SMS für dich
Roman
Nach Bens Tod schreibt Clara täglich eine SMS an seine alte Nummer. Was Clara allerdings nicht weiß: Die Nummer wurde inzwischen neu vergeben und die SMS landen bei dem Journalisten Sven. Der ist so von den Nachrichten berührt, dass er sich auf die Suche nach der Absenderin macht.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „SMS für dich “
Nach Bens Tod schreibt Clara täglich eine SMS an seine alte Nummer. Was Clara allerdings nicht weiß: Die Nummer wurde inzwischen neu vergeben und die SMS landen bei dem Journalisten Sven. Der ist so von den Nachrichten berührt, dass er sich auf die Suche nach der Absenderin macht.
Klappentext zu „SMS für dich “
Was ich dir noch sagen will...Nach einem heftigen Streit verschwindet Claras Freund ohne ein Wort. Kurz darauf erfährt sie, dass Ben auf tragische Weise ums Leben gekommen ist. Dabei hatte er ihr erst vor wenigen Wochen einen Heiratsantrag gemacht! Clara ist am Boden zerstört. Wie soll sie allein weiterleben? Erst als sie vor Sehnsucht beginnt, Ben täglich eine SMS zu schreiben, findet sie allmählich wieder Halt.
Doch was Clara nicht weiß: Bens Nummer wurde inzwischen neu vergeben. Die Nachrichten landen bei Sven, und sie berühren
den jungen Journalisten so sehr, dass er sich auf die Suche nach der geheimnisvollen Absenderin macht ...
Lese-Probe zu „SMS für dich “
SMS für dich von Sofie Cramer Prolog
... mehr
«Guten Morgen, Lilime. Lust auf Croissants?» Ohne die Augen zu öffnen, atmet Clara genussvoll den frischen Kaffeeduft ein. Sie räkelt sich auf dem weichen Bett und gibt sich dem wohligen Gefühl hin, das sie im ganzen Körper erfüllt. Es muss Wochenende sein! Sonst wäre Ben sicher noch nicht aufgestanden, um das Frühstücksritual vorzubereiten. Schließlich sind sie verdammt spät eingeschlafen. Es muss beinahe vier Uhr gewesen sein, als sie von ihrem Lieblingsitaliener nach Hause spaziert sind. Nach zwei Flaschen Rosé und viel zu vielen Gläsern Ramazzotti, die Beppo ihnen wie bei jedem ihrer Besuche charmant aufgedrängt hat. Und als sie im Treppenhaus ankamen, trug Ben Clara wie selbstverständlich in den zweiten Stock, weil ihre Füße von den spontanen Tanzeinlagen auf dem Heimweg so schmerzten. Behutsam stellt er jetzt das Tablett ab und setzt sich vorsichtig neben sie. Seine Lippen beginnen zärtlich über ihr Gesicht zu fahren. «Eigentlich hab ich ja viel mehr Lust auf was ganz anderes », flüstert Ben ihr ins Ohr. Allmählich wird Clara wacher. Sie spürt Bens feine, kurze Bartstoppeln auf ihrem Dekolleté. Mit seinem Mund gleitet er langsam über das hauchdünne Hemdchen. Sie liebt es, wenn er sie so weckt. Nichts schenkt ihr mehr Geborgenheit, als seinen starken Körper so nah zu spüren. Doch er ist ganz leicht. Auch seinen vertrauten Geruch nimmt sie kaum wahr. Irgendwas ist heute anders. Wie in Trance öffnet Clara zaghaft die Augen. Und mit einem Schlag ist sie wach. Sie fühlt sich augenblicklich wie eine Fremde, gefangen in einer Zeit, die sie nicht kennt. Plötzlich ist sie wieder da, die brutale Realität: Ben ist nicht da. Ben wird nie wieder da sein. Sie muss geträumt haben. Clara hat schon lange nicht mehr geträumt. Seit zwei Monaten und fünf Tagen hat sie auch nicht mehr gelächelt - obwohl sie sich hin und wieder darum bemüht hat. Etwa um ihre Mutter davon abzuhalten, weitere zermürbende Trosttiraden von sich zu geben. Wenn sie wieder die alte Clara wäre, würde ihre Mutter sie vielleicht schneller wieder sich selbst überlassen. Sich selbst überlassen ... Genauso fühlt sie sich, seit ihr geliebter Ben an jenem Januartag von einem Balkon aus in den Tod gestürzt ist. Sich selbst überlassen. Und allein. Allein mit all den Gedanken, die Clara wie ein übergroßes Schattengebilde verfolgen. Vor allem nachts. Immer wieder wacht sie auf aus einem unruhigen, traumlosen Schlaf. Zwischen Schlafen und Erwachen gibt es lediglich eine einzige friedvolle Sekunde, in der sich Clara wie die Clara fühlt, die sie früher gewesen ist. Bevor Ben starb, war Clara eine souveräne Frau gewesen. Eine, die weniger romantisch und sentimental war als die meisten ihrer Freundinnen. Diese rationale und starke Seite war es auch, die Ben vom ersten Tag an fasziniert hat. Ihre Bilder von der Welt waren zwar unterschiedlich, doch zusammen ergaben sie ein wunderbar vollkommenes Gemälde, das beiden gleichermaßen Halt bot. Wann immer sie aneinander gerieten, fanden sie nach kurzer Zeit wieder zusammen. Zunächst mit einigen kleinlauten Bemerkungen, die den Stolz überwanden, schließlich mit Gesten, die in vertraute körperliche Annäherungen übergingen. Meist folgte dann eine Verfolgungsjagd durch die gemütliche Zwei-Zimmer-Wohnung, bis Clara erschöpft in Bens Arme sank. Er brauchte dann bloß noch so zu tun, als würde er sie zwischen ihren spürbaren Rippen durchkitzeln, und schon kreischte sie vor Panik und Verzückung. Wenn er sich ihr schließlich mit seinem Mund näherte und ihren schmalen Hals, knapp unterhalb des Ohrläppchens, zärtlich küsste, säuselte er gern liebevolles Zeug vor sich hin. In solchen Momenten nannte er sie mit leiser Stimme «Lilime». Nur Clara kannte die Abkürzung für «Lieblingsmensch». Ihre grün leuchtenden Augen begannen dann jedes Mal zu funkeln, und sie liebten sich wortlos. Auch nach über drei Jahren waren sie sich noch jedes Mal so nah, wie es eigentlich nur frisch Verliebte vermögen. Nicht jedoch in der Nacht, als es passierte. Ein vorwurfsvolles Wort hatte das andere ergeben, und Clara würde heute alles dafür tun, die Vorwürfe niemals ausgesprochen zu haben. Noch immer hat sie den Klang der Tür im Ohr, die Ben zugeschlagen hatte, als er außer sich vor Wut die Wohnung verließ. Es war das erste und das letzte Mal, dass er verschwand, ohne zu sagen, wohin er gehen würde. Wenn sie daran denkt, wie erleichtert sie gewesen war, dass sie allein zurückblieb und sich ungestört bei ihrer engsten Freundin Katja darüber auslassen konnte, wie unreif und verantwortungslos Ben trotz seiner 32 Jahre doch sei ... Dann spürt Clara das schlechte Gewissen noch immer wie zersetzende Säure in ihrem gesamten Körper. Zwar hatte sie an jenem Abend immer ihr Handy im Blick gehabt, als sie mit Katja diskutierte, ob sie Ben einfach mal einen Denkzettel verpassen und entgegen ihrem normalen Verhalten für eine ganze Nacht abhauen sollte. Aber von Ben kam keine Nachricht. Dabei schickte er ihr ständig Nachrichten. Wann immer er eine Pause zwischen den Vorlesungen an der Uni hatte, mit seiner Band unterwegs war oder bei seinem Kumpel Carsten versackte. Schon allein weil er Claras Unmut erst gar keine Chance geben wollte, schickte er vorsorglich ein paar besänftigende Worte an «Lilime». Oder aber einfach nur ein Klingelzeichen. Als sie sich im «Cheers» begegnet waren, war Clara anfangs sehr skeptisch gewesen angesichts der zahlreichen Gerüchte, Ben Runge sei ein Frauenheld, einer, der sämtlichen Schönheiten Lüneburgs den Kopf verdreht habe. Doch Ben bemühte sich, ihr mit seinen SMS zu zeigen, dass er nur noch sie im Sinn hatte. Und so ließ er, wann immer er an sie dachte, kurz das Handy klingeln als eine Art Liebesbeweis. Seit jener grausamen Nacht aber erhält Clara weder ein Klingelzeichen noch eine Nachricht. Ben meldet sich überhaupt nicht mehr. Er bleibt für immer stumm. Clara ist nervös. Ihre Schonzeit ist nun offiziell vorbei, denn heute ist ihr erster Arbeitstag nach Bens Beerdigung. Die Ärztin hatte ihr zwar angeboten, sie noch eine weitere Woche krankzuschreiben. Doch Clara sehnt sich inzwischen nach Struktur und Alltag. Sie erträgt es nicht mehr, nächtelang wach zu liegen und bis in den späten Vormittag hinein im Bett zu bleiben, ohne wirklich ausgeruht zu sein. Eher fühlt sie sich wie ein vergammeltes, trockenes Stück Brot. Wenn ihre Mutter sie anfangs nicht jeden Nachmittag zu einem kurzen Spaziergang genötigt hätte, würde sie sich womöglich immer noch nicht aus der Wohnung heraustrauen. Als sie das erste Mal allein zum Einkaufen unterwegs war, um ihren Vorrat an Dosensuppen aufzufüllen, hatte Clara das Gefühl, jeder könnte ihren Schmerz im Gesicht ablesen. Die Kassiererin hat ihr nicht einmal richtig in die Augen schauen können. Und Clara verspürte diesen unbeschreiblichen Drang, sofort hinauszuschreien: «Ja, mein Freund ist tot, und niemand weiß, warum!» Es gibt aber auch angenehmere Verbindungen zur Außenwelt, die ihr Kraft geben oder aber wenigstens keinen zusätzlichen Kummer bereiten. Niklas, ihr Chef, zum Beispiel hat sie jede Woche angerufen, um zu hören, wie es ihr ginge, und um ihr zu sagen, dass sie sich wegen ihres Jobs keine Sorgen zu machen bräuchte. Ihre Kollegin Antje würde sich um alles kümmern, könne ihr aber niemals den Posten als beste Graphikerin in der Agentur streitig machen. Clara weiß, dass Antje ohnehin wenig begeistert von der Werbebranche ist und nicht versteht, wie Clara sich so in ihren Beruf reinhängen kann. Mittlerweile muss Clara sich auch selbst eingestehen, dass sie zu viele Abende allein in ihrem Büro verbracht hat, statt es sich zu Hause mit Ben gemütlich zu machen oder einfach das Leben mit ihm zu feiern. Immerzu hat sie perfekte Arbeit leisten und dem Kunden statt eines halbherzigen Entwurfs lieber gleich zwei herausragende Alternativen präsentieren wollen. Dennoch war es die größte Befriedigung, wenn der Auftraggeber sich dann für ihren Favoriten entschied. Clara kostete ihren Erfolg allerdings meist bloß stumm und immer nur für eine kurze Zeit aus. Im Grunde bin ich eine Einzelgängerin, denkt Clara, und wenn ich mich meinen Entwürfen widme, darf mich niemand stören. Ich versinke dann stundenlang in einen tranceartigen Zustand. Ein Zustand, der jetzt unerreichbar scheint, weil ihr die Realität unerbittlich den Weg in diese andere schöne Welt versperrt. Clara hofft, dass ihr die Arbeit gut tun wird. Schließlich muss sie sich im Büro zusammenreißen und kann nicht Stunde um Stunde vor sich hin grübeln, was wohl alles in Ben vorgegangen war in jener Nacht und wie sie ohne ihn zurechtkommen sollte. Noch hat sie ihre Wahrheit nicht gefunden. Aber wenn Clara für wenige Minuten mal keinen Gedanken an Ben und seinen Tod verliert, packt sie sogleich wieder das schlechte Gewissen. Als sie am Wochenende mit ihrer Oma Lisbeth durch den Lüneburger Kurpark spaziert war, hatte sie sich kurzerhand verabschiedet, weil sie unbedingt nach Hause rennen musste, um sich Fotos anzugucken. Aus Sorge, Bens Gesicht zu vergessen, wollte sie sich die vermeintlich verschwundenen Erinnerungen umgehend zurückholen. Als sie mit Seitenstechen endlich zu Hause ankam, riss sie sämtliche Alben aus dem Regal, schlug sie hektisch auf und legte die schönsten Bilder nebeneinander auf den Fußboden. Ob sie an ihrem Schreibtisch im Büro ein Foto von Ben aufstellen sollte? Eines, auf dem er sein gewitztes Lächeln zeigt, das seinen Charme wenigstens ein bisschen festhält? Wie wohl ihre Kollegen reagieren würden? Heute wird Clara sie das erste Mal seit der Beerdigung wieder sehen. Aber sie ist dieses eigenartige Gefühl leid, etwas Aussätziges zu sein. Sie will die anderen nicht unnötig in Verlegenheit bringen. Das Schlimmste sind gar nicht die unbeholfenen Äußerungen von Bekannten, die schlicht ihr Beileid aussprechen. Sondern all die Worte, die nicht gesprochen werden, denkt Clara, sie sind es, die mich geradezu erniedrigen. Die Nachbarin ihrer Mutter etwa war einfach aufgesprungen und wortlos aus der Küche verschwunden, als Clara einmal unangekündigt zu Hause auftauchte. In der Agentur wissen jedoch alle Bescheid, dass heute ihr erster Arbeitstag ist. Hoffentlich geht alles gut, betet Clara und stößt die gläserne Tür des Bürogebäudes im Lüneburger Industrieviertel auf. Sie ist extra früh unterwegs, damit sie sich vielleicht erst mal wieder an ihr Büro gewöhnen kann, bevor der Berufsalltag wieder über sie hereinbricht. Als sie aus dem Fahrstuhl tritt, ist sie überaus nervös, zumal der Flur bedrohlich ruhig wirkt. Sogar Viola vom Empfang ist noch nicht da. Clara wundert sich, dass auch ihre eigene Bürotür geschlossen ist. Ob ihr Gehirn bereits so verkümmert ist, dass sie den Sonntag für Montag hält? Aber das protzige Spider-Cabrio von Niklas stand direkt vor der Eingangstür. Zumindest ihr Chef müsste also schon hier sein. Da auch seine Tür nicht offen steht, entscheidet sich Clara, ihn lieber erst später zu begrüßen. «Überraschung!» Als Clara die Klinke ihrer Bürotür runterdrückt, dröhnt es in vielen verschiedenen Tonlagen aus ihrem Büro. Im Halbkreis steht die versammelte Mannschaft um ihren Schreibtisch herum und schaut sie erwartungsvoll an. Über ihrem Mac hängt ein Banner mit der Aufschrift «Herzlich willkommen!». Und auf dem Schreibtisch steht eine große Glasvase mit einem bunten Frühlingsstrauß darin. Noch ehe Clara etwas sagen kann, ergreift Niklas das Wort. «Wie ich sehe, ist uns diese Überraschung am frühen Morgen gelungen. Hallo Clara!» Er räuspert sich und sieht verlegen in die Runde. «Tja, ähm, wir freuen uns einfach, dass du wieder da bist. Und da ich dich jetzt schon lange genug kenne, um zu wissen, dass du nicht gern im Mittelpunkt stehst, höre ich auch schon auf, hier große Reden zu schwingen. Ich wollte ja auch nur sagen: Wir alle hier heißen dich herzlich willkommen! So, und nun geht's wieder an die Arbeit, Leute.» Die Gruppe applaudiert verhalten und löst sich schnell auf. Nur Antje geht auf Clara zu und schließt sie zur Begrüßung kurz in die Arme. Clara ist sehr gerührt. Sie muss ihre Tränen unterdrücken. «Danke», haucht sie leise. Daraufhin schaut Antje sie mit großen Augen an und entgegnet schnell: «Hey, wofür denn?» Clara zuckt mit den Schultern und lächelt. Es ist das erste Lächeln seit Wochen. Sven | Wäre ich doch bloß im Bett geblieben! Sven bereut das frühe Aufstehen, als ihm in der überfüllten S-Bahn Richtung Landungsbrücken die Knoblauchfahne seines Gegenübers ins Gesicht schlägt und den Genuss seines Kaffees mit Mandelaroma und Milchschaum verdirbt. Mehr noch als über den Gestank, den der dicke Mann beim lautstarken Reden mit einem Kollegen in die ohnehin schlechte Luft rauslässt, ärgert er sich über sich selbst, weil er es seit mindestens zehn Wochen nicht geschafft hat, sein Rennrad zu reparieren. Eigentlich gibt es dafür keine Entschuldigung, allenfalls ein paar dürftige Erklärungen. Zu viel Alkohol und unschöne Frauengeschichten, zu wenig bereichernder Input, der wiederum den inneren Antrieb nur noch mehr zum Erliegen brachte. Dabei hat Sven sich immer für ein Glückskind gehalten. Doch seit etwa drei Jahren läuft es irgendwie nicht mehr richtig rund. Als Wirtschaftsredakteur genießt er zwar viel Anerkennung in seinem Umfeld, aber letztlich kann er niemanden mehr damit beeindrucken, dass er regelmäßig die größten Wirtschaftsbosse interviewt. Und am allerwenigsten sich selbst. In den Redaktionssitzungen schweift er mit seinen Gedanken regelmäßig ab, anstatt den beiden Chefredakteuren oder seinen Kollegen mit messerscharfen und brillant vorgetragenen Themenvorschlägen oder Kommentaren zu imponieren. Was ist bloß mit ihm geschehen? Zu Beginn seines Volkswirtschaftsstudiums war er voller Begeisterung und Ideen gewesen. Er war politisch aktiv, hatte viele Freunde und trieb jeden Tag Sport, weil er Bewegung an der Hafenluft einfach liebt - frühmorgens, wenn die meisten Anwohner Altonas noch lahm in ihren Betten liegen. Ob seine Lethargie mit der Trennung von Fiona zu tun hat? Sven weigert sich, einen Zusammenhang zu sehen. Denn dann würde er sich eingestehen müssen, seinen Problemen ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Lieber redet er sich ein, sie sei gar nicht seine große Liebe gewesen. Denn obwohl nun schon so viel Zeit vergangen ist, sieht er das Bild noch immer deutlich vor sich, wie sie knutschend an ihrem Mini Cooper lehnte, die Arme um den Körper eines Fremden geschlungen. Vielleicht ist es auch seine Wut auf sich selbst, die ihn daran hindert, das Kapitel ein für alle Mal abzuschließen. Stattdessen nervt er sich inzwischen selbst mit der Frage, warum er damals nicht den Mumm hatte, sein Rad in die Ecke zu feuern und souverän zwischen die beiden zu gehen. Er hätte diesem Sackgesicht deutlich zeigen sollen, zu wem Fiona gehörte. Aber vielleicht hatte er es schon vorher verbockt. Vielleicht hatte Fiona recht mit ihrer ständigen Kritik, er würde ihr nie zeigen, wie viel sie ihm eigentlich bedeute. Auch seine Kollegin Hilke versuchte ständig, ihm vor Augen zu führen, dass der ominöse Fremde nicht der Grund, sondern bloß der Auslöser dafür war, dass Fiona schließlich aus dem gemeinsamen Loft auszog. Sven mag Hilke und vertraut ihr, würde ihr aber genau dies niemals ohne einen nennenswerten Grund verraten. Sie ist für ihn die Schwester, die er nicht hat. Und sie hat ihn in all den Jahren, die sie nun zusammen arbeiten, nie enttäuscht. Verletzt ja, aber nie mit böser Intention, sondern allenfalls weil sie in ihrer offenen und beinahe naiven Art gar nicht anders kann, als ihn mit unverblümten Aussagen wiederholt vor den Kopf zu stoßen. In der gesamten Zeit, in der sie sich das Büro im sechsten Stock teilen, hat sie ihn beinahe wöchentlich mit Äußerungen zum Nachdenken gebracht. Sie besitzt einfach Talent, immer den wunden Punkt zu treffen. «Du bist doch nur so schlecht gelaunt, weil du keinen guten Sex mehr hast», kam es erst vergangenen Montag über die Tische hinweg, als Sven mit derben Sprüchen über irgendwelche E-Mails schimpfte. «Wenn du deine kostbare Lebenszeit nächstes Wochenende wieder mit deiner bescheuerten Gilde im Internet verbringst, hab ich dich nicht mehr lieb!» Sven musste daraufhin schmunzeln. Hilke war verlegen gewesen, nachdem sie diesen mutigen Satz von sich gegeben hatte. Diesmal hatte sie sich etwas zu weit aus dem Fenster gewagt, das wusste sie. Nicht, weil sie ihn so direkt auf seine größte Schwäche, das Computerspiel ‹World of Warcraft›, angesprochen hatte. Eher wegen der vertraulichen Worte. Sven hatte sich daraufhin geräuspert und eilig etwas davon gemurmelt, dass er nächsten Samstag ohnehin keine Zeit habe, weil er dringend mal wieder bei seinem Vater vorbeischauen müsse. Auch für solche Besuche wäre es nur clever, endlich das Rad in Ordnung oder wenigstens in eine Werkstatt zu bringen, denkt Sven jetzt und verkriecht sich noch tiefer hinter seiner Zeitung, deren Inhalt ihn allerdings kaum interessiert. Obwohl es für März bereits recht mild ist, trägt er noch immer seine alten braunen Lederhandschuhe, um in der Bahn ja keine Stellen berühren zu müssen, die bereits tausende andere Menschen vor ihm angefasst haben. Dieses enge Aneinanderquetschen zwischen den Türen ekelt ihn an. Beim Aussteigen beschließt er, den abgekühlten Kaffee wegzuwerfen. Jeder Montagmorgen macht ihm Woche um Woche bewusster, wie erbärmlich sich sein Leben derzeit anfühlt. Wenn Hilke ihn gleich freudig begrüßt und nach seinem Wochenende fragt, wird er sich irgendetwas ausdenken müssen, um davon abzulenken, dass er mal wieder nichts von dem geschafft hat, was er sich eigentlich vorgenommen hatte. Weder hat er sich um die kaputte Gangschaltung gekümmert, noch ist er joggen gegangen oder mit seinem Kumpel Bernd auf ein Bier in der Kneipe gewesen. Auch bei seinem Vater hat er sich nicht gemeldet. Er weiß einfach nicht, worüber er mit ihm reden soll. Als Sven aus der Bahn steigt und in Richtung Verlagshaus geht, atmet er mehrmals tief ein und aus, so, als könne er die von den anderen Pendlern ausgedünstete Luft wieder aus seinem Körper heraushauchen. Irgendwas muss sich ändern, denkt Sven, ich will mich endlich wieder lebendig fühlen. Aber er hat absolut keine Idee, wie er das anstellen soll.
© 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
«Guten Morgen, Lilime. Lust auf Croissants?» Ohne die Augen zu öffnen, atmet Clara genussvoll den frischen Kaffeeduft ein. Sie räkelt sich auf dem weichen Bett und gibt sich dem wohligen Gefühl hin, das sie im ganzen Körper erfüllt. Es muss Wochenende sein! Sonst wäre Ben sicher noch nicht aufgestanden, um das Frühstücksritual vorzubereiten. Schließlich sind sie verdammt spät eingeschlafen. Es muss beinahe vier Uhr gewesen sein, als sie von ihrem Lieblingsitaliener nach Hause spaziert sind. Nach zwei Flaschen Rosé und viel zu vielen Gläsern Ramazzotti, die Beppo ihnen wie bei jedem ihrer Besuche charmant aufgedrängt hat. Und als sie im Treppenhaus ankamen, trug Ben Clara wie selbstverständlich in den zweiten Stock, weil ihre Füße von den spontanen Tanzeinlagen auf dem Heimweg so schmerzten. Behutsam stellt er jetzt das Tablett ab und setzt sich vorsichtig neben sie. Seine Lippen beginnen zärtlich über ihr Gesicht zu fahren. «Eigentlich hab ich ja viel mehr Lust auf was ganz anderes », flüstert Ben ihr ins Ohr. Allmählich wird Clara wacher. Sie spürt Bens feine, kurze Bartstoppeln auf ihrem Dekolleté. Mit seinem Mund gleitet er langsam über das hauchdünne Hemdchen. Sie liebt es, wenn er sie so weckt. Nichts schenkt ihr mehr Geborgenheit, als seinen starken Körper so nah zu spüren. Doch er ist ganz leicht. Auch seinen vertrauten Geruch nimmt sie kaum wahr. Irgendwas ist heute anders. Wie in Trance öffnet Clara zaghaft die Augen. Und mit einem Schlag ist sie wach. Sie fühlt sich augenblicklich wie eine Fremde, gefangen in einer Zeit, die sie nicht kennt. Plötzlich ist sie wieder da, die brutale Realität: Ben ist nicht da. Ben wird nie wieder da sein. Sie muss geträumt haben. Clara hat schon lange nicht mehr geträumt. Seit zwei Monaten und fünf Tagen hat sie auch nicht mehr gelächelt - obwohl sie sich hin und wieder darum bemüht hat. Etwa um ihre Mutter davon abzuhalten, weitere zermürbende Trosttiraden von sich zu geben. Wenn sie wieder die alte Clara wäre, würde ihre Mutter sie vielleicht schneller wieder sich selbst überlassen. Sich selbst überlassen ... Genauso fühlt sie sich, seit ihr geliebter Ben an jenem Januartag von einem Balkon aus in den Tod gestürzt ist. Sich selbst überlassen. Und allein. Allein mit all den Gedanken, die Clara wie ein übergroßes Schattengebilde verfolgen. Vor allem nachts. Immer wieder wacht sie auf aus einem unruhigen, traumlosen Schlaf. Zwischen Schlafen und Erwachen gibt es lediglich eine einzige friedvolle Sekunde, in der sich Clara wie die Clara fühlt, die sie früher gewesen ist. Bevor Ben starb, war Clara eine souveräne Frau gewesen. Eine, die weniger romantisch und sentimental war als die meisten ihrer Freundinnen. Diese rationale und starke Seite war es auch, die Ben vom ersten Tag an fasziniert hat. Ihre Bilder von der Welt waren zwar unterschiedlich, doch zusammen ergaben sie ein wunderbar vollkommenes Gemälde, das beiden gleichermaßen Halt bot. Wann immer sie aneinander gerieten, fanden sie nach kurzer Zeit wieder zusammen. Zunächst mit einigen kleinlauten Bemerkungen, die den Stolz überwanden, schließlich mit Gesten, die in vertraute körperliche Annäherungen übergingen. Meist folgte dann eine Verfolgungsjagd durch die gemütliche Zwei-Zimmer-Wohnung, bis Clara erschöpft in Bens Arme sank. Er brauchte dann bloß noch so zu tun, als würde er sie zwischen ihren spürbaren Rippen durchkitzeln, und schon kreischte sie vor Panik und Verzückung. Wenn er sich ihr schließlich mit seinem Mund näherte und ihren schmalen Hals, knapp unterhalb des Ohrläppchens, zärtlich küsste, säuselte er gern liebevolles Zeug vor sich hin. In solchen Momenten nannte er sie mit leiser Stimme «Lilime». Nur Clara kannte die Abkürzung für «Lieblingsmensch». Ihre grün leuchtenden Augen begannen dann jedes Mal zu funkeln, und sie liebten sich wortlos. Auch nach über drei Jahren waren sie sich noch jedes Mal so nah, wie es eigentlich nur frisch Verliebte vermögen. Nicht jedoch in der Nacht, als es passierte. Ein vorwurfsvolles Wort hatte das andere ergeben, und Clara würde heute alles dafür tun, die Vorwürfe niemals ausgesprochen zu haben. Noch immer hat sie den Klang der Tür im Ohr, die Ben zugeschlagen hatte, als er außer sich vor Wut die Wohnung verließ. Es war das erste und das letzte Mal, dass er verschwand, ohne zu sagen, wohin er gehen würde. Wenn sie daran denkt, wie erleichtert sie gewesen war, dass sie allein zurückblieb und sich ungestört bei ihrer engsten Freundin Katja darüber auslassen konnte, wie unreif und verantwortungslos Ben trotz seiner 32 Jahre doch sei ... Dann spürt Clara das schlechte Gewissen noch immer wie zersetzende Säure in ihrem gesamten Körper. Zwar hatte sie an jenem Abend immer ihr Handy im Blick gehabt, als sie mit Katja diskutierte, ob sie Ben einfach mal einen Denkzettel verpassen und entgegen ihrem normalen Verhalten für eine ganze Nacht abhauen sollte. Aber von Ben kam keine Nachricht. Dabei schickte er ihr ständig Nachrichten. Wann immer er eine Pause zwischen den Vorlesungen an der Uni hatte, mit seiner Band unterwegs war oder bei seinem Kumpel Carsten versackte. Schon allein weil er Claras Unmut erst gar keine Chance geben wollte, schickte er vorsorglich ein paar besänftigende Worte an «Lilime». Oder aber einfach nur ein Klingelzeichen. Als sie sich im «Cheers» begegnet waren, war Clara anfangs sehr skeptisch gewesen angesichts der zahlreichen Gerüchte, Ben Runge sei ein Frauenheld, einer, der sämtlichen Schönheiten Lüneburgs den Kopf verdreht habe. Doch Ben bemühte sich, ihr mit seinen SMS zu zeigen, dass er nur noch sie im Sinn hatte. Und so ließ er, wann immer er an sie dachte, kurz das Handy klingeln als eine Art Liebesbeweis. Seit jener grausamen Nacht aber erhält Clara weder ein Klingelzeichen noch eine Nachricht. Ben meldet sich überhaupt nicht mehr. Er bleibt für immer stumm. Clara ist nervös. Ihre Schonzeit ist nun offiziell vorbei, denn heute ist ihr erster Arbeitstag nach Bens Beerdigung. Die Ärztin hatte ihr zwar angeboten, sie noch eine weitere Woche krankzuschreiben. Doch Clara sehnt sich inzwischen nach Struktur und Alltag. Sie erträgt es nicht mehr, nächtelang wach zu liegen und bis in den späten Vormittag hinein im Bett zu bleiben, ohne wirklich ausgeruht zu sein. Eher fühlt sie sich wie ein vergammeltes, trockenes Stück Brot. Wenn ihre Mutter sie anfangs nicht jeden Nachmittag zu einem kurzen Spaziergang genötigt hätte, würde sie sich womöglich immer noch nicht aus der Wohnung heraustrauen. Als sie das erste Mal allein zum Einkaufen unterwegs war, um ihren Vorrat an Dosensuppen aufzufüllen, hatte Clara das Gefühl, jeder könnte ihren Schmerz im Gesicht ablesen. Die Kassiererin hat ihr nicht einmal richtig in die Augen schauen können. Und Clara verspürte diesen unbeschreiblichen Drang, sofort hinauszuschreien: «Ja, mein Freund ist tot, und niemand weiß, warum!» Es gibt aber auch angenehmere Verbindungen zur Außenwelt, die ihr Kraft geben oder aber wenigstens keinen zusätzlichen Kummer bereiten. Niklas, ihr Chef, zum Beispiel hat sie jede Woche angerufen, um zu hören, wie es ihr ginge, und um ihr zu sagen, dass sie sich wegen ihres Jobs keine Sorgen zu machen bräuchte. Ihre Kollegin Antje würde sich um alles kümmern, könne ihr aber niemals den Posten als beste Graphikerin in der Agentur streitig machen. Clara weiß, dass Antje ohnehin wenig begeistert von der Werbebranche ist und nicht versteht, wie Clara sich so in ihren Beruf reinhängen kann. Mittlerweile muss Clara sich auch selbst eingestehen, dass sie zu viele Abende allein in ihrem Büro verbracht hat, statt es sich zu Hause mit Ben gemütlich zu machen oder einfach das Leben mit ihm zu feiern. Immerzu hat sie perfekte Arbeit leisten und dem Kunden statt eines halbherzigen Entwurfs lieber gleich zwei herausragende Alternativen präsentieren wollen. Dennoch war es die größte Befriedigung, wenn der Auftraggeber sich dann für ihren Favoriten entschied. Clara kostete ihren Erfolg allerdings meist bloß stumm und immer nur für eine kurze Zeit aus. Im Grunde bin ich eine Einzelgängerin, denkt Clara, und wenn ich mich meinen Entwürfen widme, darf mich niemand stören. Ich versinke dann stundenlang in einen tranceartigen Zustand. Ein Zustand, der jetzt unerreichbar scheint, weil ihr die Realität unerbittlich den Weg in diese andere schöne Welt versperrt. Clara hofft, dass ihr die Arbeit gut tun wird. Schließlich muss sie sich im Büro zusammenreißen und kann nicht Stunde um Stunde vor sich hin grübeln, was wohl alles in Ben vorgegangen war in jener Nacht und wie sie ohne ihn zurechtkommen sollte. Noch hat sie ihre Wahrheit nicht gefunden. Aber wenn Clara für wenige Minuten mal keinen Gedanken an Ben und seinen Tod verliert, packt sie sogleich wieder das schlechte Gewissen. Als sie am Wochenende mit ihrer Oma Lisbeth durch den Lüneburger Kurpark spaziert war, hatte sie sich kurzerhand verabschiedet, weil sie unbedingt nach Hause rennen musste, um sich Fotos anzugucken. Aus Sorge, Bens Gesicht zu vergessen, wollte sie sich die vermeintlich verschwundenen Erinnerungen umgehend zurückholen. Als sie mit Seitenstechen endlich zu Hause ankam, riss sie sämtliche Alben aus dem Regal, schlug sie hektisch auf und legte die schönsten Bilder nebeneinander auf den Fußboden. Ob sie an ihrem Schreibtisch im Büro ein Foto von Ben aufstellen sollte? Eines, auf dem er sein gewitztes Lächeln zeigt, das seinen Charme wenigstens ein bisschen festhält? Wie wohl ihre Kollegen reagieren würden? Heute wird Clara sie das erste Mal seit der Beerdigung wieder sehen. Aber sie ist dieses eigenartige Gefühl leid, etwas Aussätziges zu sein. Sie will die anderen nicht unnötig in Verlegenheit bringen. Das Schlimmste sind gar nicht die unbeholfenen Äußerungen von Bekannten, die schlicht ihr Beileid aussprechen. Sondern all die Worte, die nicht gesprochen werden, denkt Clara, sie sind es, die mich geradezu erniedrigen. Die Nachbarin ihrer Mutter etwa war einfach aufgesprungen und wortlos aus der Küche verschwunden, als Clara einmal unangekündigt zu Hause auftauchte. In der Agentur wissen jedoch alle Bescheid, dass heute ihr erster Arbeitstag ist. Hoffentlich geht alles gut, betet Clara und stößt die gläserne Tür des Bürogebäudes im Lüneburger Industrieviertel auf. Sie ist extra früh unterwegs, damit sie sich vielleicht erst mal wieder an ihr Büro gewöhnen kann, bevor der Berufsalltag wieder über sie hereinbricht. Als sie aus dem Fahrstuhl tritt, ist sie überaus nervös, zumal der Flur bedrohlich ruhig wirkt. Sogar Viola vom Empfang ist noch nicht da. Clara wundert sich, dass auch ihre eigene Bürotür geschlossen ist. Ob ihr Gehirn bereits so verkümmert ist, dass sie den Sonntag für Montag hält? Aber das protzige Spider-Cabrio von Niklas stand direkt vor der Eingangstür. Zumindest ihr Chef müsste also schon hier sein. Da auch seine Tür nicht offen steht, entscheidet sich Clara, ihn lieber erst später zu begrüßen. «Überraschung!» Als Clara die Klinke ihrer Bürotür runterdrückt, dröhnt es in vielen verschiedenen Tonlagen aus ihrem Büro. Im Halbkreis steht die versammelte Mannschaft um ihren Schreibtisch herum und schaut sie erwartungsvoll an. Über ihrem Mac hängt ein Banner mit der Aufschrift «Herzlich willkommen!». Und auf dem Schreibtisch steht eine große Glasvase mit einem bunten Frühlingsstrauß darin. Noch ehe Clara etwas sagen kann, ergreift Niklas das Wort. «Wie ich sehe, ist uns diese Überraschung am frühen Morgen gelungen. Hallo Clara!» Er räuspert sich und sieht verlegen in die Runde. «Tja, ähm, wir freuen uns einfach, dass du wieder da bist. Und da ich dich jetzt schon lange genug kenne, um zu wissen, dass du nicht gern im Mittelpunkt stehst, höre ich auch schon auf, hier große Reden zu schwingen. Ich wollte ja auch nur sagen: Wir alle hier heißen dich herzlich willkommen! So, und nun geht's wieder an die Arbeit, Leute.» Die Gruppe applaudiert verhalten und löst sich schnell auf. Nur Antje geht auf Clara zu und schließt sie zur Begrüßung kurz in die Arme. Clara ist sehr gerührt. Sie muss ihre Tränen unterdrücken. «Danke», haucht sie leise. Daraufhin schaut Antje sie mit großen Augen an und entgegnet schnell: «Hey, wofür denn?» Clara zuckt mit den Schultern und lächelt. Es ist das erste Lächeln seit Wochen. Sven | Wäre ich doch bloß im Bett geblieben! Sven bereut das frühe Aufstehen, als ihm in der überfüllten S-Bahn Richtung Landungsbrücken die Knoblauchfahne seines Gegenübers ins Gesicht schlägt und den Genuss seines Kaffees mit Mandelaroma und Milchschaum verdirbt. Mehr noch als über den Gestank, den der dicke Mann beim lautstarken Reden mit einem Kollegen in die ohnehin schlechte Luft rauslässt, ärgert er sich über sich selbst, weil er es seit mindestens zehn Wochen nicht geschafft hat, sein Rennrad zu reparieren. Eigentlich gibt es dafür keine Entschuldigung, allenfalls ein paar dürftige Erklärungen. Zu viel Alkohol und unschöne Frauengeschichten, zu wenig bereichernder Input, der wiederum den inneren Antrieb nur noch mehr zum Erliegen brachte. Dabei hat Sven sich immer für ein Glückskind gehalten. Doch seit etwa drei Jahren läuft es irgendwie nicht mehr richtig rund. Als Wirtschaftsredakteur genießt er zwar viel Anerkennung in seinem Umfeld, aber letztlich kann er niemanden mehr damit beeindrucken, dass er regelmäßig die größten Wirtschaftsbosse interviewt. Und am allerwenigsten sich selbst. In den Redaktionssitzungen schweift er mit seinen Gedanken regelmäßig ab, anstatt den beiden Chefredakteuren oder seinen Kollegen mit messerscharfen und brillant vorgetragenen Themenvorschlägen oder Kommentaren zu imponieren. Was ist bloß mit ihm geschehen? Zu Beginn seines Volkswirtschaftsstudiums war er voller Begeisterung und Ideen gewesen. Er war politisch aktiv, hatte viele Freunde und trieb jeden Tag Sport, weil er Bewegung an der Hafenluft einfach liebt - frühmorgens, wenn die meisten Anwohner Altonas noch lahm in ihren Betten liegen. Ob seine Lethargie mit der Trennung von Fiona zu tun hat? Sven weigert sich, einen Zusammenhang zu sehen. Denn dann würde er sich eingestehen müssen, seinen Problemen ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Lieber redet er sich ein, sie sei gar nicht seine große Liebe gewesen. Denn obwohl nun schon so viel Zeit vergangen ist, sieht er das Bild noch immer deutlich vor sich, wie sie knutschend an ihrem Mini Cooper lehnte, die Arme um den Körper eines Fremden geschlungen. Vielleicht ist es auch seine Wut auf sich selbst, die ihn daran hindert, das Kapitel ein für alle Mal abzuschließen. Stattdessen nervt er sich inzwischen selbst mit der Frage, warum er damals nicht den Mumm hatte, sein Rad in die Ecke zu feuern und souverän zwischen die beiden zu gehen. Er hätte diesem Sackgesicht deutlich zeigen sollen, zu wem Fiona gehörte. Aber vielleicht hatte er es schon vorher verbockt. Vielleicht hatte Fiona recht mit ihrer ständigen Kritik, er würde ihr nie zeigen, wie viel sie ihm eigentlich bedeute. Auch seine Kollegin Hilke versuchte ständig, ihm vor Augen zu führen, dass der ominöse Fremde nicht der Grund, sondern bloß der Auslöser dafür war, dass Fiona schließlich aus dem gemeinsamen Loft auszog. Sven mag Hilke und vertraut ihr, würde ihr aber genau dies niemals ohne einen nennenswerten Grund verraten. Sie ist für ihn die Schwester, die er nicht hat. Und sie hat ihn in all den Jahren, die sie nun zusammen arbeiten, nie enttäuscht. Verletzt ja, aber nie mit böser Intention, sondern allenfalls weil sie in ihrer offenen und beinahe naiven Art gar nicht anders kann, als ihn mit unverblümten Aussagen wiederholt vor den Kopf zu stoßen. In der gesamten Zeit, in der sie sich das Büro im sechsten Stock teilen, hat sie ihn beinahe wöchentlich mit Äußerungen zum Nachdenken gebracht. Sie besitzt einfach Talent, immer den wunden Punkt zu treffen. «Du bist doch nur so schlecht gelaunt, weil du keinen guten Sex mehr hast», kam es erst vergangenen Montag über die Tische hinweg, als Sven mit derben Sprüchen über irgendwelche E-Mails schimpfte. «Wenn du deine kostbare Lebenszeit nächstes Wochenende wieder mit deiner bescheuerten Gilde im Internet verbringst, hab ich dich nicht mehr lieb!» Sven musste daraufhin schmunzeln. Hilke war verlegen gewesen, nachdem sie diesen mutigen Satz von sich gegeben hatte. Diesmal hatte sie sich etwas zu weit aus dem Fenster gewagt, das wusste sie. Nicht, weil sie ihn so direkt auf seine größte Schwäche, das Computerspiel ‹World of Warcraft›, angesprochen hatte. Eher wegen der vertraulichen Worte. Sven hatte sich daraufhin geräuspert und eilig etwas davon gemurmelt, dass er nächsten Samstag ohnehin keine Zeit habe, weil er dringend mal wieder bei seinem Vater vorbeischauen müsse. Auch für solche Besuche wäre es nur clever, endlich das Rad in Ordnung oder wenigstens in eine Werkstatt zu bringen, denkt Sven jetzt und verkriecht sich noch tiefer hinter seiner Zeitung, deren Inhalt ihn allerdings kaum interessiert. Obwohl es für März bereits recht mild ist, trägt er noch immer seine alten braunen Lederhandschuhe, um in der Bahn ja keine Stellen berühren zu müssen, die bereits tausende andere Menschen vor ihm angefasst haben. Dieses enge Aneinanderquetschen zwischen den Türen ekelt ihn an. Beim Aussteigen beschließt er, den abgekühlten Kaffee wegzuwerfen. Jeder Montagmorgen macht ihm Woche um Woche bewusster, wie erbärmlich sich sein Leben derzeit anfühlt. Wenn Hilke ihn gleich freudig begrüßt und nach seinem Wochenende fragt, wird er sich irgendetwas ausdenken müssen, um davon abzulenken, dass er mal wieder nichts von dem geschafft hat, was er sich eigentlich vorgenommen hatte. Weder hat er sich um die kaputte Gangschaltung gekümmert, noch ist er joggen gegangen oder mit seinem Kumpel Bernd auf ein Bier in der Kneipe gewesen. Auch bei seinem Vater hat er sich nicht gemeldet. Er weiß einfach nicht, worüber er mit ihm reden soll. Als Sven aus der Bahn steigt und in Richtung Verlagshaus geht, atmet er mehrmals tief ein und aus, so, als könne er die von den anderen Pendlern ausgedünstete Luft wieder aus seinem Körper heraushauchen. Irgendwas muss sich ändern, denkt Sven, ich will mich endlich wieder lebendig fühlen. Aber er hat absolut keine Idee, wie er das anstellen soll.
© 2009 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek
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Autoren-Porträt von Sofie Cramer
Sofie Cramer, geboren 1974 in Soltau, studierte Germanistik und Politik in Bonn und Hannover. Inzwischen lebt und arbeitet sie als freiberufliche Journalistin, Drehbuchautorin und Trainerin in Lüneburg und Hamburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sofie Cramer
- 2012, Sonderausg., 240 Seiten, Maße: 11,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499258242
- ISBN-13: 9783499258244
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