September
Fata Morgana. Roman
Zwei Väter und zwei Töchter, zwei parallele Lebensgeschichten in den USA und im Irak. Ihre Schauplätze sind weit entfernt, und doch verbinden sie zwei politische Ereignisse: Sabrina stirbt am 11. September 2001 im New Yorker World Trade Center, während Muna...
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Produktinformationen zu „September “
Klappentext zu „September “
Zwei Väter und zwei Töchter, zwei parallele Lebensgeschichten in den USA und im Irak. Ihre Schauplätze sind weit entfernt, und doch verbinden sie zwei politische Ereignisse: Sabrina stirbt am 11. September 2001 im New Yorker World Trade Center, während Muna 2004 in Bagdad bei einem Bombenattentat ums Leben kommt. Thomas Lehr begibt sich in seinem grandiosen, vielschichtigen Werk auf eine literarische Grenzwanderung zwischen zwei Kulturen. In einer verdichteten, lyrischen Sprache erzählt "September" vom Islam, von Öl, Terror und Krieg und von zwei Frauen, die stellvertretend für die Opfer dieses Konflikts stehen.
Lese-Probe zu „September “
September von Thomas LehrMuna
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Unsere Geschichte hängt in der Luft in der Nacht. Schwester denn du beendest sie nicht ihr seidener Faden hält unser Leben unsichtbar im Dunkel wer ihn zerschneidet braucht es nicht gewusst zu haben immer schon wunderte es mich weshalb es den König nicht störte dass Dinarasad jede Nacht unter seinem Bett lag und ich fragte mich auch um was für ein Bett es sich handelte damit sie darunter liegen konnte ich denke es mir oben wie einen kleinen Palast aus Seidenkissen Flamingo-federn schwellendem PurpurRosenblättern und Zungen und darunter den Staub die Knochen die Spinnweben ich habe keine Ahnung wie sie die Schlafstätten der Könige bauten im Inselreich von Indien und China im Fernen Osten in dem es noch exotischere Märchen geben soll als hier in Bagdad nirgendwo fantasiert man besser als unter dem mächtigen Bett meines Großvaters (ich kannte ihn nicht er starb ein Jahr vor meiner Geburt und war eine Art Radio- und Fernsehkönig) in seinem Haus in Wasiriya in dem ich mit Sami Verstecken spielte um auch ihn so oft unter
jenem Bett zu finden in dem meine Großmutter alleine schlief schon seit mehr als tausend Nächten an jenem Tag vor drei Wochen an dem ich siebzehnjährig nur aus Spaß noch einmal das Versteckspiel wiederholte (allein) dieses Sich-Begraben am helllichten Tag Skorpion im Wüstensand während draußen im Innenhof seit Stunden die Hochzeitsgesellschaft tafelt trinkt
tanzt liege ich noch einmal unter dem nach Rosenwasser Lavendelsträußchen Moder und getrockneten Orangenschalen riechenden Bett der Spaß den ich mir machte war aber nur die Flucht vor der Flucht es war doch so dass ich den kalt triefenden Blick (Spucke auf Eiswürfeln) des Majors nicht mehr ertrug dieses angeblichen Freundes des zu allem lächelnden Bräutigams meiner Schwester still lag ich unter dem Lattenrost im Grab der verwitweten Frauen ich wünschte mir Sami an meine Seite noch einmal als Zehn- oder Zwölfjährigen vergnügt ohne Angst zu allem bereit dann hätten wir dem Major heimlich Salz in den Arrak geschüttet oder gar hineingespuckt in den Nebel den er trinkt das Glas strahlte im Innenhof für eine Sekunde so leuchtend weiß auf wie das perlenbesetzte Kleid meiner Schwester Täubchen sagte er zu mir wie zu einem Kind und streifte scheinbar versehentlich mit dem Ellbogen meine Brust Täubchen und ich sah den kurdischen Jungen am Rand des Saadun-Parks vor mir der die Federn aus einer von einem Auto angefahrenen Taube riss aus mir als liefe das Blut aus meinen Brustwarzen die ich jetzt mit flachen Händen schütze während der Rost unter der großen Matratze sich biegt Schwester fast stößt er mir ins Gesicht auch dich nennt er Täubchen Jasmin diese Stimme gerade als ich unter dem Bett wieder hervorkriechen wollte ich muss dich jetzt haben heute hier als Braut es ist vielleicht das letzte Mal glaub mir ach was Kasim wird nichts merken ich werde mit ihm saufen bis er seinen Hosenschlitz nicht mehr aufkriegt leg dich doch mein Täubchen und wie du muss ich die Beine öffnen die Knie nach außen drehen den Kopf abwenden als wollten mich die schwingenden Latten (grau staubig hart) küssen mir Nase und Zähne brechen ihr das Ungeheuer gegürtet mit federnden Spanten der König Tod in dir sein Pfahl ich sah ihn nur als Stein Onyx eines Gottes in einer Vitrine und als schlackerndes Anhängsel meines Bruders bevor er zur Schule ging wiegt er dich (von innen) was weiß er schon von deinen Schätzen Schwester was für ein stöhnendes Kamel ihr geworden seid in einer Wüstennacht Kamel mit zwei gegenüberliegenden Buckeln Tauben in der Nacht weiß schwarz schwarz weiß Nacht vernagelt mit ächzendem Holz brecht nicht die Knochen meines Gesichts meine Rippen unter fröstelnder Haut unter dem Ansturm des Rosts des Saurierbrustkastens in dem ihr wütet Rippe an Rippe ich spüre euer Herz das Herz eines roten Ifrit es könnte ein Schiffskiel sein der über mich hinwegfährt der ganze Rumpf eines Schiffs der Lattenrost zurechtgebogen neu verfugt vergrößert hoch in der Luft Schwester euer Bett ist das Segelschiff deiner verräterischen Liebe in einem rauschenden Himmel hinter meinen geschlossenen Lidern sehe ich unendlich weit als wäre eure Dau von einem Hafen inmitten der Wüste direkt in den Himmel ausgelaufen Sand trockene Körner rieseln auf meine Wangen welche Figuren nur bewegen sich in den geblähten Segeln unter den steilen Rahen machtvoll bläst uns der Wind hinauf
oder zieht euch die Gier des Königs der in grünem Öl badet empor was träume ich es ist nichts es ist nur der Major der in meiner Schwester brennt wie hält sie es aus (entweder den Falschen zu heiraten oder sich benutzen zu lassen oder zwischen zwei Lügen zu leben) spritze daneben sagt sie plötzlich so kühl als stünde sie in ihrem Labor neben einem Laboranten
mit einer Destillierflasche in der Hand während der Taubenschlächter den siebten Himmel durchpflügt unter mir die ich unter eurem Kiel treibe wie der helle Schatten eures Ankers
sind sechs Himmel und sieben Erden auf dem Rücken des Stiers der die Hufe auf den Fisch gestellt hat im letzten Wasser des schwarzen Meeres das auf der Dunkelheit ruht vergiss alles vergiss alles ich müsste jetzt meine Stimme erheben und sagen: Erzähl mir eine Geschichte
Schwester aber du bist in einem anderen Land Sabrina an einem leuchtenden Morgen beim Frühstück im Haus auf Long Island mit Blick auf einen Streifen Sand einen Streifen Meer eine schmale Himmelslinie die Flagge Sommer im weißen Lackrahmen eines Küchenfensters es ist ein schön hinausgedehnter Sommer ein Immer-noch-Sommer fast wolkenlos mit dem Versprechen auf erträgliche Hitze an diesem Tag die Haut die Knochen noch durchglüht von Erinnerung der Duft von Sonnenmilch und Gras Sandkörnchen im Ohr unter den Fingernägeln zwischen den Zehen aber warten wir nicht mit der ersten Geschichte des ersten Tages während du unter uns dahinfliegst mit dem Rücken zur Erde unter dem Kiel des Himmelsschiffs meine Mutter Amanda (zwei Wochen ist es her) sie war rasch aus ihrem Sportwagen gestiegen und hatte die Handbremse nicht oder nicht genügend angezogen so dass er leer und lautlos wie ein Spielzeugauto rückwärts die Auffahrt hinabrollte zwischen einem radelnden Jungen und einem gelben Lieferwagen hindurch über die vollkommen ruhige Straße genau zwischen die Pfosten der Einfahrt des gegenüberliegenden Hauses und dort auch in die Garage hinein wie perfekt einparkend jedoch viel zu schnell auf die Werkbank voller Flaschen Lackdosen Kanister mit Säuren und Lösungsmitteln zu und die Erinnerung an jenen Tag verwandelt sich mit einem ohrenbetäubenden Knall (die Rückwand der Garage vielleicht auch die seitliche Fensterreihe die Wellenfläche des Dachs wie ein berstender Teich) zu einer glühenden geballten Faust ich besuche dich durch einen Turm aus Feuer Schwester so leicht wie nur ein Gedanke so wie ein helles weißes Licht die Laser-Fee aus gleichmäßig tanzenden Atomen mitten durch eine Explosion durch eine Feuersbrunst durch einen kochenden
Planeten eilen kann unser fliegendes Schiff verwandelt sich zu weißer Asche hoch in der Luft leise segelnd vorsichtiger als alles andere auf der Welt es zerfällt so rasch wie eine Idee eine Geschichte ein Leben Schwester vieles stellen wir uns falsch vor nur weil wir zu wenig Geschichten hörten unter dem Bett durch die Matratze siehst du vielleicht nur dich selbst auf der anderen Seite in meiner weißen Haut als deinen eigenen Traum vom tödlichen König wir müssen alle Geschichten kennen den großen Reigen auf der Erde dann siehst du auch
den dunkelblonden Jungen der aus dem Haus läuft dessen Garage in Flammen aufging wie durch den Schleier eines Traums er ist zu Tode erschrocken er glaubt vielleicht ein Krieg habe begonnen brennendes Öl ein Feuerengel der mit einer weiteren Explosion die Glasfront des Wintergartens sprengt ein Bote der immer das Ziel findet aber noch einmal vertrieben werden kann denn alle helfen mit sämtliche Nachbarn der herbeigeeilte Liebhaber meiner Mutter die Eltern des Jungen die Feuerwehr endlich die hier noch einmal eine leichte Übung hat
niemand ist zu Schaden gekommen man sitzt beieinander neben den gelb gestreiften
Rittern des F. D. N. Y. Erics Mutter neben meiner Mutter zwei vollkommen verschiedene Frauen mit der nahezu gleichen Frisur (sie gehen beide zum besten Damenfriseur der nächsten größeren Stadt und werfen sich in all der Aufregung doch immer wieder einen peinlichen
Spiegelblick zu) die gepflegte mollige Hausfrau aus der Vorabendserie erschrocken und rosarot um Fassung ringend dagegen Amanda aus dem Abendprogramm des Fernsehers Leben wo man kalte schöne Managerinnen zeigt aber sie ist doch ein wenig aufgelöst für ihre Verhältnisse und seltsam heiter Heiterkeit ist der Bote des Schmerzes sagt Emily in meinem Kopf in meiner Brust so leicht und einfach und sie dreht sich gelassen um und verschwindet
in ihrem Zimmer ohne die Tür ganz zu schließen (spucke Blut du bist verletzt!) regelrecht ausgelassen erscheint mir Amanda vielleicht weil ihr endlich einmal etwas schiefgegangen ist und wenn es nur für mich wäre denn ich denke plötzlich dass ich das von ihr lernen möchte so elegant so menschlich einfach ein Versagen einzugestehen in der weißen Sommerhose und dem malvenfarbenen T-Shirt in dem offenkundig wird dass ihre von Sommersprossen und Leberflecken gepunkteten Oberarme nicht mehr die Spannung von früher haben so entspannt entwaffnend so als könnte sie im nächsten Moment auch den freundlichen untersetzten
Mann mit dem gelichteten Haar und der betont sportlich-lässigen Kleidung diesen wie von sich selbst erfundenen typischen Long-Island-Drehbuchautor vorstellen als gestatten mein Liebhaber Lesley entwaffnend entschuldigend weil er ihrem zweiten Ehemann ähnelt
aber eigentlich weniger gut aussieht als dieser aber ihre Verhältnisse und Manöver stören mich heute nicht so sehr der Brand- und Aschegeruch des Unfalls lässt alles zugleich falsch und richtig erscheinen man weiß einfach nicht mehr was stimmt und lehnt sich müde und doch seltsam erregt in die blaue rauchige Luft so dass man sich leicht an einer fremden Schulter wiederfinden könnte stell dir vor wird Eric in einigen noch ganz unvorstellbaren Tagen zu mir sagen dass sie einfach nur einen Freund braucht jemanden mit dem sie reden
kann wenn dein Stiefvater nicht da ist vielleicht ist das alles nur eine Projektion und er wird grinsend einen Zeigefinger heben also befreie dich lieber selbst und komm mit nach L. A. schließe die Tür von außen statt sie halb geöffnet zu lassen als Abstoßung als Anziehung als Zumutung für deine irritierte Umwelt aber jetzt reden wir zum ersten Mal miteinander nachdem wir uns zuvor nur verstohlen beobachtet und verlegen gegrüßt haben die Nachtigall fliegt zur Rose Schwester er hat so freundlich unordentlich geschnittenes Haar seine Ohren stehen zu weit ab so dass er nicht zu hübsch wirkt nicht zu glatt er hat ungleich lange Fingernägel (rechts länger der Mann spielt Gitarre Watson) keine Haare im Brustausschnitt seines hellblauen kurzärmligen Hemdes der Feuerwehrzug steht ruhig vor unserem Haus die Versicherungsgesellschaft werde alles regeln er könne sich schon einmal ein neues kaufen
sagt meine Mutter und Erics linke Schulter berührt mich tatsächlich als wir am Ende noch einmal das unsinnig verbogene unter dem Ruß glänzende Skelett seines Rads betrachten du könntest dir vorstellen ein Wesen aus Asche und verkohlten Resten zu sein ein fast nicht zusammenhängender Körper der in dem Augenblick stirbt in dem ein Lebewesen auf ihn tritt der drei Sekunden existiert oder auch dreitausend Jahre wie heißt du eigentlich fragt Eric sanft
Begrüßung
Mein Schleier, Liebster, ist mein Haar.
Begrüßung
Mein Schleier, Liebster, ist mein Haar.
Lüfte ihn und sieh.
Meine Lippen flüstern dich.
Berühre sie und flieh!
Martin die Glücklichen sollten klug sein und fünfmal am Tag (wie ein guter Moslem betet) spüren dass ihr Leben gelingt wie ein Kinderspiel so hätten sie noch immer einige gute Stunden vor der Vertreibung ich atme ruhig ich gehe in die Küche und koche Kaffee mit einer deutschen Maschine die ich noch vor Kurzem so reflexhaft in der Ipswich-Mall als wahrscheinlich gute Qualität kaufte wie es die meisten Amerikaner auch getan hätten ich gestehe mir ein (entgegen dem Widerwillen einer unvorstellbar nahen Zukunft) dass ich froh bin das Haus wieder für mich zu haben denn obwohl ich noch zu wenig über Mohammed und Marianne weiß habe ich Suleika schon längst gefunden und bin ihr erlegen und staune und bin dankbar für den Sturm den sie (auch nach drei Jahren noch ganz leicht) in mir entfacht für die plötzlichen Anfälle von ruhiger gelassen einige Bücher oder einen Stuhl beiseite schiebender eine Schürze den Rock ein sonnengebräuntes weiches Bein hebender Gastlichkeit in der Küche oder auf der schmalen Treppe (dort verunglückend und wie halb noch gefesselte
Flüchtlinge aus der Gefangenschaft unserer College-Professoren-Seriosität in die verblüffte junggesellige Arroganz meines Leseschlafzimmers stolpernd) jetzt bin ich noch und schon
ganz allein ich ärgere mich (zum schrecklichen letzten Mal) über Sabrina über ein abhanden gekommenes Buch ich stehe (schon versöhnt) in ihrem Zimmer ihrem einstigen Mädchenzimmer seit sie in Cambridge studiert ist sie nur selten hier gewesen alles scheint unverändert wie konserviert in dem eigenartigen Übergangszustand zwischen chaotisch-
märchenhafter Mädchenwelt (frühe Poesiealben und alte Disney-Comics treue Plüschtiere das Poster eines weiblichen Rockstars) und der erst auf den zweiten Blick eingängigen gewissermaßen heimlichen Ordnung einer jungen Frau (chronologisch eingestellte National-Geographic-Magazine Lehrbücher Songbooks Romane Lyrikanthologien PC-Manuale CD-Stapel) es gibt aber noch den jetzt fast freien Platz im Bücherregal unter den sie auf meinen ironischen Vorschlag vor einigen Jahren hin ein handbeschriebenes Etikett klebte Geklaut von Papa hier finde ich auch meine Hafis-Ausgabe die einzige die halbwegs erfolgreich versucht die arabischen Metren ins Deutsche zu übertragen und dann werde ich sanft wie von einer Mädchenhand (es ist die einer jungen Erwachsenen) zurückgedrängt aus dem schon versiegelten schon unberührbaren Bereich und wende mich vergnügt ab eine Tochter die dir Bücher stibitzt ist eine Gestalt aus einem Märchen das du dir früher nicht einmal erträumen
konntest ich werde das Frühstück verschieben es ist der fast wolkenlose Morgen des letzten Tags es ist acht Uhr ich schnüre meine Laufschuhe ich nestle an den Bügeln meiner Sportbrille zwischen Ohrmuscheln und kurz geschorenem Schläfenhaar (silbrig gestreift wie ein Dachspapafell sagte sie) und trete auf die Holzveranda hinaus mit Blick über eine große Rasenfläche auf die North Pleasant Street der Vorgeschmack von Herbst liegt schon auf den
Lippen ich denke mit Vorfreude und einer gewissen andächtigen Hilflosigkeit oder Ehrfurcht an die fünfte Jahreszeit die die Hügel rings um die Stadt mit feurigen Laubdecken überziehen wird (das Blut des Großen Bären wie es in den Indianerlegenden heißt) mit Wirbeln aus honigfarbenen grell orangenen fleischroten violetten hellbraunen kastanienbraunen umbrafarbenen Blättern die auf den blauen Spiegelbahnen der Straßen treiben die als raschelndes Flammenmeer die weißen Holzhäuser einschließen ihnen einen fast
erhabenen Glanz verleihen als wären ihre lackierten Bretter Marmor als hielten die rosafarbenen Steine und der Zuckerbäckergips an den städtischen Gebäuden jahrtausendelang oft setze ich mich dann ins Auto und fahre aus der Stadt zum Metacomet Trail oder auch bis zum Holyoke Park ich laufe viel und meine längsten und einsamsten Strecken in dieser
traumlos schönen Jahreszeit die ein Glück durchsetzt mit unfassbarer leiser Verzweiflung für mich darstellt schon immer vielleicht notwendigerweise einfach nur so etwas wie ein Geburtsfehler des nein eigentlich jeden Idylls wie die feinen Bruchlinien die Haarrisse die sich nun im tiefen Muranoglas des Himmels abzeichnen nicht wegzuwischen nicht zu beseitigen außer durch Vergessen oder es sind Risse im Glaskörper meines Auges Risse aus der Zukunft weil du nicht erträgst wie bruchlos die Vergangenheit dir einmal erscheinen konnte als ich die Hafis-Ausgabe in Sabrinas Zimmer suchte fiel mein Blick zum ersten Mal auf einen Schuhkarton auf dessen Deckel sie zwei Postkarten befestigt hatte eine zeigte in Schwarzweiß eine ägyptische Sängerin mit einer Art Fez auf dem Kopf wohl eine Aufnahme aus den fünfziger Jahren während die andere farbig und aktuell war ein Werbegag eines kalifornischen Winzers unter der Aufschrift Really Dry Red Wines sah man eine
Wüstenlandschaft und im Vordergrund an einem steinernen Tisch einen Orientalen im Burnus mit kurz geschorenem weißen Haar und schwarzem Schnurrbart der auf ein leuchtend rotes Glas Wein blickt ein ausdrucksvoller ernster Mann in meinem Alter etwa und es schien mir nicht zufällig denn vor Monaten hatte ich Sabrina erzählt dass ich jemanden bräuchte um Zutritt zum Orient zu finden und dabei an einen Kollegen vom Middle Eastern Studies Department gedacht den ich endlich ansprechen müsste einer kulturellen Hilfestellung wegen ich glaubte ich bräuchte nur einen Blick (nicht den Inhalt der Schachtel) einen Ratschlag eine
Bücherliste aber jetzt benötige ich viel mehr als einen Kollegen nämlich Hafis (einen Bruder)
auf einem Holzstuhl vor dem steinernen Tisch das Glas gefüllt mit dem flüssigen Rubin Herzblut des Engels der uns einmal die Augen öffnen wird am Ende des Schlafes Leben ich brauche jemanden der mir das alles zu verstehen hilft eine
Spiegelung (1)
In meinem Glas das Spiegelbild,
das nicht erklärt, wie es entstand.
Ein Ornament aus Zeit, aus Licht,
der vage Puls in meiner Hand.
In meinem Haus ein Skorpion,
der sich den weißen Stachel JETZT
tief in den eignen Nacken stieß,
bis ihn im Schlaf das Flugzeug fand.
Auf einem Himmelsblatt aus Wein
schwebt still von Ost nach West der Traum.
Der Flug, der Stahl, das Öl, der Tod.
Ein Finger schreibt es an die Wand:
Aus Blut wird Glas, aus Glas wird Sand.
Unsere Geschichte hängt in der Luft in der Nacht. Schwester denn du beendest sie nicht ihr seidener Faden hält unser Leben unsichtbar im Dunkel wer ihn zerschneidet braucht es nicht gewusst zu haben immer schon wunderte es mich weshalb es den König nicht störte dass Dinarasad jede Nacht unter seinem Bett lag und ich fragte mich auch um was für ein Bett es sich handelte damit sie darunter liegen konnte ich denke es mir oben wie einen kleinen Palast aus Seidenkissen Flamingo-federn schwellendem PurpurRosenblättern und Zungen und darunter den Staub die Knochen die Spinnweben ich habe keine Ahnung wie sie die Schlafstätten der Könige bauten im Inselreich von Indien und China im Fernen Osten in dem es noch exotischere Märchen geben soll als hier in Bagdad nirgendwo fantasiert man besser als unter dem mächtigen Bett meines Großvaters (ich kannte ihn nicht er starb ein Jahr vor meiner Geburt und war eine Art Radio- und Fernsehkönig) in seinem Haus in Wasiriya in dem ich mit Sami Verstecken spielte um auch ihn so oft unter
jenem Bett zu finden in dem meine Großmutter alleine schlief schon seit mehr als tausend Nächten an jenem Tag vor drei Wochen an dem ich siebzehnjährig nur aus Spaß noch einmal das Versteckspiel wiederholte (allein) dieses Sich-Begraben am helllichten Tag Skorpion im Wüstensand während draußen im Innenhof seit Stunden die Hochzeitsgesellschaft tafelt trinkt
tanzt liege ich noch einmal unter dem nach Rosenwasser Lavendelsträußchen Moder und getrockneten Orangenschalen riechenden Bett der Spaß den ich mir machte war aber nur die Flucht vor der Flucht es war doch so dass ich den kalt triefenden Blick (Spucke auf Eiswürfeln) des Majors nicht mehr ertrug dieses angeblichen Freundes des zu allem lächelnden Bräutigams meiner Schwester still lag ich unter dem Lattenrost im Grab der verwitweten Frauen ich wünschte mir Sami an meine Seite noch einmal als Zehn- oder Zwölfjährigen vergnügt ohne Angst zu allem bereit dann hätten wir dem Major heimlich Salz in den Arrak geschüttet oder gar hineingespuckt in den Nebel den er trinkt das Glas strahlte im Innenhof für eine Sekunde so leuchtend weiß auf wie das perlenbesetzte Kleid meiner Schwester Täubchen sagte er zu mir wie zu einem Kind und streifte scheinbar versehentlich mit dem Ellbogen meine Brust Täubchen und ich sah den kurdischen Jungen am Rand des Saadun-Parks vor mir der die Federn aus einer von einem Auto angefahrenen Taube riss aus mir als liefe das Blut aus meinen Brustwarzen die ich jetzt mit flachen Händen schütze während der Rost unter der großen Matratze sich biegt Schwester fast stößt er mir ins Gesicht auch dich nennt er Täubchen Jasmin diese Stimme gerade als ich unter dem Bett wieder hervorkriechen wollte ich muss dich jetzt haben heute hier als Braut es ist vielleicht das letzte Mal glaub mir ach was Kasim wird nichts merken ich werde mit ihm saufen bis er seinen Hosenschlitz nicht mehr aufkriegt leg dich doch mein Täubchen und wie du muss ich die Beine öffnen die Knie nach außen drehen den Kopf abwenden als wollten mich die schwingenden Latten (grau staubig hart) küssen mir Nase und Zähne brechen ihr das Ungeheuer gegürtet mit federnden Spanten der König Tod in dir sein Pfahl ich sah ihn nur als Stein Onyx eines Gottes in einer Vitrine und als schlackerndes Anhängsel meines Bruders bevor er zur Schule ging wiegt er dich (von innen) was weiß er schon von deinen Schätzen Schwester was für ein stöhnendes Kamel ihr geworden seid in einer Wüstennacht Kamel mit zwei gegenüberliegenden Buckeln Tauben in der Nacht weiß schwarz schwarz weiß Nacht vernagelt mit ächzendem Holz brecht nicht die Knochen meines Gesichts meine Rippen unter fröstelnder Haut unter dem Ansturm des Rosts des Saurierbrustkastens in dem ihr wütet Rippe an Rippe ich spüre euer Herz das Herz eines roten Ifrit es könnte ein Schiffskiel sein der über mich hinwegfährt der ganze Rumpf eines Schiffs der Lattenrost zurechtgebogen neu verfugt vergrößert hoch in der Luft Schwester euer Bett ist das Segelschiff deiner verräterischen Liebe in einem rauschenden Himmel hinter meinen geschlossenen Lidern sehe ich unendlich weit als wäre eure Dau von einem Hafen inmitten der Wüste direkt in den Himmel ausgelaufen Sand trockene Körner rieseln auf meine Wangen welche Figuren nur bewegen sich in den geblähten Segeln unter den steilen Rahen machtvoll bläst uns der Wind hinauf
oder zieht euch die Gier des Königs der in grünem Öl badet empor was träume ich es ist nichts es ist nur der Major der in meiner Schwester brennt wie hält sie es aus (entweder den Falschen zu heiraten oder sich benutzen zu lassen oder zwischen zwei Lügen zu leben) spritze daneben sagt sie plötzlich so kühl als stünde sie in ihrem Labor neben einem Laboranten
mit einer Destillierflasche in der Hand während der Taubenschlächter den siebten Himmel durchpflügt unter mir die ich unter eurem Kiel treibe wie der helle Schatten eures Ankers
sind sechs Himmel und sieben Erden auf dem Rücken des Stiers der die Hufe auf den Fisch gestellt hat im letzten Wasser des schwarzen Meeres das auf der Dunkelheit ruht vergiss alles vergiss alles ich müsste jetzt meine Stimme erheben und sagen: Erzähl mir eine Geschichte
Schwester aber du bist in einem anderen Land Sabrina an einem leuchtenden Morgen beim Frühstück im Haus auf Long Island mit Blick auf einen Streifen Sand einen Streifen Meer eine schmale Himmelslinie die Flagge Sommer im weißen Lackrahmen eines Küchenfensters es ist ein schön hinausgedehnter Sommer ein Immer-noch-Sommer fast wolkenlos mit dem Versprechen auf erträgliche Hitze an diesem Tag die Haut die Knochen noch durchglüht von Erinnerung der Duft von Sonnenmilch und Gras Sandkörnchen im Ohr unter den Fingernägeln zwischen den Zehen aber warten wir nicht mit der ersten Geschichte des ersten Tages während du unter uns dahinfliegst mit dem Rücken zur Erde unter dem Kiel des Himmelsschiffs meine Mutter Amanda (zwei Wochen ist es her) sie war rasch aus ihrem Sportwagen gestiegen und hatte die Handbremse nicht oder nicht genügend angezogen so dass er leer und lautlos wie ein Spielzeugauto rückwärts die Auffahrt hinabrollte zwischen einem radelnden Jungen und einem gelben Lieferwagen hindurch über die vollkommen ruhige Straße genau zwischen die Pfosten der Einfahrt des gegenüberliegenden Hauses und dort auch in die Garage hinein wie perfekt einparkend jedoch viel zu schnell auf die Werkbank voller Flaschen Lackdosen Kanister mit Säuren und Lösungsmitteln zu und die Erinnerung an jenen Tag verwandelt sich mit einem ohrenbetäubenden Knall (die Rückwand der Garage vielleicht auch die seitliche Fensterreihe die Wellenfläche des Dachs wie ein berstender Teich) zu einer glühenden geballten Faust ich besuche dich durch einen Turm aus Feuer Schwester so leicht wie nur ein Gedanke so wie ein helles weißes Licht die Laser-Fee aus gleichmäßig tanzenden Atomen mitten durch eine Explosion durch eine Feuersbrunst durch einen kochenden
Planeten eilen kann unser fliegendes Schiff verwandelt sich zu weißer Asche hoch in der Luft leise segelnd vorsichtiger als alles andere auf der Welt es zerfällt so rasch wie eine Idee eine Geschichte ein Leben Schwester vieles stellen wir uns falsch vor nur weil wir zu wenig Geschichten hörten unter dem Bett durch die Matratze siehst du vielleicht nur dich selbst auf der anderen Seite in meiner weißen Haut als deinen eigenen Traum vom tödlichen König wir müssen alle Geschichten kennen den großen Reigen auf der Erde dann siehst du auch
den dunkelblonden Jungen der aus dem Haus läuft dessen Garage in Flammen aufging wie durch den Schleier eines Traums er ist zu Tode erschrocken er glaubt vielleicht ein Krieg habe begonnen brennendes Öl ein Feuerengel der mit einer weiteren Explosion die Glasfront des Wintergartens sprengt ein Bote der immer das Ziel findet aber noch einmal vertrieben werden kann denn alle helfen mit sämtliche Nachbarn der herbeigeeilte Liebhaber meiner Mutter die Eltern des Jungen die Feuerwehr endlich die hier noch einmal eine leichte Übung hat
niemand ist zu Schaden gekommen man sitzt beieinander neben den gelb gestreiften
Rittern des F. D. N. Y. Erics Mutter neben meiner Mutter zwei vollkommen verschiedene Frauen mit der nahezu gleichen Frisur (sie gehen beide zum besten Damenfriseur der nächsten größeren Stadt und werfen sich in all der Aufregung doch immer wieder einen peinlichen
Spiegelblick zu) die gepflegte mollige Hausfrau aus der Vorabendserie erschrocken und rosarot um Fassung ringend dagegen Amanda aus dem Abendprogramm des Fernsehers Leben wo man kalte schöne Managerinnen zeigt aber sie ist doch ein wenig aufgelöst für ihre Verhältnisse und seltsam heiter Heiterkeit ist der Bote des Schmerzes sagt Emily in meinem Kopf in meiner Brust so leicht und einfach und sie dreht sich gelassen um und verschwindet
in ihrem Zimmer ohne die Tür ganz zu schließen (spucke Blut du bist verletzt!) regelrecht ausgelassen erscheint mir Amanda vielleicht weil ihr endlich einmal etwas schiefgegangen ist und wenn es nur für mich wäre denn ich denke plötzlich dass ich das von ihr lernen möchte so elegant so menschlich einfach ein Versagen einzugestehen in der weißen Sommerhose und dem malvenfarbenen T-Shirt in dem offenkundig wird dass ihre von Sommersprossen und Leberflecken gepunkteten Oberarme nicht mehr die Spannung von früher haben so entspannt entwaffnend so als könnte sie im nächsten Moment auch den freundlichen untersetzten
Mann mit dem gelichteten Haar und der betont sportlich-lässigen Kleidung diesen wie von sich selbst erfundenen typischen Long-Island-Drehbuchautor vorstellen als gestatten mein Liebhaber Lesley entwaffnend entschuldigend weil er ihrem zweiten Ehemann ähnelt
aber eigentlich weniger gut aussieht als dieser aber ihre Verhältnisse und Manöver stören mich heute nicht so sehr der Brand- und Aschegeruch des Unfalls lässt alles zugleich falsch und richtig erscheinen man weiß einfach nicht mehr was stimmt und lehnt sich müde und doch seltsam erregt in die blaue rauchige Luft so dass man sich leicht an einer fremden Schulter wiederfinden könnte stell dir vor wird Eric in einigen noch ganz unvorstellbaren Tagen zu mir sagen dass sie einfach nur einen Freund braucht jemanden mit dem sie reden
kann wenn dein Stiefvater nicht da ist vielleicht ist das alles nur eine Projektion und er wird grinsend einen Zeigefinger heben also befreie dich lieber selbst und komm mit nach L. A. schließe die Tür von außen statt sie halb geöffnet zu lassen als Abstoßung als Anziehung als Zumutung für deine irritierte Umwelt aber jetzt reden wir zum ersten Mal miteinander nachdem wir uns zuvor nur verstohlen beobachtet und verlegen gegrüßt haben die Nachtigall fliegt zur Rose Schwester er hat so freundlich unordentlich geschnittenes Haar seine Ohren stehen zu weit ab so dass er nicht zu hübsch wirkt nicht zu glatt er hat ungleich lange Fingernägel (rechts länger der Mann spielt Gitarre Watson) keine Haare im Brustausschnitt seines hellblauen kurzärmligen Hemdes der Feuerwehrzug steht ruhig vor unserem Haus die Versicherungsgesellschaft werde alles regeln er könne sich schon einmal ein neues kaufen
sagt meine Mutter und Erics linke Schulter berührt mich tatsächlich als wir am Ende noch einmal das unsinnig verbogene unter dem Ruß glänzende Skelett seines Rads betrachten du könntest dir vorstellen ein Wesen aus Asche und verkohlten Resten zu sein ein fast nicht zusammenhängender Körper der in dem Augenblick stirbt in dem ein Lebewesen auf ihn tritt der drei Sekunden existiert oder auch dreitausend Jahre wie heißt du eigentlich fragt Eric sanft
Begrüßung
Mein Schleier, Liebster, ist mein Haar.
Begrüßung
Mein Schleier, Liebster, ist mein Haar.
Lüfte ihn und sieh.
Meine Lippen flüstern dich.
Berühre sie und flieh!
Martin die Glücklichen sollten klug sein und fünfmal am Tag (wie ein guter Moslem betet) spüren dass ihr Leben gelingt wie ein Kinderspiel so hätten sie noch immer einige gute Stunden vor der Vertreibung ich atme ruhig ich gehe in die Küche und koche Kaffee mit einer deutschen Maschine die ich noch vor Kurzem so reflexhaft in der Ipswich-Mall als wahrscheinlich gute Qualität kaufte wie es die meisten Amerikaner auch getan hätten ich gestehe mir ein (entgegen dem Widerwillen einer unvorstellbar nahen Zukunft) dass ich froh bin das Haus wieder für mich zu haben denn obwohl ich noch zu wenig über Mohammed und Marianne weiß habe ich Suleika schon längst gefunden und bin ihr erlegen und staune und bin dankbar für den Sturm den sie (auch nach drei Jahren noch ganz leicht) in mir entfacht für die plötzlichen Anfälle von ruhiger gelassen einige Bücher oder einen Stuhl beiseite schiebender eine Schürze den Rock ein sonnengebräuntes weiches Bein hebender Gastlichkeit in der Küche oder auf der schmalen Treppe (dort verunglückend und wie halb noch gefesselte
Flüchtlinge aus der Gefangenschaft unserer College-Professoren-Seriosität in die verblüffte junggesellige Arroganz meines Leseschlafzimmers stolpernd) jetzt bin ich noch und schon
ganz allein ich ärgere mich (zum schrecklichen letzten Mal) über Sabrina über ein abhanden gekommenes Buch ich stehe (schon versöhnt) in ihrem Zimmer ihrem einstigen Mädchenzimmer seit sie in Cambridge studiert ist sie nur selten hier gewesen alles scheint unverändert wie konserviert in dem eigenartigen Übergangszustand zwischen chaotisch-
märchenhafter Mädchenwelt (frühe Poesiealben und alte Disney-Comics treue Plüschtiere das Poster eines weiblichen Rockstars) und der erst auf den zweiten Blick eingängigen gewissermaßen heimlichen Ordnung einer jungen Frau (chronologisch eingestellte National-Geographic-Magazine Lehrbücher Songbooks Romane Lyrikanthologien PC-Manuale CD-Stapel) es gibt aber noch den jetzt fast freien Platz im Bücherregal unter den sie auf meinen ironischen Vorschlag vor einigen Jahren hin ein handbeschriebenes Etikett klebte Geklaut von Papa hier finde ich auch meine Hafis-Ausgabe die einzige die halbwegs erfolgreich versucht die arabischen Metren ins Deutsche zu übertragen und dann werde ich sanft wie von einer Mädchenhand (es ist die einer jungen Erwachsenen) zurückgedrängt aus dem schon versiegelten schon unberührbaren Bereich und wende mich vergnügt ab eine Tochter die dir Bücher stibitzt ist eine Gestalt aus einem Märchen das du dir früher nicht einmal erträumen
konntest ich werde das Frühstück verschieben es ist der fast wolkenlose Morgen des letzten Tags es ist acht Uhr ich schnüre meine Laufschuhe ich nestle an den Bügeln meiner Sportbrille zwischen Ohrmuscheln und kurz geschorenem Schläfenhaar (silbrig gestreift wie ein Dachspapafell sagte sie) und trete auf die Holzveranda hinaus mit Blick über eine große Rasenfläche auf die North Pleasant Street der Vorgeschmack von Herbst liegt schon auf den
Lippen ich denke mit Vorfreude und einer gewissen andächtigen Hilflosigkeit oder Ehrfurcht an die fünfte Jahreszeit die die Hügel rings um die Stadt mit feurigen Laubdecken überziehen wird (das Blut des Großen Bären wie es in den Indianerlegenden heißt) mit Wirbeln aus honigfarbenen grell orangenen fleischroten violetten hellbraunen kastanienbraunen umbrafarbenen Blättern die auf den blauen Spiegelbahnen der Straßen treiben die als raschelndes Flammenmeer die weißen Holzhäuser einschließen ihnen einen fast
erhabenen Glanz verleihen als wären ihre lackierten Bretter Marmor als hielten die rosafarbenen Steine und der Zuckerbäckergips an den städtischen Gebäuden jahrtausendelang oft setze ich mich dann ins Auto und fahre aus der Stadt zum Metacomet Trail oder auch bis zum Holyoke Park ich laufe viel und meine längsten und einsamsten Strecken in dieser
traumlos schönen Jahreszeit die ein Glück durchsetzt mit unfassbarer leiser Verzweiflung für mich darstellt schon immer vielleicht notwendigerweise einfach nur so etwas wie ein Geburtsfehler des nein eigentlich jeden Idylls wie die feinen Bruchlinien die Haarrisse die sich nun im tiefen Muranoglas des Himmels abzeichnen nicht wegzuwischen nicht zu beseitigen außer durch Vergessen oder es sind Risse im Glaskörper meines Auges Risse aus der Zukunft weil du nicht erträgst wie bruchlos die Vergangenheit dir einmal erscheinen konnte als ich die Hafis-Ausgabe in Sabrinas Zimmer suchte fiel mein Blick zum ersten Mal auf einen Schuhkarton auf dessen Deckel sie zwei Postkarten befestigt hatte eine zeigte in Schwarzweiß eine ägyptische Sängerin mit einer Art Fez auf dem Kopf wohl eine Aufnahme aus den fünfziger Jahren während die andere farbig und aktuell war ein Werbegag eines kalifornischen Winzers unter der Aufschrift Really Dry Red Wines sah man eine
Wüstenlandschaft und im Vordergrund an einem steinernen Tisch einen Orientalen im Burnus mit kurz geschorenem weißen Haar und schwarzem Schnurrbart der auf ein leuchtend rotes Glas Wein blickt ein ausdrucksvoller ernster Mann in meinem Alter etwa und es schien mir nicht zufällig denn vor Monaten hatte ich Sabrina erzählt dass ich jemanden bräuchte um Zutritt zum Orient zu finden und dabei an einen Kollegen vom Middle Eastern Studies Department gedacht den ich endlich ansprechen müsste einer kulturellen Hilfestellung wegen ich glaubte ich bräuchte nur einen Blick (nicht den Inhalt der Schachtel) einen Ratschlag eine
Bücherliste aber jetzt benötige ich viel mehr als einen Kollegen nämlich Hafis (einen Bruder)
auf einem Holzstuhl vor dem steinernen Tisch das Glas gefüllt mit dem flüssigen Rubin Herzblut des Engels der uns einmal die Augen öffnen wird am Ende des Schlafes Leben ich brauche jemanden der mir das alles zu verstehen hilft eine
Spiegelung (1)
In meinem Glas das Spiegelbild,
das nicht erklärt, wie es entstand.
Ein Ornament aus Zeit, aus Licht,
der vage Puls in meiner Hand.
In meinem Haus ein Skorpion,
der sich den weißen Stachel JETZT
tief in den eignen Nacken stieß,
bis ihn im Schlaf das Flugzeug fand.
Auf einem Himmelsblatt aus Wein
schwebt still von Ost nach West der Traum.
Der Flug, der Stahl, das Öl, der Tod.
Ein Finger schreibt es an die Wand:
Aus Blut wird Glas, aus Glas wird Sand.
... weniger
Autoren-Porträt von Thomas Lehr
Thomas Lehr, 1957 in Speyer geboren, lebt in Berlin. Bei Hanser erschienen u.a. Größenwahn passt in die kleinste Hütte (Kurze Prozesse, 2012), die Novelle Frühling (2019) sowie die Romane September. Fata Morgana (2010), 42 (2013), Zweiwasser (2014), Nabokovs Katze (2016), Schlafende Sonne (2017), Die Erhörung (2021) und Manfred - Bekenntnisse eines Außerirdischen (2023). Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Berliner Literaturpreis, dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Bremer Literaturpreis, dem Spycher-Literaturpreis sowie dem Kranichsteiner Literaturpreis.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Lehr
- 2010, 477 Seiten, Maße: 15,2 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446235574
- ISBN-13: 9783446235571
- Erscheinungsdatum: 16.08.2010
Rezension zu „September “
"Dieser erstaunliche Roman begnügt sich nicht damit, Zeitgeschichte kenntlich zu machen. Er durchdringt sie." Helmut Böttiger, Süddeutsche Zeitung, 16.08.10"Es gäbe noch viel zu rühmen an diesem Buch, das zweifellos das Opus Magnum eines Autors ist, der schon seit langem meisterhaft mit der Zeit spielt. "September. Fata Morgana" ist weit mehr als der deutsche Roman dieses Herbstes: ein grandioses poetisches Epos, das vom Beginn des 21. Jahrhunderts erzählt." Meike Feßmann, Der Tagesspiegel, 12.09.10
"Ein großartiger Roman über den 11. September 2001 und die Jahre danach. Sprachlich und gedanklich ist "September" eine kunstvolle und grundsätzliche Gegenwehr gegen das Leichtgängige, gefährlich Banale in Form und Inhalt." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 16.09.10
"Eine vierstimmige rhapsodische Ballade über den elften September und die Folgen. Ein sprachliches Kunstwerk allerersten Ranges. ... Nichts Geringeres als ein "West-östlicher Diwan" für unsere Zeit." Tilman Krause, Die Welt, 18.09.10
"Thomas Lehr betätigt sich als Brückenbauer zwischen Orient und Okzident. ... Ein erschütternder Roman zum Thema Krieg. Ein großes Risiko ist Thomas Lehr eingegangen. Ein Meisterwerk hat er geschrieben." Die Welt, 02.10.10
"Thomas Lehr, Favorit für den Deutschen Buchpreis, legt mit 'September. Fata Morgana' einen anspruchsvollen Roman vor, der in allen Belangen überzeugt." Simone Fässler, Tages-Anzeiger, 29.09.10
"Es ist ein ungewöhnliches, leidenschaftliches und kühnes Buch, das den Klang archaischer Heldengesänge und orientalischer Märchen mit europäischen Diskursformen - Reflexion, Meditation, Dialog, Elegie - zu einer vielstimmigen Sonate komponiert." Beatrix Langner, Neue Zürcher Zeitung, 05.10.10
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