SOKO im Einsatz
Der Fall Mirco und weitere brisante Kriminalgeschichten
Es war der Fall seines Lebens: Unter Einsatz einer bis zu 70 Mann starken Sonderkommission gelang es Kriminalhauptkommissar Ingo Thiel im vergangenen Jahr, den wohl spektakulärsten Fall der jüngeren deutschen Kriminalgeschichte zu lösen den...
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Produktinformationen zu „SOKO im Einsatz “
Es war der Fall seines Lebens: Unter Einsatz einer bis zu 70 Mann starken Sonderkommission gelang es Kriminalhauptkommissar Ingo Thiel im vergangenen Jahr, den wohl spektakulärsten Fall der jüngeren deutschen Kriminalgeschichte zu lösen den kaltblütigen Mord an dem zehnjährigen Jungen Mirco. Spannend und authentisch schildert der Kommissar in seinem Buch diesen Fall von der ersten Spur bis zum Geständnis. Anhand von weiteren Mordfällen beschreibt Thiel den Aufbau und die präzise Arbeit einer SOKO: wie sie funktioniert, welche Methoden bei der Aufklärung eine Rolle spielen, und wie der Ablauf einer Tat rekonstruiert wird.
Klappentext zu „SOKO im Einsatz “
Es war der Fall seines Lebens: Unter Einsatz einer bis zu 70 Mann starken Sonderkommission gelang es Kriminalhauptkommissar Ingo Thiel im vergangenen Jahr, den wohl spektakulärsten Fall der jüngeren deutschen Kriminalgeschichte zu lösen den kaltblütigen Mord an dem zehnjährigen Jungen Mirco. Spannend und authentisch schildert der Kommissar in seinem Buch diesen Fall von der ersten Spur bis zum Geständnis. Anhand von weiteren Mordfällen beschreibt Thiel den Aufbau und die präzise Arbeit einer SOKO: wie sie funktioniert, welche Methoden bei der Aufklärung eine Rolle spielen, und wie der Ablauf einer Tat rekonstruiert wird.
Lese-Probe zu „SOKO im Einsatz “
Soko im Einsatz von Ingo ThielVorwort
Das mit der Jagd höre ich inzwischen gar nicht mehr gern. Wenn ich an einem freien Morgen mit meinem jungen Hund und einem gesicherten Gewehr durch die Bruchwälder hinter Mönchengladbach streife, ist das in erster Linie meine Privatsache. Ein Hobby, das ich zum Ausgleich für meinen fordernden Beruf betreibe. Diese Pirsch mit der Verfolgung von Gewalttätern zu vergleichen, käme mir von allein nicht in den Sinn. Sicher braucht es hier wie dort hellwache Instinkte, aber Mörder und Entführer spürt man nicht so vergleichsweise einfach auf wie einen wilden Keiler. Zumal ich am Ende auch nicht auf sie anlege, sondern sie festnehme.
Die gutgemeinten Vergleiche werden in letzter Zeit immer häufiger an mich herangetragen. Weil ich mit dem Erfolg, den ich als Leiter etlicher Mordkommissionen haben durfte, allmählich selbst ins Visier geraten bin. Also fragen mich Journalisten, was für ein Geheimnis dahintersteckt - als würde ich die gesamte Arbeit im Alleingang und ohne logistische bzw. technische Unterstützung erledigen. Das hat noch zugenommen, seit ich Anfang 2011 mit meinem schwierigsten und populärsten Fall in über zwanzig Jahren als Todesermittler unfreiwillig bekannt geworden bin.
... mehr
Es war mit Sicherheit nicht mein Traumjob, als ich Anfang September 2010 die Vermissten-Sache eines bei Grefrath entführten, zehnjährigen Jungen übernahm - als Leiter der Soko Mirco, die phasenweise bis zu achtzig Mitarbeiter beschäftigte. Umso erleichternder war es dann, als wir nach 145 Tagen den Täter festnehmen konnten. Worauf ich, stellvertretend für das ganze Team, über tausend Mails aus der gesamten Republik erhielt, mit denen man uns zum Fahndungserfolg gratulierte. Das hat in jeder Hinsicht gutgetan: Plötzlich waren wir da draußen nicht mehr die »doofen Bullen«, die einen immer nur blitzen, anhalten und nerven, sondern Menschen, die mit ihrem Einsatz einem kollektiven Bedürfnis nach Sicherheit zur Geltung verhelfen.
Aufzuklären, was wieso mit Menschen passiert ist: Vielleicht ist das die höchste Form der Ermittlungsarbeit, der ich mich da verschrieben habe. Weil sie über die persönliche Genugtuung hinaus, einen Fall gelöst zu haben, nicht zuletzt auch Erleichterung bedeutet. Erleichterung für die Familien und Freunde der Opfer, die eine Erzählung brauchen, um selbst wieder ins Leben zu finden. Diese Botschaft haben die Kriminalfälle, die ich hier aus meiner Laufbahn erzähle, ja alle miteinander gemein: Selbst die schrecklichste Nachricht kann nie so quälend sein wie der schwebende Zustand anhaltender Ungewissheit.
Was wir dazu leisten müssen, ist so konkret wenig bekannt. Die allgemeine Vorstellung wird von Fernsehkrimis geprägt, in denen zwei, drei Ermittler unentwegt durch die Gegend sausen, hier und da Fragen stellen und dann das große Rätsel lösen. Da könnte man neidisch werden: Niemand muss dort Hinweise abheften, Spuren einschicken, Notizen und Protokolle erstellen oder sonst einen bürokratischen Aufwand betreiben. Fiktive Geschichten zur Unterhaltung dürfen auch so sein; aber die realen Fallerzählungen hier in diesem Buch können vielleicht ein genaueres Bild abgeben, wie es bei Ermittlungen im Kripo-Alltag wirklich zugeht.
Wir sind zum Beispiel in aller Regel nicht bloß zwei oder drei. Sondern wir bilden Kommissionen, in denen viele Fähigkeiten und Temperamente gebündelt werden, vom Fallanalytiker über den Kriminologen bis zum psychologisch geschulten Opferbetreuer. Das erfordert gut organisiertes Teamwork mit hohen Ansprüchen und zunehmend flachen Hierarchien. Allein kann ein Ermittler heute wenig bewirken, wie übrigens auch deutlich höhere Aufklärungsquoten statistisch eindeutig belegen. Maigret und Marlowe waren nett, aber sie sind eben auch längst passé.
In jedem Fall mit den besten Spezialisten aus den Landeskriminalämtern und ihren Labors zusammenzuarbeiten: Für moderne Ermittler ist das inzwischen eine Selbstverständlichkeit. Wir können Gewalttäter durch mikroskopisch kleine Fasern oder den Abgleich des genetischen Codes (DNA) anhand winziger Hautschuppen überführen. Diese analytische Präzision hat, ähnlich wie der Einsatz zeitgemäßer Kommunikationsmittel, sowohl neue Anforderungen wie auch neue Möglichkeiten in unserem Job geschaffen. Und sein zeitloser Reiz - das ewig neue menschliche Drama - scheint in den hier veröffentlichen Geschichten hoffentlich ebenso durch.
Es sind ja keine strahlenden Gewinner, die wir in der Regel als Täter und Komplizen ausmachen. Genau besehen verlieren bei einem Gewaltdelikt eigentlich immer alle Beteiligten. Das wird spätestens in dem Moment deutlich, wo das Spiel vorbei ist. Dann schrumpfen Totschläger und mehrfache Mörder zu Menschen, die sich in der Vernehmung eher verwirrt als furchteinflößend präsentieren. Die eine Zigarette für ihre zitternden Finger brauchen oder jemanden, der ihre schmutzigen Klamotten wäscht. Traurige Gestalten, die um einen Rest von Würde und Selbstwert kämpfen - und nach dem Geständnis fast ausnahmslos erleichtert wirken.
So habe ich es beim Fall Mirco erlebt, der bisher wohl aufwendigsten Personensuche in der deutschen Kriminalgeschichte. Aber auch bei dem Fall mehrerer junger Mädchen, die in den Neunzigern zwischen dem Gladbacher Hinterland und der französischen Atlantikküste alle dem gleichen, ausgesprochen unscheinbaren Triebmörder zum Opfer gefallen waren. Im Fall des fünfzehnjährigen Sascha aus dem Raum Willich, dessen grausames Schicksal zehn Jahre lang ungeklärt blieb, stießen wir dagegen auf einen skrupellosen Täter, der offenbar weder zur Selbstwahrnehmung noch zu Empathie fähig ist und auch keine Reue zeigt.
Alle drei Akten werden hier noch mal geöffnet, so dass sich der Leser aus erster Hand ein Bild machen kann, wie kriminalistische Arbeit wirklich funktioniert - nämlich als Resultat methodisch organisierten Teamworks in der Ermittlungskommission. In diesem Sinne sind die True Stories am Ende des Tages vielleicht ja ebenso erhellend wie zuweilen düster - weil sie etwas Licht in die Praxis der Kripo bringen, die sonst nur von außen wahrgenommen wird. Kein Fall war zu seiner Zeit weniger wichtig als die anderen, nur hat sich die öffentliche Wahrnehmung durch den Zuwachs an Medien erheblich gesteigert: Während wir im Fall von Nadine und anderer ermordeter Mädchen 270 Hinweise abarbeiteten, waren es bei Mirco rund 9900.
So bin ich nun »eine traurige Berühmtheit« geworden, wie es neulich eine Frau ausgedrückt hat, die mich im Supermarkt ansprach. Damit muss und kann ich leben, denn wenn unsereins gerufen wird, ist immer schon etwas Schlimmes passiert. Wir kommen nicht zum Gratulieren - aber auch nicht nur zum Jagen.
Mit ausdrücklichem Dank an alle Mitarbeiter der Ermittlungskommissionen,
Ingo Thiel
EINS
Letzte Ruhe
Das nächste große Ding beginnt für einen Ermittler nicht immer mit einem lauten Knall und einer Leiche. Manchmal reichen zwei Blatt Papier, die einem unvermittelt auf den Schreibtisch fallen. Man weiß es meist nur nicht gleich.
»Hier«, sagt jemand in meinem Rücken, »kümmer dich mal drum.« Und ist schon wieder durch die offene Tür meines Büros im zweiten Stock des Altbaus im Gladbacher Polizeipräsidium entschwunden. Trotzdem weiß ich natürlich, wer mich da besucht. Die nüchterne Stimme gehört zweifelsfrei Hennes Jöries, der zu dieser Zeit mein Dienststellenleiter ist. Der Hennes, wie wir ihn nennen, macht selten viele Worte. Mit seinem spröden Charme tippt er nur kurz Menschen und Dinge an, damit sie sich bewegen. Im Stillen aber hält er alles nach, was durch sein Kommissariat läuft, und mit seiner Pfeife, aus der es nach Gewürzen riecht, gäbe er auch einen passablen Maigret vom Niederrhein ab. Ich habe es unter anderem ihm zu verdanken, dass ich zur Mordkommission geholt wurde.
An diesem kühlen Tag im Mai 2001 hat er mir eine Notiz samt Abschrift einer Aussage durchgereicht. Ein Ehepaar aus Süchteln hat sich nach einer seltsamen Begegnung auf dem Flohmarkt bei der Gladbacher Trabrennbahn an die Polizei gewendet. Die Eheleute hatten einen Sohn, der vor zehn Jahren spurlos verschwunden ist. Und zur Zeit des Verschwindens einen Nachbarn, den sie nach der Begegnung mehr denn je als seinen Mörder verdächtigen.
Brigitte und Heinz-Werner Scholten haben dessen geschiedener Frau Elfriede Karge auf dem Flohmarkt ein Skateboard verkauft. Dabei ist das Gespräch bald auf jene Zeiten gekommen, als man in Schiefbahn, einem kleinen Flecken zwischen Mönchengladbach und Krefeld, in der gleichen Straße wohnte. »Ich habe Elfriede darauf angesprochen, dass die im Garten hinter dem Haus einen Rottweiler hatten. Ich habe sie direkt auf den Kopf zu gefragt, ob die unseren Sohn an den Hund verfüttert oder ob sie da im Garten ein Loch gescharrt haben. Sie hat gesagt: Das nicht, aber sie hätten früher einen Schrebergarten gehabt, und da, in einer bestimmten Ecke, hätte es so nach Leiche gerochen. Sie hätten deswegen den Schrebergarten verkauft.«
So beginnt die Aussage, die Brigitte Scholten von sich aus bei der Viersener Kriminalpolizei in Begleitung ihres Mannes macht. Und so geht sie nach kurzer Unterbrechung weiter:
»Elfriede hat gesagt, dass ihr Mann Günter einmal abends mit total dreckigen Klamotten nach Hause gekommen ist. Und da musste sie die waschen, sonst hätte sie Prügel gekriegt. Hat sie ja sowieso dauernd ... Außerdem hätte ihr Mann mehrfach gesagt, dass Sascha nie mehr wiederkommen würde ...«
Eine kurze Notiz, ein loser Verdacht: Etwa dreimal pro Woche fliegen uns Meldungen zu, in denen irgendwer jemand anderen einer Straftat verdächtigt - oft nur, um demjenigen Schwierigkeiten zu bereiten. Aber das hier kommt von einer Frau, der nach dem, was sie seit zehn Jahren ertragen muss, ganz sicher nicht zum Spaßen ist. Und die erst recht kein Interesse daran hat, jemanden anzuschwärzen, der nichts mit dem Verschwinden ihres Sohnes zu tun hat. Abgesehen davon klingt das, was ihr da zu Ohren gekommen ist, sehr konkret. So was lässt sich nur schwer erfinden.
Ganz sicher hat mein Chef geahnt, dass die gut zwei Seiten reichen, um mich anzutriggern. Und sieht sich wohl bestätigt, als ich etwas später im Türrahmen seines Zimmers auftauche. »Ja, sehr interessant«, sage ich nur, die Zeugenvernehmung noch in der Hand. Und: »Ich geh der Sache auf jeden Fall mal nach.« Wie wir halt so reden, wenn wir den Ball erst mal flach halten wollen.
So ziemlich jeder in diesem Präsidium kennt den Fall des fünfzehnjährigen Schülers, der zehn Jahre zuvor in Schiefbahn bei Willich, keine zwanzig Kilometer von hier entfernt, verschwunden und seither wie vom Erdbeben verschluckt ist. Keine Spuren, die auf ein Gewaltverbrechen schließen lassen, aber auch keine Erklärung - nicht gerade das, worauf die Kriminalpolizei besonders stolz ist.
Damals hat die Geschichte über Monate hinweg den Polizeiapparat in Atem gehalten. Alle Suchmaßnahmen, Aufrufe und Hinweise, die von der eigens gegründeten Soko überprüft wurden, liefen letztlich ins Leere. Und jetzt, aus heiterem Himmel, plötzlich ein neuer, konkreter Tatverdacht: gegen einen Mann, der mit Saschas Familie beinahe Tür an Tür gewohnt hat. Damit könnte eine ältere, halbvergessene Akte wieder geöffnet und vielleicht auch erfolgreich geschlossen werden.
Am Nachmittag rufe ich bei der Krefelder Staatsanwaltschaft an, um mir die Akte zum Vermisstenfall zu bestellen. Ich möchte das Original haben, weil in den Kopien für die Polizei oft einige Nachträge fehlen. Dazu gebe ich am Rechner den Namen des damaligen Nachbarn im Strafregister ein - und erhalte eine stattliche Liste an Vergehen. Sie zeichnen das Profil eines gewaltbereiten Kleinganoven, der sich mit Hehlerei, Diebstahl, Betrug und ähnlichen Manövern durchzuschlagen versucht. Das »Sahnehäubchen«: fünfzehn Jahre Haft für einen Mordversuch.
Ein Mann, der schon einmal bereit war zu töten, und seine geschiedene Frau, der ein Kadavergeruch in die Nase gestiegen ist: Liegt hier womöglich eine direkte Verbindung zu dem Jugendlichen, der seit zehn Jahren vermisst wird? Ich bin noch in Gedanken, als Ulli durch die offene Tür in mein Zimmer stapft - der Dienststellenleiter der Sitte, die auch Vermisstenfälle bearbeitet. Ulli hält demonstrativ eine dicke Akte in die Höhe, um sie dann mit einem dumpfen Knall auf meinen Schreibtisch abzuwerfen.
»Tach, Herr Thiel«, sagt er mit gespielter Distanz, »Paket für Sie.«
*
Der wuchtige Ordner auf dem Tisch ist von der Staatsanwaltschaft in Krefeld und enthält alle Unterlagen zum Fall Sascha Scholten. Ein Kurier hat ihn vor zehn Minuten im Präsidium abgeliefert. Durch irgendein Versehen ist er zunächst aber nicht im KK11, sondern im KK12 gelandet. Nun will der Kollege, der sie vorbeigebracht hat, natürlich gelobt werden. Also tue ich ihm den Gefallen.
© Ullstein extra (Verlag)
Es war mit Sicherheit nicht mein Traumjob, als ich Anfang September 2010 die Vermissten-Sache eines bei Grefrath entführten, zehnjährigen Jungen übernahm - als Leiter der Soko Mirco, die phasenweise bis zu achtzig Mitarbeiter beschäftigte. Umso erleichternder war es dann, als wir nach 145 Tagen den Täter festnehmen konnten. Worauf ich, stellvertretend für das ganze Team, über tausend Mails aus der gesamten Republik erhielt, mit denen man uns zum Fahndungserfolg gratulierte. Das hat in jeder Hinsicht gutgetan: Plötzlich waren wir da draußen nicht mehr die »doofen Bullen«, die einen immer nur blitzen, anhalten und nerven, sondern Menschen, die mit ihrem Einsatz einem kollektiven Bedürfnis nach Sicherheit zur Geltung verhelfen.
Aufzuklären, was wieso mit Menschen passiert ist: Vielleicht ist das die höchste Form der Ermittlungsarbeit, der ich mich da verschrieben habe. Weil sie über die persönliche Genugtuung hinaus, einen Fall gelöst zu haben, nicht zuletzt auch Erleichterung bedeutet. Erleichterung für die Familien und Freunde der Opfer, die eine Erzählung brauchen, um selbst wieder ins Leben zu finden. Diese Botschaft haben die Kriminalfälle, die ich hier aus meiner Laufbahn erzähle, ja alle miteinander gemein: Selbst die schrecklichste Nachricht kann nie so quälend sein wie der schwebende Zustand anhaltender Ungewissheit.
Was wir dazu leisten müssen, ist so konkret wenig bekannt. Die allgemeine Vorstellung wird von Fernsehkrimis geprägt, in denen zwei, drei Ermittler unentwegt durch die Gegend sausen, hier und da Fragen stellen und dann das große Rätsel lösen. Da könnte man neidisch werden: Niemand muss dort Hinweise abheften, Spuren einschicken, Notizen und Protokolle erstellen oder sonst einen bürokratischen Aufwand betreiben. Fiktive Geschichten zur Unterhaltung dürfen auch so sein; aber die realen Fallerzählungen hier in diesem Buch können vielleicht ein genaueres Bild abgeben, wie es bei Ermittlungen im Kripo-Alltag wirklich zugeht.
Wir sind zum Beispiel in aller Regel nicht bloß zwei oder drei. Sondern wir bilden Kommissionen, in denen viele Fähigkeiten und Temperamente gebündelt werden, vom Fallanalytiker über den Kriminologen bis zum psychologisch geschulten Opferbetreuer. Das erfordert gut organisiertes Teamwork mit hohen Ansprüchen und zunehmend flachen Hierarchien. Allein kann ein Ermittler heute wenig bewirken, wie übrigens auch deutlich höhere Aufklärungsquoten statistisch eindeutig belegen. Maigret und Marlowe waren nett, aber sie sind eben auch längst passé.
In jedem Fall mit den besten Spezialisten aus den Landeskriminalämtern und ihren Labors zusammenzuarbeiten: Für moderne Ermittler ist das inzwischen eine Selbstverständlichkeit. Wir können Gewalttäter durch mikroskopisch kleine Fasern oder den Abgleich des genetischen Codes (DNA) anhand winziger Hautschuppen überführen. Diese analytische Präzision hat, ähnlich wie der Einsatz zeitgemäßer Kommunikationsmittel, sowohl neue Anforderungen wie auch neue Möglichkeiten in unserem Job geschaffen. Und sein zeitloser Reiz - das ewig neue menschliche Drama - scheint in den hier veröffentlichen Geschichten hoffentlich ebenso durch.
Es sind ja keine strahlenden Gewinner, die wir in der Regel als Täter und Komplizen ausmachen. Genau besehen verlieren bei einem Gewaltdelikt eigentlich immer alle Beteiligten. Das wird spätestens in dem Moment deutlich, wo das Spiel vorbei ist. Dann schrumpfen Totschläger und mehrfache Mörder zu Menschen, die sich in der Vernehmung eher verwirrt als furchteinflößend präsentieren. Die eine Zigarette für ihre zitternden Finger brauchen oder jemanden, der ihre schmutzigen Klamotten wäscht. Traurige Gestalten, die um einen Rest von Würde und Selbstwert kämpfen - und nach dem Geständnis fast ausnahmslos erleichtert wirken.
So habe ich es beim Fall Mirco erlebt, der bisher wohl aufwendigsten Personensuche in der deutschen Kriminalgeschichte. Aber auch bei dem Fall mehrerer junger Mädchen, die in den Neunzigern zwischen dem Gladbacher Hinterland und der französischen Atlantikküste alle dem gleichen, ausgesprochen unscheinbaren Triebmörder zum Opfer gefallen waren. Im Fall des fünfzehnjährigen Sascha aus dem Raum Willich, dessen grausames Schicksal zehn Jahre lang ungeklärt blieb, stießen wir dagegen auf einen skrupellosen Täter, der offenbar weder zur Selbstwahrnehmung noch zu Empathie fähig ist und auch keine Reue zeigt.
Alle drei Akten werden hier noch mal geöffnet, so dass sich der Leser aus erster Hand ein Bild machen kann, wie kriminalistische Arbeit wirklich funktioniert - nämlich als Resultat methodisch organisierten Teamworks in der Ermittlungskommission. In diesem Sinne sind die True Stories am Ende des Tages vielleicht ja ebenso erhellend wie zuweilen düster - weil sie etwas Licht in die Praxis der Kripo bringen, die sonst nur von außen wahrgenommen wird. Kein Fall war zu seiner Zeit weniger wichtig als die anderen, nur hat sich die öffentliche Wahrnehmung durch den Zuwachs an Medien erheblich gesteigert: Während wir im Fall von Nadine und anderer ermordeter Mädchen 270 Hinweise abarbeiteten, waren es bei Mirco rund 9900.
So bin ich nun »eine traurige Berühmtheit« geworden, wie es neulich eine Frau ausgedrückt hat, die mich im Supermarkt ansprach. Damit muss und kann ich leben, denn wenn unsereins gerufen wird, ist immer schon etwas Schlimmes passiert. Wir kommen nicht zum Gratulieren - aber auch nicht nur zum Jagen.
Mit ausdrücklichem Dank an alle Mitarbeiter der Ermittlungskommissionen,
Ingo Thiel
EINS
Letzte Ruhe
Das nächste große Ding beginnt für einen Ermittler nicht immer mit einem lauten Knall und einer Leiche. Manchmal reichen zwei Blatt Papier, die einem unvermittelt auf den Schreibtisch fallen. Man weiß es meist nur nicht gleich.
»Hier«, sagt jemand in meinem Rücken, »kümmer dich mal drum.« Und ist schon wieder durch die offene Tür meines Büros im zweiten Stock des Altbaus im Gladbacher Polizeipräsidium entschwunden. Trotzdem weiß ich natürlich, wer mich da besucht. Die nüchterne Stimme gehört zweifelsfrei Hennes Jöries, der zu dieser Zeit mein Dienststellenleiter ist. Der Hennes, wie wir ihn nennen, macht selten viele Worte. Mit seinem spröden Charme tippt er nur kurz Menschen und Dinge an, damit sie sich bewegen. Im Stillen aber hält er alles nach, was durch sein Kommissariat läuft, und mit seiner Pfeife, aus der es nach Gewürzen riecht, gäbe er auch einen passablen Maigret vom Niederrhein ab. Ich habe es unter anderem ihm zu verdanken, dass ich zur Mordkommission geholt wurde.
An diesem kühlen Tag im Mai 2001 hat er mir eine Notiz samt Abschrift einer Aussage durchgereicht. Ein Ehepaar aus Süchteln hat sich nach einer seltsamen Begegnung auf dem Flohmarkt bei der Gladbacher Trabrennbahn an die Polizei gewendet. Die Eheleute hatten einen Sohn, der vor zehn Jahren spurlos verschwunden ist. Und zur Zeit des Verschwindens einen Nachbarn, den sie nach der Begegnung mehr denn je als seinen Mörder verdächtigen.
Brigitte und Heinz-Werner Scholten haben dessen geschiedener Frau Elfriede Karge auf dem Flohmarkt ein Skateboard verkauft. Dabei ist das Gespräch bald auf jene Zeiten gekommen, als man in Schiefbahn, einem kleinen Flecken zwischen Mönchengladbach und Krefeld, in der gleichen Straße wohnte. »Ich habe Elfriede darauf angesprochen, dass die im Garten hinter dem Haus einen Rottweiler hatten. Ich habe sie direkt auf den Kopf zu gefragt, ob die unseren Sohn an den Hund verfüttert oder ob sie da im Garten ein Loch gescharrt haben. Sie hat gesagt: Das nicht, aber sie hätten früher einen Schrebergarten gehabt, und da, in einer bestimmten Ecke, hätte es so nach Leiche gerochen. Sie hätten deswegen den Schrebergarten verkauft.«
So beginnt die Aussage, die Brigitte Scholten von sich aus bei der Viersener Kriminalpolizei in Begleitung ihres Mannes macht. Und so geht sie nach kurzer Unterbrechung weiter:
»Elfriede hat gesagt, dass ihr Mann Günter einmal abends mit total dreckigen Klamotten nach Hause gekommen ist. Und da musste sie die waschen, sonst hätte sie Prügel gekriegt. Hat sie ja sowieso dauernd ... Außerdem hätte ihr Mann mehrfach gesagt, dass Sascha nie mehr wiederkommen würde ...«
Eine kurze Notiz, ein loser Verdacht: Etwa dreimal pro Woche fliegen uns Meldungen zu, in denen irgendwer jemand anderen einer Straftat verdächtigt - oft nur, um demjenigen Schwierigkeiten zu bereiten. Aber das hier kommt von einer Frau, der nach dem, was sie seit zehn Jahren ertragen muss, ganz sicher nicht zum Spaßen ist. Und die erst recht kein Interesse daran hat, jemanden anzuschwärzen, der nichts mit dem Verschwinden ihres Sohnes zu tun hat. Abgesehen davon klingt das, was ihr da zu Ohren gekommen ist, sehr konkret. So was lässt sich nur schwer erfinden.
Ganz sicher hat mein Chef geahnt, dass die gut zwei Seiten reichen, um mich anzutriggern. Und sieht sich wohl bestätigt, als ich etwas später im Türrahmen seines Zimmers auftauche. »Ja, sehr interessant«, sage ich nur, die Zeugenvernehmung noch in der Hand. Und: »Ich geh der Sache auf jeden Fall mal nach.« Wie wir halt so reden, wenn wir den Ball erst mal flach halten wollen.
So ziemlich jeder in diesem Präsidium kennt den Fall des fünfzehnjährigen Schülers, der zehn Jahre zuvor in Schiefbahn bei Willich, keine zwanzig Kilometer von hier entfernt, verschwunden und seither wie vom Erdbeben verschluckt ist. Keine Spuren, die auf ein Gewaltverbrechen schließen lassen, aber auch keine Erklärung - nicht gerade das, worauf die Kriminalpolizei besonders stolz ist.
Damals hat die Geschichte über Monate hinweg den Polizeiapparat in Atem gehalten. Alle Suchmaßnahmen, Aufrufe und Hinweise, die von der eigens gegründeten Soko überprüft wurden, liefen letztlich ins Leere. Und jetzt, aus heiterem Himmel, plötzlich ein neuer, konkreter Tatverdacht: gegen einen Mann, der mit Saschas Familie beinahe Tür an Tür gewohnt hat. Damit könnte eine ältere, halbvergessene Akte wieder geöffnet und vielleicht auch erfolgreich geschlossen werden.
Am Nachmittag rufe ich bei der Krefelder Staatsanwaltschaft an, um mir die Akte zum Vermisstenfall zu bestellen. Ich möchte das Original haben, weil in den Kopien für die Polizei oft einige Nachträge fehlen. Dazu gebe ich am Rechner den Namen des damaligen Nachbarn im Strafregister ein - und erhalte eine stattliche Liste an Vergehen. Sie zeichnen das Profil eines gewaltbereiten Kleinganoven, der sich mit Hehlerei, Diebstahl, Betrug und ähnlichen Manövern durchzuschlagen versucht. Das »Sahnehäubchen«: fünfzehn Jahre Haft für einen Mordversuch.
Ein Mann, der schon einmal bereit war zu töten, und seine geschiedene Frau, der ein Kadavergeruch in die Nase gestiegen ist: Liegt hier womöglich eine direkte Verbindung zu dem Jugendlichen, der seit zehn Jahren vermisst wird? Ich bin noch in Gedanken, als Ulli durch die offene Tür in mein Zimmer stapft - der Dienststellenleiter der Sitte, die auch Vermisstenfälle bearbeitet. Ulli hält demonstrativ eine dicke Akte in die Höhe, um sie dann mit einem dumpfen Knall auf meinen Schreibtisch abzuwerfen.
»Tach, Herr Thiel«, sagt er mit gespielter Distanz, »Paket für Sie.«
*
Der wuchtige Ordner auf dem Tisch ist von der Staatsanwaltschaft in Krefeld und enthält alle Unterlagen zum Fall Sascha Scholten. Ein Kurier hat ihn vor zehn Minuten im Präsidium abgeliefert. Durch irgendein Versehen ist er zunächst aber nicht im KK11, sondern im KK12 gelandet. Nun will der Kollege, der sie vorbeigebracht hat, natürlich gelobt werden. Also tue ich ihm den Gefallen.
© Ullstein extra (Verlag)
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Autoren-Porträt von Ingo Thiel
Ingo Thiel, 48, ist seit über zwei Jahrzehnten als Kriminalhauptkommissar in der Abteilung 11 für Tötungsdelikte in Mönchengladbach tätig und kann eine Aufklärungsquote von 100% bei Fällen vorweisen, an deren Ermittlung er von Anfang an beteiligt war. Er hat zwei Kinder, ist verheiratet und lebt in der Nähe von Mönchengladbach.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ingo Thiel
- 2012, 224 Seiten, Maße: 13,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Mitarbeit: Job, Bertram
- Verlag: Ullstein extra
- ISBN-10: 386493012X
- ISBN-13: 9783864930126
- Erscheinungsdatum: 12.11.2012
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