So gut wie tot
Im vierten Fall des Ermittlers Roy Grace vermischen sich die Anschläge des 11. Septembers mit zwei Todesfällen. Hochspannend!
Drei Frauen, die eines gemeinsam haben: Sie alle kennen Ronnie Wilson. Zwei waren sogar mit ihm...
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Produktinformationen zu „So gut wie tot “
Im vierten Fall des Ermittlers Roy Grace vermischen sich die Anschläge des 11. Septembers mit zwei Todesfällen. Hochspannend!
Drei Frauen, die eines gemeinsam haben: Sie alle kennen Ronnie Wilson. Zwei waren sogar mit ihm verheiratet - und sind jetzt tot. Ermordet. Und auch der Kleinkriminelle Wilson ist angeblich bei den Anschlägen im September 2001 in New York ums Leben gekommen. Detective Superintendent Roy Grace muss bei seinen Ermittlungen um die halbe Welt reisen. Doch er hat nicht mehr viel Zeit, denn die dritte Frau läuft bereits um ihr Leben: Denn auch sie steht in enger Verbindung mit Wilson.
Lese-Probe zu „So gut wie tot “
So gut wie tot von Peter James 1 WENN RONNIE WILSON beim Aufwachen geahnt hätte, dass er in wenigen Stunden tot sein würde, wäre seine Tagesplanung wohl etwas anders ausgefallen.
Beispielsweise hätte er sich nicht die Mühe gemacht, sich zu rasieren. Oder so viele kostbare letzte Minuten damit verschwendet, sich Gel ins Haar zu schmieren und daran herumzuzupfen, bis es zu seiner Zufriedenheit lag. Auch hätte er nicht ganz so viel Zeit damit verbracht, seine Schuhe zu polieren oder die teure Seidenkrawatte perfekt zu binden. Ganz sicher hätte er auch nicht die exorbitante Summe von achtzehn Dollar bezahlt, die er sich nun wirklich nicht leisten konnte, um seinen Anzug beim Express-Service bügeln zu lassen.
Zu behaupten, dass er sich in seliger Unwissenheit über sein Schicksal befand, wäre übertrieben gewesen. Freude gehörte schon lange nicht mehr zu seinem Gefühlskanon, von Seligkeit ganz zu schweigen. Die empfand er nicht einmal mehr in den flüchtigen Sekunden eines Orgasmus, wenn er und Lorraine, was selten vorkam, noch einmal miteinander schliefen. Seine Eier waren ebenso taub wie der Rest seines Körpers.
In letzter Zeit war er sogar dazu übergegangen, auf die Frage nach seinem Befinden mit den Schultern zu zucken und »Das Leben ist beschissen« zu antworten, was Lorraine ungemein peinlich war.
... mehr
Das Hotelzimmer fand er auch beschissen. Es war so klein, dass man stolpern konnte, ohne auf den Boden zu fallen. Es war das billigste Zimmer im W, aber die Adresse trug dazu bei, den Schein zu wahren. Stieg man in Manhattan in einem W ab, war man jemand, selbst wenn man in der Besenkammer schlief.
Ronnie wusste, dass er positiv denken musste. Die Leute reagierten auf die Ausstrahlung eines Menschen, vor allem, wenn man Geld von ihnen haben wollte. Selbst ein alter Freund würde einem Verlierer kein Geld geben jedenfalls nicht so viel, wie er brauchte. Und schon gar nicht dieser bewusste alte Freund.
Er warf einen Blick nach draußen, um zu sehen, wie das Wetter war. Er verdrehte den Hals und spähte an der steilen grauen Klippe des gegenüberliegenden Gebäudes an der 39th Street hinauf, bis er einen schmalen Streifen Himmel erkennen konnte. Die Tatsache, dass es ein schöner Morgen war, besserte seine Stimmung auch nicht. Es war, als hätten sich alle Wolken aus dem blauen Nichts in sein Herz verzogen.
Die falsche Bulgari zeigte 7.43 Uhr. Er hatte sie für vierzig Pfund im Internet gekauft, aber wer konnte schon erkennen, dass sie nicht echt war? Er hatte bereits vor langer Zeit begriffen, dass teure Uhren ein wichtiger Faktor waren, wenn man Leute beeindrucken wollte: Wenn jemand sich die Mühe machte, eine der besten Uhren der Welt zu kaufen, würde er sich wohl auch Mühe mit dem Geld geben, das man ihm anvertraute. Der äußere Schein war nicht alles, aber ganz schön viel.
Also, 7.43 Uhr. Er musste los.
Er nahm seine ebenfalls gefälschte Louis-Vuitton-Aktentasche, legte sie auf den gepackten Trolley und zog diesen aus dem Zimmer. Er fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und schlich an der Rezeption vorbei. Seine Kreditkarten waren derart am Limit, dass es vermutlich nicht mehr für die Hotelrechnung reichte, aber darum wollte er sich später kümmern. Das schicke blaue BMW Cabrio, in dem Lorraine so gern umhergondelte, um ihre Freundinnen zu beeindrucken, sollte beschlagnahmt werden, und die Hypothekenbank plante die Zwangsvollstreckung seines Hauses. Der heutige Termin war seine letzte Chance, dachte er entschlossen. Er wollte ein Versprechen einfordern. Ein Versprechen, das zehn Jahre zurücklag.
Hoffentlich hatte der andere es nicht vergessen.
Ronnie saß in der U-Bahn, das Gepäck zwischen den Knien. In seinem Leben war etwas schief gelaufen, soviel stand fest, doch er konnte es nicht genau benennen. Viele seiner ehemaligen Mitschüler waren erfolgreich und hatten ihn zu seiner Verzweiflung weit hinter sich gelassen. Sie arbeiteten als Finanzberater, Bauunternehmer, Buchhalter und Rechtsanwälte, hatten protzige Häuser, vorzeigbare Ehefrauen und hinreißende Kinder. Und was hatte er?
Eine neurotische Lorraine, die sein nicht vorhandenes Geld für endlose Schönheitsbehandlungen ausgab, die sie im Grunde nicht brauchte, für Designerklamotten, die sie sich im Grunde nicht leisten konnten, und für idiotisch teure Mittagessen aus Salatblättern und Mineralwasser, die sie mit ihren magersüchtigen Freundinnen, die alle viel reicher waren als sie, in den angesagtesten Restaurants konsumierte. Und obwohl sie ein Vermögen für Fruchtbarkeitsbehandlungen ausgegeben hatten, hatte sie ihm noch immer nicht das sehnlich erwünschte Kind geboren. Die einzige wirklich sinnvolle Ausgabe war ihre Brustvergrößerung gewesen. Natürlich war Ronnie zu stolz, um ihr zu gestehen, in welchem Schlamassel er sich befand. Außerdem war er schon immer ein Optimist gewesen und glaubte, die Lösung seiner Probleme läge in greifbarer Nähe. Er fügte sich wie ein Chamäleon perfekt in seine Umgebung. Als Gebrauchtwagenhändler, dann als Antiquitätenhändler und Immobilienmakler wirkte er immer tiptop. Leider konnte er besser reden als mit Finanzen umgehen. Nachdem er das Immobiliengeschäft gegen die Wand gefahren hatte, war er rasch in die Grundstückserschließung eingestiegen, wo er in Jeans und Blazer aufs Neue überzeugend auftrat. Als die Banken sein aus zwanzig Häusern bestehendes Bauprojekt schon im Planungsstadium platzen ließen, erfand er sich als Finanzberater für reiche Leute neu. Auch dieses Geschäft war eine Seifenblase.
Nun hoffte er, seinen alten Freund Donald Hatcook davon zu überzeugen, dass er die nächste goldene Gans entdeckt hatte Biodiesel. Man munkelte, Donald habe mit Derivaten was immer das auch sein mochte über eine Milliarde gemacht, während er bei Ronnies gescheitertem Immobiliendeal vor zehn Jahren ein paar schlappe Hunderttausend verloren hatte. Damals hatte er so getan, als ob er Ronnies Gründe für die hingelegte Pleite akzeptieren würde, und hatte versprochen, ihn bei nächster Gelegenheit noch einmal zu unterstützen.
Sicher, Bill Gates und alle anderen Unternehmer dieses Planeten warteten nur darauf, in den neuen umweltfreundlichen BiospritMarkt einzusteigen, und hatten vor allem das nötige Kleingeld dafür, doch Ronnie war sicher, eine Nische für sich entdeckt zu haben. Er musste Donald heute Morgen nur davon überzeugen. Donald war clever. Er würde es kapieren. Es war einfach eine todsichere Sache. In Gedanken ging Ronnie noch einmal das Gespräch mit Donald durch, und je näher die Innenstadt rückte, desto selbstbewusster wurde er. Er verwandelte sich in Gordon Gekko, den Typen, den Michael Douglas in Wall Street gespielt hatte. Äußerlich war er von dem Dutzend schick gekleideter Wall-Street-Player, die mit ihm in dem schaukelnden Waggon saßen, nicht zu unterscheiden. Falls einer von ihnen auch nur halb so viele Probleme hatte wie er, gelang es ihm, sie gut zu verbergen. Alle wirkten ungeheuer selbstbewusst. Hätten sie ihn auch nur eines Blickes gewürdigt, dann hätten sie einen großen schlanken Mann mit attraktivem Gesicht und zurückgegeltem Haar gesehen, der ebenso selbstbewusst wirkte wie sie.
Wer es bis vierzig nicht schafft, schafft es nie mehr, sagten manche. In nur drei Wochen wurde er dreiundvierzig. Jetzt kam seine Station. Chambers Street. Das letzte Stück wollte er zu Fuß gehen.
Er trat in den schönen Morgen hinaus und warf einen Blick auf den Stadtplan, den ihm der Mann am Empfang am Vorabend gegeben hatte. Dann schaute er auf die Uhr. Zehn nach acht. Nach seinen Erfahrungen mit New Yorker Bürogebäuden würde er etwa fünfzehn Minuten brauchen, bis er sich im Haus zurechtgefunden hatte. Hinzu kamen fünf Minuten Fußweg, vorausgesetzt, er verlief sich nicht.
Ein Straßenschild verriet ihm, dass er sich nun auf der Wall Street befand. Er kam an einem Jamba Juice Shop und einer Änderungsschneiderei vorbei und betrat anschließend ein brechend volles Downtown Deli.
Es roch nach Kaffee und gebratenen Eiern. Er setzte sich auf einen roten Lederhocker an die Theke und bestellte frisch gepressten Orangensaft, einen Caffè Latte, Rührei mit Speck und Weizentoast. Während er auf das Essen wartete, ging er noch einmal den Businessplan durch und schaute auf die Uhr.
In England war es jetzt fünf Stunden später. Lorraine würde gerade in Brighton beim Mittagessen sitzen. Er rief sie rasch an, um ihr zu sagen, dass er sie liebte, und sie wünschte ihm Glück für den Termin. Es war so einfach, Frauen glücklich zu machen, ein bisschen Geturtel ab und zu, dann und wann ein Gedicht oder ein wertvolles Schmuckstück aber nicht zu oft.
Als er zwanzig Minuten später die Rechnung bezahlte, ertönte in der Ferne ein ungeheurer Knall. Der Typ auf dem Hocker neben ihm fragte: »Scheiße, was war das denn?«
Ronnie hinterließ ein anständiges Trinkgeld, steckte das Wechselgeld ein und machte sich auf den Weg zu Donald Hatcooks Büro, das sich im siebenundachtzigsten Stock des Südturms des World Trade Center befand.
Es war 8.47 Uhr an einem Dienstag dem 11. September 2001. 2
OKTOBER 2007 Abby Dawson hatte die Wohnung ausgesucht, weil sie sich dort sicher fühlte. Sofern sie sich zurzeit überhaupt irgendwo sicher fühlen konnte.
Es gab nur drei Eingänge: die Feuertreppe hinter dem Haus, die sich nur von innen betreten ließ, den Notausgang im Keller und die Haustür. Diese befand sich acht Stockwerke unter ihr, und die Fenster boten eine gute Sicht auf die Straße.
Von innen hatte sie die Wohnung in eine Festung verwandelt. Verstärkte Scharniere, Stahlbeschläge, drei Riegelschlösser an der Haustür und am Notausgang des winzigen Abstellraumes, dazu eine doppelte Türkette. Der Einbrecher, der sich an dieser Wohnung versuchte, würde mit leeren Händen heimkehren. Man brauchte schon einen Panzer, um in die Wohnung zu gelangen.
Für den alleräußersten Notfall hatte sie zudem eine Dose Pfefferspray, ein Jagdmesser und einen Baseballschläger in Reichweite. Es war schon paradox, dass sie nun, da sie sich zum ersten Mal im Leben eine Wohnung leisten konnte, die groß und luxuriös genug war, um Gäste zu empfangen, allein und im Verborgenen leben musste.
Allerdings bot die Wohnung viele Annehmlichkeiten. Das Eichenparkett, die riesigen cremefarbenen Sofas mit den weißen und schokobraunen Kissen, die Bilder moderner Künstler an den Wänden, das Heimkino, die Hightech-Küche, die breiten und wahnsinnig bequemen Betten, die Fußbodenheizung im Bad und die schicke Gästedusche, die sie noch nicht benutzt hatte jedenfalls nicht für den Zweck, für den sie gedacht war.
Hier sah es aus wie in den Designerwohnungen, die sie in den Hochglanzmagazinen bewundert hatte. Bei schönem Wetter strömte die Nachmittagssonne durchs Fenster, und an windigen Tagen wie diesem schmeckte sie das Salz in der Luft und konnte die Schreie der Möwen hören. Es waren nur wenige hundert Meter bis zur Marine Parade, und dahinter lag der Strand, an dem sie kilometerweit in beide Richtungen wandern konnte.
Das Viertel selbst gefiel ihr auch. In der Nähe gab es kleine Geschäfte, die sicherer waren als große Supermärkte, weil sie dort einen guten Überblick über die Kunden hatte. Es reichte schon, wenn einer sie erkannte. Ein einziger. Nur der Aufzug war ein Nachteil. Abby litt unter extremer Klaustrophobie und neigte in letzter Zeit verstärkt zu Panikattacken. Sie war nie gerne Aufzug gefahren, und die wacklige Kiste, die an einen aufrecht stehenden Sarg erinnerte und im letzten Monat gleich mehrfach stecken geblieben war zum Glück nicht, als sie ihn benutzte , war einer der schlimmsten überhaupt. Seit einigen Wochen musste sie ihn leider benutzen, da die Handwerker, die die Wohnung unter ihr renovierten, das Treppenhaus in einen Hindernisparcours verwandelt hatten.
Normalerweise nahm sie die Treppe. Das hielt fit, und die schweren Einkaufstüten konnte sie allein im Aufzug nach oben schicken. Ihren Nachbarn begegnete sie selten, die meisten waren so alt, dass sie kaum das Haus verließen.
Die wenigen jüngeren Bewohner, darunter Hassan, der lächelnde iranische Banker, der zwei Stockwerke unter ihr wohnte und manchmal die ganze Nacht durchfeierte sie hatte seine Einladungen höflich abgelehnt , schienen meist unterwegs zu sein. Wenn Hassan nicht gerade eine Party schmiss, war der Westflügel an den Wochenenden so still, als wohnten nur noch Geister darin. In gewisser Weise war auch sie ein Geist. Sie verließ ihren sicheren Bau erst nach Einbruch der Dunkelheit. Die langen blonden Haare hatte sie kurz geschnitten und schwarz gefärbt, sie trug eine Sonnenbrille, schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und lief als Fremde durch die Stadt, in der sie einst geboren und aufgewachsen war. Sie hatte hier Wirtschaft studiert und in Bars gekellnert, als Sekretärin bei einer Zeitarbeitsfirma gejobbt, Freunde gehabt und sogar von einer Familie geträumt, bevor das Reisefieber sie ergriff. Nun war sie zurück. Inkognito. Eine Fremde in ihrem eigenen Leben. Verzweifelt darauf bedacht, nicht erkannt zu werden. Wenn sie, was selten geschah, einem Bekannten begegnete, schaute sie weg. Sah sie in einer Kneipe einen alten Freund, verließ sie sofort das Lokal. Verdammt nochmal, sie war richtig einsam!
Und verängstigt.
Nicht einmal ihre Mutter wusste, dass sie wieder in England war. Vor drei Tagen war sie siebenundzwanzig geworden. Was für eine Sause! Sie hatte allein in der Wohnung gefeiert mit einer Flasche Champagner, einem erotischen Film auf Sky Channel und einem Vibrator mit leerer Batterie. Früher war sie stolz auf ihre natürliche Schönheit gewesen. Sie strotzte vor Selbstbewusstsein und konnte sich immer und überall die Männer aussuchen. Sie konnte nett plaudern, charmant sein und auch verletzlich wirken, was Männern gefiel, das hatte sie vor langer Zeit begriffen. Nun aber war sie wirklich verletzlich, und das machte überhaupt keinen Spaß.
Es machte auch keinen Spaß, auf der Flucht zu sein.
Selbst wenn es nicht für immer war.
Auf Regalen, Tischen und auf dem Boden stapelten sich Bücher, CDs und DVDs, die sie im Internet bestellt hatte. In den zwei Monaten, die sie nun auf der Flucht war, hatte sie mehr Bücher gelesen und ferngesehen als in ihrem ganzen Leben. Die übrige Zeit verbrachte sie damit, online Spanisch zu lernen.
Sie war hierher zurückgekommen, weil sie und Dave es für sicher hielten. Falls es einen Ort gab, an dem er nicht auftauchen würde, dann an diesem. Der einzige Ort auf dem Planeten. Ganz sicher war sie dennoch nicht.
Sie war noch aus einem anderen Grund nach Brighton gekommen, der höchste Priorität genoss. Der Gesundheitszustand ihrer Mutter verschlechterte sich zusehends, und sie musste ein gutes privates Pflegeheim finden, in dem sie ihre letzten Jahre würdevoll verbringen konnte. Abby hätte es nicht ertragen, sie auf der geriatrischen Station in einem der furchtbaren staatlichen Altenheime zu wissen. Sie hatte schon ein wunderschönes Heim auf dem Land ausgeguckt. Es war teuer, doch nun konnte sie es sich leisten, ihre Mutter auf Jahre dort unterzubringen. Sie musste nur noch ein bisschen in Deckung bleiben.
Plötzlich meldete ihr Handy eine SMS. Sie lächelte, als sie den Absender las. Die kurzen Nachrichten, die sie alle paar Tage erhielt, waren eine enorme Hilfe.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © Really Scary Books/Peter James 2008
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © S. Fischer verlag GmbH, Franksfurt am Main 2009
Übersetzung:»Susanne Goga-Klinkenbert«
Ronnie wusste, dass er positiv denken musste. Die Leute reagierten auf die Ausstrahlung eines Menschen, vor allem, wenn man Geld von ihnen haben wollte. Selbst ein alter Freund würde einem Verlierer kein Geld geben jedenfalls nicht so viel, wie er brauchte. Und schon gar nicht dieser bewusste alte Freund.
Er warf einen Blick nach draußen, um zu sehen, wie das Wetter war. Er verdrehte den Hals und spähte an der steilen grauen Klippe des gegenüberliegenden Gebäudes an der 39th Street hinauf, bis er einen schmalen Streifen Himmel erkennen konnte. Die Tatsache, dass es ein schöner Morgen war, besserte seine Stimmung auch nicht. Es war, als hätten sich alle Wolken aus dem blauen Nichts in sein Herz verzogen.
Die falsche Bulgari zeigte 7.43 Uhr. Er hatte sie für vierzig Pfund im Internet gekauft, aber wer konnte schon erkennen, dass sie nicht echt war? Er hatte bereits vor langer Zeit begriffen, dass teure Uhren ein wichtiger Faktor waren, wenn man Leute beeindrucken wollte: Wenn jemand sich die Mühe machte, eine der besten Uhren der Welt zu kaufen, würde er sich wohl auch Mühe mit dem Geld geben, das man ihm anvertraute. Der äußere Schein war nicht alles, aber ganz schön viel.
Also, 7.43 Uhr. Er musste los.
Er nahm seine ebenfalls gefälschte Louis-Vuitton-Aktentasche, legte sie auf den gepackten Trolley und zog diesen aus dem Zimmer. Er fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und schlich an der Rezeption vorbei. Seine Kreditkarten waren derart am Limit, dass es vermutlich nicht mehr für die Hotelrechnung reichte, aber darum wollte er sich später kümmern. Das schicke blaue BMW Cabrio, in dem Lorraine so gern umhergondelte, um ihre Freundinnen zu beeindrucken, sollte beschlagnahmt werden, und die Hypothekenbank plante die Zwangsvollstreckung seines Hauses. Der heutige Termin war seine letzte Chance, dachte er entschlossen. Er wollte ein Versprechen einfordern. Ein Versprechen, das zehn Jahre zurücklag.
Hoffentlich hatte der andere es nicht vergessen.
Ronnie saß in der U-Bahn, das Gepäck zwischen den Knien. In seinem Leben war etwas schief gelaufen, soviel stand fest, doch er konnte es nicht genau benennen. Viele seiner ehemaligen Mitschüler waren erfolgreich und hatten ihn zu seiner Verzweiflung weit hinter sich gelassen. Sie arbeiteten als Finanzberater, Bauunternehmer, Buchhalter und Rechtsanwälte, hatten protzige Häuser, vorzeigbare Ehefrauen und hinreißende Kinder. Und was hatte er?
Eine neurotische Lorraine, die sein nicht vorhandenes Geld für endlose Schönheitsbehandlungen ausgab, die sie im Grunde nicht brauchte, für Designerklamotten, die sie sich im Grunde nicht leisten konnten, und für idiotisch teure Mittagessen aus Salatblättern und Mineralwasser, die sie mit ihren magersüchtigen Freundinnen, die alle viel reicher waren als sie, in den angesagtesten Restaurants konsumierte. Und obwohl sie ein Vermögen für Fruchtbarkeitsbehandlungen ausgegeben hatten, hatte sie ihm noch immer nicht das sehnlich erwünschte Kind geboren. Die einzige wirklich sinnvolle Ausgabe war ihre Brustvergrößerung gewesen. Natürlich war Ronnie zu stolz, um ihr zu gestehen, in welchem Schlamassel er sich befand. Außerdem war er schon immer ein Optimist gewesen und glaubte, die Lösung seiner Probleme läge in greifbarer Nähe. Er fügte sich wie ein Chamäleon perfekt in seine Umgebung. Als Gebrauchtwagenhändler, dann als Antiquitätenhändler und Immobilienmakler wirkte er immer tiptop. Leider konnte er besser reden als mit Finanzen umgehen. Nachdem er das Immobiliengeschäft gegen die Wand gefahren hatte, war er rasch in die Grundstückserschließung eingestiegen, wo er in Jeans und Blazer aufs Neue überzeugend auftrat. Als die Banken sein aus zwanzig Häusern bestehendes Bauprojekt schon im Planungsstadium platzen ließen, erfand er sich als Finanzberater für reiche Leute neu. Auch dieses Geschäft war eine Seifenblase.
Nun hoffte er, seinen alten Freund Donald Hatcook davon zu überzeugen, dass er die nächste goldene Gans entdeckt hatte Biodiesel. Man munkelte, Donald habe mit Derivaten was immer das auch sein mochte über eine Milliarde gemacht, während er bei Ronnies gescheitertem Immobiliendeal vor zehn Jahren ein paar schlappe Hunderttausend verloren hatte. Damals hatte er so getan, als ob er Ronnies Gründe für die hingelegte Pleite akzeptieren würde, und hatte versprochen, ihn bei nächster Gelegenheit noch einmal zu unterstützen.
Sicher, Bill Gates und alle anderen Unternehmer dieses Planeten warteten nur darauf, in den neuen umweltfreundlichen BiospritMarkt einzusteigen, und hatten vor allem das nötige Kleingeld dafür, doch Ronnie war sicher, eine Nische für sich entdeckt zu haben. Er musste Donald heute Morgen nur davon überzeugen. Donald war clever. Er würde es kapieren. Es war einfach eine todsichere Sache. In Gedanken ging Ronnie noch einmal das Gespräch mit Donald durch, und je näher die Innenstadt rückte, desto selbstbewusster wurde er. Er verwandelte sich in Gordon Gekko, den Typen, den Michael Douglas in Wall Street gespielt hatte. Äußerlich war er von dem Dutzend schick gekleideter Wall-Street-Player, die mit ihm in dem schaukelnden Waggon saßen, nicht zu unterscheiden. Falls einer von ihnen auch nur halb so viele Probleme hatte wie er, gelang es ihm, sie gut zu verbergen. Alle wirkten ungeheuer selbstbewusst. Hätten sie ihn auch nur eines Blickes gewürdigt, dann hätten sie einen großen schlanken Mann mit attraktivem Gesicht und zurückgegeltem Haar gesehen, der ebenso selbstbewusst wirkte wie sie.
Wer es bis vierzig nicht schafft, schafft es nie mehr, sagten manche. In nur drei Wochen wurde er dreiundvierzig. Jetzt kam seine Station. Chambers Street. Das letzte Stück wollte er zu Fuß gehen.
Er trat in den schönen Morgen hinaus und warf einen Blick auf den Stadtplan, den ihm der Mann am Empfang am Vorabend gegeben hatte. Dann schaute er auf die Uhr. Zehn nach acht. Nach seinen Erfahrungen mit New Yorker Bürogebäuden würde er etwa fünfzehn Minuten brauchen, bis er sich im Haus zurechtgefunden hatte. Hinzu kamen fünf Minuten Fußweg, vorausgesetzt, er verlief sich nicht.
Ein Straßenschild verriet ihm, dass er sich nun auf der Wall Street befand. Er kam an einem Jamba Juice Shop und einer Änderungsschneiderei vorbei und betrat anschließend ein brechend volles Downtown Deli.
Es roch nach Kaffee und gebratenen Eiern. Er setzte sich auf einen roten Lederhocker an die Theke und bestellte frisch gepressten Orangensaft, einen Caffè Latte, Rührei mit Speck und Weizentoast. Während er auf das Essen wartete, ging er noch einmal den Businessplan durch und schaute auf die Uhr.
In England war es jetzt fünf Stunden später. Lorraine würde gerade in Brighton beim Mittagessen sitzen. Er rief sie rasch an, um ihr zu sagen, dass er sie liebte, und sie wünschte ihm Glück für den Termin. Es war so einfach, Frauen glücklich zu machen, ein bisschen Geturtel ab und zu, dann und wann ein Gedicht oder ein wertvolles Schmuckstück aber nicht zu oft.
Als er zwanzig Minuten später die Rechnung bezahlte, ertönte in der Ferne ein ungeheurer Knall. Der Typ auf dem Hocker neben ihm fragte: »Scheiße, was war das denn?«
Ronnie hinterließ ein anständiges Trinkgeld, steckte das Wechselgeld ein und machte sich auf den Weg zu Donald Hatcooks Büro, das sich im siebenundachtzigsten Stock des Südturms des World Trade Center befand.
Es war 8.47 Uhr an einem Dienstag dem 11. September 2001. 2
OKTOBER 2007 Abby Dawson hatte die Wohnung ausgesucht, weil sie sich dort sicher fühlte. Sofern sie sich zurzeit überhaupt irgendwo sicher fühlen konnte.
Es gab nur drei Eingänge: die Feuertreppe hinter dem Haus, die sich nur von innen betreten ließ, den Notausgang im Keller und die Haustür. Diese befand sich acht Stockwerke unter ihr, und die Fenster boten eine gute Sicht auf die Straße.
Von innen hatte sie die Wohnung in eine Festung verwandelt. Verstärkte Scharniere, Stahlbeschläge, drei Riegelschlösser an der Haustür und am Notausgang des winzigen Abstellraumes, dazu eine doppelte Türkette. Der Einbrecher, der sich an dieser Wohnung versuchte, würde mit leeren Händen heimkehren. Man brauchte schon einen Panzer, um in die Wohnung zu gelangen.
Für den alleräußersten Notfall hatte sie zudem eine Dose Pfefferspray, ein Jagdmesser und einen Baseballschläger in Reichweite. Es war schon paradox, dass sie nun, da sie sich zum ersten Mal im Leben eine Wohnung leisten konnte, die groß und luxuriös genug war, um Gäste zu empfangen, allein und im Verborgenen leben musste.
Allerdings bot die Wohnung viele Annehmlichkeiten. Das Eichenparkett, die riesigen cremefarbenen Sofas mit den weißen und schokobraunen Kissen, die Bilder moderner Künstler an den Wänden, das Heimkino, die Hightech-Küche, die breiten und wahnsinnig bequemen Betten, die Fußbodenheizung im Bad und die schicke Gästedusche, die sie noch nicht benutzt hatte jedenfalls nicht für den Zweck, für den sie gedacht war.
Hier sah es aus wie in den Designerwohnungen, die sie in den Hochglanzmagazinen bewundert hatte. Bei schönem Wetter strömte die Nachmittagssonne durchs Fenster, und an windigen Tagen wie diesem schmeckte sie das Salz in der Luft und konnte die Schreie der Möwen hören. Es waren nur wenige hundert Meter bis zur Marine Parade, und dahinter lag der Strand, an dem sie kilometerweit in beide Richtungen wandern konnte.
Das Viertel selbst gefiel ihr auch. In der Nähe gab es kleine Geschäfte, die sicherer waren als große Supermärkte, weil sie dort einen guten Überblick über die Kunden hatte. Es reichte schon, wenn einer sie erkannte. Ein einziger. Nur der Aufzug war ein Nachteil. Abby litt unter extremer Klaustrophobie und neigte in letzter Zeit verstärkt zu Panikattacken. Sie war nie gerne Aufzug gefahren, und die wacklige Kiste, die an einen aufrecht stehenden Sarg erinnerte und im letzten Monat gleich mehrfach stecken geblieben war zum Glück nicht, als sie ihn benutzte , war einer der schlimmsten überhaupt. Seit einigen Wochen musste sie ihn leider benutzen, da die Handwerker, die die Wohnung unter ihr renovierten, das Treppenhaus in einen Hindernisparcours verwandelt hatten.
Normalerweise nahm sie die Treppe. Das hielt fit, und die schweren Einkaufstüten konnte sie allein im Aufzug nach oben schicken. Ihren Nachbarn begegnete sie selten, die meisten waren so alt, dass sie kaum das Haus verließen.
Die wenigen jüngeren Bewohner, darunter Hassan, der lächelnde iranische Banker, der zwei Stockwerke unter ihr wohnte und manchmal die ganze Nacht durchfeierte sie hatte seine Einladungen höflich abgelehnt , schienen meist unterwegs zu sein. Wenn Hassan nicht gerade eine Party schmiss, war der Westflügel an den Wochenenden so still, als wohnten nur noch Geister darin. In gewisser Weise war auch sie ein Geist. Sie verließ ihren sicheren Bau erst nach Einbruch der Dunkelheit. Die langen blonden Haare hatte sie kurz geschnitten und schwarz gefärbt, sie trug eine Sonnenbrille, schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und lief als Fremde durch die Stadt, in der sie einst geboren und aufgewachsen war. Sie hatte hier Wirtschaft studiert und in Bars gekellnert, als Sekretärin bei einer Zeitarbeitsfirma gejobbt, Freunde gehabt und sogar von einer Familie geträumt, bevor das Reisefieber sie ergriff. Nun war sie zurück. Inkognito. Eine Fremde in ihrem eigenen Leben. Verzweifelt darauf bedacht, nicht erkannt zu werden. Wenn sie, was selten geschah, einem Bekannten begegnete, schaute sie weg. Sah sie in einer Kneipe einen alten Freund, verließ sie sofort das Lokal. Verdammt nochmal, sie war richtig einsam!
Und verängstigt.
Nicht einmal ihre Mutter wusste, dass sie wieder in England war. Vor drei Tagen war sie siebenundzwanzig geworden. Was für eine Sause! Sie hatte allein in der Wohnung gefeiert mit einer Flasche Champagner, einem erotischen Film auf Sky Channel und einem Vibrator mit leerer Batterie. Früher war sie stolz auf ihre natürliche Schönheit gewesen. Sie strotzte vor Selbstbewusstsein und konnte sich immer und überall die Männer aussuchen. Sie konnte nett plaudern, charmant sein und auch verletzlich wirken, was Männern gefiel, das hatte sie vor langer Zeit begriffen. Nun aber war sie wirklich verletzlich, und das machte überhaupt keinen Spaß.
Es machte auch keinen Spaß, auf der Flucht zu sein.
Selbst wenn es nicht für immer war.
Auf Regalen, Tischen und auf dem Boden stapelten sich Bücher, CDs und DVDs, die sie im Internet bestellt hatte. In den zwei Monaten, die sie nun auf der Flucht war, hatte sie mehr Bücher gelesen und ferngesehen als in ihrem ganzen Leben. Die übrige Zeit verbrachte sie damit, online Spanisch zu lernen.
Sie war hierher zurückgekommen, weil sie und Dave es für sicher hielten. Falls es einen Ort gab, an dem er nicht auftauchen würde, dann an diesem. Der einzige Ort auf dem Planeten. Ganz sicher war sie dennoch nicht.
Sie war noch aus einem anderen Grund nach Brighton gekommen, der höchste Priorität genoss. Der Gesundheitszustand ihrer Mutter verschlechterte sich zusehends, und sie musste ein gutes privates Pflegeheim finden, in dem sie ihre letzten Jahre würdevoll verbringen konnte. Abby hätte es nicht ertragen, sie auf der geriatrischen Station in einem der furchtbaren staatlichen Altenheime zu wissen. Sie hatte schon ein wunderschönes Heim auf dem Land ausgeguckt. Es war teuer, doch nun konnte sie es sich leisten, ihre Mutter auf Jahre dort unterzubringen. Sie musste nur noch ein bisschen in Deckung bleiben.
Plötzlich meldete ihr Handy eine SMS. Sie lächelte, als sie den Absender las. Die kurzen Nachrichten, die sie alle paar Tage erhielt, waren eine enorme Hilfe.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der Originalausgabe © Really Scary Books/Peter James 2008
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © S. Fischer verlag GmbH, Franksfurt am Main 2009
Übersetzung:»Susanne Goga-Klinkenbert«
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Autoren-Porträt von Peter James
Peter James, geb. 1948, ist Schriftsteller und Filmproduzent. Er hat lange Jahre in den USA gelebt und leitet mittlerweile in London seine eigene Filmproduktionsfirma. Seine beiden vorherigen Thriller mit Roy Grace Stirb Ewig und Stirb Schön sind in mehr als 27 Länder verkauft worden. Peter James wurde für seinen ersten Roman als bester Krimischriftsteller mit dem Krimi-Blitz 2005 ausgezeichnet, außerdem erhielt er in Frankreich den begehrten Prix Polar International 2006 und den renommierten Prix Coeur Noir 2007.
Bibliographische Angaben
- Autor: Peter James
- 2009, 1, 445 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828995551
- ISBN-13: 9783828995550
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