Sirenen und gepackte Koffer
Im September 1940 startete das bis dahin größte staatliche Bauprogramm in der Geschichte Berlins – auf den Befehl Adolf Hitlers.
Rund 1.000 Bunkeranlagen entstanden, die jedoch angesichts der massiven Bombenangriffe für...
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Produktinformationen zu „Sirenen und gepackte Koffer “
Im September 1940 startete das bis dahin größte staatliche Bauprogramm in der Geschichte Berlins – auf den Befehl Adolf Hitlers.
Rund 1.000 Bunkeranlagen entstanden, die jedoch angesichts der massiven Bombenangriffe für die Zivilbevölkerung keineswegs ausreichend waren. Bunker & Menschen, Geschichten & Schicksale.
Von der detaillierten Bunker-Planung und -Bewaffnung bis zum Alltag der Menschen während der verheerenden alliierten Luftangriffe in den Schutzanlagen informiert dieser Band umfassend über die Historie der Berliner Bunker. Die Autoren haben sämtliches zugängliches Archivmaterial gesichtet, Hunderte Gespräche mit Zeitzeugen geführt und das Innere der verbliebenen Anlagen erkundet. Kenntnisreich informieren sie auch darüber, was mit den Betonbauten nach Kriegsende geschah, bevor die Alliierten mit den Sprengungen begannen. So dienten die Bunker z.B. Ausgebombten und Flüchlingen zeitweise als Unterschlupf.
Lese-Probe zu „Sirenen und gepackte Koffer “
Sirenen und gepackte Koffer von Dietmar Arnold und Reiner Janick1 Expedition in den »Mont Klamott«
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An einem kalten Novemberabend gelingt uns der Durchstich. Fünf Nächte lang haben wir heimlich gegraben und fühlten uns dabei eher wie die Fluchttunnelgräber der 60er Jahre denn als passionierte Untergrundforscher. Unsere Gruppe hatte das Ziel, noch einmal in jene geheimnisvolle und verbotene Welt zurückzukehren, in der wir einen Teil unserer Jugend verbracht haben, an einen Ort mitten in der Großstadt, der ganz nah und dennoch unerreichbar war, ein Ort, von dem andere nicht einmal wußten, daß es ihn überhaupt noch gibt.
Wir hatten alles über Monate vorbereitet. Historische Pläne und Fotografien waren analysiert, zahlreiche Zeitzeugen befragt worden. Dabei waren wir auf eine geeignete Stelle für den Einstieg gestoßen. Ein Foto aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigte einen langen, durch die Sprengungen französischer Pioniere verursachten Riß in der über zwei Meter dicken Betonwand des Bunkers, der später mit Bauschutt verfüllt worden war. Hier wollten wir uns einen Weg in das Innere des nur teilweise zerstörten Kolosses schaffen.
Ein Wochenende in einer Schlechtwetterperiode scheint uns der geeignete Zeitpunkt für das Abenteuer zu sein. Es nieselt, und die Temperaturen liegen nur wenig über dem Gefrierpunkt. Wer geht denn da abends noch im Bunker-Park spazieren? An einem Freitag um 22.30 Uhr rückt unser Expeditionstrupp los. Drei Mitglieder werden zum Graben eingeteilt, drei weitere sind für die Beseitigung des Abraums zuständig. Die übrigen bilden das Sicherungsteam. Wenn sich ein Hundehalter oder ein Liebespaar nähert, wird Alarm gegeben und die Arbeit unterbrochen. Erst nach Mitternacht wird es spürbar ruhiger, und wir kommen mit dem Graben endlich voran. Als es anfängt zu dämmern, sind die ersten dreieinhalb Meter geschafft. Wir sichern und tarnen die Einstiegsstelle und verabreden uns für den nächsten Abend.
Die Arbeiten gehen in der zweiten und dritten Nacht gut voran, denn das dichte Wurzelwerk, das sich in den letzten vier Jahrzehnten hier ausgebildet hat, macht den Untergrund ziemlich stabil, so daß von den anfangs berechneten Abstützungen gerade mal ein Viertel benötigt wird. Doch in der vierten Nacht droht beinahe alles zu scheitern. Die Sicherungsgruppe meldet wieder einmal »Besuch«. Schnell verschwindet unser Arbeitsgerät im Gestrüpp und unter einem Laubhaufen. Die Abraumbrigade mimt eine feucht-fröhliche Zechgesellschaft, die sich hier zum Trinken zusammengefunden hat. Aber der Hund des Spaziergängers rast auf das Einstiegsloch zu und fängt an, laut zu bellen. Er hat den Grabungstrupp im Tunnel gewittert. Doch die drei da unten bleiben ruhig. Der Mann schaut kurz auf das unscheinbar wirkende Erdloch und zerrt schließlich seinen Hund weiter. Alle atmen erleichtert auf.
Kurz vor Morgengrauen ist es dann schließlich geschafft. Das Untergrundteam kommt aus dem mittlerweile rund zehn Meter langen Tunnel mit der freudigen Nachricht: »Wir sind durch!« An ein Einsteigen ist zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht zu denken, dafür müssen erst die erforderlichen Ausrüstungsgegenstände herangeschafft werden. Wir verdecken also den Zugang wieder und verabreden uns für die nächste Nacht zum Start der langersehnten Expedition.
Doch ein Wintereinbruch macht all unsere Pläne hinfällig. In der dichten weißen Schneedecke würden unsere Spuren sofort auffallen. Erst Wochen später, als Tauwetter einsetzt, können wir es endlich wagen. In drei unauffällige Kleingruppen aufgeteilt, steigen wir eines Abends schwer beladen den Bunkerberg hinauf. Wasserkanister, Provianttaschen, Seile, Fotoausrüstungen, Isoliermatten und auch mein kleines Akkordeon sind dabei. Zu siebent steigen wir in Abständen hinab. Ein Außenteam bleibt zurück, um uns zu sichern und hinter uns den Zugang wieder so zu verschließen, daß am Tage niemand Verdacht schöpfen kann. Sie sind auch dafür verantwortlich, den Eingang freizulegen, wenn wir wieder aussteigen wollen.
Zunächst gilt es für uns, den schmalen langen Tunnel auf dem Bauch liegend zu durch-robben. Ich schiebe dabei meine Fototasche vor mir her, den Rucksack ziehe ich nach. Licht gibt lediglich eine kleine Helmlampe. Nach einem guten Stück stoße ich auf eine Betonwand, der Gang knickt nach rechts ab. Unsere Berechnungen waren wohl nicht ganz perfekt. Aber nur ein kleines Stück weiter tut sich dann die ursprünglich angepeilte und etwa einen Meter breite Spalte im Beton auf. Das Ziel ist erreicht. Wir dringen in den Innenraum des Bunkers vor, wo sich alle erst einmal sammeln.
Lange dünne, weiße Tropfsteine hängen hier von der Decke. Wild verknäulte Stahlarmierungen sind in den Lampenkegeln zu erkennen, an denen zum Teil größere Betonbrocken hängen. Überall liegt Schutt herum. Es wirkt wie in einer grauen, feuchten Höhle.
Langsam steigen die Erinnerungen wieder auf. Das letzte Mal war ich wohl als Fünfzehnjähriger Ende der 70er Jahre hier unten, also als ich etwa so alt war wie viele der Flak-Helfer am Ende des Krieges. Reiner erzählt, daß ihm sogar schon vor mir der Einstieg in die verschüttete Anlage gelungen sei. Doch heute wirkt alles anders. Nur mühsam können wir uns zum erhalten gebliebenen Nordwestturm der Bunkerruine vorarbeiten. Dort angekommen, müssen wir feststellen, daß die einstige Betonwendeltreppe durch die Sprengung weitgehend aus ihren Verankerungen gerissen worden ist. Nur noch einzelne Betonfragmente hängen lose an den Wänden. Etwa 20 Meter geht es steil in die Tiefe. Wir entschließen uns zu einem etappenweisen Abseilen unserer siebenköpfigen Gruppe.
In der nächsten Etage angelangt, erwartet uns eine weitere Überraschung. In den nach außen liegenden Turmräumen hängen Dutzende, wenn nicht gar Hunderte von Fledermäusen an den Decken und Wänden. Anscheinend haben wir sie aufgeweckt, denn sie schreien Zeter und Mordio, ohne jedoch ihre Plätze zu verlassen. Kaum zu glauben, daß Fledermäuse so laut werden können. Schnell ziehen wir uns wieder aus diesem Bereich zurück.
Nach zwei Stunden sind schließlich alle im Erdgeschoß angelangt, wo wir unser Basislager für die weiteren Erkundungen einrichten: Isoliermatten werden ausgerollt, die Ausrüstungen ausgepackt, Batterien gewechselt, und Gudrun kocht zur Freude aller einen starken Kaffee. Wir teilen uns in drei Gruppen auf, die das künstliche Labyrinth in unterschiedlichen Richtungen erkunden sollen.
Nach ungefähr drei Stunden treffen wir uns am Ausgangspunkt wieder und tauschen die
ersten Erfahrungen aus. Robert, der mit Olaf und Solon die oberen Etagen inspiziert hat, bringt eine alte Bierflasche von Schultheiß mit. Auf dem Porzellanverschluß steht: »Eigentum der Luftwaffe«. Reiner und Gudrun haben bereits auf mehreren Filmen die Innenräume dokumentiert, wobei sich herausstellt, daß für die überraschend weitläufigen Hallen unser Akku-Licht zu schwach ist. Jürgen und ich sind zum ehemaligen Osteingang vorgestoßen, über den einst bei Sirenenalarm Tausende von Menschen hereinströmten. Dort finden wir auch alte Wandbeschriftungen mit Hinweisen zum Zimmer 55, wo sich einst die »Auskunft und Einweisung« befand. Den Raum selbst gibt es allerdings nicht mehr. Durch die Sprengungen in den Jahren 1947 und 1948 sind sämtliche Innenwände, die nicht aus Stahlbeton bestanden, förmlich pulverisiert worden.
Nach dem Ende unserer Besprechung stellen wir bei einem Blick auf die Uhr fest, daß draußen bereits wieder ein neuer Tag beginnt, doch hier unten scheint die Zeit stillzustehen, und wir sind erst am Anfang unserer Erkundungen. In der nächsten Runde machen sich Jürgen, Olaf und Solon auf die Suche nach einem Kabelkanal, der laut Zeitzeugenberichten zum sogenannten Leitturm hinüberführen soll, auf dem die Funkmeßgeräte zum Anpeilen angreifender Bomberverbände stationiert waren. In einer Ebene unter dem Erdgeschoß finden sie tatsächlich den Einstieg zu einem »Kriechkeller«, durch den einst alle wichtigen Leitungen verliefen. An dessen Ende stoßen sie sogar auf Gehäuse alter Funkgeräte und die Fragmente einer »Enigma«, eines Kodierungsgeräts zur Verschlüsselung von Nachrichten, doch den Übergang zum Kabelkanal finden die drei nirgends.
Ich beginne derweil zusammen mit Robert mit der Grobvermessung der gesamten Anlage. Per Laser-Meßgerät kommen wir zügig voran. Dabei dringen wir auch in Bereiche vor, in denen wahrscheinlich seit 50 Jahren kein Mensch mehr gewesen ist. Durch Spalten zwischen geborstenen Betonplatten hindurchkletternd, erreichen wir auch den einstigen Westzugang des Bunkers. Hier liegen die beiden sechs Zentimeter dicken Stahltore, vor denen während der Luftangriffe verzweifelte Menschen gestanden haben, die zu spät gekommen und nicht mehr eingelassen worden sind.
Bei der nächsten Lagebesprechung berichten Reiner und Gudrun von den aufgefundenen Überresten der alten Munitionsaufzüge. Sie zeigen uns verrostete Metallglieder wie aus einer überdimensionierten Fahrradkette. Sie gehören zum ehemaligen Aufzugsystem, mit dem die Granaten aus den Munitionskammern im Erdgeschoß aufs Dach des Flakturms befördert wurden, wo die Flugabwehrgeschütze postiert waren. Auch auf Reste der Aufzugsmaschine mit riesigen Zahnrädern sind sie zwischen den Betonfragmenten gestoßen.
Am Ende der Auswertungsrunde bemerken wir, daß bei den ersten von uns Übermüdungserscheinungen einsetzen. Kein Wunder, schließlich sind wir inzwischen 28 Stunden ohne Schlaf hier unten zugange. Doch jetzt, da wir eine Pause einlegen wollen, müssen wir feststellen, daß wir die Temperaturen falsch eingeschätzt haben. Zwar sind Isoliermatten ausreichend vorhanden, doch bei lediglich zehn Grad ist es kaum möglich, ohne Decken Schlaf zu finden. Nur zwei Schlafsäcke sind dabei. Wir versuchen es mit einer Art Rotationssystem. Nach wenigen Stunden Ruhe für jeden beschließen wir tief im Dunkeln den Beginn des neuen Tages: Gudrun und Reiner bereiten ein improvisiertes Frühstück; ich wecke danach die »Schlafsäcke« mit lautstarken Akkordeonklängen.
Nach den ersten Groborientierungen folgen jetzt die Detailuntersuchungen. Als besonders interessant erweist sich der Erdgeschoßbereich, wo sich neben der vermauerten nördlichen
Hauptzufahrt auch die etwas tiefer liegenden Munitionskammern befinden. Heute haben sich im Laufe der Jahrzehnte zwei unterirdische Seen mit klarem, türkisblauem Wasser gebildet. Beeindruckend sind auch die Überreste der gewaltigen Scharniere für die Verschlußklappen der Munitionslager. An einigen Stellen entdecken wir neuzeitliche Graffiti, doch Spuren einer neonazistischen Kultstätte, die es laut Zeitungsberichten1 hier in den 80er Jahren gegeben haben soll, können wir nicht finden.
Auf dem Weg durch die Geschosse versuchen wir noch einmal, die Auswirkungen der Bunkersprengungen von 1947/48 nachzuvollziehen. Von den südlich gelegenen Bunkertürmen ist bis auf einen Bereich im Erdgeschoß nichts mehr übrig. Hier ist alles wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Im Gegensatz dazu ist die nördliche Bunkerhälfte in der Nähe der S-Bahn-Gleise über alle sechs Etagen noch erstaunlich gut erhalten. Die vier Hauptstützen in der Bunkermitte sind offenbar gezielt zersprengt worden, so daß die Zwischendecken alle durchhängen und skurril verschachtelte schiefe Ebenen bilden. Die etwa drei Meter dicke Abschlußdecke lehnt mit fast 45 Grad Schräglage an der intakten Bunkerhälfte und deckelt - ähnlich einem Sarkophag - das unterirdische Labyrinth stabil ab. Darauf befinden sich noch einmal Tausende Tonnen von Trümmerschutt.
Am Abend nähert sich unsere Expedition dann unweigerlich ihrem Ende, denn die Wasservorräte sind aufgebraucht. Wir schleppen die Ausrüstung in Richtung Aufstiegspunkt und klettern mühsam wieder nach oben. Über Funktelefon benachrichtigen wir das Außenteam, das pünktlich den Zugang wieder frei
legt. Einer nach dem anderen von uns kehrt erschöpft in die Oberwelt zurück. Danach wird der Tunnel noch gründlich verfüllt, denn an dieser Stelle soll kein Unerfahrener unser Abenteuer wiederholen können. Zu groß wäre die Gefahr.
Mit der Auswertung unseres Erkundungsmaterials sind wir einige Zeit beschäftigt. Da keine historischen Pläne mehr von der Anlage existieren, können wir nun einen ersten Aufriß fertigen. Wie sich dabei herausstellt, ist die innere Grundstruktur doch anders als in manchen Zeitzeugenerinnerungen angegeben. Auch stellen wir Abweichungen gegenüber den angeblich baugleichen Türmen am Zoo, im Friedrichshain oder dem bis heute noch intakt erhaltenen Flakturm auf dem Hamburger Heiliggeistfeld fest. Wir sind froh, mit unseren Erkenntnissen zur Geschichte dieser Bunkeranlagen einen großen Schritt vorangekommen zu sein. Sie sollen uns noch nützlich sein, denn wir haben vor, wiederzukommen.
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
An einem kalten Novemberabend gelingt uns der Durchstich. Fünf Nächte lang haben wir heimlich gegraben und fühlten uns dabei eher wie die Fluchttunnelgräber der 60er Jahre denn als passionierte Untergrundforscher. Unsere Gruppe hatte das Ziel, noch einmal in jene geheimnisvolle und verbotene Welt zurückzukehren, in der wir einen Teil unserer Jugend verbracht haben, an einen Ort mitten in der Großstadt, der ganz nah und dennoch unerreichbar war, ein Ort, von dem andere nicht einmal wußten, daß es ihn überhaupt noch gibt.
Wir hatten alles über Monate vorbereitet. Historische Pläne und Fotografien waren analysiert, zahlreiche Zeitzeugen befragt worden. Dabei waren wir auf eine geeignete Stelle für den Einstieg gestoßen. Ein Foto aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigte einen langen, durch die Sprengungen französischer Pioniere verursachten Riß in der über zwei Meter dicken Betonwand des Bunkers, der später mit Bauschutt verfüllt worden war. Hier wollten wir uns einen Weg in das Innere des nur teilweise zerstörten Kolosses schaffen.
Ein Wochenende in einer Schlechtwetterperiode scheint uns der geeignete Zeitpunkt für das Abenteuer zu sein. Es nieselt, und die Temperaturen liegen nur wenig über dem Gefrierpunkt. Wer geht denn da abends noch im Bunker-Park spazieren? An einem Freitag um 22.30 Uhr rückt unser Expeditionstrupp los. Drei Mitglieder werden zum Graben eingeteilt, drei weitere sind für die Beseitigung des Abraums zuständig. Die übrigen bilden das Sicherungsteam. Wenn sich ein Hundehalter oder ein Liebespaar nähert, wird Alarm gegeben und die Arbeit unterbrochen. Erst nach Mitternacht wird es spürbar ruhiger, und wir kommen mit dem Graben endlich voran. Als es anfängt zu dämmern, sind die ersten dreieinhalb Meter geschafft. Wir sichern und tarnen die Einstiegsstelle und verabreden uns für den nächsten Abend.
Die Arbeiten gehen in der zweiten und dritten Nacht gut voran, denn das dichte Wurzelwerk, das sich in den letzten vier Jahrzehnten hier ausgebildet hat, macht den Untergrund ziemlich stabil, so daß von den anfangs berechneten Abstützungen gerade mal ein Viertel benötigt wird. Doch in der vierten Nacht droht beinahe alles zu scheitern. Die Sicherungsgruppe meldet wieder einmal »Besuch«. Schnell verschwindet unser Arbeitsgerät im Gestrüpp und unter einem Laubhaufen. Die Abraumbrigade mimt eine feucht-fröhliche Zechgesellschaft, die sich hier zum Trinken zusammengefunden hat. Aber der Hund des Spaziergängers rast auf das Einstiegsloch zu und fängt an, laut zu bellen. Er hat den Grabungstrupp im Tunnel gewittert. Doch die drei da unten bleiben ruhig. Der Mann schaut kurz auf das unscheinbar wirkende Erdloch und zerrt schließlich seinen Hund weiter. Alle atmen erleichtert auf.
Kurz vor Morgengrauen ist es dann schließlich geschafft. Das Untergrundteam kommt aus dem mittlerweile rund zehn Meter langen Tunnel mit der freudigen Nachricht: »Wir sind durch!« An ein Einsteigen ist zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht zu denken, dafür müssen erst die erforderlichen Ausrüstungsgegenstände herangeschafft werden. Wir verdecken also den Zugang wieder und verabreden uns für die nächste Nacht zum Start der langersehnten Expedition.
Doch ein Wintereinbruch macht all unsere Pläne hinfällig. In der dichten weißen Schneedecke würden unsere Spuren sofort auffallen. Erst Wochen später, als Tauwetter einsetzt, können wir es endlich wagen. In drei unauffällige Kleingruppen aufgeteilt, steigen wir eines Abends schwer beladen den Bunkerberg hinauf. Wasserkanister, Provianttaschen, Seile, Fotoausrüstungen, Isoliermatten und auch mein kleines Akkordeon sind dabei. Zu siebent steigen wir in Abständen hinab. Ein Außenteam bleibt zurück, um uns zu sichern und hinter uns den Zugang wieder so zu verschließen, daß am Tage niemand Verdacht schöpfen kann. Sie sind auch dafür verantwortlich, den Eingang freizulegen, wenn wir wieder aussteigen wollen.
Zunächst gilt es für uns, den schmalen langen Tunnel auf dem Bauch liegend zu durch-robben. Ich schiebe dabei meine Fototasche vor mir her, den Rucksack ziehe ich nach. Licht gibt lediglich eine kleine Helmlampe. Nach einem guten Stück stoße ich auf eine Betonwand, der Gang knickt nach rechts ab. Unsere Berechnungen waren wohl nicht ganz perfekt. Aber nur ein kleines Stück weiter tut sich dann die ursprünglich angepeilte und etwa einen Meter breite Spalte im Beton auf. Das Ziel ist erreicht. Wir dringen in den Innenraum des Bunkers vor, wo sich alle erst einmal sammeln.
Lange dünne, weiße Tropfsteine hängen hier von der Decke. Wild verknäulte Stahlarmierungen sind in den Lampenkegeln zu erkennen, an denen zum Teil größere Betonbrocken hängen. Überall liegt Schutt herum. Es wirkt wie in einer grauen, feuchten Höhle.
Langsam steigen die Erinnerungen wieder auf. Das letzte Mal war ich wohl als Fünfzehnjähriger Ende der 70er Jahre hier unten, also als ich etwa so alt war wie viele der Flak-Helfer am Ende des Krieges. Reiner erzählt, daß ihm sogar schon vor mir der Einstieg in die verschüttete Anlage gelungen sei. Doch heute wirkt alles anders. Nur mühsam können wir uns zum erhalten gebliebenen Nordwestturm der Bunkerruine vorarbeiten. Dort angekommen, müssen wir feststellen, daß die einstige Betonwendeltreppe durch die Sprengung weitgehend aus ihren Verankerungen gerissen worden ist. Nur noch einzelne Betonfragmente hängen lose an den Wänden. Etwa 20 Meter geht es steil in die Tiefe. Wir entschließen uns zu einem etappenweisen Abseilen unserer siebenköpfigen Gruppe.
In der nächsten Etage angelangt, erwartet uns eine weitere Überraschung. In den nach außen liegenden Turmräumen hängen Dutzende, wenn nicht gar Hunderte von Fledermäusen an den Decken und Wänden. Anscheinend haben wir sie aufgeweckt, denn sie schreien Zeter und Mordio, ohne jedoch ihre Plätze zu verlassen. Kaum zu glauben, daß Fledermäuse so laut werden können. Schnell ziehen wir uns wieder aus diesem Bereich zurück.
Nach zwei Stunden sind schließlich alle im Erdgeschoß angelangt, wo wir unser Basislager für die weiteren Erkundungen einrichten: Isoliermatten werden ausgerollt, die Ausrüstungen ausgepackt, Batterien gewechselt, und Gudrun kocht zur Freude aller einen starken Kaffee. Wir teilen uns in drei Gruppen auf, die das künstliche Labyrinth in unterschiedlichen Richtungen erkunden sollen.
Nach ungefähr drei Stunden treffen wir uns am Ausgangspunkt wieder und tauschen die
ersten Erfahrungen aus. Robert, der mit Olaf und Solon die oberen Etagen inspiziert hat, bringt eine alte Bierflasche von Schultheiß mit. Auf dem Porzellanverschluß steht: »Eigentum der Luftwaffe«. Reiner und Gudrun haben bereits auf mehreren Filmen die Innenräume dokumentiert, wobei sich herausstellt, daß für die überraschend weitläufigen Hallen unser Akku-Licht zu schwach ist. Jürgen und ich sind zum ehemaligen Osteingang vorgestoßen, über den einst bei Sirenenalarm Tausende von Menschen hereinströmten. Dort finden wir auch alte Wandbeschriftungen mit Hinweisen zum Zimmer 55, wo sich einst die »Auskunft und Einweisung« befand. Den Raum selbst gibt es allerdings nicht mehr. Durch die Sprengungen in den Jahren 1947 und 1948 sind sämtliche Innenwände, die nicht aus Stahlbeton bestanden, förmlich pulverisiert worden.
Nach dem Ende unserer Besprechung stellen wir bei einem Blick auf die Uhr fest, daß draußen bereits wieder ein neuer Tag beginnt, doch hier unten scheint die Zeit stillzustehen, und wir sind erst am Anfang unserer Erkundungen. In der nächsten Runde machen sich Jürgen, Olaf und Solon auf die Suche nach einem Kabelkanal, der laut Zeitzeugenberichten zum sogenannten Leitturm hinüberführen soll, auf dem die Funkmeßgeräte zum Anpeilen angreifender Bomberverbände stationiert waren. In einer Ebene unter dem Erdgeschoß finden sie tatsächlich den Einstieg zu einem »Kriechkeller«, durch den einst alle wichtigen Leitungen verliefen. An dessen Ende stoßen sie sogar auf Gehäuse alter Funkgeräte und die Fragmente einer »Enigma«, eines Kodierungsgeräts zur Verschlüsselung von Nachrichten, doch den Übergang zum Kabelkanal finden die drei nirgends.
Ich beginne derweil zusammen mit Robert mit der Grobvermessung der gesamten Anlage. Per Laser-Meßgerät kommen wir zügig voran. Dabei dringen wir auch in Bereiche vor, in denen wahrscheinlich seit 50 Jahren kein Mensch mehr gewesen ist. Durch Spalten zwischen geborstenen Betonplatten hindurchkletternd, erreichen wir auch den einstigen Westzugang des Bunkers. Hier liegen die beiden sechs Zentimeter dicken Stahltore, vor denen während der Luftangriffe verzweifelte Menschen gestanden haben, die zu spät gekommen und nicht mehr eingelassen worden sind.
Bei der nächsten Lagebesprechung berichten Reiner und Gudrun von den aufgefundenen Überresten der alten Munitionsaufzüge. Sie zeigen uns verrostete Metallglieder wie aus einer überdimensionierten Fahrradkette. Sie gehören zum ehemaligen Aufzugsystem, mit dem die Granaten aus den Munitionskammern im Erdgeschoß aufs Dach des Flakturms befördert wurden, wo die Flugabwehrgeschütze postiert waren. Auch auf Reste der Aufzugsmaschine mit riesigen Zahnrädern sind sie zwischen den Betonfragmenten gestoßen.
Am Ende der Auswertungsrunde bemerken wir, daß bei den ersten von uns Übermüdungserscheinungen einsetzen. Kein Wunder, schließlich sind wir inzwischen 28 Stunden ohne Schlaf hier unten zugange. Doch jetzt, da wir eine Pause einlegen wollen, müssen wir feststellen, daß wir die Temperaturen falsch eingeschätzt haben. Zwar sind Isoliermatten ausreichend vorhanden, doch bei lediglich zehn Grad ist es kaum möglich, ohne Decken Schlaf zu finden. Nur zwei Schlafsäcke sind dabei. Wir versuchen es mit einer Art Rotationssystem. Nach wenigen Stunden Ruhe für jeden beschließen wir tief im Dunkeln den Beginn des neuen Tages: Gudrun und Reiner bereiten ein improvisiertes Frühstück; ich wecke danach die »Schlafsäcke« mit lautstarken Akkordeonklängen.
Nach den ersten Groborientierungen folgen jetzt die Detailuntersuchungen. Als besonders interessant erweist sich der Erdgeschoßbereich, wo sich neben der vermauerten nördlichen
Hauptzufahrt auch die etwas tiefer liegenden Munitionskammern befinden. Heute haben sich im Laufe der Jahrzehnte zwei unterirdische Seen mit klarem, türkisblauem Wasser gebildet. Beeindruckend sind auch die Überreste der gewaltigen Scharniere für die Verschlußklappen der Munitionslager. An einigen Stellen entdecken wir neuzeitliche Graffiti, doch Spuren einer neonazistischen Kultstätte, die es laut Zeitungsberichten1 hier in den 80er Jahren gegeben haben soll, können wir nicht finden.
Auf dem Weg durch die Geschosse versuchen wir noch einmal, die Auswirkungen der Bunkersprengungen von 1947/48 nachzuvollziehen. Von den südlich gelegenen Bunkertürmen ist bis auf einen Bereich im Erdgeschoß nichts mehr übrig. Hier ist alles wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Im Gegensatz dazu ist die nördliche Bunkerhälfte in der Nähe der S-Bahn-Gleise über alle sechs Etagen noch erstaunlich gut erhalten. Die vier Hauptstützen in der Bunkermitte sind offenbar gezielt zersprengt worden, so daß die Zwischendecken alle durchhängen und skurril verschachtelte schiefe Ebenen bilden. Die etwa drei Meter dicke Abschlußdecke lehnt mit fast 45 Grad Schräglage an der intakten Bunkerhälfte und deckelt - ähnlich einem Sarkophag - das unterirdische Labyrinth stabil ab. Darauf befinden sich noch einmal Tausende Tonnen von Trümmerschutt.
Am Abend nähert sich unsere Expedition dann unweigerlich ihrem Ende, denn die Wasservorräte sind aufgebraucht. Wir schleppen die Ausrüstung in Richtung Aufstiegspunkt und klettern mühsam wieder nach oben. Über Funktelefon benachrichtigen wir das Außenteam, das pünktlich den Zugang wieder frei
legt. Einer nach dem anderen von uns kehrt erschöpft in die Oberwelt zurück. Danach wird der Tunnel noch gründlich verfüllt, denn an dieser Stelle soll kein Unerfahrener unser Abenteuer wiederholen können. Zu groß wäre die Gefahr.
Mit der Auswertung unseres Erkundungsmaterials sind wir einige Zeit beschäftigt. Da keine historischen Pläne mehr von der Anlage existieren, können wir nun einen ersten Aufriß fertigen. Wie sich dabei herausstellt, ist die innere Grundstruktur doch anders als in manchen Zeitzeugenerinnerungen angegeben. Auch stellen wir Abweichungen gegenüber den angeblich baugleichen Türmen am Zoo, im Friedrichshain oder dem bis heute noch intakt erhaltenen Flakturm auf dem Hamburger Heiliggeistfeld fest. Wir sind froh, mit unseren Erkenntnissen zur Geschichte dieser Bunkeranlagen einen großen Schritt vorangekommen zu sein. Sie sollen uns noch nützlich sein, denn wir haben vor, wiederzukommen.
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Dietmar Arnold , Reiner Janick
- 215 Seiten, teilweise farbige Abbildungen, durchgehend Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 21,5 x 26,7 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828946917
- ISBN-13: 9783828946910
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