Sigler, S: EarthCore
Horror der neuen Generation
Der Bergbaukonzern EarthCore hat es auf ein gewaltiges Vorkommen reinen Platinerzes abgesehen, das unter den Bergen von Utah schlummert. Doch als die Arbeiten beginnen, stoßen die Forscher auf ein weitverzweigtes...
Der Bergbaukonzern EarthCore hat es auf ein gewaltiges Vorkommen reinen Platinerzes abgesehen, das unter den Bergen von Utah schlummert. Doch als die Arbeiten beginnen, stoßen die Forscher auf ein weitverzweigtes...
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Produktinformationen zu „Sigler, S: EarthCore “
Horror der neuen Generation
Der Bergbaukonzern EarthCore hat es auf ein gewaltiges Vorkommen reinen Platinerzes abgesehen, das unter den Bergen von Utah schlummert. Doch als die Arbeiten beginnen, stoßen die Forscher auf ein weitverzweigtes Höhlen system unbekannten Ursprungs. Die Archäologin Veronica hält es für die Spur einer vergessenen Zivilisation, die einst ganz Amerika beherrschte. Doch es scheint, als warteten noch weit gewaltigere Schrecken in den finsteren Tunneln.
Der Bergbaukonzern EarthCore hat es auf ein gewaltiges Vorkommen reinen Platinerzes abgesehen, das unter den Bergen von Utah schlummert. Doch als die Arbeiten beginnen, stoßen die Forscher auf ein weitverzweigtes Höhlen system unbekannten Ursprungs. Die Archäologin Veronica hält es für die Spur einer vergessenen Zivilisation, die einst ganz Amerika beherrschte. Doch es scheint, als warteten noch weit gewaltigere Schrecken in den finsteren Tunneln.
Klappentext zu „Sigler, S: EarthCore “
Horror der neuen GenerationDer Bergbaukonzern EarthCore hat es auf ein gewaltiges Vorkommen reinen Platinerzes abgesehen, das unter den Bergen von Utah schlummert. Doch als die Arbeiten beginnen, stoßen die Forscher auf ein weitverzweigtes Höhlen system unbekannten Ursprungs. Die Archäologin Veronica hält es für die Spur einer vergessenen Zivilisation, die einst ganz Amerika beherrschte. Doch es scheint, als warteten noch weit gewaltigere Schrecken in den finsteren Tunneln.
Lese-Probe zu „Sigler, S: EarthCore “
Earth Core von Scott SiglerAus dem Amerikanischen von Michael Krug
Prolog
15. März 1942
Wilford Igoe Jr. schlang die Finger um den kürbisförmigen
Stein, stählte sich mit einem tiefen Atemzug und drückte mit
aller Kraft. Begleitet von einem Schleifgeräusch gab der Stein
einen guten Zentimeter nach. Will hielt den Atem an, wartete
und lauschte auf weitere mahlende Geräusche, auf die Laute
sich setzenden Gesteins - die Geräusche eines sicheren Todes.
Doch es blieb still. Mit einem lang gezogenen Seufzen blies
er die Luft aus und entspannte sich erleichtert. Hat eigentlich
keinen Sinn, sich zu entspannen, dachte er. Das muss ich
noch ein Dutzend Mal machen, bis ich diesen Stein beseitigt
habe.
»Nur noch ein kleines Stückchen, Will«, sagte sein Freund
Samuel, der hinter ihm in der engen Höhle stand und nach
Anzeichen von sich setzendem Gestein Ausschau hielt. Will
konnte zur Erwiderung nur grunzen. Das Licht von Samuels
Bergarbeiterhelm zitterte von Seite zu Seite, auf und ab, und
hüpfte unstet über den rauen, grauen Stein in Wills Händen.
Wills eigener Helm lag rechts hinter ihm - er hatte ihn abnehmen
müssen, um sich in den schmalen Kriechraum zwischen
der Masse uralter Felsbrocken zu zwängen.
Die Strahlen der Stirnlampe waren das erste Licht, das seit
Jahrzehnten, womöglich Jahrhunderten den Weg an diesen
stockfinsteren Ort fand. Sonnenlicht gelangte nie ins Innere
der Höhle; dafür befanden sie sich zu weit in der Zone dauerhafter
Dunkelheit.
... mehr
»Hör auf, mit dem verdammten Licht herumzuwackeln, Samuel«,
presste Will hervor. »Wenn ich diesen Stein falsch bewege,
gehen wir alle drauf.« Sofort hörte Samuels Licht auf
zu zucken, allerdings nur kurz, dann flatterte es wieder umher
und folgte den aufgeregten Kopfbewegungen seines Trägers.
Will drängte seine Verärgerung zurück und versuchte, sich
zu konzentrieren, was angesichts seiner Lage nicht einfach
war. Er hatte sich in den Kriechraum gezwängt, den Samuel,
Douglas und er in den vergangenen drei Tagen geschaffen
hatten. Der Raum bildete einen Teil eines wesentlich größeren
Tunnels, der stetig abwärts in den Berg führte. Wills Kopf befand
sich am unteren Ende des Abhangs. Sein Körper lag in
pulvrigem Schluff. Es fühlte sich an, als schlitterte er mit dem
Kopf voraus eine Rutsche hinab, obwohl er sich in Wirklichkeit
gar nicht bewegte - und sich auch nicht bewegen würde,
wenn es ihm nicht gelänge, jenen Steinbrocken zu verschieben.
Das Entfernen des Steins stellte nicht das eigentliche Problem
dar. Er musste ihn richtig bewegen, haargenau richtig.
Die Felsbrocken rings um ihn waren Überreste eines uralten
Einsturzes. Es war unmöglich zu bestimmen, wie die Blöcke
aufeinander ruhten. Entfernte man ein »Kernstück«, und
mochte es noch so winzig sein, konnte das ganze Gefüge sich
plötzlich setzen und alles unter sich zermalmen.
»Mach schon, Will«, drängte ihn Samuel. Seine aufgeregte
Stimme hallte von den toten Steinwänden wider. »Versuch's
mal ein wenig nach links.«
»Leck mich am Arsch, Anderson«, gab Will zurück. Seine
kräftigen Arme zitterten durch eine Mischung aus konzentrierter
Anstrengung und Ermüdung, als er vorsichtig an dem
Kalksteinbrocken rüttelte.
Vor Tausenden Jahren war durch diese Passage ein reißender
unterirdischer Strom geflossen. Nun war davon nur noch
der Tunnel selbst mit einem Boden voll knochentrockenem
Schluff übrig, fünf Zentimeter dick und fein wie Staubzucker.
Derselbe Schluff bedeckte Wills verschwitzte Haut.
Schweiß tropfte ihm vom Gesicht. Durch seine schräge
Haltung fühlte es sich an, als liefe er ihm über den Hals und
die Wangen in die brennenden Augen. Während Will mit dem
Stein rang, der ihm bereits zwei Knöchel aufgerissen hatte,
hörte er den eigenen angestrengten Atem. Er klang laut - nicht
wegen der klaustrophobisch beengten Verhältnisse, sondern
weil es keinerlei Hintergrundgeräusche gab. Nach hundert
Metern im Inneren der Höhle hatten sie restlos geendet. Selbst
die Insekten verursachten keinerlei Laute, obwohl es in dieser
Tiefe durchaus seltsame Insekten gab - blinde Grillen mit
Fühlern, doppelt so lang wie ihre Körper; winzige Käfer, die
sich unablässig im Sand vergruben, und gespenstisch weiße,
langgliedrige Spinnen, die noch nie von einem Sonnenstrahl
berührt worden waren.
»Sam, halt das verdammte Licht still!« Für Sam kam die
Gelegenheit, durch die Höhle in die tieferen Schichten des
Berges vorzudringen - in den Berg zu reisen, als wären sie
Blutzellen im Kreislauf der Felsen -, dem Himmel auf Erden
gleich. Er konnte es kaum erwarten, diesen Einsturzbereich
zu überwinden, um den Tunnel weiter zu erkunden.
Auch Will wollte wissen, was sich dahinter befand, doch vorerst
kümmerten ihn weder der Tunnel noch Geologie oder der
Umstand, dass er dringend pissen musste, einen Dreck. Seine
Welt war auf seine Hände, seine Arme und den verdammten
störrischen kürbisförmigen Stein geschrumpft, an dem sein
Blut klebte.
»Versuch es ein wenig mehr nach links, Will«, schlug Samuel
neuerlich vor.
»Ja, danke für den Hinweis, Einstein«, erwiderte Will. Dennoch
drückte er mangels einer besseren Idee nach links - und
der Stein bewegte sich gute fünf Zentimeter.
»O Mann!«, rief Samuel aus. »Heiliger Bimbam, er bewegt
sich!«
»Ich denke, ich hab's fast geschafft«, grunzte Will keuchend.
Nun hatte er ihn. Oh, er wollte sich immer noch gegen
ihn wehren, aber es war zu spät, er hatte diesen Bastard von
einem Stein am Wickel und würde nicht mehr loslassen.
Will spürte das Pochen von Schritten, die sich von oben aus
dem Tunnel näherten. Douglas Nadia bewegte sich mit der
Anmut eines besoffenen Elefanten fort. Will fragte sich immer
wieder, wie es einem so spindeldürren Menschen gelingen
konnte, solchen Lärm zu verursachen.
»Wo bist du gewesen, Douglas?«, fragte Samuel. »Wir bearbeiten
schon seit zwanzig Minuten diesen Stein.«
»Was meinst du mit wir?«, warf Will ein. Er drückte weiter
und lauschte bei jedem winzigen Ruck auf die Geräusche sich
setzenden Gesteins, doch außer dem kürbisförmigen Brocken
bewegte sich nichts.
»Ich habe draußen auf dem Plateau ein wenig gemeißelt«,
sagte Douglas. Sein gedehnter texanischer Akzent verriet seine
Aufregung.
Samuel hörte sich mächtig verärgert an. »Douglas, bitte sag,
dass du nicht deinen Namen an den Tunneleingang geschrieben
hast.«
»Teufel, nein. Ich hab unser aller Namen reingemeißelt. Hey,
glaubst du, wir finden weitere Höhlenmalereien oder vielleicht
wieder so ein ulkiges Messer wie beim letzten Mal?«
»Wen interessiert's?«, gab Samuel zurück. »Wenn wir hier
vorbei sind und der Tunnel weiter nach unten führt, vermute
ich, dass wir in weiteren rund fünfzig Schritten unter die
nächste Sedimentschicht gelangen. Dann erhalten wir einen
wirklich guten Einblick in die Zusammensetzung dieses Berges.«
»Du machst mich echt fertig, Anderson«, meinte Douglas,
dann hallte sein abgehacktes Lachen von den rauen, schmalen
Wänden wider. »Wir stoßen auf einen vergessenen Indianerstamm,
womöglich sogar samt vergrabenem Schatz, und alles,
woran du denken kannst, ist Geologie. Du bist ein Spinner.«
Die beiden laberten noch weiter, aber Will hörte ihnen nicht
mehr zu. Der Stein bildete das letzte Hindernis zwischen ihnen
und der Fortführung der Erkundung. Sie hatten die Öffnung
im Zuge der Recherchen für Samuels Doktorarbeit gefunden.
Die Wah Wah Mountains lagen nur eine Dreistundenfahrt von
der Brigham-Young-Universität entfernt und boten dennoch
eine ungeahnte und verborgene Fülle geologischer Wunder.
Die mächtigen Kalksteinberge ragten direkt aus dem kahlen
Wüstengebiet des südwestlichen Utah.
Vor fünf Monaten hatten sie sich in dreihundert Meter
Höhe auf dem Hang eines unbenannten Gipfels befunden, als
sie ein kleines Plateau und eine dunkle, schmale Öffnung entdeckten.
Die Öffnung führte in einen langen, engen Tunnel,
der sich weit über hundert Meter in den Berg erstreckte, ehe
er an jenem uralten Einsturz in eine Sackgasse mündete. Da
sie damals kaum noch über Vorräte verfügten, hatten sie beschlossen,
nach Hause zurückzukehren und es zu einem späteren
Zeitpunkt erneut zu versuchen.
Nun waren sie bestens ausgerüstet und konnten es kaum
erwarten, das Höhlensystem zu erforschen. Zuvor allerdings
mussten sie sich einen Weg durch die sperrigen Felsblöcke
bahnen, um Zugang zu dem Tunnel zu erhalten, von dem sie
wussten, dass er hinter der Blockade weiter verlief. Drei Tage
lang hatten sie die Einsturzstelle bearbeitet und winzige Dynamitladungen
eingesetzt, um die dicht gelagerten Brocken zu
lockern. Nach jeder Sprengung hatten sie mühsam lose Steine
entfernt. Es waren drei Tage geräuschvoller, harter Knochenarbeit
gewesen, doch die Plackerei war so gut wie vergessen,
als Will langsam den letzten Stein herauslöste.
Besagter Stein gab letztlich mit einem entsetzlichen knirschenden
Protestlaut nach. Sobald Will ihn aus dem Weg gedrückt
hatte, hielten sie alle den Atem an und warteten darauf,
dass der verspätete Steinschlag einsetzte und sie unter
sich begrub.
Nichts geschah.
»Was sagst du jetzt«, stieß Will hervor. Seine Stimme erklang
als erschöpftes Flüstern. »Was sagst du jetzt, du verdammtes
Stück Scheiße?«
»Hör auf zu fluchen«, meldete sich Samuel zu Wort. »Beeil
dich und komm da raus, ja?«
Will hätte sich am liebsten aus der Öffnung gewunden, sich
aufgesetzt und Samuel gewürgt, aber ihm fehlte die Kraft dafür.
Samuel und Douglas ergriffen je eines seiner Fußgelenke
und zogen Will heraus wie ein totes Tier.
Dann eilte Samuel zu der Öffnung, legte sich flach hin und
ließ den Lichtstrahl seiner Lampe die neu erschlossenen Tiefen
erforschen.
»Wie sieht's aus?«, fragte Douglas, stützte sich auf Samuels
Schulter und verrenkte sich den Hals, um einen Blick zu
erhaschen.
Samuels überschwänglicher Schrei prallte von der Stein-
wand zurück, begleitet vom Hauch eines Echos aus der noch
unerforschten Passage dahinter. »Sieht nach einem Volltreffer
aus! Soweit ich sehen kann, geht es noch mindestens fünfzig
Meter weiter!«
Samuel brach in Freudengeschrei aus. Douglas stimmte mit
einem texanischen Jauchzen darin ein. Will lag flach auf dem
Rücken, während sein Bauch sich keuchend hob und senkte
und sein Schweiß sich auf dem staubigen Höhlenboden zu
kleinen Sandklumpen sammelte.
Douglas klopfte Will auf den Oberschenkel. »Auf mit dir,
du Faultier. Sieh dir Samuel an - er kriecht schon rein.«
Will blieb auf dem Rücken liegen und atmete tief ein und
aus, drehte aber den Kopf, um zu beobachten, wie sich Samuels
dürrer Körper in die schmale Öffnung schlängelte. Will
fand, es sah aus, als wären die Felsbrocken ein riesiger Steinmund
mit geschürzten Lippen und Samuel eine Spaghettinudel,
die davon eingesogen wurde.
»Geht ihr schon mal voraus«, sagte Will.
Abermals klopfte Douglas ihm auf den Oberschenkel. »Auf
jetzt, reicher Bengel.«
Mühsam stützte sich Will auf einen Ellbogen. »Doug, ich
schwör dir, wenn du mich noch einmal schlägst, dann -«
»Leute«, unterbrach ihn Samuel. Sowohl Douglas als auch
Will zuckten leicht zusammen, als Samuels Kopf plötzlich
wieder durch die schmale Öffnung auftauchte. »Habt ihr das
gehört?«
»Was gehört?«, erwiderten Douglas und Will gleichzeitig.
»Dieses Geräusch«, gab Samuel zurück. Eine Locke seines
dünnen blonden Haars löste sich unter dem Helm und baumelte
ihm vor der hohen Stirn. Nur sein Kopf und die Hände
waren zu sehen. In der spärlichen Beleuchtung sah er aus
wie ein sprechendes Guillotinenopfer, das in einer Wand aus
bräunlichen und rötlichen Steinbrocken steckte.
»Klingt wie Sand, der durch die Wüste geweht wird oder so
ähnlich«, sagte Samuel. »Habt ihr es nicht gehört?«
»Wir haben gar nichts gehört«, antwortete Douglas. Will
sank einfach wieder auf den Rücken, starrte den pechschwarzen
Tunnel zurück hinauf und ignorierte den überreizten Samuel.
Manchmal empfand er die unerschöpfliche Energie des
Burschen als Gräuel.
»Vielleicht ist dort unten ein Verbindungsgang, und es zirkuliert
ein wenig Luft«, meinte Samuel leise. »Ach, vergesst
es. Kommt schon, Leute, lasst uns rausfinden, wohin dieser
Tunnel führt.«
»Ich glaube, unser reicher Bengel will hier bleiben«, sagte
Douglas, holte zu einem weiteren Klaps auf Wills Oberschenkel
aus, bremste die Hand jedoch im letzten Moment ab und
berührte ihn nicht.
Will erwiderte nichts. Er hob nur die Hand, streckte den
Mittelfinger aus und ließ den Arm anschließend schwer zurück
in den trockenen Schluff fallen.
Samuels Kopf verschwand wieder in dem dunklen Loch.
Douglas lachte und folgte ihm. Mit dem Kopf voraus arbeitete
er sich durch die schmale Öffnung vor.
Will lag reglos mit geschlossenen Augen da und lauschte,
wie das aufgeregte Gelächter seiner Freunde im Nichts verhallte.
Er würde sich den beiden arbeitsscheuen Drückebergern
gleich anschließen, aber erst musste er sich ausruhen. In
der Höhle war es so friedlich, so still. Er würde die Augen nur
ein paar Minuten lang schließen und sich in diesem unbewegten,
zeitlosen Tunnel kurz entspannen. Bloß ein winziges Nickerchen,
dann -
Jäh schlug er die Lider auf, blieb jedoch stocksteif liegen.
Er hatte den Ansatz des Widerhalls eines Geräuschs gehört -
eines Geräuschs, das irgendwie nicht an diesen ruhigen Ort
gehörte. Ein leises Klicken wie von Metall auf Stein. Und einen
anderen Laut, den er nicht einzuordnen vermochte, obwohl
er Erinnerungen an Chicago wachrüttelte, seine Heimatstadt.
Angespannt versuchte er, das Geräusch neuerlich aufzuschnappen,
als könnte er den dicken Schleier der Stille, der
den Tunnel verhängte, dadurch zerreißen, dass er sich auf sein
Gehör konzentrierte. Ohne sich zu bewegen, ohne zu atmen,
ohne die Ursache für seine plötzliche Angst zu verstehen,
lauschte er.
Und hörte die Geräusche erneut.
Klickklick,
klick, klickklick
...
Das Klicken, gefolgt von jenem zischenden, hauchenden,
schabenden Geräusch. Sofort begriff er, weshalb Samuel dabei
an einen Sandsturm gedacht hatte, doch der Vergleich stimmte
nicht ganz. Samuel hatte seine gesamten zweiundzwanzig
Lebensjahre im Wüstengebiet des südlichen Utah verbracht.
Bei Will hingegen rief der Laut Erinnerungen an das teilweise
heftige Wetter in Chicago wach.
Es war das Geräusch von Laub und losem Papier, das vom
Wind zischend über Straßen und Bürgersteige aus Beton geweht
wurde. Aber im Gegensatz zum gleichförmigen Wind
Chicagos schwoll dieses neue Geräusch ruckartig an und ab.
Will musste dabei an etwas anderes denken - etwas, worauf zu
achten er gelernt hatte, seit er vor etwa drei Jahren angefangen
hatte, mit Samuel und Douglas in den Bergen zu wandern: das
bösartige Geräusch der Drohgebärden einer Klapperschlange.
Er rang aufkeimende Panik und ein plötzliches, erdrücken
des Gefühl von Platzangst zurück. Seine Reaktion auf das seltsame
Geräusch war primitiv, instinktiv, urtümlich.
Will rollte sich auf die Knie und spähte in das Loch, das zu
schaffen er so schwer geschuftet hatte. Er verspürte den heftigen
Drang wegzurennen, doch seine Freunde befanden sich
dort unten. Er starrte in den Tunnel und lauschte dem knochentrockenen
zischend-rasselnden Geräusch, das nunmehr
anschwoll - bis sich ein anderer, einfacher erkennbarer Laut
damit vermengte.
Der Schrei eines Mannes drang von einem nicht auszumachenden
Ort tief im Tunnel zu ihm. Will wusste sofort, dass es
Samuel war, obwohl er ihn noch nie so kreischen gehört hatte.
Es war ein hoher, durchdringender Laut, fast weiblich, gezeichnet
von Schmerzen und Grauen, die über die Grenzen
beiderlei Geschlechts hinausgingen. Der Schrei dauerte nur
ein paar Sekunden, dann verebbte er zu einem kläglichen, verängstigten
Stöhnen und verstummte schließlich.
Will zwang sich, an Ort und Stelle zu verharren. Zwar
konnte er sich nicht dazu überwinden, sich in die schmale Öffnung
zu zwängen und tiefer in die Eingeweide des Berges zu
kriechen, aber zumindest gelang es ihm, sich von einer feigen
Flucht abzuhalten, während sich seine Freunde noch tief im
Tunnel befanden.
Noch bevor er das rhythmische Pochen schwerer Schritte
und das heftige Atmen eines Mannes hörte, der um sein Leben
rannte, sah er ein auf und ab hüpfendes Licht. Er erkannte
Douglas, der die sandige Steigung heraufpreschte. Blut verschmierte
ihm das Gesicht und die Brust, als hätte ihn jemand
mit einem großen Eimer davon übergossen.
Douglas stürzte und schlitterte mit dem Gesicht durch den
losen Dreck. Sein Helm rollte zu Boden und polterte davon
wie ein enthaupteter Schädel, doch er achtete nicht darauf,
rappelte sich wieder auf die Beine und rannte weiter, wirbelte
mit jedem verzweifelten Schritt in hohem Bogen feinen Höhlenschluff
auf.
Verwirrung und Panik ergriffen Besitz von Wills Stimme
und Gedanken, als er seinem Freund zubrüllte: »Douglas!
Was ist da unten los?«
Douglas erwiderte nichts. Seine Augen waren weit aufgerissen;
das Weiß darin leuchtete grell im Schein von Wills Kopflampe.
Douglas überwand die Entfernung zum Höhlenausgang
rasch. Will sah seltsame Lichter und Bewegungen hinter seinem
spurtenden Freund aufblitzen - die vage, herannahende
Form von etwas, das sein Verstand nicht einzuordnen vermochte.
Bevor das Bild sich setzen konnte, hechtete Douglas
auf die schmale Öffnung zu und versperrte den Blick in den
tiefen Tunnel.
Douglas versuchte, sich durch die Engstelle zu zwängen,
aber blinde Panik verlangsamte seine Bewegungen. Seine ausgestreckten
Hände schlugen um sich, als ertränke er, statt
durch einen Berg zu kriechen. Seine Knöchel sprangen jedes
Mal auf, wenn sie gegen den schartigen, unnachgiebigen Fels
prallten.
»Halt durch, Doug, und beruhig dich!« Will ergriff die
fuchtelnden Arme und blutigen Hände seines Freundes. »Lass
mich dich rausziehen!« Douglas gab Laute von sich, die keine
Worte bildeten. Speichel flog ihm aus dem weit aufgerissenen
Mund und landete auf seinem Gesicht, wo er sich mit
dem Blut vermischte, von dem Will wusste, es stammte von
Samuel.
Will zog, und Douglas begann, durch die Öffnung zu rut-
schen, aber was immer ihn jagte, hatte ihn eingeholt und zog
kräftig in die entgegengesetzte Richtung. Will verlor an Douglas'
vor Blut glitschiger Haut den Halt. Die Hände des Texaners
klammerten sich verzweifelt an den Steinen fest, die
Finger verkrampft und starr wie trockene, vom Wüstenwind
versprengte Stöcke. Dann weiteten sich Douglas' Augen noch
mehr, und aus seinem offenen Mund explodierte ein schier
den Kehlkopf zerschmetternder Schrei, bei dem Will sich die
Ohren zuhalten und wegrennen wollte.
Abermals kämpfte er den Drang zur Flucht zurück. Stattdessen
hechtete er vorwärts und ergriff Douglas' linken Arm
im selben Augenblick, als der unsichtbare Angreifer neuerlich
ruckartig an ihm zerrte. Douglas schlitterte rückwärts in
die Dunkelheit, tiefer in die Öffnung. Will zog mit aller Kraft,
kämpfte um das Leben seines Freundes. Im Tunnel flackerten
die seltsamen Lichter, die von dem stammen mussten, was mit
Douglas' Körper Tauziehen spielte, worum es sich dabei auch
handeln mochte.
Will stemmte die Füße gegen jenen Stein, den zu entfernen
er so hart gearbeitet hatte, krümmte den Rücken und zerrte
mit dem letzten Quäntchen seiner Kraft an Douglas.
Innerhalb der Öffnung sah er etwas Silbriges aufblitzen.
Dann stürzte er rücklings auf das Hinterteil, als der Gegenzug
jäh abriss, ganz so, als hätte ein Gegner beim Tauziehen das
Seil plötzlich losgelassen.
Nur war es kein Seil, an dem Will gezogen hatte.
Als der Drang zu fliehen seinen Verstand überwältigte und
er rücklings robbte und auf die Beine zu kommen versuchte,
schaute er hinab. Er umklammerte die blutigen Überreste von
Douglas' Hand - sauber unmittelbar über dem Gelenk abgetrennt,
der Schnitt präzise wie der einer Knochensäge.
Im einsamen Lichtkegel seiner Stirnlampe, der einzigen
Helligkeit in dieser ewig schwarzen Höhle, sah er die Umrisse
von Blut, das in langen Fäden auf den Schluff hinabtropfte.
Aus den weiß schimmernden Ellen- und Speichenansätzen
quoll zähflüssiges Mark. Die Dunkelheit schien Will zu umschließen
wie eine Giftgaswolke.
Aber es war nicht völlig dunkel.
Aus der Öffnung flimmerte immer noch funkenartig buntes
Licht, das sich auf dem rauen, grauen Fels widerspiegelte und
rasch stärker wurde - was immer Samuel erwischt hatte, kam
durch die Öffnung.
Die Zeit, den guten Samariter zu spielen, war vorüber.
Will warf die Hand beiseite und rappelte sich auf die Beine.
Dabei hörte er eine Bewegung, das raspelnde Geräusch
von etwas, das durch die Engstelle schlüpfte. Es verfolgte ihn,
während die seltsamen Lichter bösartig blitzten. Will schaute
nicht zurück. Von blankem Grauen angetrieben, hastete
er den engen Tunnel hinauf, nahm den Anstieg wie von einem
Raubtier gehetztes Wild in Angriff. Wenn er es durch den
Höhleneingang ins Lager schaffte, hinaus aus dem schmalen
Tunnel und ins Sonnenlicht, konnte er vielleicht entkommen.
Vielleicht konnte dieses Ding die Höhle nicht verlassen.
An diese Hoffnung klammerte er sich, während er verzweifelt
weiterpreschte. Mit bebender Brust und vor Erschöpfung
schmerzenden Gliedern erblickte er endlich die ersten Strahlen
der Sonne. Mit einem letzten Energieschubausbruch flüchtete
er aus dem Schacht und schaffte es auf das kleine Plateau
davor.
Weiter allerdings kam Wilford Igoe Jr. nicht.
***
Artikel aus The Y News vom 4. April 1942, Brigham-Young-
Universität:
Doktoratsstudentenvermisst
Vermutlich in Höhlensystem verirrt
von Shannon Carmichael
Die Polizei erklärte heute drei Doktoratsstudenten der BrighamYoungUniversität
für vermisst. Die drei Geologiestudenten
waren zu Feldstudien in den Wah Wah Mountains in
WestUtah
aufgebrochen.
Samuel J. Anderson, 22, Douglas Nadia, 21, und Wilford
Igoe Jr., 22, betrieben in dem abgelegenen Gebiet Forschungsarbeit.
Bei den Behörden regte sich Besorgnis, als Andersons
Eltern die Universität kontaktierten und angaben, dass er am
27. März zu Hause erwartet worden war. Die Staatspolizei von
Utah brach daraufhin zu ihrem letzten bekannten Aufenthaltsort
auf, der sich in über 1000 Meter Meereshöhe befindet.
»Es war schwierig, den Ort zu erreichen«, so Henry Isbey
von der Staatspolizei Utah. »Wir ließen den letzten bekannten
Aufenthaltsort von einem Flugzeug überfliegen, konnten
aber nichts entdecken. Danach sind wir zu Fuß hinmarschiert,
konnten aber wiederum nichts finden, nicht einmal
ein Lager.«
Der Polizei zufolge könnte sich die Suche aufgrund des Terrains
schwierig gestalten, ferner deshalb, weil die Studenten
mittlerweile seit fast einem Monat ohne Kontakt in den Bergen
verschollen sind. Isbey fügte hinzu, dass sich unmöglich
abschätzen lässt, wann die Studenten in Schwierigkeiten geraten
sind.
»Nach unserem Wissensstand könnten sie seit zwei oder
drei Wochen verschwunden sein«, sagt Isbey.
Vertreter der Universität gaben an, sie würden alles in ihrer
Macht Stehende tun, um dabei zu helfen, die Studenten
zu finden.
Buch eins
Gelegenheit
Kapitel eins
30. Juli 2008
Sonny McGuinness saß an einem Ecktisch und starrte den
langhaarigen Indianer ihm gegenüber zornig an. Trotz der mittäglichen
Sonne, die gegen die von Rollläden verhüllten Fenster
brannte, herrschten in der Bar düstere Schatten vor. Sie
hatten den Winkel der Kneipe, in dem sie saßen, ganz für sich
allein - weniger deshalb, weil insgesamt nur zehn Gäste anwesend
waren, sondern eher, weil sie beide stanken, als hätten
sie seit Wochen nicht mehr gebadet. Sonnys schlohweißer,
ungepflegter Bart umrahmte eine finstere Miene in einem zerfurchten,
tiefdunklen Gesicht. Die Haut um die Augen war
etwas heller als der Rest seines onyxschwarzen Teints, etwa
in der Farbe von Schokolade, was ihm ein eigenartig maskiertes
Aussehen verlieh. Er stürzte sein Bier hinunter, als könnte
er damit seinen plötzlichen Temperamentsausbruch löschen.
»Blödsinn«, sagte Sonny. »Du hast keine Silberquelle gefunden.«
»Hey, Mann, werd nicht gleich feindselig«, erwiderte der Indianer.
»Du hast gesagt, du wärst Erzsucher, deshalb wollte
ich dir eine Geschichte erzählen. Glaub doch, was du willst,
Mann.« Das Wort »Mann« sprach er so gedehnt aus, dass es
lang gezogen und klebrig klang. Der Indianer nippte an seinem
doppelten Red-Star-Wodka.
Die Erwähnung der Silberquelle führte seit über einer Stunde
zur ersten Pause in ihrer Unterhaltung. Sonny hatte die
Kneipe ursprünglich mit dem Vorhaben betreten, alleine zu
trinken, wie er es sonst auch tat. Dann jedoch hatte er einen
Mann mit einem unverkennbaren Schopf langer, glatter,
schwarzer Haare erblickt. Er hatte sich ihm vorgestellt und
um ein Bier gewettet, er könnte den Stamm des Indianers
beim ersten Versuch erraten. Der Name des Mannes lautete
Dennis Diving-Bird, aber die meisten Leute nannten ihn nur
Dennis, den Abgestürzten. Dennis nahm die Wette an, und
Sonny tippte auf Hopi - die erste Runde bezahlte Dennis.
Nach vierzig Jahren als Prospektor im Südwesten Amerikas
rühmte sich Sonny der Fähigkeit, den Stamm jedes amerikanischen
Ureinwohners zu erraten. Er mochte Indianer. Tatsächlich
waren sie die einzigen Menschen, die er mochte.
»Die Silberquelle ist bloß ein Mythos«, sagte Sonny. »Ich
muss es wissen, schließlich habe ich vor zwanzig Jahren danach
gesucht und einen Scheißdreck gefunden.«
»Wo hast du gesucht?«, erkundigte sich Dennis.
»Im Gebiet der Snake, Black und San Francisco Mountains.«
Sonny trank sein Bier aus und bedeutete dem Barkeeper,
ihm ein weiteres zu bringen. »Gefunden hab ich rein gar
nichts.«
»Tja, du warst nah dran«, erwiderte Dennis. Er sog an der
neuesten Zigarette einer ununterbrochenen Reihe von Pall
Malls. »Sie liegt in den Wah Wah Mountains.«
Dennis' runzliges Gesicht verbarg sich unter langem,
schmutzig-schwarzem Haar. Er trug ein bunt gefärbtes Hemd,
eine abgewetzte Lederjacke mit mehreren GratefulDead-
Totenkopfflicken und stank entsetzlich. Allerdings wusste
Sonny, dass die zwei Wochen, die er durchgehend in den
Gebirgsausläufern Arizonas verbracht hatte, auch ihm selbst
einen etwas herberen Geruch verliehen hatten.
»Die Legenden sind wahr, Mann«, beharrte Dennis. »Die
Quelle blubbert aus dem Boden und ergießt sich in einen kleinen
Tümpel voll Silberstaub.«
»Du hast also die Silberquelle gefunden?« Sonny versuchte,
sich ungläubig anzuhören, aber in seinen Gedanken regte
sich Neugier. »Die Legenden sind wahr, und die Quelle wartet
nur darauf, von jemandem in Besitz genommen zu werden?«
»Ganz genau, Mann. Unberührt, wie man sich's nur wünschen
kann - sofern sie noch niemand gefunden hat, seit ich
vor etwa zehn Jahren zuletzt dort war.«
»Aha. Und deshalb hockst du hier in der TwoSpoke
Bar und
säufst billigen Fusel, statt im Hilton die Sau rauszulassen.«
»Hey, Mann, dass ich sie nicht in Besitz genommen hab,
heißt noch lange nicht, dass es sie nicht gibt.«
»Warum, zum Teufel, hast du sie dir nicht gekrallt?« Sonny
war nicht wütend auf Dennis, sondern auf sich selbst. Die Geschichte
war blanker Blödsinn, dennoch spürte er bereits, wie
jener unkontrollierbare Teil seiner selbst sich darum schlang
wie die Beine einer jungen Frau um ihren Liebhaber. Manche
Menschen litten an der Abhängigkeit von Drogen, Alkohol,
Frauen oder Geld; Sonnys Sucht war Neugier.
Dennis, der Abgestürzte, beugte sich verschwörerisch vor,
schloss die Hand schützend um seinen Drink und senkte den
Kopf tief über den Tisch. »Der Ort ist verflucht, Mann. Vielleicht
sogar böse.«
»Ach, fick dich doch ins Knie! Noch nie hat ein Fluch jemanden
davon abgehalten, sich den Topf voll Gold am Ende
des Regenbogens zu schnappen. Ich würde dem Teufel das
Gehänge abschneiden und ihm den Schatz aus dem Arsch zerren,
wenn es nötig wäre.«
»Das sagst du, weil du noch nie dort gewesen bist«, entgegnete
Dennis leise. »Die Hopi sind klug genug, sich von dem
Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 07/2010
Copyright © 2005 by Scott Sigler
Copyright © 2007 der deutschsprachigen Ausgabe
by Otherworld Verlag Krug KG, Kalsdorf bei Graz
in Kooperation mit dem Verlag Carl Ueberreuter GmbH, Wien
Copyright © 2010 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Printed in Germany 2010
Umschlagillustration: © Kevin Capizzi
Umschlaggestaltung: yellowfarm GmbH, S. Freischem
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN: 978-3-453-43507-0
www.heyne.de
»Hör auf, mit dem verdammten Licht herumzuwackeln, Samuel«,
presste Will hervor. »Wenn ich diesen Stein falsch bewege,
gehen wir alle drauf.« Sofort hörte Samuels Licht auf
zu zucken, allerdings nur kurz, dann flatterte es wieder umher
und folgte den aufgeregten Kopfbewegungen seines Trägers.
Will drängte seine Verärgerung zurück und versuchte, sich
zu konzentrieren, was angesichts seiner Lage nicht einfach
war. Er hatte sich in den Kriechraum gezwängt, den Samuel,
Douglas und er in den vergangenen drei Tagen geschaffen
hatten. Der Raum bildete einen Teil eines wesentlich größeren
Tunnels, der stetig abwärts in den Berg führte. Wills Kopf befand
sich am unteren Ende des Abhangs. Sein Körper lag in
pulvrigem Schluff. Es fühlte sich an, als schlitterte er mit dem
Kopf voraus eine Rutsche hinab, obwohl er sich in Wirklichkeit
gar nicht bewegte - und sich auch nicht bewegen würde,
wenn es ihm nicht gelänge, jenen Steinbrocken zu verschieben.
Das Entfernen des Steins stellte nicht das eigentliche Problem
dar. Er musste ihn richtig bewegen, haargenau richtig.
Die Felsbrocken rings um ihn waren Überreste eines uralten
Einsturzes. Es war unmöglich zu bestimmen, wie die Blöcke
aufeinander ruhten. Entfernte man ein »Kernstück«, und
mochte es noch so winzig sein, konnte das ganze Gefüge sich
plötzlich setzen und alles unter sich zermalmen.
»Mach schon, Will«, drängte ihn Samuel. Seine aufgeregte
Stimme hallte von den toten Steinwänden wider. »Versuch's
mal ein wenig nach links.«
»Leck mich am Arsch, Anderson«, gab Will zurück. Seine
kräftigen Arme zitterten durch eine Mischung aus konzentrierter
Anstrengung und Ermüdung, als er vorsichtig an dem
Kalksteinbrocken rüttelte.
Vor Tausenden Jahren war durch diese Passage ein reißender
unterirdischer Strom geflossen. Nun war davon nur noch
der Tunnel selbst mit einem Boden voll knochentrockenem
Schluff übrig, fünf Zentimeter dick und fein wie Staubzucker.
Derselbe Schluff bedeckte Wills verschwitzte Haut.
Schweiß tropfte ihm vom Gesicht. Durch seine schräge
Haltung fühlte es sich an, als liefe er ihm über den Hals und
die Wangen in die brennenden Augen. Während Will mit dem
Stein rang, der ihm bereits zwei Knöchel aufgerissen hatte,
hörte er den eigenen angestrengten Atem. Er klang laut - nicht
wegen der klaustrophobisch beengten Verhältnisse, sondern
weil es keinerlei Hintergrundgeräusche gab. Nach hundert
Metern im Inneren der Höhle hatten sie restlos geendet. Selbst
die Insekten verursachten keinerlei Laute, obwohl es in dieser
Tiefe durchaus seltsame Insekten gab - blinde Grillen mit
Fühlern, doppelt so lang wie ihre Körper; winzige Käfer, die
sich unablässig im Sand vergruben, und gespenstisch weiße,
langgliedrige Spinnen, die noch nie von einem Sonnenstrahl
berührt worden waren.
»Sam, halt das verdammte Licht still!« Für Sam kam die
Gelegenheit, durch die Höhle in die tieferen Schichten des
Berges vorzudringen - in den Berg zu reisen, als wären sie
Blutzellen im Kreislauf der Felsen -, dem Himmel auf Erden
gleich. Er konnte es kaum erwarten, diesen Einsturzbereich
zu überwinden, um den Tunnel weiter zu erkunden.
Auch Will wollte wissen, was sich dahinter befand, doch vorerst
kümmerten ihn weder der Tunnel noch Geologie oder der
Umstand, dass er dringend pissen musste, einen Dreck. Seine
Welt war auf seine Hände, seine Arme und den verdammten
störrischen kürbisförmigen Stein geschrumpft, an dem sein
Blut klebte.
»Versuch es ein wenig mehr nach links, Will«, schlug Samuel
neuerlich vor.
»Ja, danke für den Hinweis, Einstein«, erwiderte Will. Dennoch
drückte er mangels einer besseren Idee nach links - und
der Stein bewegte sich gute fünf Zentimeter.
»O Mann!«, rief Samuel aus. »Heiliger Bimbam, er bewegt
sich!«
»Ich denke, ich hab's fast geschafft«, grunzte Will keuchend.
Nun hatte er ihn. Oh, er wollte sich immer noch gegen
ihn wehren, aber es war zu spät, er hatte diesen Bastard von
einem Stein am Wickel und würde nicht mehr loslassen.
Will spürte das Pochen von Schritten, die sich von oben aus
dem Tunnel näherten. Douglas Nadia bewegte sich mit der
Anmut eines besoffenen Elefanten fort. Will fragte sich immer
wieder, wie es einem so spindeldürren Menschen gelingen
konnte, solchen Lärm zu verursachen.
»Wo bist du gewesen, Douglas?«, fragte Samuel. »Wir bearbeiten
schon seit zwanzig Minuten diesen Stein.«
»Was meinst du mit wir?«, warf Will ein. Er drückte weiter
und lauschte bei jedem winzigen Ruck auf die Geräusche sich
setzenden Gesteins, doch außer dem kürbisförmigen Brocken
bewegte sich nichts.
»Ich habe draußen auf dem Plateau ein wenig gemeißelt«,
sagte Douglas. Sein gedehnter texanischer Akzent verriet seine
Aufregung.
Samuel hörte sich mächtig verärgert an. »Douglas, bitte sag,
dass du nicht deinen Namen an den Tunneleingang geschrieben
hast.«
»Teufel, nein. Ich hab unser aller Namen reingemeißelt. Hey,
glaubst du, wir finden weitere Höhlenmalereien oder vielleicht
wieder so ein ulkiges Messer wie beim letzten Mal?«
»Wen interessiert's?«, gab Samuel zurück. »Wenn wir hier
vorbei sind und der Tunnel weiter nach unten führt, vermute
ich, dass wir in weiteren rund fünfzig Schritten unter die
nächste Sedimentschicht gelangen. Dann erhalten wir einen
wirklich guten Einblick in die Zusammensetzung dieses Berges.«
»Du machst mich echt fertig, Anderson«, meinte Douglas,
dann hallte sein abgehacktes Lachen von den rauen, schmalen
Wänden wider. »Wir stoßen auf einen vergessenen Indianerstamm,
womöglich sogar samt vergrabenem Schatz, und alles,
woran du denken kannst, ist Geologie. Du bist ein Spinner.«
Die beiden laberten noch weiter, aber Will hörte ihnen nicht
mehr zu. Der Stein bildete das letzte Hindernis zwischen ihnen
und der Fortführung der Erkundung. Sie hatten die Öffnung
im Zuge der Recherchen für Samuels Doktorarbeit gefunden.
Die Wah Wah Mountains lagen nur eine Dreistundenfahrt von
der Brigham-Young-Universität entfernt und boten dennoch
eine ungeahnte und verborgene Fülle geologischer Wunder.
Die mächtigen Kalksteinberge ragten direkt aus dem kahlen
Wüstengebiet des südwestlichen Utah.
Vor fünf Monaten hatten sie sich in dreihundert Meter
Höhe auf dem Hang eines unbenannten Gipfels befunden, als
sie ein kleines Plateau und eine dunkle, schmale Öffnung entdeckten.
Die Öffnung führte in einen langen, engen Tunnel,
der sich weit über hundert Meter in den Berg erstreckte, ehe
er an jenem uralten Einsturz in eine Sackgasse mündete. Da
sie damals kaum noch über Vorräte verfügten, hatten sie beschlossen,
nach Hause zurückzukehren und es zu einem späteren
Zeitpunkt erneut zu versuchen.
Nun waren sie bestens ausgerüstet und konnten es kaum
erwarten, das Höhlensystem zu erforschen. Zuvor allerdings
mussten sie sich einen Weg durch die sperrigen Felsblöcke
bahnen, um Zugang zu dem Tunnel zu erhalten, von dem sie
wussten, dass er hinter der Blockade weiter verlief. Drei Tage
lang hatten sie die Einsturzstelle bearbeitet und winzige Dynamitladungen
eingesetzt, um die dicht gelagerten Brocken zu
lockern. Nach jeder Sprengung hatten sie mühsam lose Steine
entfernt. Es waren drei Tage geräuschvoller, harter Knochenarbeit
gewesen, doch die Plackerei war so gut wie vergessen,
als Will langsam den letzten Stein herauslöste.
Besagter Stein gab letztlich mit einem entsetzlichen knirschenden
Protestlaut nach. Sobald Will ihn aus dem Weg gedrückt
hatte, hielten sie alle den Atem an und warteten darauf,
dass der verspätete Steinschlag einsetzte und sie unter
sich begrub.
Nichts geschah.
»Was sagst du jetzt«, stieß Will hervor. Seine Stimme erklang
als erschöpftes Flüstern. »Was sagst du jetzt, du verdammtes
Stück Scheiße?«
»Hör auf zu fluchen«, meldete sich Samuel zu Wort. »Beeil
dich und komm da raus, ja?«
Will hätte sich am liebsten aus der Öffnung gewunden, sich
aufgesetzt und Samuel gewürgt, aber ihm fehlte die Kraft dafür.
Samuel und Douglas ergriffen je eines seiner Fußgelenke
und zogen Will heraus wie ein totes Tier.
Dann eilte Samuel zu der Öffnung, legte sich flach hin und
ließ den Lichtstrahl seiner Lampe die neu erschlossenen Tiefen
erforschen.
»Wie sieht's aus?«, fragte Douglas, stützte sich auf Samuels
Schulter und verrenkte sich den Hals, um einen Blick zu
erhaschen.
Samuels überschwänglicher Schrei prallte von der Stein-
wand zurück, begleitet vom Hauch eines Echos aus der noch
unerforschten Passage dahinter. »Sieht nach einem Volltreffer
aus! Soweit ich sehen kann, geht es noch mindestens fünfzig
Meter weiter!«
Samuel brach in Freudengeschrei aus. Douglas stimmte mit
einem texanischen Jauchzen darin ein. Will lag flach auf dem
Rücken, während sein Bauch sich keuchend hob und senkte
und sein Schweiß sich auf dem staubigen Höhlenboden zu
kleinen Sandklumpen sammelte.
Douglas klopfte Will auf den Oberschenkel. »Auf mit dir,
du Faultier. Sieh dir Samuel an - er kriecht schon rein.«
Will blieb auf dem Rücken liegen und atmete tief ein und
aus, drehte aber den Kopf, um zu beobachten, wie sich Samuels
dürrer Körper in die schmale Öffnung schlängelte. Will
fand, es sah aus, als wären die Felsbrocken ein riesiger Steinmund
mit geschürzten Lippen und Samuel eine Spaghettinudel,
die davon eingesogen wurde.
»Geht ihr schon mal voraus«, sagte Will.
Abermals klopfte Douglas ihm auf den Oberschenkel. »Auf
jetzt, reicher Bengel.«
Mühsam stützte sich Will auf einen Ellbogen. »Doug, ich
schwör dir, wenn du mich noch einmal schlägst, dann -«
»Leute«, unterbrach ihn Samuel. Sowohl Douglas als auch
Will zuckten leicht zusammen, als Samuels Kopf plötzlich
wieder durch die schmale Öffnung auftauchte. »Habt ihr das
gehört?«
»Was gehört?«, erwiderten Douglas und Will gleichzeitig.
»Dieses Geräusch«, gab Samuel zurück. Eine Locke seines
dünnen blonden Haars löste sich unter dem Helm und baumelte
ihm vor der hohen Stirn. Nur sein Kopf und die Hände
waren zu sehen. In der spärlichen Beleuchtung sah er aus
wie ein sprechendes Guillotinenopfer, das in einer Wand aus
bräunlichen und rötlichen Steinbrocken steckte.
»Klingt wie Sand, der durch die Wüste geweht wird oder so
ähnlich«, sagte Samuel. »Habt ihr es nicht gehört?«
»Wir haben gar nichts gehört«, antwortete Douglas. Will
sank einfach wieder auf den Rücken, starrte den pechschwarzen
Tunnel zurück hinauf und ignorierte den überreizten Samuel.
Manchmal empfand er die unerschöpfliche Energie des
Burschen als Gräuel.
»Vielleicht ist dort unten ein Verbindungsgang, und es zirkuliert
ein wenig Luft«, meinte Samuel leise. »Ach, vergesst
es. Kommt schon, Leute, lasst uns rausfinden, wohin dieser
Tunnel führt.«
»Ich glaube, unser reicher Bengel will hier bleiben«, sagte
Douglas, holte zu einem weiteren Klaps auf Wills Oberschenkel
aus, bremste die Hand jedoch im letzten Moment ab und
berührte ihn nicht.
Will erwiderte nichts. Er hob nur die Hand, streckte den
Mittelfinger aus und ließ den Arm anschließend schwer zurück
in den trockenen Schluff fallen.
Samuels Kopf verschwand wieder in dem dunklen Loch.
Douglas lachte und folgte ihm. Mit dem Kopf voraus arbeitete
er sich durch die schmale Öffnung vor.
Will lag reglos mit geschlossenen Augen da und lauschte,
wie das aufgeregte Gelächter seiner Freunde im Nichts verhallte.
Er würde sich den beiden arbeitsscheuen Drückebergern
gleich anschließen, aber erst musste er sich ausruhen. In
der Höhle war es so friedlich, so still. Er würde die Augen nur
ein paar Minuten lang schließen und sich in diesem unbewegten,
zeitlosen Tunnel kurz entspannen. Bloß ein winziges Nickerchen,
dann -
Jäh schlug er die Lider auf, blieb jedoch stocksteif liegen.
Er hatte den Ansatz des Widerhalls eines Geräuschs gehört -
eines Geräuschs, das irgendwie nicht an diesen ruhigen Ort
gehörte. Ein leises Klicken wie von Metall auf Stein. Und einen
anderen Laut, den er nicht einzuordnen vermochte, obwohl
er Erinnerungen an Chicago wachrüttelte, seine Heimatstadt.
Angespannt versuchte er, das Geräusch neuerlich aufzuschnappen,
als könnte er den dicken Schleier der Stille, der
den Tunnel verhängte, dadurch zerreißen, dass er sich auf sein
Gehör konzentrierte. Ohne sich zu bewegen, ohne zu atmen,
ohne die Ursache für seine plötzliche Angst zu verstehen,
lauschte er.
Und hörte die Geräusche erneut.
Klickklick,
klick, klickklick
...
Das Klicken, gefolgt von jenem zischenden, hauchenden,
schabenden Geräusch. Sofort begriff er, weshalb Samuel dabei
an einen Sandsturm gedacht hatte, doch der Vergleich stimmte
nicht ganz. Samuel hatte seine gesamten zweiundzwanzig
Lebensjahre im Wüstengebiet des südlichen Utah verbracht.
Bei Will hingegen rief der Laut Erinnerungen an das teilweise
heftige Wetter in Chicago wach.
Es war das Geräusch von Laub und losem Papier, das vom
Wind zischend über Straßen und Bürgersteige aus Beton geweht
wurde. Aber im Gegensatz zum gleichförmigen Wind
Chicagos schwoll dieses neue Geräusch ruckartig an und ab.
Will musste dabei an etwas anderes denken - etwas, worauf zu
achten er gelernt hatte, seit er vor etwa drei Jahren angefangen
hatte, mit Samuel und Douglas in den Bergen zu wandern: das
bösartige Geräusch der Drohgebärden einer Klapperschlange.
Er rang aufkeimende Panik und ein plötzliches, erdrücken
des Gefühl von Platzangst zurück. Seine Reaktion auf das seltsame
Geräusch war primitiv, instinktiv, urtümlich.
Will rollte sich auf die Knie und spähte in das Loch, das zu
schaffen er so schwer geschuftet hatte. Er verspürte den heftigen
Drang wegzurennen, doch seine Freunde befanden sich
dort unten. Er starrte in den Tunnel und lauschte dem knochentrockenen
zischend-rasselnden Geräusch, das nunmehr
anschwoll - bis sich ein anderer, einfacher erkennbarer Laut
damit vermengte.
Der Schrei eines Mannes drang von einem nicht auszumachenden
Ort tief im Tunnel zu ihm. Will wusste sofort, dass es
Samuel war, obwohl er ihn noch nie so kreischen gehört hatte.
Es war ein hoher, durchdringender Laut, fast weiblich, gezeichnet
von Schmerzen und Grauen, die über die Grenzen
beiderlei Geschlechts hinausgingen. Der Schrei dauerte nur
ein paar Sekunden, dann verebbte er zu einem kläglichen, verängstigten
Stöhnen und verstummte schließlich.
Will zwang sich, an Ort und Stelle zu verharren. Zwar
konnte er sich nicht dazu überwinden, sich in die schmale Öffnung
zu zwängen und tiefer in die Eingeweide des Berges zu
kriechen, aber zumindest gelang es ihm, sich von einer feigen
Flucht abzuhalten, während sich seine Freunde noch tief im
Tunnel befanden.
Noch bevor er das rhythmische Pochen schwerer Schritte
und das heftige Atmen eines Mannes hörte, der um sein Leben
rannte, sah er ein auf und ab hüpfendes Licht. Er erkannte
Douglas, der die sandige Steigung heraufpreschte. Blut verschmierte
ihm das Gesicht und die Brust, als hätte ihn jemand
mit einem großen Eimer davon übergossen.
Douglas stürzte und schlitterte mit dem Gesicht durch den
losen Dreck. Sein Helm rollte zu Boden und polterte davon
wie ein enthaupteter Schädel, doch er achtete nicht darauf,
rappelte sich wieder auf die Beine und rannte weiter, wirbelte
mit jedem verzweifelten Schritt in hohem Bogen feinen Höhlenschluff
auf.
Verwirrung und Panik ergriffen Besitz von Wills Stimme
und Gedanken, als er seinem Freund zubrüllte: »Douglas!
Was ist da unten los?«
Douglas erwiderte nichts. Seine Augen waren weit aufgerissen;
das Weiß darin leuchtete grell im Schein von Wills Kopflampe.
Douglas überwand die Entfernung zum Höhlenausgang
rasch. Will sah seltsame Lichter und Bewegungen hinter seinem
spurtenden Freund aufblitzen - die vage, herannahende
Form von etwas, das sein Verstand nicht einzuordnen vermochte.
Bevor das Bild sich setzen konnte, hechtete Douglas
auf die schmale Öffnung zu und versperrte den Blick in den
tiefen Tunnel.
Douglas versuchte, sich durch die Engstelle zu zwängen,
aber blinde Panik verlangsamte seine Bewegungen. Seine ausgestreckten
Hände schlugen um sich, als ertränke er, statt
durch einen Berg zu kriechen. Seine Knöchel sprangen jedes
Mal auf, wenn sie gegen den schartigen, unnachgiebigen Fels
prallten.
»Halt durch, Doug, und beruhig dich!« Will ergriff die
fuchtelnden Arme und blutigen Hände seines Freundes. »Lass
mich dich rausziehen!« Douglas gab Laute von sich, die keine
Worte bildeten. Speichel flog ihm aus dem weit aufgerissenen
Mund und landete auf seinem Gesicht, wo er sich mit
dem Blut vermischte, von dem Will wusste, es stammte von
Samuel.
Will zog, und Douglas begann, durch die Öffnung zu rut-
schen, aber was immer ihn jagte, hatte ihn eingeholt und zog
kräftig in die entgegengesetzte Richtung. Will verlor an Douglas'
vor Blut glitschiger Haut den Halt. Die Hände des Texaners
klammerten sich verzweifelt an den Steinen fest, die
Finger verkrampft und starr wie trockene, vom Wüstenwind
versprengte Stöcke. Dann weiteten sich Douglas' Augen noch
mehr, und aus seinem offenen Mund explodierte ein schier
den Kehlkopf zerschmetternder Schrei, bei dem Will sich die
Ohren zuhalten und wegrennen wollte.
Abermals kämpfte er den Drang zur Flucht zurück. Stattdessen
hechtete er vorwärts und ergriff Douglas' linken Arm
im selben Augenblick, als der unsichtbare Angreifer neuerlich
ruckartig an ihm zerrte. Douglas schlitterte rückwärts in
die Dunkelheit, tiefer in die Öffnung. Will zog mit aller Kraft,
kämpfte um das Leben seines Freundes. Im Tunnel flackerten
die seltsamen Lichter, die von dem stammen mussten, was mit
Douglas' Körper Tauziehen spielte, worum es sich dabei auch
handeln mochte.
Will stemmte die Füße gegen jenen Stein, den zu entfernen
er so hart gearbeitet hatte, krümmte den Rücken und zerrte
mit dem letzten Quäntchen seiner Kraft an Douglas.
Innerhalb der Öffnung sah er etwas Silbriges aufblitzen.
Dann stürzte er rücklings auf das Hinterteil, als der Gegenzug
jäh abriss, ganz so, als hätte ein Gegner beim Tauziehen das
Seil plötzlich losgelassen.
Nur war es kein Seil, an dem Will gezogen hatte.
Als der Drang zu fliehen seinen Verstand überwältigte und
er rücklings robbte und auf die Beine zu kommen versuchte,
schaute er hinab. Er umklammerte die blutigen Überreste von
Douglas' Hand - sauber unmittelbar über dem Gelenk abgetrennt,
der Schnitt präzise wie der einer Knochensäge.
Im einsamen Lichtkegel seiner Stirnlampe, der einzigen
Helligkeit in dieser ewig schwarzen Höhle, sah er die Umrisse
von Blut, das in langen Fäden auf den Schluff hinabtropfte.
Aus den weiß schimmernden Ellen- und Speichenansätzen
quoll zähflüssiges Mark. Die Dunkelheit schien Will zu umschließen
wie eine Giftgaswolke.
Aber es war nicht völlig dunkel.
Aus der Öffnung flimmerte immer noch funkenartig buntes
Licht, das sich auf dem rauen, grauen Fels widerspiegelte und
rasch stärker wurde - was immer Samuel erwischt hatte, kam
durch die Öffnung.
Die Zeit, den guten Samariter zu spielen, war vorüber.
Will warf die Hand beiseite und rappelte sich auf die Beine.
Dabei hörte er eine Bewegung, das raspelnde Geräusch
von etwas, das durch die Engstelle schlüpfte. Es verfolgte ihn,
während die seltsamen Lichter bösartig blitzten. Will schaute
nicht zurück. Von blankem Grauen angetrieben, hastete
er den engen Tunnel hinauf, nahm den Anstieg wie von einem
Raubtier gehetztes Wild in Angriff. Wenn er es durch den
Höhleneingang ins Lager schaffte, hinaus aus dem schmalen
Tunnel und ins Sonnenlicht, konnte er vielleicht entkommen.
Vielleicht konnte dieses Ding die Höhle nicht verlassen.
An diese Hoffnung klammerte er sich, während er verzweifelt
weiterpreschte. Mit bebender Brust und vor Erschöpfung
schmerzenden Gliedern erblickte er endlich die ersten Strahlen
der Sonne. Mit einem letzten Energieschubausbruch flüchtete
er aus dem Schacht und schaffte es auf das kleine Plateau
davor.
Weiter allerdings kam Wilford Igoe Jr. nicht.
***
Artikel aus The Y News vom 4. April 1942, Brigham-Young-
Universität:
Doktoratsstudentenvermisst
Vermutlich in Höhlensystem verirrt
von Shannon Carmichael
Die Polizei erklärte heute drei Doktoratsstudenten der BrighamYoungUniversität
für vermisst. Die drei Geologiestudenten
waren zu Feldstudien in den Wah Wah Mountains in
WestUtah
aufgebrochen.
Samuel J. Anderson, 22, Douglas Nadia, 21, und Wilford
Igoe Jr., 22, betrieben in dem abgelegenen Gebiet Forschungsarbeit.
Bei den Behörden regte sich Besorgnis, als Andersons
Eltern die Universität kontaktierten und angaben, dass er am
27. März zu Hause erwartet worden war. Die Staatspolizei von
Utah brach daraufhin zu ihrem letzten bekannten Aufenthaltsort
auf, der sich in über 1000 Meter Meereshöhe befindet.
»Es war schwierig, den Ort zu erreichen«, so Henry Isbey
von der Staatspolizei Utah. »Wir ließen den letzten bekannten
Aufenthaltsort von einem Flugzeug überfliegen, konnten
aber nichts entdecken. Danach sind wir zu Fuß hinmarschiert,
konnten aber wiederum nichts finden, nicht einmal
ein Lager.«
Der Polizei zufolge könnte sich die Suche aufgrund des Terrains
schwierig gestalten, ferner deshalb, weil die Studenten
mittlerweile seit fast einem Monat ohne Kontakt in den Bergen
verschollen sind. Isbey fügte hinzu, dass sich unmöglich
abschätzen lässt, wann die Studenten in Schwierigkeiten geraten
sind.
»Nach unserem Wissensstand könnten sie seit zwei oder
drei Wochen verschwunden sein«, sagt Isbey.
Vertreter der Universität gaben an, sie würden alles in ihrer
Macht Stehende tun, um dabei zu helfen, die Studenten
zu finden.
Buch eins
Gelegenheit
Kapitel eins
30. Juli 2008
Sonny McGuinness saß an einem Ecktisch und starrte den
langhaarigen Indianer ihm gegenüber zornig an. Trotz der mittäglichen
Sonne, die gegen die von Rollläden verhüllten Fenster
brannte, herrschten in der Bar düstere Schatten vor. Sie
hatten den Winkel der Kneipe, in dem sie saßen, ganz für sich
allein - weniger deshalb, weil insgesamt nur zehn Gäste anwesend
waren, sondern eher, weil sie beide stanken, als hätten
sie seit Wochen nicht mehr gebadet. Sonnys schlohweißer,
ungepflegter Bart umrahmte eine finstere Miene in einem zerfurchten,
tiefdunklen Gesicht. Die Haut um die Augen war
etwas heller als der Rest seines onyxschwarzen Teints, etwa
in der Farbe von Schokolade, was ihm ein eigenartig maskiertes
Aussehen verlieh. Er stürzte sein Bier hinunter, als könnte
er damit seinen plötzlichen Temperamentsausbruch löschen.
»Blödsinn«, sagte Sonny. »Du hast keine Silberquelle gefunden.«
»Hey, Mann, werd nicht gleich feindselig«, erwiderte der Indianer.
»Du hast gesagt, du wärst Erzsucher, deshalb wollte
ich dir eine Geschichte erzählen. Glaub doch, was du willst,
Mann.« Das Wort »Mann« sprach er so gedehnt aus, dass es
lang gezogen und klebrig klang. Der Indianer nippte an seinem
doppelten Red-Star-Wodka.
Die Erwähnung der Silberquelle führte seit über einer Stunde
zur ersten Pause in ihrer Unterhaltung. Sonny hatte die
Kneipe ursprünglich mit dem Vorhaben betreten, alleine zu
trinken, wie er es sonst auch tat. Dann jedoch hatte er einen
Mann mit einem unverkennbaren Schopf langer, glatter,
schwarzer Haare erblickt. Er hatte sich ihm vorgestellt und
um ein Bier gewettet, er könnte den Stamm des Indianers
beim ersten Versuch erraten. Der Name des Mannes lautete
Dennis Diving-Bird, aber die meisten Leute nannten ihn nur
Dennis, den Abgestürzten. Dennis nahm die Wette an, und
Sonny tippte auf Hopi - die erste Runde bezahlte Dennis.
Nach vierzig Jahren als Prospektor im Südwesten Amerikas
rühmte sich Sonny der Fähigkeit, den Stamm jedes amerikanischen
Ureinwohners zu erraten. Er mochte Indianer. Tatsächlich
waren sie die einzigen Menschen, die er mochte.
»Die Silberquelle ist bloß ein Mythos«, sagte Sonny. »Ich
muss es wissen, schließlich habe ich vor zwanzig Jahren danach
gesucht und einen Scheißdreck gefunden.«
»Wo hast du gesucht?«, erkundigte sich Dennis.
»Im Gebiet der Snake, Black und San Francisco Mountains.«
Sonny trank sein Bier aus und bedeutete dem Barkeeper,
ihm ein weiteres zu bringen. »Gefunden hab ich rein gar
nichts.«
»Tja, du warst nah dran«, erwiderte Dennis. Er sog an der
neuesten Zigarette einer ununterbrochenen Reihe von Pall
Malls. »Sie liegt in den Wah Wah Mountains.«
Dennis' runzliges Gesicht verbarg sich unter langem,
schmutzig-schwarzem Haar. Er trug ein bunt gefärbtes Hemd,
eine abgewetzte Lederjacke mit mehreren GratefulDead-
Totenkopfflicken und stank entsetzlich. Allerdings wusste
Sonny, dass die zwei Wochen, die er durchgehend in den
Gebirgsausläufern Arizonas verbracht hatte, auch ihm selbst
einen etwas herberen Geruch verliehen hatten.
»Die Legenden sind wahr, Mann«, beharrte Dennis. »Die
Quelle blubbert aus dem Boden und ergießt sich in einen kleinen
Tümpel voll Silberstaub.«
»Du hast also die Silberquelle gefunden?« Sonny versuchte,
sich ungläubig anzuhören, aber in seinen Gedanken regte
sich Neugier. »Die Legenden sind wahr, und die Quelle wartet
nur darauf, von jemandem in Besitz genommen zu werden?«
»Ganz genau, Mann. Unberührt, wie man sich's nur wünschen
kann - sofern sie noch niemand gefunden hat, seit ich
vor etwa zehn Jahren zuletzt dort war.«
»Aha. Und deshalb hockst du hier in der TwoSpoke
Bar und
säufst billigen Fusel, statt im Hilton die Sau rauszulassen.«
»Hey, Mann, dass ich sie nicht in Besitz genommen hab,
heißt noch lange nicht, dass es sie nicht gibt.«
»Warum, zum Teufel, hast du sie dir nicht gekrallt?« Sonny
war nicht wütend auf Dennis, sondern auf sich selbst. Die Geschichte
war blanker Blödsinn, dennoch spürte er bereits, wie
jener unkontrollierbare Teil seiner selbst sich darum schlang
wie die Beine einer jungen Frau um ihren Liebhaber. Manche
Menschen litten an der Abhängigkeit von Drogen, Alkohol,
Frauen oder Geld; Sonnys Sucht war Neugier.
Dennis, der Abgestürzte, beugte sich verschwörerisch vor,
schloss die Hand schützend um seinen Drink und senkte den
Kopf tief über den Tisch. »Der Ort ist verflucht, Mann. Vielleicht
sogar böse.«
»Ach, fick dich doch ins Knie! Noch nie hat ein Fluch jemanden
davon abgehalten, sich den Topf voll Gold am Ende
des Regenbogens zu schnappen. Ich würde dem Teufel das
Gehänge abschneiden und ihm den Schatz aus dem Arsch zerren,
wenn es nötig wäre.«
»Das sagst du, weil du noch nie dort gewesen bist«, entgegnete
Dennis leise. »Die Hopi sind klug genug, sich von dem
Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 07/2010
Copyright © 2005 by Scott Sigler
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Umschlagillustration: © Kevin Capizzi
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Autoren-Porträt von Scott Sigler
Scott Sigler schrieb seine erste Geschichte zu Schulzeiten und hat seither nicht damit aufgehört. Seine Romane, Kurzgeschichten und Drehbücher befassen sich vorwiegend mit dem zweischneidigen Schwert der modernen Wissenschaft, die zumeist gleichzeitig Gutes wie Schlechtes hervorbringt. Scott erfand das Verlagswesen neu, indem er EarthCore ursprünglich als ersten exklusiven Podcast-Roman in zwanzig Episoden veröffentlichte, die auf Anhieb rund 10.000 Abonnenten fanden. Mittlerweile wurden bereits über drei Millionen Dateien seiner Werke heruntergeladen. Berichte über ihn erschienen unter anderem in der Washington Post, der Business Week, bei CNet, The Book Standard, MacWorld und in der landesweiten Radiosendung The Dragon Page. Scott stammt aus Michigan und lebt mit seiner Frau Jody und mit den beiden Hunden Mookie und Emma in San Francisco.
Bibliographische Angaben
- Autor: Scott Sigler
- 2010, 617 Seiten, Maße: 13,5 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Michael Krug
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453435079
- ISBN-13: 9783453435070
Rezension zu „Sigler, S: EarthCore “
"Gnadenlos spannend! 'EarthCore' bietet alles, was einen guten Thriller ausmacht."
Kommentare zu "Sigler, S: EarthCore"
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