem bisherigen Partner/Ihrer bisherigen Familie etwas davon zu erzählen.
Wollen Sie nicht so weit gehen, sollten Sie an Ihre kostbare Freizeit denken: Müssen Sie, wenn Sie im Ruhrgebiet leben, unbedingt in einem Kaff an der Ostsee Urlaub machen und für die Anfahrt jeweils mehrere Tage einplanen, wo doch eine Stadt wie Bochum auch ihren ganz besonderen Reiz hat - den nämlich, ohne Umsteigen erreichbar zu sein?
Nach dem Börsengang der Bahn werden die meisten Zugfahrer ohnehin keine andere Wahl haben; dank der gewinnorientierten Investoren werden bald nur die lukrativsten Direktverbindungen, die überfülltesten Regionalzüge übrig bleiben. (Hinter den Kulissen laufen bereits Gespräche mit erfahrenen »Pressure-Teams« aus Tokio, die es bei relativ geringen Verlusten schaff en, während der Hauptverkehrszeit 299 statt 83 Pendler in einen U-Bahn-Wagen zu pressen.
Die Grundversorgung hoffnungslos abgelegener Zielbahnhöfe wie Freiburg, Hildesheim oder Weimar sollen dann, so stellt es sich die Bahnspitze vor, aus Steuermitteln oder von Bußgeldern der Bahngewerkschaften bezahlte Auto-Stau- Taxis oder Buschpiloten aus dem Amazonas übernehmen.
TIPP Ist Ihr Zielort so abgelegen, dass keine Alternative zu mehrmaligem Umsteigen existiert, fahren Sie nicht. Wozu gibt es Telefone und Videokonferenzen? Will man Sie trotzdem zwingen zu fahren, tun Sie nur so, als säßen Sie im Zug. Rufen Sie dann denjenigen, der Sie treffen wollte, stündlich mit dem Handy an, um immer verzweifeltere Katastrophenmeldungen durchzugeben. (Lesen Sie zur Inspiration dieses Buch.) Ab dem vierten Anruf - vorgeblich von einer namenlosen Regionalbahnstation irgendwo bei Hameln, an der man Sie ohne Erklärung und ohne Wasser ausgesetzt hat - wird niemand mehr mit Ihrem Auftauchen rechnen.
MACHEN SIE JETZT BLOSS KEINEN FEHLER:
Wie Sie (vielleicht) an Ihre Fahrkarte kommen
Wie aber finden Sie heraus, ob Sie den Ort Ihrer Wahl ohne Umsteigen erreichen können? Und wie bekommen Sie eine Fahrkarte dorthin? Ob Sie es glauben oder nicht: Früher - damals nannte man die Zugbegleiter noch Schaffner - konnte man angeblich in seinem Wohnort zum Bahnhof gehen (es gab fast überall einen) und dort an einem Schalter nach der Verbindung fragen. Man bekam von einem uniformierten Bahnbeamten eine verbindliche Auskunft nebst kartonierter Fahrkarte und hielt sich daran, denn auch der Zug war pünktlich(!).
Wir geben zu: Damals fuhr man allerdings seltener irgendwohin, auch mit der Bahn. Weswegen es mehr Bahnbeamte, Bahnhöfe und pünktliche Züge gab.
Heute fährt man deutlich häufiger weg, auch mit der Bahn. Weswegen es folgerichtig viel weniger Beamte gibt. Zum Ausgleich aber jede Menge Probleme: An vielen Wohnorten (oder beliebigen anderen Orten) existiert gar keine Bahn. Oder kein Bahnhof. Oder nur ein »Haltepunkt«, an dem sich zu regelmäßigen Zeiten Menschen mit resignierten Gesichtern versammeln und an dem zu unregelmäßigen Zeiten Züge einfahren.
Oder es existiert zwar ein Bahnhof, der wird aber mittlerweile bewohnt, und die neuen Eigentümer, ein Grundschullehrerpaar mit drei Kindern, mögen es gar nicht, wenn jemand erst durch ihr Rosenbeet trampelt und dann ans zugige Küchenfenster klopft und ein Ticket zweiter Klasse nach Ennepetal verlangt. Es kann auch sein, dass der Bahnhof längst als Getränkeabholmarkt und/oder Bordell genutzt wird, weswegen die Frage nach einer schnellen Verbindung nach Hodenhagen, aber ohne Umsteigen ganz unverhofft Befremden hervorruft.
Der Schalter und die große Angst vor Jessica Schipp
Doch es geht auch anders. Haben Sie das seltene Glück, in der Nähe eines modernen Hauptbahnhofs wohnen zu dürfen, finden Sie dort alles, was Sie benötigen - Fastfoodstände, Boutiquen, Juweliere, Senioren mit viel Tagesfreizeit und sogar intakte Schalter. Allerdings: Die Schalterhalle heißt heutzutage DB-Reisezentrum. Und dieses hat Öffnungszeiten, die sich minütlich ändern können.
Beginnen Sie also mehrere Wochen vor Antritt Ihrer Reise, spontan und zu unterschiedlichsten Tages- und Nachtzeiten den Hauptbahnhof Ihrer Wahl zu besuchen. (Idealerweise beginnen Sie schon damit, wenn Sie noch gar kein Reiseziel haben.) Haben Sie irgendwann Glück, Sie und 62 andere auf Verdacht Wartende, und die gläsernen Türen sind eines Tages zufälligerweise geöffnet (bevor Sie Hals über Kopf hineinstürzen, prüfen Sie sicherheitshalber, ob sie nicht nur eine Putztruppe gereinigt hat), benötigen Sie nur noch Geduld. Versuchen Sie, sich mit Musik oder mithilfe einer Lektüre (etwa dieses Buches) zu entspannen. Trinken Sie das mitgebrachte Wasser in kleinen Schlucken, damit Sie lange davon haben. Ein unauffällig unter einem weiten Mantel drapierter Urinbeutel wird Ihr Durchhaltevermögen erheblich verlängern.
Und das Wichtigste: Machen Sie sich nicht unnötig Gedanken, warum ausgerechnet Sie, der Sie dies am allerwenigsten verdient haben, in der Schlange so quälend langsam vorrücken. Versetzen Sie lieber dem vor Ihnen Stehenden so lange unauffällige Schläge auf den Hinterkopf, bis er frustriert aufgibt, und vertreiben Sie weitere Anstehende durch das Vortäuschen von lautstarken Blähungen und/oder Alkoholkonsum. Sehr effektiv ist auch ein Baby. Haben Sie gerade keins dabei, besorgen Sie sich eine batteriebetriebene Schrei- Attrappe aus dem Versandhandel (in diversen Stimmlagen mit und ohne Kinderwagen erhältlich). Lassen Sie sich vor allem immer wieder für ein paar Stunden von dem Freund, Verwandten oder bezahlten Helfer ablösen, der Ihnen zu essen bringt, und versuchen Sie in dieser Zeit an eine Wand gelehnt zu schlafen oder massieren Sie Ihre Beinmuskeln, damit Sie bis zum Ende durchhalten.
Bis dahin wird es auf jeden Fall noch etwas dauern. Denn, und daran werden Sie nichts ändern können, von 17 Schaltern sind im Schnitt zwei besetzt (immerhin, nach den nächsten Sparmaßnahmen wird es höchstens noch einer sein), wobei an mindestens einem immer Jessica Schipp arbeitet.
Jessica Schipp ist Auszubildende der Deutschen Bahn; aber sie wäre im Grunde ihres Herzens lieber Stylistin geworden oder hätte gerne »irgendwas mit Menschen« gemacht; den Umgang mit Kunden der Deutschen Bahn zählt sie nicht dazu. Sie versteht auch nicht, dass Sie unbedingt eine »durchgehende Verbindung« nach Gütersloh wollen. Ehrlich gesagt (aber das verrät sie nicht, das wäre uncool) weiß sie gar nicht, was eine »durchgehende Verbindung« ist, denn sie fährt - wie ihre Chefs auch - immer mit dem Auto, zumindest bis sie auf den nächsten Stau trifft . Deshalb kann sich Jessica Schipp sehr gut vorstellen, dass eine »durchgehende Verbindung« irgendetwas Unanständiges ist, so ähnlich wie »Einlauf« oder »strammer Max«.
Vergessen Sie trotzdem nicht, dass Sie von Jessica Schipp abhängig sind.
Wenn Sie also irgendwann an der Reihe sind, erklären Sie Jessica Schipp so freundlich, wie Sie es noch können, was Sie genau wollen. Jessica Schipp wird dann sicherlich so freundlich sein, im Computer nachzusehen, und unter Umständen gibt es tatsächlich keine durchgehende Verbindung, weil diese entweder niemals existierte oder längst gestrichen wurde. Oder weil Jessica Schipp auf der Abfragemaske im Computer ein falsches Häkchen gesetzt hat. Bleiben Sie in diesem Fall möglichst ruhig, widerstehen Sie der Versuchung, ihr die Tastatur aus der Hand zu nehmen, und bitten Sie sie, es noch einmal zu versuchen (vor allem, wenn es sich um durchgehende Verbindungen handelt, die Sie schon gefahren sind). Dabei sollten Sie versuchen, sie mit freundlichen Worten, Witzen über dämliche Bahnreisende oder der Herausgabe Ihrer letzten Gummibärchen bei Laune zu halten. Unter Umständen fällt ihr bereits beim vierten oder fünft en Versuch auf, dass das doofe Häkchen bei »direkte Verbindungen vermeiden « doch nicht so zweckdienlich ist.
Vielleicht findet Jessica Schipp aber auch auf Anhieb Ihre Traumverbindung - ein Glückstreff er! Lassen Sie nun trotz aller Euphorie ja keine Pause aufkommen. Jessica Schipp könnte sich sonst dem nächsten Kunden zuwenden (dem mit den Schlägen auf den Hinterkopf, der sich mittlerweile fast wieder bis hinter Sie vorgearbeitet hat und ziemlich sauer auf Sie ist). Oder schlimmer, sie könnte eine Taste am Computer drücken.
Machen Sie also gleich mit der Buchung weiter. Vorausgesetzt, Sie wissen, welche Klasse Sie bevorzugen (falls nicht, hatten Sie während des Wartens genügend Zeit, unsere Entscheidungshilfe auf Seite 83 ff. zu lesen), müssen Sie nun noch wählen zwischen Abteil und Großraum, Tisch oder keinem Tisch, Fahrtrichtung oder nicht. Ja Sie können sogar einen ganz bestimmten Platz, etwa Sitz 46 in Wagen 27, buchen - und haben Jessica Schipp mit diesem Wissen sehr viel voraus.
Die wird nämlich nur ungläubig den Mund verziehen. Lassen Sie sich nicht auf unnötige Diskussionen mit ihr ein (»In der obersten Schublade vor Ihnen liegen die Sitzpläne sämtlicher buchbaren Züge, daneben die bahninterne Anweisung 123/4, wie Einzelsitze zu buchen sind - es kann doch nicht sein, dass Sie das nicht wissen!!!«). Denn in Wirklichkeit haben Sie nur theoretisch die Wahl: Egal, was Jessica Schipp eingeben würde, wenn sie wüsste, was einzugeben ist - das bahninterne Buchungssystem wird Ihnen unerbittlich einen Mittelplatz ohne Tisch im vollstmöglichen und ältesten Abteil zuweisen.
Aber wiederum keine Sorge, nicht einmal so weit wird es meist kommen. Denn dadurch, dass Jessica Schipp auf der Rückfahrt von ihrem Freund - ebenfalls Azubi bei der Deutschen Bahn - mit ihrem kleinen, alten Opel ständig im Stau steht, traf sie in den letzten anderthalb Jahren immer erst dann in der Berufsschule ein, wenn das Fach »Angewandte EDV für weibliche Azubis« gerade zu Ende war. So verwendet sie am Computer bis heute das Einfinger-Suchsystem, und das etwas zögerlich. Sie vertippt sich auch, aber erst nach dem viertelstündigen Buchungsgespräch, und zwar bevorzugt bei der Eingabe der Platzreservierung oder beim Befehl für den Ausdruck der Zugverbindung nebst Fahrkarte. Dann gibt der Computer einen hässlichen Ton von sich, oder auch gar keinen Ton. Und Jessica Schipp kommt aus dem überlasteten komplizierten Buchungssystem »nicht mehr raus«. Egal, welche von den beiden Tasten sie auch drückt.
Warum Heidemarie Wessenhagen jetzt auch nicht hilft
Erst nach etwa zehn Minuten sind ihre Bemühungen ein plötzliches Signal für Heidemarie Wessenhagen. Heidemarie Wessenhagen ist eine erfahrene Bahnmitarbeiterin und sitzt am zweiten Schalter, dem, an dem es bisher mit drei- bis vierfacher Geschwindigkeit voranging.
Nun allerdings lässt Heidemarie Wessenhagen unmittelbar vor dem Fahrkartenausdruck ihren schon fast fertig bedienten Kunden stehen und stellt sich hinter Jessica Schipp. Dann zieht sie die Stirn in Falten und sagt: »Gib mal Sternchen, Raute und dann die 4 ein.« Darauf zieht Jessica Schipp die Stirn kraus und sagt: »Jetzt geht gar nichts mehr.« Das ist ernst zu nehmen. Von nun an stehen Jessica und Heidemarie mit verkniffenen Gesichtern hinter Jessicas Schirm, und im ganzen DB-Reisezentrum passiert nichts mehr, von Amok laufenden oder in Ohnmacht fallenden Anstehenden einmal abgesehen.
Was auch daran liegt, dass der nächste bahneigene EDV-Techniker in einer anderen Stadt sitzt und man ihn nicht anrufen kann. Das heißt, Heidemarie Wessenhagen und Jessica Schipp könnten ihn natürlich anrufen. Und er könnte auch, wenn er einen guten Tag hat, online auf das System zugreifen (sofern das System einen guten Tag hat und ihn lässt) und den Bug beheben. Heidemarie Wessenhagen und Jessica Schipp würden ihn aber nicht im Traum um Hilfe bitten: Der EDV-Techniker kommt aus dem strukturschwachen Franken, und allein sein rollendes R ist für Heidemarie Wessenhagen deutlicher Ausweis einer arroganten, präpotenten Jungmachoattitüde. Jessica Schipp hingegen weiß sehr genau, dass der Techniker kein Jungmacho ist, sondern, wie sie anlässlich einer ihr sehr peinlichen Kurzaffäre herausfand, ein furchtbarer Langweiler, der im Kofferraum seines Dienstkombis getragene, übel riechende Synthetikhemden hortet
Die beiden Schalterfrauen sind also fest entschlossen, lieber die Verzweiflung ihrer Kunden zu ertragen (mithilfe von Beamten der Bundespolizei, die einen Kordon vor den Schaltern bilden). Durchaus mit einer gewissen Berechtigung: Kommt es angesichts der von den hier Versammelten bereits angehäuft en Wartezeit wirklich noch auf läppische anderthalb Stunden an? Dann nämlich - in der mittlerweile geschätzte 500 Meter langen Warteschlange kämpft trotz wiederholten Tränengaseinsatzes mittlerweile jeder gegen jeden - fällt Heidemarie Wessenhagen ein, dass es fast 17.22 Uhr ist und es gleich beim Bäcker das Brot vom Vortag zum Supersparpreis gibt. Und sie schließt das DB-Kundenzentrum.
Sie können auch das unverschämte Glück haben, am schnelleren Schalter von Heidemarie Wessenhagen zu landen - zumindest bis zum Börsengang, denn danach werden alle erfahreneren Mitarbeiter den neuen Großaktionären (die von Geburt an über Chauffeure verfügen und nie in einem Kundenzentrum anstehen mussten) viel zu teuer sein. Heidemarie Wessenhagen wäre auch deshalb die bessere Alternative, weil Sie von ihr frei heraus ein Ticket nach Hodenhagen verlangen könnten, statt herumstottern zu müssen, Sie wollten nach Offenburg, bloß weil Jessica Schipp sich von Ihnen angemacht fühlen und Sie schreiend des Schalters verweisen könnte. Doch noch bevor Sie den Mund öffnen, wird Heidemarie Wessenhagen aufstehen, um Jessica Schipp zu helfen. Oder um vor der Tür in der Sonne ihre nach 27 Jahren im Job wahrlich verdiente Pause zu nehmen. An ihrer Stelle erscheint nach kaum zehn bis fünfzehn Minuten - leicht missmutig, denn draußen scheint die Sonne, hier drinnen hingegen hat sie es mit lauter Typen zu tun, die irgendetwas von ihr wollen - Jessica Schipp.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autoren: Lutz Schumacher , Mark Spörrle
- 376 Seiten, Maße: 13 x 19,4 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828955215
- ISBN-13: 9783828955219
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