Snobs
Roman
Edith Lavery will nichts weiter als einen adeligen Ehemann. Ein Opfer hat sie auch schon gefunden: den jungen Earl Charles Broughton. Nur seine Mutter, die herablassende Lady Uckfield, könnte zum Problem werden. Aber wer ein Snob werden will, der überwindet jedes Hindernis.
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Produktinformationen zu „Snobs “
Edith Lavery will nichts weiter als einen adeligen Ehemann. Ein Opfer hat sie auch schon gefunden: den jungen Earl Charles Broughton. Nur seine Mutter, die herablassende Lady Uckfield, könnte zum Problem werden. Aber wer ein Snob werden will, der überwindet jedes Hindernis.
Klappentext zu „Snobs “
Julian Fellows' Romandebüt - keiner kennt die englische High Society so gut wie erEdith Lavery will nichts weiter als einen reichen Ehemann. Ach ja, adelig sollte er natürlich auch noch sein. Wie soll sie sonst mit ihrer gutbürgerlichen Herkunft den sozialen Status erlangen, den sie eigentlich verdient? Ein Opfer hat sie auch schon gefunden: den jungen Earl Charles Broughton. Nur seine Mutter, die herablassend höfliche Lady Uckfield, könnte zum Problem werden. Aber wer ein rechter Snob werden will, der überwindet jedes Hindernis ...
Lese-Probe zu „Snobs “
Snobs von Julian FellowesErster Teil
Impetuoso fiero
1
Wie es eigentlich dazu kam, dass Edith Lavery Aufnahme in Isabel Eastons Bekanntenkreis fand, weiß ich nicht genau. Wahrscheinlich hatten die beiden Frauen eine gemeinsame Freundin oder saßen zusammen in einem karitativen Ausschuss, vielleicht gingen sie auch nur zum selben Friseur. Doch ich erinnere mich, dass Isabel schon sehr früh zur Ansicht kam, Edith sei ein Schmuckstück für ihre Sammlung, sozusagen eine Delikatesse, die den Nachbarn im ländlichen Sussex in wohl dosierten Häppchen vorzusetzen wäre. Die weiteren Ereignisse sollten Isabel natürlich Recht geben, auch wenn anfangs, als ich Edith kennen lernte, noch nichts zwingend für eine solche Entwicklung sprach. Edith war schon damals sehr hübsch, gewiss, aber noch nicht vergleichbar mit später, als sie, wie es in der Modewelt so schön heißt, ihren Stil gefunden hatte. Damals verkörperte sie nur einen gewissen Typ, wenn auch in Vollendung: die englische Blondine mit großen Augen und angenehmen Umgangsformen.
... mehr
Ich selbst kannte Isabel Easton seit unserer Kindheit in Hampshire; uns verband jene angenehme, anspruchslose Art von Freundschaft, die ausschließlich auf langer Dauer beruht. Wir hatten wenig gemeinsam, kannten aber sonst kaum jemanden, der sich an uns als Neunjährige beim Ponyreiten erinnerte; so hatten unsere gelegentlichen Begegnungen immer etwas Behagliches. Nach dem Studium war ich ans Theater gegangen und Isabel hatte einen Börsenmakler geheiratet, mit dem sie nach Sussex gezogen war, daher gab es zwischen unseren Welten kaum Berührungspunkte. Doch es machte Isabel Vergnügen, ab und zu einen Schauspieler unter ihren Gästen zu haben, der im Fernsehen zu sehen war (selbst wenn mich noch nie einer ihrer Freunde wiedererkannt hatte), und auch ich verbrachte gern gelegentlich ein Wochenende bei meiner alten Spielgefährtin.
Als Edith zum ersten Mal nach Sussex kam, war auch ich dort und kann deshalb Isabels Begeisterung für ihre neue Freundin bezeugen, eine Begeisterung, die später von engstirnigeren Bekannten angezweifelt wurde. Die jedoch durchaus echt war: »Edith hat eine große Zukunft vor sich. Sie hat das gewisse Etwas.« Isabel benutzte gerne Phrasen, mit denen sie sich den Anschein gab, Insider-Wissen über den Lauf der Welt zu besitzen. Ein anderer wäre vielleicht der Meinung gewesen, dass Edith, die eine halbe Stunde später aus dem Auto stieg, nicht viel mehr zu bieten hätte als ihre äußere Erscheinung und einen in seiner Lässigkeit berückenden Charme, doch ich schloss mich dem Urteil unserer Gastgeberin an. Rückblickend muss ich sagen, dass etwas an ihrem Mund auf das Kommende hindeutete - ein gestochen scharfer Mund mit Lippen, die in ihrem wie gemeißelten Schwung an die Filmdiven der Vierzigerjahre erinnerten. Und dann ihr Teint. Für einen Engländer ist ein Kompliment über den Teint der letzte Rettungsanker, wenn es nichts anderes gibt, das man lobend erwähnen könnte. So wird bei den weniger ansehnlichen Mitgliedern der königlichen Familie oft deren guter Teint hervorgehoben. Doch dies nur nebenbei - Edith Lavery hatte die herrlichste Haut, die ich je gesehen hatte: kühl, klar, pastellfarben, von makellos wächsernem Schimmer. Ich habe seit jeher eine Schwäche für gut aussehende Menschen, und im Nachhinein glaube ich, dass ich gleich im ersten Moment, als ich Ediths Gesicht bewunderte, zu ihrem Verbündeten wurde. Isabel jedenfalls sorgte selbst für die Erfüllung ihrer Prophezeiungen, denn sie war es, die Edith nach Broughton brachte.
Broughton Hall, die Broughtons überhaupt waren eine schwärende Wunde im Leben der Eastons. Die Broughtons herrschten erst als Barons, dann als Earls und seit 1879 als Marquesses von Uckfield schon länger über diesen Landstrich im östlichen Sussex als die meisten Aristokraten anderswo. Bis vor etwas mehr als hundert Jahren waren ihre Nachbarn und Untertanen vor allem einfache Bauern, die dem flachen, sumpfigen Land ein karges Leben abrangen, doch dann strömte mit den Straßen und der Eisenbahn und der Erfindung der »Wochenenden auf dem Land« ein Großbürgertum in die Gegend, das sich auf die Suche nach Vornehmheit begab, und wie Byron wurden die Broughtons über Nacht berühmt. Ob man dazugehörte oder nicht, hing bald vor allem davon ab, ob man auf ihrer Gästeliste stand oder nicht. Der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass die Familie diese Berühmtheit nicht gesucht hat, zumindest nicht am Anfang; ihre Macht wurde ihnen als den wichtigsten Vertretern des alten Adels in einer gesellschaftlich aufstrebenden Gegend regelrecht aufgezwungen.
In anderer Hinsicht hatten sie schlichtweg Glück gehabt. Dank zweier Ehen - mit einer Bankierstochter und mit der Erbin eines beträchtlichen Teils von San Francisco - war das Familienschiff sicher durchs stürmische Meer der Agrarkrise und des Ersten Weltkriegs gesteuert. Anders als viele ähnliche Dynastien hatten sich die Broughtons so gut wie alle ihre Londoner Immobilien erhalten, und dank einiger findiger Winkelzüge in Sachen Grundbesitz liefen sie unter der Regierung Thatcher in einen relativ sicheren Hafen ein. Dann formierten sich die Sozialisten neu und erlebten ihre Wiedergeburt zum großen Glück für die oberen Schichten als New Labour- Partei, die sich als erheblich entgegenkommender erwies als ihre raffgierigen politischen Ahnen. Alles in allem waren die Broughtons das Paradebeispiel für den erfolgreichen Fortbestand einer englischen Adelsfamilie. Sie hatten ihr Ansehen und, wichtiger noch, ihre Landgüter praktisch unbeschädigt in die Neunzigerjahre hinübergerettet.
Das alles stellte für die Eastons nicht das geringste Problem dar. Weit davon entfernt, den Broughtons ihre Privilegien zu missgönnen, sie vergötterten sie regelrecht. Heikel war für sie nur eins: Obwohl sie nur zwei Meilen von Broughton Hall entfernt wohnten und obwohl Isabel ihren Freundinnen beim Lunch in der Walton Street vorgeschwärmt hatte, dass »das Haus glücklicherweise praktisch nebenan« liege, hatten sie nach dreieinhalb Jahren noch keinen Fuß hineingesetzt und es noch nicht einmal geschafft, einem Mitglied der Familie gesellschaftlich zu begegnen.
Natürlich war David Easton nicht der erste Engländer aus der oberen Mittelschicht, der entdecken musste, dass sich ein fadenscheiniger aristokratischer Hintergrund eher in London als auf dem Land hochhalten lässt. Doch nach jahrelangen Lunchbesuchen im Brooks's, nach unzähligen Samstagen bei Rennveranstaltungen und Abenden im Annabel's, wo er seine Vorurteile gegen die moderne, mobile Gesellschaft verbreitet hatte, hatte er völlig aus dem Blick verloren, dass er selbst ein Produkt eben jener Gesellschaft war. Als hätte er vergessen, dass sein Vater Geschäftsführer einer unbedeutenden Möbelfabrik in den Midlands gewesen war und seine Eltern ihn nur mit Mühe nach Ardingly hatten schicken können. Zum Zeitpunkt unserer Bekanntschaft wäre er wohl sehr überrascht gewesen, seinen Namen nicht im Debrett's zu finden. Ich erinnere mich, wie ich bei den Eastons einmal einen Artikel las, in dem sich Prinzessin Margarets Geliebter Roddy Llewellyn darüber beklagte, dass er nicht wie sein älterer Bruder Eton besucht hatte, denn in Eton entstünden die Freundschaften fürs Leben. David ging zufällig an meinem Stuhl vorbei. »Sehr richtig«, sagte er. »Genauso geht es mir auch.« Ich warf einen vielsagenden Blick zu Isabel hinüber, erkannte aber an ihrem mitfühlenden Nicken, dass ihr geheimes Einverständnis nicht mir, sondern ihrem Mann galt.
Einem Außenstehenden fällt auf, dass viele Ehen deshalb gut funktionieren, weil sich die Partner gegenseitig in ihren Illusionen bestärken. Isabels liebenswerte Art und der Gleichmut der meisten Londoner Gastgeberinnen, die von ihren Gästen nichts erwarten, das über die Fähigkeit zu sprechen und zu essen hinausginge, hatten David bisher einen Schutzraum geboten. So war es jetzt umso bitterer für ihn, dass er an vornehmer Tafel über Charles Broughtons Italienreise befragt wurde, oder wie sich Carolines neuer Mann mache, um dann murmeln zu müssen, dass er sie eigentlich nicht so gut kenne. »Wie ungewöhnlich«, kam dann stets die Antwort. »Ich dachte, Sie wären Nachbarn.« Selbst Davids Eingeständnis enthielt eine gewisse Unwahrheit, denn es konnte keine Rede davon sein, dass er die Broughtons nicht so gut kannte. Er kannte sie überhaupt nicht.
Einmal hatte er auf einer Cocktailparty am Eaton Square eine Meinung über die Familie geäußert, was sein Gesprächspartner mit der Frage quittierte: »Aber ist das da drüben nicht Charles? Sie müssen mich ihm vorstellen - ich wüsste zu gern, ob er sich daran erinnert, wo wir uns begegnet sind.« David musste plötzliche Übelkeit vorschützen (was mehr oder weniger stimmte) und nach Hause zurückkehren; so verpasste er auch noch das Dinner, zu dem sie anschließend alle eingeladen waren. In letzter Zeit nahm er eine leicht herablassende Haltung ein, wenn ein Wort über die Familie fiel. Dann stand er betont schweigend da und schloss sich vom Gespräch aus, als würde er, David Easton, die Broughtons lieber nicht kennen. Als hätte er sie getestet und für nicht ganz nach seinem Geschmack befunden. Nichts hätte von der Wahrheit weiter entfernt sein können. Aus Fairness möchte ich sagen, dass dieser enttäuschte gesellschaftliche Ehrgeiz David selbst wohl genauso verborgen blieb, wie er uns hätte verborgen bleiben sollen. So kam es mir wenigstens vor, wenn ich ihm zusah, wie er den Reißverschluss seiner Barbour-Jacke hochzog und nach den Hunden pfiff.
Vielleicht war es ganz passend, dass der Vorschlag zu einer Besichtigung von Edith kam. Isabel fragte uns am Samstag beim Frühstück, worauf wir Lust hätten, und Edith erkundigte sich, ob es in der Nähe nicht »eins von diesen Schlössern« gäbe, und wie es mit einem Besuch dort wäre? Sie sah mich über den Tisch hinweg an.
»Ich hätte nichts dagegen«, sagte ich.
Mir entging nicht, wie Isabel David, der am anderen Ende des Tischs tief in seinem Telegraph versunken war, einen raschen Blick zuwarf. Ich kannte und verstand die Broughton-Problematik, und Isabel wusste, dass ich Bescheid wusste, aber als gute Engländer hatten wir natürlich nie darüber gesprochen. Wie es der Zufall wollte, war ich dem Sohn und Erben Charles Broughton, einer etwas schwerfälligen Persönlichkeit, in London ein-, zweimal an Abenden mit Zwittercharakter begegnet, wo sich Showbusiness und bessere Gesellschaft treffen, ohne sich wirklich zu vermischen - wie zwei sich kreuzende Flüsse. Diese Begegnungen hatte ich Isabel verschwiegen, um kein Salz in die Wunden zu streuen.
»David?«, sagte sie.
Mit einer weit ausholenden, unbekümmerten Bewegung schlug er die Seiten seiner Zeitung um.
»Fahrt nur, wenn ihr wollt. Ich muss nach Lewes. Sutton hat schon wieder den Tankdeckel des Rasenmähers verloren. Ich glaube, der frisst die Dinger.«
»Das könnte ich am Montag erledigen.«
»Nein, nein. Ich möchte sowieso noch Patronen kaufen.« Er blickte auf. »Wirklich, geht nur.«
Sein Blick enthielt einen Vorwurf, dem Isabel mit einer kleinen Grimasse begegnete, die vorgab, ihr bliebe ja keine andere Wahl. Die beiden hatten eine stillschweigende Abmachung, das Haus nicht als anonyme, zahlende Besucher zu besichtigen. Erst hatte David erwartet, ohnehin bald die Bekanntschaft der Familie zu machen, und wollte nicht riskieren, von den Broughtons auf der falschen Seite des Absperrseils gesehen zu werden. Als Monate und dann Jahre der Enttäuschung folgten, wurde es zu einer Art Prinzip, das Haus zu meiden, als wollte David den Broughtons die Genugtuung nicht gönnen, ihm gutes Geld für etwas abzuknöpfen, was er von Rechts wegen umsonst haben sollte. Doch Isabel war, wie es Frauen meist sind, pragmatischer veranlagt als ihr Mann und hatte sich an den Gedanken gewöhnt, dass es noch eine Weile dauern könnte, bis sie die ihnen gebührende soziale Stellung in der Grafschaft einnehmen würden. Sie war nun einfach neugierig auf das Haus, das zum Symbol für ihr mangelndes gesellschaftliches Potenzial geworden war, und ließ sich nicht lange bitten. Wir drei stiegen in ihren verbeulten Renault und fuhren los.
Ich fragte Edith, ob sie Sussex kannte.
»Nicht sehr gut. Ich hatte einmal eine Freundin in Chichester.«
»Die schicke Seite.«
»Ja? Ich wusste nicht, dass Grafschaften schicke Seiten haben. Klingt eher amerikanisch. Wie gute und schlechte Tische im selben Restaurant.«
»Kennen Sie Amerika?«
»Nach der Schule habe ich einige Monate in Los Angeles verbracht. «
»Warum denn das?«
Edith lachte. »Warum denn nicht? Was hat man mit siebzehn schon für Gründe?«
»Ich weiß jedenfalls nicht, warum man ausgerechnet nach Los Angeles gehen sollte. Außer, um Filmstar zu werden.«
»Vielleicht wäre ich gern Filmstar geworden.« Ihr Lächeln, das ihre Worte begleitete, habe ich inzwischen als den zur Gewohnheit gewordenen Ausdruck einer leisen Melancholie deuten gelernt, und ich sah, dass ihre Augen entgegen meinem ersten Eindruck nicht blau waren, sondern von einem nebligen Grau.
Zwischen zwei mächtigen Steinpfeilern, auf denen Hirschköpfe mit kapitalem Geweih thronten, bogen wir in die breite Kiesauffahrt ein. Isabel hielt an. »Ist das nicht wunderbar?«, fragte sie. Das massive Gebäude von Broughton Hall lag vor uns hingebreitet. Edith lächelte begeistert, und wir fuhren weiter. Sie fand das Haus genauso wenig wunderbar wie ich, obwohl es auf seine Art eindrucksvoll war. Zumindest sehr groß. Der Architekt aus dem achtzehnten Jahrhundert schien ein Vorläufer Albert Speers gewesen zu sein. Der Hauptbau, ein riesiger Würfel aus Granitsteinen, war durch zwei gedrungene, klobige Säulengänge mit zwei kleineren Würfeln verbunden. Leider hatte im vorigen Jahrhundert ein Broughton die Fenster ihrer Sprossen beraubt und sie durch einfaches Tafelglas ersetzt, so dass sie nun wieblinde,leereAugen über den Park starrten. An den vier Ecken des Hauses ragten vier plumpe Kuppeln auf wie die Wachtürme eines Konzentrationslagers. Insgesamt fügte sich das Haus nicht in die Landschaft ein, sondern versperrte den Blick auf sie.
Der Wagen kam auf dem knirschenden Kies sanft zum Stehen. »Erst das Haus oder erst der Garten?« Isabel war entschlossen, sich nichts entgehen zu lassen, wie ein sowjetischer Militärinspektor der Sechzigerjahre zu Besuch bei der NATO.
Edith zuckte mit den Achseln. »Gibt es drinnen viel zu sehen?«
»Das möchte ich meinen«, sagte Isabel entschieden und ging bereits auf die Tür mit dem Schild »Eingang« zu, die sich zwischen die beiden Arme der hufeisenförmigen, zur Beletage hochführenden Freitreppe duckte. Schon hatte der Rustika-Granit Isabel verschluckt, und wir folgten ihr fügsam.
Es sollte zu einer von Ediths Lieblingsgeschichten werden, dass sie Broughton zum ersten Mal als zahlender Gast zu Gesicht bekam, vom Privatleben der Bewohner durch ein rotes Absperrseil getrennt. »Nicht dass es in diesem Haus jemals viel Privatleben gegeben hätte«, bemerkte sie dann immer mit ihrem witzigen kurzen Auflachen. Es gibt Häuser, in denen die Persönlichkeit ihrer Bauherrn ganz stark spürbar ist, Häuser mit einem alles durchdringenden Geruch, den das Leben ihrer Bewohner hinterlassen hat; hier fühlt sich der Besucher halb als Einbrecher, halb als Geist, der an einem privaten Ort in verborgenen Geheimnissen herumspioniert. Broughton gehörte nicht dazu. Die gesamte Architektur war bis zum letzten Kamingitter, zur letzten Kreuzblume ausschließlich darauf angelegt, Fremde zu beeindrucken. Daher hatte sich die Rolle des Hauses bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts kaum verändert. Nur dass die Fremden jetzt Eintrittskarten kauften, anstatt der Wirtschafterin ein Trinkgeld zuzustecken.
Die heutigen Besucher müssen sich allerdings länger gedulden, bis sie die Pracht der Prunkräume zu sehen bekommen. Die kalte, feuchte Halle, durch die wir das Haus betraten (die »Untere Eingangshalle«, wie wir später erfahren würden), empfing uns mit dem Charme eines verlassenen Stadions. An den Wänden reihten sich unbequeme Stühle für die Lakaien und beschworen die Vision endloser Stunden langweiligen Wartens herauf, die dort abgesessen worden waren; in der Mitte der verfärbten Steinfliesen stand ein langer schwarzer Tisch. Abgesehen von vier verstaubten Stadtansichten von Venedig, die lange nach Canaletto entstanden waren, gab es keine Bilder. Wie alle Räume in Broughton war die Halle von riesigen Ausmaßen, so dass wir drei uns wie Zwerge vorkamen.
»Von weicher Verkaufsstrategie halten die jedenfalls nichts«, sagte Edith.
Mit gezückten Führern erklommen wir von der unteren Eingangshalle aus die große Treppe mit geschnitztem Eichenholzgeländer, die sich um die gedrungene, eher bedrückende Bronzestatue eines sterbenden Sklaven nach oben zog. Dort überquerten wir den breiten Treppenabsatz und gelangten als Erstes in die Marmorhalle, einen weiten, zweigeschossigen Raum mit umlaufender Galerie, die als Geländer eine Balustrade hatte. Hätten wir die hufeisenförmige Freitreppe als Zugang benutzt, wäre diese bewusst einschüchternde Halle unser erster Eindruck des Hauses gewesen. Von hier aus gingen wir weiter in den Großen Saal, einen weiteren Riesenraum, diesmal mit Mahagonivertäfelungen, deren üppiges Schnitzwerk teilweise vergoldet war, und karminroten Velourstapeten.
»Für mich bitte Hähnchen-Tikka«, sagte Edith.
Ich lachte. Sie hatte völlig Recht: Der Raum sah aus wie ein überdimensionales indisches Restaurant.
Isabel schlug den Führer auf und begann im Erdkundelehrerinnenton zu lesen: »Der Große Saal besitzt noch die Originaltapeten, die zu den Glanzlichtern der Innenausstattung von Broughton Hall gehören. Die vergoldeten Wandtischchen wurden 1739 von William Kent für diesen Raum angefertigt. Das Meeresmotiv in den Schnitzereien der hohen Spiegel nimmt Bezug auf die Berufung des dritten Earls an die portugiesische Botschaft im Jahre 1737. An den Earl selbst erinnert im Großen Saal, seinem bevorzugten Raum des Hauses, das von Jarvis stammende lebensgroße Porträt an der einen Seite des italienischen Kamins; auf der anderen Seite hängt als Gegenstück das von Hudson angefertigte Porträt seiner Gemahlin.«
Edith und ich starrten die Bilder an. Im Porträt der Lady Broughton hatte sich der Maler um einen Ansatz von Frohsinn bemüht, da die junge Frau mit den grobschlächtigen Gesichtszügen auf einer Blumenböschung posierte und in ihrer breiten Hand einen Sommerhut nach unten hängen ließ.
»In meinem Fitnessstudio gibt es eine Frau, die genauso aussieht«, sagte Edith. »Sie versucht immer, mir Lose für Tombolas der Konservativen anzudrehen.«
Isabel leierte weitere Details herunter. »Der Kabinettschrank in der Mitte der südlichen Wand stammt von Boulle und ist ein Geschenk von Marie-Josèphe von Sachsen, Gemahlin des französischen Thronfolgers, an die Braut des fünften Earls anlässlich deren Hochzeit. Zwischen den Fenstern ...«
Ich schlenderte zu den genannten hohen Fenstern hinüber und sah in den Park hinunter. Es war einer jener heißen, drückenden Tage Ende August, wenn die Bäume unter ihrer Blätterlast zusammenzubrechen scheinen und das überwältigende Grün der Landschaft schwül und stickig wirkt. Während ich so dastand, kam hinter der Ecke des Hauses ein Mann hervor. Trotz der Hitze war er mit Tweedjackett und Kordhose bekleidet und trug einen dieser langweiligen braunen Filzhüte, die Engländer auf dem Land für flott halten. Er sah hoch und ich erkannte Charles Broughton. Sein Blick streifte mich kaum und wanderte weiter, doch dann blieb Broughton stehen und schaute erneut zu mir hoch. Vermutlich hatte auch er mich wiedererkannt; ich hob grüßend die Hand, was er mit einer flüchtigen Geste beantwortete, dann ging er wieder seiner Wege.
»Wer war denn das?« Edith stand hinter mir. Auch sie hatte Isabel ihren Litaneien überlassen.
»Charles Broughton.«
»Ein Sohn des Hauses?«
»Der einzige Sohn des Hauses, glaube ich.«
»Wird er uns zum Tee bitten?«
»Ich glaube nicht. Ich bin ihm genau zweimal begegnet.«
Charles bat uns weder zum Tee, noch hätte er einen weiteren Gedanken an mich verschwendet, wenn wir ihm auf dem Rückweg zum Auto nicht über den Weg gelaufen wären. Er unterhielt sich mit einem der vielen Gärtner, die hier herumschwärmten, und beendete gerade das Gespräch, als wir den Vorhof überquerten.
»Hallo!« Er nickte mir liebenswürdig zu. »Was machen Sie denn hier?« Es war klar, dass er meinen Namen vergessen hatte und wahrscheinlich auch, wo wir uns getroffen hatten; nichtsdestoweniger war er freundlich und wartete, dass ich ihn den anderen vorstellte.
Isabel war von dieser plötzlichen und unerwarteten Beförderung ins Land, in dem die Träume wahr werden, völlig überrumpelt; sie suchte fieberhaft nach einer faszinierenden Bemerkung, die sich klettengleich in Charles' Gehirn festhaken und mehr oder weniger sofort zu einer engen Freundschaft führen würde. Doch die Inspiration blieb aus.
»Er ist gerade bei uns. Wir sind nur zwei Meilen weit entfernt«, sagte sie kühn.
»Wirklich? Kommen Sie oft in die Gegend?«
»Wir wohnen hier.«
»Ah«, sagte Charles. Er wandte sich an Edith: »Wohnen Sie auch hier?«
Sie lächelte. »Keine Sorge, von mir droht keine Gefahr. Ich lebe in London.«
Er lachte, und sein fleischiges, kerniges Gesicht sah einen Moment lang sehr anziehend aus. Er nahm den Hut ab, so dass seine blonden, welligen Haare zum Vorschein kamen, die sich im Nacken zu Löckchen kräuselten, Haare, die für den englischen Aristokraten so typisch sind. »Ich hoffe, das Haus hat Ihnen gefallen.«
Edith lächelte und sagte nichts; sie überließ es Isabel, eine peinliche Nachlese aus dem Führer herunterzuhaspeln.
Ich schaltete mich ein, um Charles zu erlösen. »Wir sollten allmählich los. David wird sich schon fragen, was wir die ganze Zeit treiben. «
Wir nickten einander lächelnd zu und tauschten einen kurzen Händedruck, und ein paar Minuten später waren wir unterwegs nach Hause.
»Du hast mir nie erzählt, dass du Charles Broughton kennst«, sagte Isabel lahm.
»Ich kenne ihn auch nicht.«
»Dann hast du eben nie erzählt, dass du ihn getroffen hast.«
»Hab ich das nicht?«
Natürlich wusste ich ganz genau, dass ich das nicht hatte. Isabel schwieg den Rest der Heimfahrt. Edith drehte sich auf dem Beifahrersitz um und verzog den Mund zum Zeichen, dass ich es mir wohl gründlich verscherzt hätte. Mein Fehlverhalten war eindeutig, und den Rest des Wochenendes behandelte mich Isabel mit merklicher Kühle.
2
Edith Lavery war die Tochter eines erfolgreichen Steuerberaters und Enkels eines jüdischen Einwanderers, der 1905 vor den Pogromen unter Zar Nikolaus II. nach England geflohen war. Der ursprüngliche Name der Familie war mir nicht bekannt; er lautete wohl Levy oder vielleicht Levin. Sir John Lavery, ein um die Jahrhundertwende erfolgreicher Porträtmaler, lieferte die Vorlage zur Namensänderung, die der Familie damals ratsam erschien und es mit ziemlicher Sicherheit auch war. Wurde ein Lavery gefragt, ob er mit dem Maler verwandt sei, antwortete er immer: »Ich glaube, es gibt da eine vage Verbindung «, und klinkte sich damit in die etablierte britische Gesellschaft ein, ohne fragwürdige Ansprüche zu erheben. Unter Engländern ist es ja durchaus üblich, auf die Frage, ob sie die XYs kennen, zu antworten: »Ja, aber sie würden sich nicht an mich erinnern«, oder: »Nun ja, ich bin ihnen einmal begegnet, kenne sie aber nicht«, auch wenn sie sie noch nie im Leben gesehen haben.
Das liegt am unbewussten Bedürfnis, sich in der schönen Illusion zu wiegen, England oder vielmehr das England der oberen Mittelschicht und Oberschicht sei durch eine Million unsichtbarer Seidenfäden verwoben, eine glanzvolle Gemeinschaft aller, die Rang, Namen und Lebensart haben, eine Gemeinschaft, die alle anderen ausschließt. Bei solchen Antworten kann man nicht von Lügen sprechen, denn in der Regel weiß jeder, wie sie gemeint sind. Wenn Engländer eines bestimmten sozialen Hintergrunds zu hören bekommen: »Ich habe die XYs einmal getroffen, aber sie würden sich nicht an mich erinnern«, dann entschlüsseln sie dies als: »Ich bin den Guten nie begegnet.«
Mrs. Lavery, Ediths Mutter, rechnete sich selbst einem Personenkreis von ganz anderem Format zu als ihren Gatten, auch wenn sie ihn von Herzen liebte. Ihr Vater hatte als Oberst der britischen Armee in Indien gedient, der springende Punkt aber war, dass seine Mutter wiederum die Großnichte eines Baronets war, der seinen Titel seinem Erfolg als Bankier verdankte. Mrs. Lavery war in vieler Hinsicht eine liebenswerte Frau, doch ihr leidenschaftlicher Snobismus grenzte schon an Irrsinn, und aus ihrer überaus schwachen Verbindung zum untersten Adel bezog sie die beglückende Gewissheit, zum inneren Kreis der Privilegierten zu gehören, zu dem ihr Mann nie Zutritt haben würde. Mr. Lavery nahm seiner Frau diese Haltung nicht im Mindesten übel. Ganz im Gegenteil. Er war stolz auf seine hoch gewachsene, gut aussehende Gattin, die sich zu kleiden verstand, und wenn eine ihrer Lieblingsphrasen, noblesse oblige, überhaupt etwas bei ihm auslöste, dann ein gewisses Amüsement, dass diese Maxime tatsächlich auch für seinen Haushalt gelten könnte.
Die Laverys lebten in einem großen Apartment in Elm Park Gardens, einer Wohnlage fast am falschen Ende von Chelsea und damit nicht ganz nach Mrs. Laverys Geschmack. Dennoch war es noch nicht Fulham und schon gar nicht Battersea, Namen, die erst seit kurzem auf ihrer geistigen Landkarte existierten. Wenn sie von den verheirateten Kindern ihrer Freundinnen dorthin eingeladen wurde, verspürte sie immer noch den aufregenden Kitzel des Neuen und fühlte sich wie eine unerschrockene Forschungsreisende, die sich immer weiter von der Zivilisation entfernt. Gebannt hörte sie zu, wenn sich das Gespräch darum drehte, was für eine gute Investition gewisse Immobilien dieser Gegend waren oder wie sehr es den Kleinen nach der winzigen Wohnung in der Marloes Road nun in Tooting gefiel. All das blieb Mrs. Lavery ein Rätsel; für sie war diese Gegend die Hölle, bis sie wieder den Fluss überquerte, ihren persönlichen Styx, der die Unterwelt für immer vom wahren Leben trennte.
Die Laverys waren nicht reich, aber auch nicht arm, und da sie nur ein Kind hatten, brauchten sie nicht zu knausern. Edith wurde in einen vornehmen Kindergarten geschickt und dann nach Benenden. (»Nein, nicht wegen der Princess Royal. Wir haben uns einfach umgesehen und fanden die Atmosphäre dort höchst anregend.«) Mr. Lavery hätte es gern gesehen, wenn seine Tochter studiert hätte, doch Ediths Noten reichten nicht für die besseren Universitäten - und andere kamen für die Laverys nicht in Frage. Mrs. Laverys Enttäuschung hielt sich jedoch in Grenzen. Ihr großer Ehrgeiz war es immer gewesen, ihre Tochter in die Gesellschaft einzuführen.
Stella Lavery selbst hatte nie debütiert und schämte sich deswegen zutiefst. Sie versuchte immer, dieses Manko unter viel Gelächter und Hinweisen auf den Spaß zu verbergen, den sie als Mädchen gehabt habe; wenn man genauer nachhakte, seufzte sie, ihr Vater habe in den Dreißigerjahren einen finanziellen Absturz erlitten - und stellte so einen Zusammenhang zum Börsenkrach an der Wall Street her, mit fernen Anklängen an Scott Fitzgerald und Gatsby. Oder sie mauschelte ein bisschen mit den Daten und schob es auf den Krieg. In Wahrheit aber, wie es sich Mrs. Lavery im tiefsten Grund ihrer Seele eingestehen musste, war in den Fünfzigerjahren die Gesellschaft noch viel weniger durchlässig und die Demarkationslinie zwischen den Dazugehörenden und dem Rest noch viel schärfer gezogen. Stella Laverys Familie gehörte nun einmal nicht dazu. Auf ihre Freundinnen, die einander als Debütantinnen kennen gelernt hatten, empfand sie einen heftigen, geheimen Neid, der tief in ihr nagte. Sie hasste diese Freundinnen sogar dafür, wenn sie in gemeinsamen Erinnerungen an Prominente ihres Jahrgangs schwelgten, Erinnerungen zum Beispiel an Henrietta Tiarks, die spätere Gattin des Duke von Bedford, als glaubten sie, auch Stella Lavery habe mit ihnen debütiert, obwohl sie genau wussten, dass es nicht so war - und Stella wusste, dass sie es wussten. Aus diesen Gründen war Stella von Anfang an entschlossen, im Leben ihrer geliebten Edith niemals solche Blößen zuzulassen. (Der Name Edith war übrigens wegen seiner duftigen Beiklänge gewählt worden, die ein gemächlicheres, besseres England heraufbeschworen; vielleicht sollte er auch den Anschein erwecken, es handle sich um einen traditionellen Vornamen, der von einer schönen Vorfahrin innerhalb der Familie weitergereicht worden war. Dies entbehrte natürlich jeder Grundlage.) Jedenfalls sollte Edith von Anfang an in den magischen Kreis hineinbefördert werden. Da in den Achtzigerjahren die Vorstellung bei Hofe (die ein Problem hätte darstellen können) längst der Vergangenheit angehörte, brauchte Mrs. Lavery lediglich ihren Mann und ihre Tochter zu überzeugen, dass die Zeit und das Geld, die in eine Debütantinnensaison investiert werden müssten, gut angelegt wären.
Es bedurfte keiner großen Überredungskünste. Edith hatte keine konkreten Pläne, wie sie ihr Erwachsenendasein verbringen wollte, und den Entscheidungsprozess noch ein Jahr lang hinauszuzögern, in dem eine Einladung auf die andere folgen würde, fand sie eine sehr gute Idee. Mr. Lavery wiederum behagte die Vorstellung, seine Frau und seine Tochter in der beau monde zu sehen, und ließ dafür gern etwas springen. Mrs. Laverys sorgfältig gepflegte Beziehungen genügten, um Edith auf die Gästeliste von Peter Townsends Teegesellschaften zu Beginn der Saison zu setzen, und Ediths Schönheit tat ein Übriges, so dass sie als Model für die Berkeley-Modenschau im Dorchester-Hotel gewählt wurde, die die Saison traditionell eröffnet. Danach lief alles wie von selbst. Mrs. Lavery traf sich mit den anderen Müttern zum Lunch, packte die Kleider ihrer Tochter für die Bälle auf dem Land ein und genoss diese Zeit im Großen und Ganzen sehr. Auch Edith hatte viel Spaß dabei.
Der einzige Wermutstropfen für Mrs. Lavery war, dass nach dem Ende der Saison, als die letzten Wohltätigkeitsbälle des Winters vorüber und alle Artikel aus dem Tatler samt zugehörigen Einladungen in ein Album geklebt waren, keine große Veränderung eintrat. Edith war bei mehreren Töchtern aus dem Hochadel zu Gast gewesen, sogar
- besonders aufregend - auch im Haus eines Herzogs, und alle diese Mädchen waren auch bei Ediths eigener Cocktailparty im Claridge's erschienen (einer der beglückendsten Abende, die Mrs. Lavery je erlebt hatte). Doch als die Tanzmusik verstummt war, hatte sich Edith nur mit solchen Mädchen dauerhaft angefreundet, wie sie sie schon von der Schule nach Hause gebracht hatte: mit Töchtern wohlhabender Geschäftsleute aus der oberen Mittelschicht. Was Edith ja auch selbst war. Das kam Mrs. Lavery ungerecht vor. Dass sie selbst die schwindelerregenden oberen Stufen der Londoner Gesellschaft (die sie verschmitzt als »den Hof« bezeichnete) nicht erklimmen konnte, hatte sie darauf zurückgeführt, dass sie nie richtig als Debütantin in die Gesellschaft eingeführt worden war. Deshalb setzte sie hohe Erwartungen in ihre Tochter. Vielleicht war sie in ihrer Begeisterung für eine einfache Wahrheit blind geworden: Dass ihre Tochter bei den Veranstaltungen der Saison mit so offenen Armen empfangen worden war, lag lediglich daran, dass diese Institution in den Achtzigern nicht mehr so exklusiv war wie in Mrs. Laverys Jugend.
Edith war sich der Enttäuschung ihrer Mutter bewusst. Auch sie war nicht immun gegen die Reize von Rang und Vermögen, wie wir bald erfahren werden, sah allerdings nicht ganz, wie sie den vertrauten Umgang mit den Töchtern der großen Häuser fortführen sollte. Erstens schienen sich alle schon von Geburt an zu kennen, und zweitens fand es Edith schwierig, den Ansprüchen dieser Mädchen in einer Wohnung in Elm Park Gardens gerecht zu werden. Es lief letztlich darauf hinaus, dass sie den meisten Mädchen ihres Jahrgangs weiter freundlich zunickte, gesellschaftlich aber auf derselben Stufe stehen blieb wie nach der Schule.
Ich erfuhr dies alles recht bald nach unserer ersten Begegnung bei den Eastons, da Edith, wie sich herausstellte, einen Job als Empfangssekretärin eines Immobilienbüros in der Milner Street annahm, gleich um die Ecke meiner Souterrainwohnung. Ich lief ihr im Kaufhaus über den Weg, oder wenn ich ein Sandwich in einem der Pubs dieser Gegend aß, oder wenn ich mir um halb sechs eine Flasche Milch bei Partridges holte, und ohne es richtig zu bemerken, freundeten wir uns allmählich an. Eines Tages sah ich sie gegen eins aus einem Möbelgeschäft herauskommen und lud sie zum Mittagessen ein.
»Hast du Isabel in letzter Zeit gesehen?«, erkundigte ich mich, als wir uns in einem dieser kleinen italienischen Restaurants, in denen die Kellner laut herumschreien, auf eine Bank quetschten.
»Letzte Woche habe ich mit beiden zu Abend gegessen.«
»Alles in Ordnung?«
Es schien so, oder beinahe. Es gab gerade ein kleines Drama wegen der Schulschwierigkeiten ihres Sohnes. Isabel hatte eine Dyslexie entdeckt. Ich bemitleidete den Direktor.
»Sie hat nach dir gefragt. Ich habe gesagt, dass ich dich gesehen habe«, berichtete Edith.
Ich erklärte, meiner Meinung nach habe mir Isabel noch nicht verziehen, dass ich ihr nichts von meiner Bekanntschaft mit Charles Broughton erzählt hatte. Edith lachte. In diesem Zusammenhang erfuhr ich einiges über ihre Mutter. Ich fragte, ob sie ihr etwas von unserem Besuch in Broughton erzählt habe. Charles beschäftigte mich gerade, weil ich am Vormittag zufällig einen dieser blöden Zeitschriftenartikel über begehrte Junggesellen gelesen hatte, wo Charles ganz oben auf der Liste stand. Ich muss gestehen, dass ich von der Menge seiner geschilderten Vorzüge ziemlich beeindruckt war.
»Lieber Himmel, nein. Ich will meiner Mutter doch keinen Floh ins Ohr setzen.«
»Zieht sie immer so voreilige Schlüsse?«
»Und ob! In ihrer Fantasie würde sie mich flugs vor den Altar befördern.«
»Willst du denn nicht heiraten?«
Edith sah mich an, als wäre ich verrückt geworden. »Natürlich will ich heiraten.«
»Dann siehst du dich also nicht als Karrierefrau? Ich dachte, heute wollen alle Frauen Karriere machen.« Ich weiß nicht, warum ich in diesen aufgeblasenen Antifeminismus abrutschte, weil er überhaupt nicht meine Meinung widerspiegelt.
»Ich will jedenfalls nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, in einem Maklerbüro das Telefon abzuheben, falls du das meinst.«
Der Dämpfer geschah mir recht. »Das ist auch nicht ganz das, was mir unter Karriere vorschwebt«, sagte ich.
Edith sah mich so nachsichtig an, als bräuchte ich Nachhilfe im kleinen Einmaleins. »Ich bin siebenundzwanzig. Ich habe keine Qualifikationen und, schlimmer noch, kein besonderes Talent. Außerdem bevorzuge ich einen Lebensstil, der mindestens achtzigtausend Pfund im Jahr erfordert. Wenn mein Vater stirbt, hinterlässt er alles Geld meiner Mutter; auch erwarte ich nicht, dass einer von ihnen vor 2030 von der Bildfläche verschwindet. Hast du einen Vorschlag, was ich machen soll?«
Ich weiß nicht, warum, aber der einer Anita Loos würdige Pragmatismus, der aus dieser kleinen Rosenknospe mit Haarband und adrettem marineblauem Kostüm tönte, verschlug mir kurz die Sprache.
»Demnach hast du die Absicht, einen reichen Mann zu heiraten?«, fragte ich.
Edith sah mich spöttisch an. Vielleicht dachte sie, sie hätte zu viel von sich preisgegeben, vielleicht wollte sie in Erfahrung bringen, ob ich über sie urteilte, und wenn, ob sie vor meinem Urteil bestehen könnte. Was sie in meinen Augen las, hätte sie beruhigen sollen, denn ich war immer der Ansicht, wenn man früh erkennt, was man im Leben wirklich will, hat man die besten Aussichten, der scheinbar unvermeidlichen modernen Krankheit der Midlife-Crisis zu entgehen.
»Nicht unbedingt.« Sie klang ein wenig, als wollte sie sich rechtfertigen. »Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass ich in einer Ehe mit einem armen Mann sehr glücklich wäre.«
»Das kann ich nachvollziehen«, sagte ich.
Nach diesem Mittagessen trafen Edith und ich uns eine ganze Weile nicht mehr. Ich bekam eine Rolle in einer dieser unerträglichen amerikanischen Miniserien und fuhr für einige Monate nach Paris und dann auch noch - kaum zu glauben - nach Warschau. Der Job verschaffte mir das höchst deprimierende Erlebnis, Weihnachten und Silvester in einem ausländischen Hotel zu feiern, wo man Käse zum Frühstück serviert bekommt und das Brot immer alt ist, und als ich im Mai nach London zurückkehrte, hatte ich nicht das Gefühl, in meiner Kunst große Fortschritte gemacht zu haben. Andererseits ging es mir wenigstens finanziell etwas besser als bei meiner Abreise. Bald nach meiner Ankunft erhielt ich eine Karte von Isabel mit der Frage, ob ich mich ihnen wie die letzten Jahre beim zweiten Tag in Ascot anschließen wolle. Sie hatte mir wohl während meiner Abwesenheit vergeben. Ich dachte, ich müsste absagen, weil ich die für mich reservierte Eintrittskarte im abgesperrten Bereich der königlichen Tribüne nicht beantragt hatte; doch wie sich herausstellte, hatte meine Mutter den Antrag für mich gestellt - mit solchen Gesten zeigte sie mir trotzig ihre Ablehnung meiner Arbeit und des von mir gewählten Lebens. In unserer heutigen Zeit, die noch mehr an Lebensart eingebüßt hat, könnte sie keinen Antrag mehr für eine andere Person stellen, nicht einmal für ihren eigenen Sohn, doch damals war das noch möglich. Sie hatte seit meiner Jugend diese alljährliche Verantwortung übernommen und wollte sie nur ungern wieder abgeben. »Es wird dir Leid tun, wenn du einen solchen Spaß verpasst«, wies sie stets meinen Einwand zurück, dass ich keinerlei Absichten hätte, die Veranstaltung zu besuchen. Dieses Mal sollte sie aber Recht behalten. Ich nahm Isabels Angebot mit dem kleinen Lächeln an, das mir bei der Aussicht auf einen Tag in Ascot immer auf die Lippen kommt.
Wie bei vielen berühmten Traditionen haben Idealbild und Wirklichkeit auch bei Ascot kaum etwas oder gar nichts miteinander zu tun. Die Bezeichnung »königliche Tribüne« weckt Visionen von Prinzen und Herzoginnen, von berühmten Schönheiten und Neureichen, die in haute couture gehüllt über manikürte Rasenflächen schlendern (von der speicheltriefenden Berichterstattung der Boulevardpresse will ich gar nicht reden). Von alledem kann ich nur die Qualität der Rasenflächen bezeugen. Bei der großen Mehrheit der Besucher im Bereich der königlichen Tribüne scheint es sich dagegen um Geschäftsleute mittleren Alters zu handeln, die in Begleitung ihrer stillos, meist in Chiffon gekleideten Gattinnen aus den teureren Vororten Londons herbeieilen. Dieses Auseinanderklaffen von Traum und Wirklichkeit wird erst dadurch bemerkenswert und amüsant, dass die Beteiligten selbst in absichtlicher Selbstverblendung die Illusion unterstützen. Sogar die Mitglieder der vornehmen Gesellschaft oder, besser gesagt, die Mitglieder der oberen Mittelschicht und Oberschicht, die tatsächlich in Ascot erscheinen, geraten in eine rührende Ekstase und kleiden und benehmen sich, als nähmen sie wirklich an dem schicken, exklusiven Kultereignis teil, von dem die Zeitungen schreiben. Ihre Gattinnen tragen genauso stillose, aber maßgeschneiderte Kleider, die
ihnen besser stehen, und segeln umher, um einander zu begrüßen, als schriebe man 1770 und träfe sich in den Ranelagh Gardens. Ein, zwei Tage lang gönnen sich diese arbeitenden Menschen den Luxus, so zu tun, als gehörten sie einer verschwundenen Klasse von Müßiggängern an, als würde diese viel bewunderte Welt, der sie nachtrauern und sich (in der Regel fälschlicherweise) zugehörig fühlen, immer noch in der Nähe von Windsor blühen und gedeihen. Ihre Ambitionen sind so durchsichtig und angreifbar, dass sie - zumindest für mich - einen nicht unerheblichen Charme besitzen. Im Grunde freue ich mich immer, wenn ich einen Tag in Ascot verbringen kann.
David holte mich mit seinem Volvo-Kombi ab; als ich einstieg, traf ich außer Edith - mit der ich gerechnet hatte - noch ein weiteres Paar an, die Rattrays. Simon Rattray arbeitete anscheinend für die Immobilienfirma Strutt and Parker und redete viel vom Schießsport. Seine Frau Venetia erzählte ein wenig von ihren Kindern und hatte sonst kaum etwas zu sagen. Wir fuhren im stockenden Verkehr die Autobahn entlang und durch den Windsor Great Park, bis wir endlich die Rennbahn und den ziemlich entlegenen Parkplatz erreichten, den man David zugewiesen hatte. Es war ihm ein ewiger Dorn im Auge, dass ihm der Zugang zum Parkplatz Nummer eins verwehrt blieb, und er ließ seine schlechte Laune an Isabel aus, die ihn auf die Beschilderung hinwies. Mir machte das nichts aus; seine Gereiztheit gehörte für mich inzwischen zu Ascot wie die Zornesausbrüche meines Vaters wegen der Baumkerzen zu Weihnachten (eine meiner wenigen wirklich lebhaften Kindheitserinnerungen) - schließlich war ich schon mehrere Male mit den Eastons hier gewesen.
Bald stand der Wagen auf seinem nummerierten Platz, und der Lunch wurde ausgepackt. Wie ersichtlich, hatte Edith nichts dazu beigesteuert, da sich Isabel und Venetia allein daran zu schaffen machten; sie hantierten aufgeregt herum, schnitten und mischten, bis die Köstlichkeiten in ihrer ganzen Pracht vor uns angerichtet standen. Die Männer und Edith sahen in sicherem Abstand auf ihren Klappstühlen zu, champagnergefüllte Plastikgläser in der Hand. Wie immer hatte die aufwändige Vorbereitung bei der knappen Zeitspanne, die für den Verzehr der Speisen zur Verfügung stand, etwas herzergreifend Sinnloses. Wir hatten kaum unsere Stühle an den wackeligen Tisch herangezogen, als Isabel auf die Uhr sah, was genauso zum Programm gehörte wie Davids Verdrossenheit über den Parkplatz. »Wir haben nicht viel Zeit. Es ist schon fünfundzwanzig vor zwei.« David nickte und nahm sich ein paar Erdbeeren. Niemand benötigte weitere Erklärungen. Ein Teil des gottesdienstähnlichen Rituals bestand darin, sich rechtzeitig zum Bereich der königlichen Tribüne zu begeben, um die königliche Familie aus Windsor vorfahren zu sehen. Man musste früh genug dort eintreffen, um sich einen Platz mit guter Sicht zu sichern. Edith sah mich an und verdrehte die Augen, doch wir stürzten gehorsam unseren Kaffee hinunter, steckten unsere Namensschilder an und machten uns auf den Weg zur Rennbahn.
Wir passierten die Ordner am Eingang, die emsig die Spreu vom Weizen trennten. Zwei Bedauernswerte waren gerade aufgehalten worden, ob wegen falscher Ansteckschilder oder falscher Kleidung, blieb mir verborgen. Edith drückte mir mit jenem verstohlenen Lächeln, das ich schon an ihr kannte, den Arm. Ich warf ihr einen schrägen Blick zu. »Hast du etwas Lustiges entdeckt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Was dann?«
»Ich habe eine Schwäche: Es bereitet mir außerordentliches Vergnügen, dort Zutritt zu erhalten, wo andere abgewiesen werden.«
Ich lachte. »Diese Schwäche darfst du ruhig haben. Viele andere teilen sie mit dir. Aber es zeugt von niedriger Gesinnung, sie zuzugeben. «
»Oje. Dann hab ich eine ausgesprochen niedrige Gesinnung, fürchte ich. Ich hoffe nur, dass ich deswegen nicht zurückgeschickt werde.«
»Das ist wohl kein Hindernis«, sagte ich.
Interessant an diesem Wortwechsel war Ediths Ehrlichkeit. Sie sah aus wie der Inbegriff der höheren Tochter, die sie ja auch war, doch ich begann zu verstehen, dass sie sich ihrer Lebenssituation beunruhigend bewusst war, während Mädchen ihresgleichen sonst immer so tun, als hätten sie keine Ahnung von diesen Dingen. Nicht Ediths Gefühle waren es, die sie von den anderen abhoben. Engländer aller Schichten sind süchtig nach Exklusivität. Wenn drei Engländer in einem Raum versammelt sind, erfinden sie eine Regel, die verhindert, dass ein Vierter zu ihnen stößt. Im Unterschied zu Edith tragen die meisten Menschen und sicher sämtliche Snobs ihre Unkenntnis dieser Dinge zur Schau. Wer sich anmerken lässt, wie sehr er es genießt, dort Gast zu sein, wo die anderen Eintrittskarten kaufen müssen, durch ein Tor gewunken oder in einen Raum gewiesen zu werden, wo dem gemeinen Volk der Zugang verweigert wird, der wird von Aristokraten (oder Möchtegern-Aristokraten) nur leere Blicke und einstudierte Verständnislosigkeit ernten. Jede Dame mit gesellschaftlichem Schliff würde wahrscheinlich durch ein leises Heben der Augenbrauen zu erkennen geben, dass allein schon der Gedanke auf mangelnde Erziehung schließen lässt. Die Heuchelei des Ganzen verschlägt einem den Atem, doch die Disziplin, mit der diese Zirkel ihren eisernen Regeln anhängen, verdient einen gewissen Respekt.
Wir hatten wohl getrödelt, da die anderen alle schon auf der Tribüne standen, die sich rasch füllte, und uns zu sich winkten. Ein fernes Geräusch kündigte die Kutschen an, und die Lakaien oder Ordner - oder wie immer sie sich betitelten - eilten zu den Toren, um sie zu öffnen. Edith stupste mich an und nickte Isabel zu, als die erste Kutsche mit Ihrer Majestät und dem dunkelhäutigen Premier eines reichen OPEC-Staats durch die Einfahrt bog. Wie die anderen Männer zog ich in echter Begeisterung den Hut, doch meine Aufmerksamkeit wurde von Isabels Gesicht in den Bann gezogen. Sie hatte den benommenen, entrückten Blick eines Kaninchens vor der Schlange und war in einer trancehaften Verzückung versunken. Um zur königlichen Privatfeier in Ascot geladen zu werden, hätte Isabel einen in die Länge gezogenen Tod in Kauf genommen. Oder ihn zumindest in Erwägung gezogen. Vermutlich ein Beweis, dass die gebildeten Schichten bei aller Verachtung für den gemeinen Starkult genauso empfänglich für derlei Fantasiebilder sind, wenn sie ihnen in genießbarer Form geboten werden.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by C. Bertelsmann Verlag, München
Ich selbst kannte Isabel Easton seit unserer Kindheit in Hampshire; uns verband jene angenehme, anspruchslose Art von Freundschaft, die ausschließlich auf langer Dauer beruht. Wir hatten wenig gemeinsam, kannten aber sonst kaum jemanden, der sich an uns als Neunjährige beim Ponyreiten erinnerte; so hatten unsere gelegentlichen Begegnungen immer etwas Behagliches. Nach dem Studium war ich ans Theater gegangen und Isabel hatte einen Börsenmakler geheiratet, mit dem sie nach Sussex gezogen war, daher gab es zwischen unseren Welten kaum Berührungspunkte. Doch es machte Isabel Vergnügen, ab und zu einen Schauspieler unter ihren Gästen zu haben, der im Fernsehen zu sehen war (selbst wenn mich noch nie einer ihrer Freunde wiedererkannt hatte), und auch ich verbrachte gern gelegentlich ein Wochenende bei meiner alten Spielgefährtin.
Als Edith zum ersten Mal nach Sussex kam, war auch ich dort und kann deshalb Isabels Begeisterung für ihre neue Freundin bezeugen, eine Begeisterung, die später von engstirnigeren Bekannten angezweifelt wurde. Die jedoch durchaus echt war: »Edith hat eine große Zukunft vor sich. Sie hat das gewisse Etwas.« Isabel benutzte gerne Phrasen, mit denen sie sich den Anschein gab, Insider-Wissen über den Lauf der Welt zu besitzen. Ein anderer wäre vielleicht der Meinung gewesen, dass Edith, die eine halbe Stunde später aus dem Auto stieg, nicht viel mehr zu bieten hätte als ihre äußere Erscheinung und einen in seiner Lässigkeit berückenden Charme, doch ich schloss mich dem Urteil unserer Gastgeberin an. Rückblickend muss ich sagen, dass etwas an ihrem Mund auf das Kommende hindeutete - ein gestochen scharfer Mund mit Lippen, die in ihrem wie gemeißelten Schwung an die Filmdiven der Vierzigerjahre erinnerten. Und dann ihr Teint. Für einen Engländer ist ein Kompliment über den Teint der letzte Rettungsanker, wenn es nichts anderes gibt, das man lobend erwähnen könnte. So wird bei den weniger ansehnlichen Mitgliedern der königlichen Familie oft deren guter Teint hervorgehoben. Doch dies nur nebenbei - Edith Lavery hatte die herrlichste Haut, die ich je gesehen hatte: kühl, klar, pastellfarben, von makellos wächsernem Schimmer. Ich habe seit jeher eine Schwäche für gut aussehende Menschen, und im Nachhinein glaube ich, dass ich gleich im ersten Moment, als ich Ediths Gesicht bewunderte, zu ihrem Verbündeten wurde. Isabel jedenfalls sorgte selbst für die Erfüllung ihrer Prophezeiungen, denn sie war es, die Edith nach Broughton brachte.
Broughton Hall, die Broughtons überhaupt waren eine schwärende Wunde im Leben der Eastons. Die Broughtons herrschten erst als Barons, dann als Earls und seit 1879 als Marquesses von Uckfield schon länger über diesen Landstrich im östlichen Sussex als die meisten Aristokraten anderswo. Bis vor etwas mehr als hundert Jahren waren ihre Nachbarn und Untertanen vor allem einfache Bauern, die dem flachen, sumpfigen Land ein karges Leben abrangen, doch dann strömte mit den Straßen und der Eisenbahn und der Erfindung der »Wochenenden auf dem Land« ein Großbürgertum in die Gegend, das sich auf die Suche nach Vornehmheit begab, und wie Byron wurden die Broughtons über Nacht berühmt. Ob man dazugehörte oder nicht, hing bald vor allem davon ab, ob man auf ihrer Gästeliste stand oder nicht. Der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass die Familie diese Berühmtheit nicht gesucht hat, zumindest nicht am Anfang; ihre Macht wurde ihnen als den wichtigsten Vertretern des alten Adels in einer gesellschaftlich aufstrebenden Gegend regelrecht aufgezwungen.
In anderer Hinsicht hatten sie schlichtweg Glück gehabt. Dank zweier Ehen - mit einer Bankierstochter und mit der Erbin eines beträchtlichen Teils von San Francisco - war das Familienschiff sicher durchs stürmische Meer der Agrarkrise und des Ersten Weltkriegs gesteuert. Anders als viele ähnliche Dynastien hatten sich die Broughtons so gut wie alle ihre Londoner Immobilien erhalten, und dank einiger findiger Winkelzüge in Sachen Grundbesitz liefen sie unter der Regierung Thatcher in einen relativ sicheren Hafen ein. Dann formierten sich die Sozialisten neu und erlebten ihre Wiedergeburt zum großen Glück für die oberen Schichten als New Labour- Partei, die sich als erheblich entgegenkommender erwies als ihre raffgierigen politischen Ahnen. Alles in allem waren die Broughtons das Paradebeispiel für den erfolgreichen Fortbestand einer englischen Adelsfamilie. Sie hatten ihr Ansehen und, wichtiger noch, ihre Landgüter praktisch unbeschädigt in die Neunzigerjahre hinübergerettet.
Das alles stellte für die Eastons nicht das geringste Problem dar. Weit davon entfernt, den Broughtons ihre Privilegien zu missgönnen, sie vergötterten sie regelrecht. Heikel war für sie nur eins: Obwohl sie nur zwei Meilen von Broughton Hall entfernt wohnten und obwohl Isabel ihren Freundinnen beim Lunch in der Walton Street vorgeschwärmt hatte, dass »das Haus glücklicherweise praktisch nebenan« liege, hatten sie nach dreieinhalb Jahren noch keinen Fuß hineingesetzt und es noch nicht einmal geschafft, einem Mitglied der Familie gesellschaftlich zu begegnen.
Natürlich war David Easton nicht der erste Engländer aus der oberen Mittelschicht, der entdecken musste, dass sich ein fadenscheiniger aristokratischer Hintergrund eher in London als auf dem Land hochhalten lässt. Doch nach jahrelangen Lunchbesuchen im Brooks's, nach unzähligen Samstagen bei Rennveranstaltungen und Abenden im Annabel's, wo er seine Vorurteile gegen die moderne, mobile Gesellschaft verbreitet hatte, hatte er völlig aus dem Blick verloren, dass er selbst ein Produkt eben jener Gesellschaft war. Als hätte er vergessen, dass sein Vater Geschäftsführer einer unbedeutenden Möbelfabrik in den Midlands gewesen war und seine Eltern ihn nur mit Mühe nach Ardingly hatten schicken können. Zum Zeitpunkt unserer Bekanntschaft wäre er wohl sehr überrascht gewesen, seinen Namen nicht im Debrett's zu finden. Ich erinnere mich, wie ich bei den Eastons einmal einen Artikel las, in dem sich Prinzessin Margarets Geliebter Roddy Llewellyn darüber beklagte, dass er nicht wie sein älterer Bruder Eton besucht hatte, denn in Eton entstünden die Freundschaften fürs Leben. David ging zufällig an meinem Stuhl vorbei. »Sehr richtig«, sagte er. »Genauso geht es mir auch.« Ich warf einen vielsagenden Blick zu Isabel hinüber, erkannte aber an ihrem mitfühlenden Nicken, dass ihr geheimes Einverständnis nicht mir, sondern ihrem Mann galt.
Einem Außenstehenden fällt auf, dass viele Ehen deshalb gut funktionieren, weil sich die Partner gegenseitig in ihren Illusionen bestärken. Isabels liebenswerte Art und der Gleichmut der meisten Londoner Gastgeberinnen, die von ihren Gästen nichts erwarten, das über die Fähigkeit zu sprechen und zu essen hinausginge, hatten David bisher einen Schutzraum geboten. So war es jetzt umso bitterer für ihn, dass er an vornehmer Tafel über Charles Broughtons Italienreise befragt wurde, oder wie sich Carolines neuer Mann mache, um dann murmeln zu müssen, dass er sie eigentlich nicht so gut kenne. »Wie ungewöhnlich«, kam dann stets die Antwort. »Ich dachte, Sie wären Nachbarn.« Selbst Davids Eingeständnis enthielt eine gewisse Unwahrheit, denn es konnte keine Rede davon sein, dass er die Broughtons nicht so gut kannte. Er kannte sie überhaupt nicht.
Einmal hatte er auf einer Cocktailparty am Eaton Square eine Meinung über die Familie geäußert, was sein Gesprächspartner mit der Frage quittierte: »Aber ist das da drüben nicht Charles? Sie müssen mich ihm vorstellen - ich wüsste zu gern, ob er sich daran erinnert, wo wir uns begegnet sind.« David musste plötzliche Übelkeit vorschützen (was mehr oder weniger stimmte) und nach Hause zurückkehren; so verpasste er auch noch das Dinner, zu dem sie anschließend alle eingeladen waren. In letzter Zeit nahm er eine leicht herablassende Haltung ein, wenn ein Wort über die Familie fiel. Dann stand er betont schweigend da und schloss sich vom Gespräch aus, als würde er, David Easton, die Broughtons lieber nicht kennen. Als hätte er sie getestet und für nicht ganz nach seinem Geschmack befunden. Nichts hätte von der Wahrheit weiter entfernt sein können. Aus Fairness möchte ich sagen, dass dieser enttäuschte gesellschaftliche Ehrgeiz David selbst wohl genauso verborgen blieb, wie er uns hätte verborgen bleiben sollen. So kam es mir wenigstens vor, wenn ich ihm zusah, wie er den Reißverschluss seiner Barbour-Jacke hochzog und nach den Hunden pfiff.
Vielleicht war es ganz passend, dass der Vorschlag zu einer Besichtigung von Edith kam. Isabel fragte uns am Samstag beim Frühstück, worauf wir Lust hätten, und Edith erkundigte sich, ob es in der Nähe nicht »eins von diesen Schlössern« gäbe, und wie es mit einem Besuch dort wäre? Sie sah mich über den Tisch hinweg an.
»Ich hätte nichts dagegen«, sagte ich.
Mir entging nicht, wie Isabel David, der am anderen Ende des Tischs tief in seinem Telegraph versunken war, einen raschen Blick zuwarf. Ich kannte und verstand die Broughton-Problematik, und Isabel wusste, dass ich Bescheid wusste, aber als gute Engländer hatten wir natürlich nie darüber gesprochen. Wie es der Zufall wollte, war ich dem Sohn und Erben Charles Broughton, einer etwas schwerfälligen Persönlichkeit, in London ein-, zweimal an Abenden mit Zwittercharakter begegnet, wo sich Showbusiness und bessere Gesellschaft treffen, ohne sich wirklich zu vermischen - wie zwei sich kreuzende Flüsse. Diese Begegnungen hatte ich Isabel verschwiegen, um kein Salz in die Wunden zu streuen.
»David?«, sagte sie.
Mit einer weit ausholenden, unbekümmerten Bewegung schlug er die Seiten seiner Zeitung um.
»Fahrt nur, wenn ihr wollt. Ich muss nach Lewes. Sutton hat schon wieder den Tankdeckel des Rasenmähers verloren. Ich glaube, der frisst die Dinger.«
»Das könnte ich am Montag erledigen.«
»Nein, nein. Ich möchte sowieso noch Patronen kaufen.« Er blickte auf. »Wirklich, geht nur.«
Sein Blick enthielt einen Vorwurf, dem Isabel mit einer kleinen Grimasse begegnete, die vorgab, ihr bliebe ja keine andere Wahl. Die beiden hatten eine stillschweigende Abmachung, das Haus nicht als anonyme, zahlende Besucher zu besichtigen. Erst hatte David erwartet, ohnehin bald die Bekanntschaft der Familie zu machen, und wollte nicht riskieren, von den Broughtons auf der falschen Seite des Absperrseils gesehen zu werden. Als Monate und dann Jahre der Enttäuschung folgten, wurde es zu einer Art Prinzip, das Haus zu meiden, als wollte David den Broughtons die Genugtuung nicht gönnen, ihm gutes Geld für etwas abzuknöpfen, was er von Rechts wegen umsonst haben sollte. Doch Isabel war, wie es Frauen meist sind, pragmatischer veranlagt als ihr Mann und hatte sich an den Gedanken gewöhnt, dass es noch eine Weile dauern könnte, bis sie die ihnen gebührende soziale Stellung in der Grafschaft einnehmen würden. Sie war nun einfach neugierig auf das Haus, das zum Symbol für ihr mangelndes gesellschaftliches Potenzial geworden war, und ließ sich nicht lange bitten. Wir drei stiegen in ihren verbeulten Renault und fuhren los.
Ich fragte Edith, ob sie Sussex kannte.
»Nicht sehr gut. Ich hatte einmal eine Freundin in Chichester.«
»Die schicke Seite.«
»Ja? Ich wusste nicht, dass Grafschaften schicke Seiten haben. Klingt eher amerikanisch. Wie gute und schlechte Tische im selben Restaurant.«
»Kennen Sie Amerika?«
»Nach der Schule habe ich einige Monate in Los Angeles verbracht. «
»Warum denn das?«
Edith lachte. »Warum denn nicht? Was hat man mit siebzehn schon für Gründe?«
»Ich weiß jedenfalls nicht, warum man ausgerechnet nach Los Angeles gehen sollte. Außer, um Filmstar zu werden.«
»Vielleicht wäre ich gern Filmstar geworden.« Ihr Lächeln, das ihre Worte begleitete, habe ich inzwischen als den zur Gewohnheit gewordenen Ausdruck einer leisen Melancholie deuten gelernt, und ich sah, dass ihre Augen entgegen meinem ersten Eindruck nicht blau waren, sondern von einem nebligen Grau.
Zwischen zwei mächtigen Steinpfeilern, auf denen Hirschköpfe mit kapitalem Geweih thronten, bogen wir in die breite Kiesauffahrt ein. Isabel hielt an. »Ist das nicht wunderbar?«, fragte sie. Das massive Gebäude von Broughton Hall lag vor uns hingebreitet. Edith lächelte begeistert, und wir fuhren weiter. Sie fand das Haus genauso wenig wunderbar wie ich, obwohl es auf seine Art eindrucksvoll war. Zumindest sehr groß. Der Architekt aus dem achtzehnten Jahrhundert schien ein Vorläufer Albert Speers gewesen zu sein. Der Hauptbau, ein riesiger Würfel aus Granitsteinen, war durch zwei gedrungene, klobige Säulengänge mit zwei kleineren Würfeln verbunden. Leider hatte im vorigen Jahrhundert ein Broughton die Fenster ihrer Sprossen beraubt und sie durch einfaches Tafelglas ersetzt, so dass sie nun wieblinde,leereAugen über den Park starrten. An den vier Ecken des Hauses ragten vier plumpe Kuppeln auf wie die Wachtürme eines Konzentrationslagers. Insgesamt fügte sich das Haus nicht in die Landschaft ein, sondern versperrte den Blick auf sie.
Der Wagen kam auf dem knirschenden Kies sanft zum Stehen. »Erst das Haus oder erst der Garten?« Isabel war entschlossen, sich nichts entgehen zu lassen, wie ein sowjetischer Militärinspektor der Sechzigerjahre zu Besuch bei der NATO.
Edith zuckte mit den Achseln. »Gibt es drinnen viel zu sehen?«
»Das möchte ich meinen«, sagte Isabel entschieden und ging bereits auf die Tür mit dem Schild »Eingang« zu, die sich zwischen die beiden Arme der hufeisenförmigen, zur Beletage hochführenden Freitreppe duckte. Schon hatte der Rustika-Granit Isabel verschluckt, und wir folgten ihr fügsam.
Es sollte zu einer von Ediths Lieblingsgeschichten werden, dass sie Broughton zum ersten Mal als zahlender Gast zu Gesicht bekam, vom Privatleben der Bewohner durch ein rotes Absperrseil getrennt. »Nicht dass es in diesem Haus jemals viel Privatleben gegeben hätte«, bemerkte sie dann immer mit ihrem witzigen kurzen Auflachen. Es gibt Häuser, in denen die Persönlichkeit ihrer Bauherrn ganz stark spürbar ist, Häuser mit einem alles durchdringenden Geruch, den das Leben ihrer Bewohner hinterlassen hat; hier fühlt sich der Besucher halb als Einbrecher, halb als Geist, der an einem privaten Ort in verborgenen Geheimnissen herumspioniert. Broughton gehörte nicht dazu. Die gesamte Architektur war bis zum letzten Kamingitter, zur letzten Kreuzblume ausschließlich darauf angelegt, Fremde zu beeindrucken. Daher hatte sich die Rolle des Hauses bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts kaum verändert. Nur dass die Fremden jetzt Eintrittskarten kauften, anstatt der Wirtschafterin ein Trinkgeld zuzustecken.
Die heutigen Besucher müssen sich allerdings länger gedulden, bis sie die Pracht der Prunkräume zu sehen bekommen. Die kalte, feuchte Halle, durch die wir das Haus betraten (die »Untere Eingangshalle«, wie wir später erfahren würden), empfing uns mit dem Charme eines verlassenen Stadions. An den Wänden reihten sich unbequeme Stühle für die Lakaien und beschworen die Vision endloser Stunden langweiligen Wartens herauf, die dort abgesessen worden waren; in der Mitte der verfärbten Steinfliesen stand ein langer schwarzer Tisch. Abgesehen von vier verstaubten Stadtansichten von Venedig, die lange nach Canaletto entstanden waren, gab es keine Bilder. Wie alle Räume in Broughton war die Halle von riesigen Ausmaßen, so dass wir drei uns wie Zwerge vorkamen.
»Von weicher Verkaufsstrategie halten die jedenfalls nichts«, sagte Edith.
Mit gezückten Führern erklommen wir von der unteren Eingangshalle aus die große Treppe mit geschnitztem Eichenholzgeländer, die sich um die gedrungene, eher bedrückende Bronzestatue eines sterbenden Sklaven nach oben zog. Dort überquerten wir den breiten Treppenabsatz und gelangten als Erstes in die Marmorhalle, einen weiten, zweigeschossigen Raum mit umlaufender Galerie, die als Geländer eine Balustrade hatte. Hätten wir die hufeisenförmige Freitreppe als Zugang benutzt, wäre diese bewusst einschüchternde Halle unser erster Eindruck des Hauses gewesen. Von hier aus gingen wir weiter in den Großen Saal, einen weiteren Riesenraum, diesmal mit Mahagonivertäfelungen, deren üppiges Schnitzwerk teilweise vergoldet war, und karminroten Velourstapeten.
»Für mich bitte Hähnchen-Tikka«, sagte Edith.
Ich lachte. Sie hatte völlig Recht: Der Raum sah aus wie ein überdimensionales indisches Restaurant.
Isabel schlug den Führer auf und begann im Erdkundelehrerinnenton zu lesen: »Der Große Saal besitzt noch die Originaltapeten, die zu den Glanzlichtern der Innenausstattung von Broughton Hall gehören. Die vergoldeten Wandtischchen wurden 1739 von William Kent für diesen Raum angefertigt. Das Meeresmotiv in den Schnitzereien der hohen Spiegel nimmt Bezug auf die Berufung des dritten Earls an die portugiesische Botschaft im Jahre 1737. An den Earl selbst erinnert im Großen Saal, seinem bevorzugten Raum des Hauses, das von Jarvis stammende lebensgroße Porträt an der einen Seite des italienischen Kamins; auf der anderen Seite hängt als Gegenstück das von Hudson angefertigte Porträt seiner Gemahlin.«
Edith und ich starrten die Bilder an. Im Porträt der Lady Broughton hatte sich der Maler um einen Ansatz von Frohsinn bemüht, da die junge Frau mit den grobschlächtigen Gesichtszügen auf einer Blumenböschung posierte und in ihrer breiten Hand einen Sommerhut nach unten hängen ließ.
»In meinem Fitnessstudio gibt es eine Frau, die genauso aussieht«, sagte Edith. »Sie versucht immer, mir Lose für Tombolas der Konservativen anzudrehen.«
Isabel leierte weitere Details herunter. »Der Kabinettschrank in der Mitte der südlichen Wand stammt von Boulle und ist ein Geschenk von Marie-Josèphe von Sachsen, Gemahlin des französischen Thronfolgers, an die Braut des fünften Earls anlässlich deren Hochzeit. Zwischen den Fenstern ...«
Ich schlenderte zu den genannten hohen Fenstern hinüber und sah in den Park hinunter. Es war einer jener heißen, drückenden Tage Ende August, wenn die Bäume unter ihrer Blätterlast zusammenzubrechen scheinen und das überwältigende Grün der Landschaft schwül und stickig wirkt. Während ich so dastand, kam hinter der Ecke des Hauses ein Mann hervor. Trotz der Hitze war er mit Tweedjackett und Kordhose bekleidet und trug einen dieser langweiligen braunen Filzhüte, die Engländer auf dem Land für flott halten. Er sah hoch und ich erkannte Charles Broughton. Sein Blick streifte mich kaum und wanderte weiter, doch dann blieb Broughton stehen und schaute erneut zu mir hoch. Vermutlich hatte auch er mich wiedererkannt; ich hob grüßend die Hand, was er mit einer flüchtigen Geste beantwortete, dann ging er wieder seiner Wege.
»Wer war denn das?« Edith stand hinter mir. Auch sie hatte Isabel ihren Litaneien überlassen.
»Charles Broughton.«
»Ein Sohn des Hauses?«
»Der einzige Sohn des Hauses, glaube ich.«
»Wird er uns zum Tee bitten?«
»Ich glaube nicht. Ich bin ihm genau zweimal begegnet.«
Charles bat uns weder zum Tee, noch hätte er einen weiteren Gedanken an mich verschwendet, wenn wir ihm auf dem Rückweg zum Auto nicht über den Weg gelaufen wären. Er unterhielt sich mit einem der vielen Gärtner, die hier herumschwärmten, und beendete gerade das Gespräch, als wir den Vorhof überquerten.
»Hallo!« Er nickte mir liebenswürdig zu. »Was machen Sie denn hier?« Es war klar, dass er meinen Namen vergessen hatte und wahrscheinlich auch, wo wir uns getroffen hatten; nichtsdestoweniger war er freundlich und wartete, dass ich ihn den anderen vorstellte.
Isabel war von dieser plötzlichen und unerwarteten Beförderung ins Land, in dem die Träume wahr werden, völlig überrumpelt; sie suchte fieberhaft nach einer faszinierenden Bemerkung, die sich klettengleich in Charles' Gehirn festhaken und mehr oder weniger sofort zu einer engen Freundschaft führen würde. Doch die Inspiration blieb aus.
»Er ist gerade bei uns. Wir sind nur zwei Meilen weit entfernt«, sagte sie kühn.
»Wirklich? Kommen Sie oft in die Gegend?«
»Wir wohnen hier.«
»Ah«, sagte Charles. Er wandte sich an Edith: »Wohnen Sie auch hier?«
Sie lächelte. »Keine Sorge, von mir droht keine Gefahr. Ich lebe in London.«
Er lachte, und sein fleischiges, kerniges Gesicht sah einen Moment lang sehr anziehend aus. Er nahm den Hut ab, so dass seine blonden, welligen Haare zum Vorschein kamen, die sich im Nacken zu Löckchen kräuselten, Haare, die für den englischen Aristokraten so typisch sind. »Ich hoffe, das Haus hat Ihnen gefallen.«
Edith lächelte und sagte nichts; sie überließ es Isabel, eine peinliche Nachlese aus dem Führer herunterzuhaspeln.
Ich schaltete mich ein, um Charles zu erlösen. »Wir sollten allmählich los. David wird sich schon fragen, was wir die ganze Zeit treiben. «
Wir nickten einander lächelnd zu und tauschten einen kurzen Händedruck, und ein paar Minuten später waren wir unterwegs nach Hause.
»Du hast mir nie erzählt, dass du Charles Broughton kennst«, sagte Isabel lahm.
»Ich kenne ihn auch nicht.«
»Dann hast du eben nie erzählt, dass du ihn getroffen hast.«
»Hab ich das nicht?«
Natürlich wusste ich ganz genau, dass ich das nicht hatte. Isabel schwieg den Rest der Heimfahrt. Edith drehte sich auf dem Beifahrersitz um und verzog den Mund zum Zeichen, dass ich es mir wohl gründlich verscherzt hätte. Mein Fehlverhalten war eindeutig, und den Rest des Wochenendes behandelte mich Isabel mit merklicher Kühle.
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Edith Lavery war die Tochter eines erfolgreichen Steuerberaters und Enkels eines jüdischen Einwanderers, der 1905 vor den Pogromen unter Zar Nikolaus II. nach England geflohen war. Der ursprüngliche Name der Familie war mir nicht bekannt; er lautete wohl Levy oder vielleicht Levin. Sir John Lavery, ein um die Jahrhundertwende erfolgreicher Porträtmaler, lieferte die Vorlage zur Namensänderung, die der Familie damals ratsam erschien und es mit ziemlicher Sicherheit auch war. Wurde ein Lavery gefragt, ob er mit dem Maler verwandt sei, antwortete er immer: »Ich glaube, es gibt da eine vage Verbindung «, und klinkte sich damit in die etablierte britische Gesellschaft ein, ohne fragwürdige Ansprüche zu erheben. Unter Engländern ist es ja durchaus üblich, auf die Frage, ob sie die XYs kennen, zu antworten: »Ja, aber sie würden sich nicht an mich erinnern«, oder: »Nun ja, ich bin ihnen einmal begegnet, kenne sie aber nicht«, auch wenn sie sie noch nie im Leben gesehen haben.
Das liegt am unbewussten Bedürfnis, sich in der schönen Illusion zu wiegen, England oder vielmehr das England der oberen Mittelschicht und Oberschicht sei durch eine Million unsichtbarer Seidenfäden verwoben, eine glanzvolle Gemeinschaft aller, die Rang, Namen und Lebensart haben, eine Gemeinschaft, die alle anderen ausschließt. Bei solchen Antworten kann man nicht von Lügen sprechen, denn in der Regel weiß jeder, wie sie gemeint sind. Wenn Engländer eines bestimmten sozialen Hintergrunds zu hören bekommen: »Ich habe die XYs einmal getroffen, aber sie würden sich nicht an mich erinnern«, dann entschlüsseln sie dies als: »Ich bin den Guten nie begegnet.«
Mrs. Lavery, Ediths Mutter, rechnete sich selbst einem Personenkreis von ganz anderem Format zu als ihren Gatten, auch wenn sie ihn von Herzen liebte. Ihr Vater hatte als Oberst der britischen Armee in Indien gedient, der springende Punkt aber war, dass seine Mutter wiederum die Großnichte eines Baronets war, der seinen Titel seinem Erfolg als Bankier verdankte. Mrs. Lavery war in vieler Hinsicht eine liebenswerte Frau, doch ihr leidenschaftlicher Snobismus grenzte schon an Irrsinn, und aus ihrer überaus schwachen Verbindung zum untersten Adel bezog sie die beglückende Gewissheit, zum inneren Kreis der Privilegierten zu gehören, zu dem ihr Mann nie Zutritt haben würde. Mr. Lavery nahm seiner Frau diese Haltung nicht im Mindesten übel. Ganz im Gegenteil. Er war stolz auf seine hoch gewachsene, gut aussehende Gattin, die sich zu kleiden verstand, und wenn eine ihrer Lieblingsphrasen, noblesse oblige, überhaupt etwas bei ihm auslöste, dann ein gewisses Amüsement, dass diese Maxime tatsächlich auch für seinen Haushalt gelten könnte.
Die Laverys lebten in einem großen Apartment in Elm Park Gardens, einer Wohnlage fast am falschen Ende von Chelsea und damit nicht ganz nach Mrs. Laverys Geschmack. Dennoch war es noch nicht Fulham und schon gar nicht Battersea, Namen, die erst seit kurzem auf ihrer geistigen Landkarte existierten. Wenn sie von den verheirateten Kindern ihrer Freundinnen dorthin eingeladen wurde, verspürte sie immer noch den aufregenden Kitzel des Neuen und fühlte sich wie eine unerschrockene Forschungsreisende, die sich immer weiter von der Zivilisation entfernt. Gebannt hörte sie zu, wenn sich das Gespräch darum drehte, was für eine gute Investition gewisse Immobilien dieser Gegend waren oder wie sehr es den Kleinen nach der winzigen Wohnung in der Marloes Road nun in Tooting gefiel. All das blieb Mrs. Lavery ein Rätsel; für sie war diese Gegend die Hölle, bis sie wieder den Fluss überquerte, ihren persönlichen Styx, der die Unterwelt für immer vom wahren Leben trennte.
Die Laverys waren nicht reich, aber auch nicht arm, und da sie nur ein Kind hatten, brauchten sie nicht zu knausern. Edith wurde in einen vornehmen Kindergarten geschickt und dann nach Benenden. (»Nein, nicht wegen der Princess Royal. Wir haben uns einfach umgesehen und fanden die Atmosphäre dort höchst anregend.«) Mr. Lavery hätte es gern gesehen, wenn seine Tochter studiert hätte, doch Ediths Noten reichten nicht für die besseren Universitäten - und andere kamen für die Laverys nicht in Frage. Mrs. Laverys Enttäuschung hielt sich jedoch in Grenzen. Ihr großer Ehrgeiz war es immer gewesen, ihre Tochter in die Gesellschaft einzuführen.
Stella Lavery selbst hatte nie debütiert und schämte sich deswegen zutiefst. Sie versuchte immer, dieses Manko unter viel Gelächter und Hinweisen auf den Spaß zu verbergen, den sie als Mädchen gehabt habe; wenn man genauer nachhakte, seufzte sie, ihr Vater habe in den Dreißigerjahren einen finanziellen Absturz erlitten - und stellte so einen Zusammenhang zum Börsenkrach an der Wall Street her, mit fernen Anklängen an Scott Fitzgerald und Gatsby. Oder sie mauschelte ein bisschen mit den Daten und schob es auf den Krieg. In Wahrheit aber, wie es sich Mrs. Lavery im tiefsten Grund ihrer Seele eingestehen musste, war in den Fünfzigerjahren die Gesellschaft noch viel weniger durchlässig und die Demarkationslinie zwischen den Dazugehörenden und dem Rest noch viel schärfer gezogen. Stella Laverys Familie gehörte nun einmal nicht dazu. Auf ihre Freundinnen, die einander als Debütantinnen kennen gelernt hatten, empfand sie einen heftigen, geheimen Neid, der tief in ihr nagte. Sie hasste diese Freundinnen sogar dafür, wenn sie in gemeinsamen Erinnerungen an Prominente ihres Jahrgangs schwelgten, Erinnerungen zum Beispiel an Henrietta Tiarks, die spätere Gattin des Duke von Bedford, als glaubten sie, auch Stella Lavery habe mit ihnen debütiert, obwohl sie genau wussten, dass es nicht so war - und Stella wusste, dass sie es wussten. Aus diesen Gründen war Stella von Anfang an entschlossen, im Leben ihrer geliebten Edith niemals solche Blößen zuzulassen. (Der Name Edith war übrigens wegen seiner duftigen Beiklänge gewählt worden, die ein gemächlicheres, besseres England heraufbeschworen; vielleicht sollte er auch den Anschein erwecken, es handle sich um einen traditionellen Vornamen, der von einer schönen Vorfahrin innerhalb der Familie weitergereicht worden war. Dies entbehrte natürlich jeder Grundlage.) Jedenfalls sollte Edith von Anfang an in den magischen Kreis hineinbefördert werden. Da in den Achtzigerjahren die Vorstellung bei Hofe (die ein Problem hätte darstellen können) längst der Vergangenheit angehörte, brauchte Mrs. Lavery lediglich ihren Mann und ihre Tochter zu überzeugen, dass die Zeit und das Geld, die in eine Debütantinnensaison investiert werden müssten, gut angelegt wären.
Es bedurfte keiner großen Überredungskünste. Edith hatte keine konkreten Pläne, wie sie ihr Erwachsenendasein verbringen wollte, und den Entscheidungsprozess noch ein Jahr lang hinauszuzögern, in dem eine Einladung auf die andere folgen würde, fand sie eine sehr gute Idee. Mr. Lavery wiederum behagte die Vorstellung, seine Frau und seine Tochter in der beau monde zu sehen, und ließ dafür gern etwas springen. Mrs. Laverys sorgfältig gepflegte Beziehungen genügten, um Edith auf die Gästeliste von Peter Townsends Teegesellschaften zu Beginn der Saison zu setzen, und Ediths Schönheit tat ein Übriges, so dass sie als Model für die Berkeley-Modenschau im Dorchester-Hotel gewählt wurde, die die Saison traditionell eröffnet. Danach lief alles wie von selbst. Mrs. Lavery traf sich mit den anderen Müttern zum Lunch, packte die Kleider ihrer Tochter für die Bälle auf dem Land ein und genoss diese Zeit im Großen und Ganzen sehr. Auch Edith hatte viel Spaß dabei.
Der einzige Wermutstropfen für Mrs. Lavery war, dass nach dem Ende der Saison, als die letzten Wohltätigkeitsbälle des Winters vorüber und alle Artikel aus dem Tatler samt zugehörigen Einladungen in ein Album geklebt waren, keine große Veränderung eintrat. Edith war bei mehreren Töchtern aus dem Hochadel zu Gast gewesen, sogar
- besonders aufregend - auch im Haus eines Herzogs, und alle diese Mädchen waren auch bei Ediths eigener Cocktailparty im Claridge's erschienen (einer der beglückendsten Abende, die Mrs. Lavery je erlebt hatte). Doch als die Tanzmusik verstummt war, hatte sich Edith nur mit solchen Mädchen dauerhaft angefreundet, wie sie sie schon von der Schule nach Hause gebracht hatte: mit Töchtern wohlhabender Geschäftsleute aus der oberen Mittelschicht. Was Edith ja auch selbst war. Das kam Mrs. Lavery ungerecht vor. Dass sie selbst die schwindelerregenden oberen Stufen der Londoner Gesellschaft (die sie verschmitzt als »den Hof« bezeichnete) nicht erklimmen konnte, hatte sie darauf zurückgeführt, dass sie nie richtig als Debütantin in die Gesellschaft eingeführt worden war. Deshalb setzte sie hohe Erwartungen in ihre Tochter. Vielleicht war sie in ihrer Begeisterung für eine einfache Wahrheit blind geworden: Dass ihre Tochter bei den Veranstaltungen der Saison mit so offenen Armen empfangen worden war, lag lediglich daran, dass diese Institution in den Achtzigern nicht mehr so exklusiv war wie in Mrs. Laverys Jugend.
Edith war sich der Enttäuschung ihrer Mutter bewusst. Auch sie war nicht immun gegen die Reize von Rang und Vermögen, wie wir bald erfahren werden, sah allerdings nicht ganz, wie sie den vertrauten Umgang mit den Töchtern der großen Häuser fortführen sollte. Erstens schienen sich alle schon von Geburt an zu kennen, und zweitens fand es Edith schwierig, den Ansprüchen dieser Mädchen in einer Wohnung in Elm Park Gardens gerecht zu werden. Es lief letztlich darauf hinaus, dass sie den meisten Mädchen ihres Jahrgangs weiter freundlich zunickte, gesellschaftlich aber auf derselben Stufe stehen blieb wie nach der Schule.
Ich erfuhr dies alles recht bald nach unserer ersten Begegnung bei den Eastons, da Edith, wie sich herausstellte, einen Job als Empfangssekretärin eines Immobilienbüros in der Milner Street annahm, gleich um die Ecke meiner Souterrainwohnung. Ich lief ihr im Kaufhaus über den Weg, oder wenn ich ein Sandwich in einem der Pubs dieser Gegend aß, oder wenn ich mir um halb sechs eine Flasche Milch bei Partridges holte, und ohne es richtig zu bemerken, freundeten wir uns allmählich an. Eines Tages sah ich sie gegen eins aus einem Möbelgeschäft herauskommen und lud sie zum Mittagessen ein.
»Hast du Isabel in letzter Zeit gesehen?«, erkundigte ich mich, als wir uns in einem dieser kleinen italienischen Restaurants, in denen die Kellner laut herumschreien, auf eine Bank quetschten.
»Letzte Woche habe ich mit beiden zu Abend gegessen.«
»Alles in Ordnung?«
Es schien so, oder beinahe. Es gab gerade ein kleines Drama wegen der Schulschwierigkeiten ihres Sohnes. Isabel hatte eine Dyslexie entdeckt. Ich bemitleidete den Direktor.
»Sie hat nach dir gefragt. Ich habe gesagt, dass ich dich gesehen habe«, berichtete Edith.
Ich erklärte, meiner Meinung nach habe mir Isabel noch nicht verziehen, dass ich ihr nichts von meiner Bekanntschaft mit Charles Broughton erzählt hatte. Edith lachte. In diesem Zusammenhang erfuhr ich einiges über ihre Mutter. Ich fragte, ob sie ihr etwas von unserem Besuch in Broughton erzählt habe. Charles beschäftigte mich gerade, weil ich am Vormittag zufällig einen dieser blöden Zeitschriftenartikel über begehrte Junggesellen gelesen hatte, wo Charles ganz oben auf der Liste stand. Ich muss gestehen, dass ich von der Menge seiner geschilderten Vorzüge ziemlich beeindruckt war.
»Lieber Himmel, nein. Ich will meiner Mutter doch keinen Floh ins Ohr setzen.«
»Zieht sie immer so voreilige Schlüsse?«
»Und ob! In ihrer Fantasie würde sie mich flugs vor den Altar befördern.«
»Willst du denn nicht heiraten?«
Edith sah mich an, als wäre ich verrückt geworden. »Natürlich will ich heiraten.«
»Dann siehst du dich also nicht als Karrierefrau? Ich dachte, heute wollen alle Frauen Karriere machen.« Ich weiß nicht, warum ich in diesen aufgeblasenen Antifeminismus abrutschte, weil er überhaupt nicht meine Meinung widerspiegelt.
»Ich will jedenfalls nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, in einem Maklerbüro das Telefon abzuheben, falls du das meinst.«
Der Dämpfer geschah mir recht. »Das ist auch nicht ganz das, was mir unter Karriere vorschwebt«, sagte ich.
Edith sah mich so nachsichtig an, als bräuchte ich Nachhilfe im kleinen Einmaleins. »Ich bin siebenundzwanzig. Ich habe keine Qualifikationen und, schlimmer noch, kein besonderes Talent. Außerdem bevorzuge ich einen Lebensstil, der mindestens achtzigtausend Pfund im Jahr erfordert. Wenn mein Vater stirbt, hinterlässt er alles Geld meiner Mutter; auch erwarte ich nicht, dass einer von ihnen vor 2030 von der Bildfläche verschwindet. Hast du einen Vorschlag, was ich machen soll?«
Ich weiß nicht, warum, aber der einer Anita Loos würdige Pragmatismus, der aus dieser kleinen Rosenknospe mit Haarband und adrettem marineblauem Kostüm tönte, verschlug mir kurz die Sprache.
»Demnach hast du die Absicht, einen reichen Mann zu heiraten?«, fragte ich.
Edith sah mich spöttisch an. Vielleicht dachte sie, sie hätte zu viel von sich preisgegeben, vielleicht wollte sie in Erfahrung bringen, ob ich über sie urteilte, und wenn, ob sie vor meinem Urteil bestehen könnte. Was sie in meinen Augen las, hätte sie beruhigen sollen, denn ich war immer der Ansicht, wenn man früh erkennt, was man im Leben wirklich will, hat man die besten Aussichten, der scheinbar unvermeidlichen modernen Krankheit der Midlife-Crisis zu entgehen.
»Nicht unbedingt.« Sie klang ein wenig, als wollte sie sich rechtfertigen. »Ich kann mir nur nicht vorstellen, dass ich in einer Ehe mit einem armen Mann sehr glücklich wäre.«
»Das kann ich nachvollziehen«, sagte ich.
Nach diesem Mittagessen trafen Edith und ich uns eine ganze Weile nicht mehr. Ich bekam eine Rolle in einer dieser unerträglichen amerikanischen Miniserien und fuhr für einige Monate nach Paris und dann auch noch - kaum zu glauben - nach Warschau. Der Job verschaffte mir das höchst deprimierende Erlebnis, Weihnachten und Silvester in einem ausländischen Hotel zu feiern, wo man Käse zum Frühstück serviert bekommt und das Brot immer alt ist, und als ich im Mai nach London zurückkehrte, hatte ich nicht das Gefühl, in meiner Kunst große Fortschritte gemacht zu haben. Andererseits ging es mir wenigstens finanziell etwas besser als bei meiner Abreise. Bald nach meiner Ankunft erhielt ich eine Karte von Isabel mit der Frage, ob ich mich ihnen wie die letzten Jahre beim zweiten Tag in Ascot anschließen wolle. Sie hatte mir wohl während meiner Abwesenheit vergeben. Ich dachte, ich müsste absagen, weil ich die für mich reservierte Eintrittskarte im abgesperrten Bereich der königlichen Tribüne nicht beantragt hatte; doch wie sich herausstellte, hatte meine Mutter den Antrag für mich gestellt - mit solchen Gesten zeigte sie mir trotzig ihre Ablehnung meiner Arbeit und des von mir gewählten Lebens. In unserer heutigen Zeit, die noch mehr an Lebensart eingebüßt hat, könnte sie keinen Antrag mehr für eine andere Person stellen, nicht einmal für ihren eigenen Sohn, doch damals war das noch möglich. Sie hatte seit meiner Jugend diese alljährliche Verantwortung übernommen und wollte sie nur ungern wieder abgeben. »Es wird dir Leid tun, wenn du einen solchen Spaß verpasst«, wies sie stets meinen Einwand zurück, dass ich keinerlei Absichten hätte, die Veranstaltung zu besuchen. Dieses Mal sollte sie aber Recht behalten. Ich nahm Isabels Angebot mit dem kleinen Lächeln an, das mir bei der Aussicht auf einen Tag in Ascot immer auf die Lippen kommt.
Wie bei vielen berühmten Traditionen haben Idealbild und Wirklichkeit auch bei Ascot kaum etwas oder gar nichts miteinander zu tun. Die Bezeichnung »königliche Tribüne« weckt Visionen von Prinzen und Herzoginnen, von berühmten Schönheiten und Neureichen, die in haute couture gehüllt über manikürte Rasenflächen schlendern (von der speicheltriefenden Berichterstattung der Boulevardpresse will ich gar nicht reden). Von alledem kann ich nur die Qualität der Rasenflächen bezeugen. Bei der großen Mehrheit der Besucher im Bereich der königlichen Tribüne scheint es sich dagegen um Geschäftsleute mittleren Alters zu handeln, die in Begleitung ihrer stillos, meist in Chiffon gekleideten Gattinnen aus den teureren Vororten Londons herbeieilen. Dieses Auseinanderklaffen von Traum und Wirklichkeit wird erst dadurch bemerkenswert und amüsant, dass die Beteiligten selbst in absichtlicher Selbstverblendung die Illusion unterstützen. Sogar die Mitglieder der vornehmen Gesellschaft oder, besser gesagt, die Mitglieder der oberen Mittelschicht und Oberschicht, die tatsächlich in Ascot erscheinen, geraten in eine rührende Ekstase und kleiden und benehmen sich, als nähmen sie wirklich an dem schicken, exklusiven Kultereignis teil, von dem die Zeitungen schreiben. Ihre Gattinnen tragen genauso stillose, aber maßgeschneiderte Kleider, die
ihnen besser stehen, und segeln umher, um einander zu begrüßen, als schriebe man 1770 und träfe sich in den Ranelagh Gardens. Ein, zwei Tage lang gönnen sich diese arbeitenden Menschen den Luxus, so zu tun, als gehörten sie einer verschwundenen Klasse von Müßiggängern an, als würde diese viel bewunderte Welt, der sie nachtrauern und sich (in der Regel fälschlicherweise) zugehörig fühlen, immer noch in der Nähe von Windsor blühen und gedeihen. Ihre Ambitionen sind so durchsichtig und angreifbar, dass sie - zumindest für mich - einen nicht unerheblichen Charme besitzen. Im Grunde freue ich mich immer, wenn ich einen Tag in Ascot verbringen kann.
David holte mich mit seinem Volvo-Kombi ab; als ich einstieg, traf ich außer Edith - mit der ich gerechnet hatte - noch ein weiteres Paar an, die Rattrays. Simon Rattray arbeitete anscheinend für die Immobilienfirma Strutt and Parker und redete viel vom Schießsport. Seine Frau Venetia erzählte ein wenig von ihren Kindern und hatte sonst kaum etwas zu sagen. Wir fuhren im stockenden Verkehr die Autobahn entlang und durch den Windsor Great Park, bis wir endlich die Rennbahn und den ziemlich entlegenen Parkplatz erreichten, den man David zugewiesen hatte. Es war ihm ein ewiger Dorn im Auge, dass ihm der Zugang zum Parkplatz Nummer eins verwehrt blieb, und er ließ seine schlechte Laune an Isabel aus, die ihn auf die Beschilderung hinwies. Mir machte das nichts aus; seine Gereiztheit gehörte für mich inzwischen zu Ascot wie die Zornesausbrüche meines Vaters wegen der Baumkerzen zu Weihnachten (eine meiner wenigen wirklich lebhaften Kindheitserinnerungen) - schließlich war ich schon mehrere Male mit den Eastons hier gewesen.
Bald stand der Wagen auf seinem nummerierten Platz, und der Lunch wurde ausgepackt. Wie ersichtlich, hatte Edith nichts dazu beigesteuert, da sich Isabel und Venetia allein daran zu schaffen machten; sie hantierten aufgeregt herum, schnitten und mischten, bis die Köstlichkeiten in ihrer ganzen Pracht vor uns angerichtet standen. Die Männer und Edith sahen in sicherem Abstand auf ihren Klappstühlen zu, champagnergefüllte Plastikgläser in der Hand. Wie immer hatte die aufwändige Vorbereitung bei der knappen Zeitspanne, die für den Verzehr der Speisen zur Verfügung stand, etwas herzergreifend Sinnloses. Wir hatten kaum unsere Stühle an den wackeligen Tisch herangezogen, als Isabel auf die Uhr sah, was genauso zum Programm gehörte wie Davids Verdrossenheit über den Parkplatz. »Wir haben nicht viel Zeit. Es ist schon fünfundzwanzig vor zwei.« David nickte und nahm sich ein paar Erdbeeren. Niemand benötigte weitere Erklärungen. Ein Teil des gottesdienstähnlichen Rituals bestand darin, sich rechtzeitig zum Bereich der königlichen Tribüne zu begeben, um die königliche Familie aus Windsor vorfahren zu sehen. Man musste früh genug dort eintreffen, um sich einen Platz mit guter Sicht zu sichern. Edith sah mich an und verdrehte die Augen, doch wir stürzten gehorsam unseren Kaffee hinunter, steckten unsere Namensschilder an und machten uns auf den Weg zur Rennbahn.
Wir passierten die Ordner am Eingang, die emsig die Spreu vom Weizen trennten. Zwei Bedauernswerte waren gerade aufgehalten worden, ob wegen falscher Ansteckschilder oder falscher Kleidung, blieb mir verborgen. Edith drückte mir mit jenem verstohlenen Lächeln, das ich schon an ihr kannte, den Arm. Ich warf ihr einen schrägen Blick zu. »Hast du etwas Lustiges entdeckt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Was dann?«
»Ich habe eine Schwäche: Es bereitet mir außerordentliches Vergnügen, dort Zutritt zu erhalten, wo andere abgewiesen werden.«
Ich lachte. »Diese Schwäche darfst du ruhig haben. Viele andere teilen sie mit dir. Aber es zeugt von niedriger Gesinnung, sie zuzugeben. «
»Oje. Dann hab ich eine ausgesprochen niedrige Gesinnung, fürchte ich. Ich hoffe nur, dass ich deswegen nicht zurückgeschickt werde.«
»Das ist wohl kein Hindernis«, sagte ich.
Interessant an diesem Wortwechsel war Ediths Ehrlichkeit. Sie sah aus wie der Inbegriff der höheren Tochter, die sie ja auch war, doch ich begann zu verstehen, dass sie sich ihrer Lebenssituation beunruhigend bewusst war, während Mädchen ihresgleichen sonst immer so tun, als hätten sie keine Ahnung von diesen Dingen. Nicht Ediths Gefühle waren es, die sie von den anderen abhoben. Engländer aller Schichten sind süchtig nach Exklusivität. Wenn drei Engländer in einem Raum versammelt sind, erfinden sie eine Regel, die verhindert, dass ein Vierter zu ihnen stößt. Im Unterschied zu Edith tragen die meisten Menschen und sicher sämtliche Snobs ihre Unkenntnis dieser Dinge zur Schau. Wer sich anmerken lässt, wie sehr er es genießt, dort Gast zu sein, wo die anderen Eintrittskarten kaufen müssen, durch ein Tor gewunken oder in einen Raum gewiesen zu werden, wo dem gemeinen Volk der Zugang verweigert wird, der wird von Aristokraten (oder Möchtegern-Aristokraten) nur leere Blicke und einstudierte Verständnislosigkeit ernten. Jede Dame mit gesellschaftlichem Schliff würde wahrscheinlich durch ein leises Heben der Augenbrauen zu erkennen geben, dass allein schon der Gedanke auf mangelnde Erziehung schließen lässt. Die Heuchelei des Ganzen verschlägt einem den Atem, doch die Disziplin, mit der diese Zirkel ihren eisernen Regeln anhängen, verdient einen gewissen Respekt.
Wir hatten wohl getrödelt, da die anderen alle schon auf der Tribüne standen, die sich rasch füllte, und uns zu sich winkten. Ein fernes Geräusch kündigte die Kutschen an, und die Lakaien oder Ordner - oder wie immer sie sich betitelten - eilten zu den Toren, um sie zu öffnen. Edith stupste mich an und nickte Isabel zu, als die erste Kutsche mit Ihrer Majestät und dem dunkelhäutigen Premier eines reichen OPEC-Staats durch die Einfahrt bog. Wie die anderen Männer zog ich in echter Begeisterung den Hut, doch meine Aufmerksamkeit wurde von Isabels Gesicht in den Bann gezogen. Sie hatte den benommenen, entrückten Blick eines Kaninchens vor der Schlange und war in einer trancehaften Verzückung versunken. Um zur königlichen Privatfeier in Ascot geladen zu werden, hätte Isabel einen in die Länge gezogenen Tod in Kauf genommen. Oder ihn zumindest in Erwägung gezogen. Vermutlich ein Beweis, dass die gebildeten Schichten bei aller Verachtung für den gemeinen Starkult genauso empfänglich für derlei Fantasiebilder sind, wenn sie ihnen in genießbarer Form geboten werden.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by C. Bertelsmann Verlag, München
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Autoren-Porträt von Julian Fellowes
Julian Fellowes wurde 1949 in Ägypten geboren, wuchs in England auf und studierte in Cambridge. Er ist preisgekrönter Autor von Romanen und Drehbüchern, für "Gosford Park" wurde er mit einem Oscar ausgezeichnet. Mit "Downton Abbey" hat er eine der erfolgreichsten Serien der letzten Jahre geschaffen. Die Idee und der Großteil der Drehbücher sind von ihm. Julian Fellowes lebt mit seiner Familie im Südwesten der englischen Grafschaft Dorset. Andreas, MariaMaria Andreas lebt und arbeitet seit über dreißig Jahren als freie Übersetzerin in München. Unter anderem hat sie Penelope Lively, Julian Fellows und Rachel Joyce ins Deutsche übertragen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Julian Fellowes
- 2013, 352 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Maria Andreas
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442480329
- ISBN-13: 9783442480326
- Erscheinungsdatum: 12.09.2013
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