Sommerdiebe
Vor ihr liegt ein Sommer, in dem sie einen ganzen Kontinent zwischen sich und ihrer Familie weiß: Während ihre Eltern nach Europa segeln, bleibt die 17-jährige Grady McNeil allein zurück in einem New York ohne Aircondition, aber vielen Versprechen. Grady...
Vor ihr liegt ein Sommer, in dem sie einen ganzen Kontinent zwischen sich und ihrer Familie weiß: Während ihre Eltern nach Europa segeln, bleibt die 17-jährige Grady McNeil allein zurück in einem New York ohne Aircondition, aber vielen Versprechen. Grady kann tun und lassen, was sie will. Und sie will eine Menge, bloss sich noch nicht in die reiche, feine Gesellschaft einfädeln, die sie nur müde macht.
So verliebt sie sich in Clyde, einen jüdischen Jungen aus Brooklyn, der, zurück aus dem Krieg, als Parkplatzwächter arbeitet. Es ist ihr egal, dass sich ihre Mutter einen anderen Schwiegersohn erträumt - eine standesgemässe, sichere Partie.
Doch ein komfortables, risikoloses Leben ist das Letzte, was Grady interessiert. Sie schwirrt durch diese heißen Monate mit Clyde und seinen Kumpeln - erfüllt von einer Sehnsucht nach einer Welt mit lauter Unbekannten, wo nichts festgeschrieben ist und immer noch ein letztes Rätsel zu lösen bleibt.
Sommerdiebe von Truman Capote
LESEPROBE
»Du bist ein Rätsel, mein Liebes«,sagte ihre Mutter, und Grady, die versonnen durch einen Tafelaufsatz mit Rosenund Farn über den Tisch blickte, lächelte nachsichtig: ja, ich bin ein Rätsel,und der Gedanke gefiel ihr. Aber Apple, acht Jahre älter, verheiratet und allesandere als rätselhaft, sagte: »Grady ist dumm, weiter nichts; ich wünschte, ichkönnte mitkommen. Stell dir vor, Mama, nächste Woche um diese Zeit wirst duin Paris frühstücken! George verspricht immer, dass wir hinfahren aber ichweiß nicht.« Sie schwieg und sah ihre Schwester an. »Grady, warum in aller Weltwillst du mitten im Sommer in New York bleiben?« Grady wünschte, die anderen würdensie in Ruhe lassen; immer dieses Nachhaken, dabei war nun endlich der Taggekommen, an dem das Schiff auslief: was gab es da noch zu sagen, über dashinaus, was sie schon gesagt hatte? Danach gab es nur noch die Wahrheit, undmit der mochte sie nicht ganz herausrücken. »Ich habe hier noch nie den Sommerverbracht«, sagte sie, wobei sie es vermied, ihnen in die Augen zu schauen,indem sie aus dem Fenster sah: das Glitzern des Verkehrs hob die Stille desJunimorgens im Central Park hervor, und die Sonne strömte mit der Kraft desjungen Sommers, der den grünen Schorf des Frühlings trocknet, durch die Bäumevor dem Plaza, in dem sie frühstückten. »Ich bin eben pervers, ihr habt Recht.«Lächelnd gestand sie sich ein, dass es vielleicht ein Fehler gewesen war, das gesagtzu haben: ihre Familie war ohnehin nicht weit weg davon, sie für pervers zuhalten; schon mit vierzehn war sie zu der erschreckenden und völlig klarenEinsicht gelangt: ihre Mutter, begriff sie, liebte sie, ohne sie wirklich zumögen; anfangs hatte sie gedacht, es läge daran, dass sie in den Augen ihrerMutter hässlicher, eigensinniger, weniger kokett war als Apple, aber später,als sehr zu Apples Kummer deutlich wurde, dass sie, Grady, wesentlich hübscher aussah,gab sie es auf, sich über den Standpunkt ihrer Mutter den Kopf zu zerbrechen:die Antwort lautete natürlich, was auch sie schließlich begriff, dass sieeinfach, in aller Stille, ihre Mutter nie, nicht einmal als ganz kleinesMädchen sonderlich gemocht hatte. Doch beide machten davon nicht vielAufhebens; das Haus ihrer Abneigung war bescheiden mit Zärtlichkeit möbliert,die Mrs. McNeil jetzt zum Ausdruck brachte, indem sie die Hand ihrer Tochterergriff und dabei sagte: »Wir werden uns aber Sorgen um dich machen,Liebling. Wir können gar nicht anders. Also ich weiß nicht. Ich weiß nicht. Ichbezweifle, ob das das Richtige ist. Siebzehn ist nicht sehr alt, und du warstnoch nie ganz allein.«
Mr. McNeil, der, wenn er den Mund auftat, sich immer so anhörte, als gingees um seinen Einsatz beim Pokerspiel, der aber nur selten den Mund auftat,teils, weil seine Frau nicht gern unterbrochen wurde, teils, weil er ein sehrmüder Mann war, titschte seine Zigarre in der Kaffeetasse aus, was bei Appleund Mrs. McNeil be- wirkte, dass sie zusammenzuckten, und sagte: »Als ich achtzehnwar, Teufel auch, da hatte ich mich schon drei Jahre lang in Kalifornienumgetan.« »Aber Lamont - du bist schließlich ein Mann.« »Was gibts da füreinen Unterschied?«, brummte er. »Gibt doch schon seit einiger Zeit keinenUnterschied mehr zwischen Männern und Frauen. Behauptest du selbst.«
Mrs. McNeil räusperte sich, als habe das Gespräch eineunangenehme Wendung genommen. »Trotz allem, Lamont, ist mir gar nicht wohl beider Abreise « Unbändiges Gelächter stieg in Grady auf, eine freudige Erregungangesichts dieses Sommers, der sich vor ihr erstreckte wie eine endlose weißeLeinwand, auf die sie selbst die ersten groben Pinselstriche auftragen konnte,ganz und gar frei. Dann wiederum, und mit ernstem Gesicht, lachte sie, weil dieanderen kaum etwas ahnten, nichts. Das Licht, das flirrend vom Tafelsilber abprallte,schien ihre Erregung zu stärken und ihr gleichzeitig ein Warnsignalzuzublinken: Vorsicht, Liebes. Aber anderswo sagte etwas: Grady, sei stolz, dubist groß, also hisse deine Flagge hoch droben, im Wind. Was konnte gesprochenhaben, die Rose? Rosen sprechen, sie sind das Herz der Weisheit, hatte sieirgendwo gelesen. Sie sah wieder aus dem Fenster; das Gelächter strömte hoch, esflutete auf ihre Lippen: was für ein strahlender, sonnenüberglänzter Tag fürGrady McNeil und Rosen, die sprechen!
»Was ist denn so komisch, Grady?« Apple hatte keine angenehme Stimme; sieerinnerte an das vorsprachliche Gebrabbel eines missgelaunten Säuglings.»Mutter stellt eine einfach Frage, und du lachst, als wäre sie eine dumme Kuh.«
»Grady hält mich bestimmt nicht füreine dumme Kuh«, sagte Mrs. McNeil, aber ein Unterton schwacher Überzeugungdeutete auf Zweifel hin, und ihre Augen, verhangen von dem spinnennetzartigenHutschleier, den sie jetzt vor das Gesicht zog, trübten sich von dem Stich, densie stets verspürte, wenn ihr das entgegenschlug, was sie für Gradys Verachtunghielt. Es ging noch an, dass es zwischen ihnen nur die spärlichste Verbindunggab: es herrschte keine echte Sympathie, das wusste sie; doch dass Grady sichdurch ihre Unnahbarkeit für die Überlegene ausgeben konnte, war unerträglich:in solchen Augenblicken zuckten Mrs. McNeil die Hände. Einmal, aber das warschon viele Jahre her, als Grady noch ein Wildfang mit kurzen Haaren undverschorften Knien war, hatte sie ihre Hände nicht beherrschen können, und bei dieserGelegenheit, die natürlich in jene Zeit fiel, welche die nervenaufreibendste imLeben einer Frau ist, hatte sie, provoziert von Gradys rücksichtsloserUnzugänglichkeit, ihre Tochter heftig geohrfeigt. Jedesmal, wenn sie danach vonähnlichen Regungen überkommen wurde, gab sie ihren Händen Halt auf einer festenOberfläche, denn anlässlich ihrer damaligen Unbeherrschtheit hatte Grady, derenabschätzende grüne Augen wie Bröckchen aus Meerwasser waren, sie unverwandtangeblickt, hatte in sie hineingeblickt und einen Scheinwerferkegel auf den verwöhntenSpiegel ihrer Eitelkeit gerichtet: denn sie war eine beschränkte Frau, es warihre erste Begegnung mit einer Willenskraft, die stärker war als ihre eigene.Bestimmt nicht, sagte sie und zwinkerte mit künstlichem Humor. (...)
© Verlag Kein & Aber
Übersetzung: Heidi Zerning
- Autor: Truman Capote
- 2006, 5. Aufl., 160 Seiten, Maße: 12,2 x 19 cm, Leinen, Deutsch
- Herausgegeben: Anuschka Roshani
- Übersetzer: Heidi Zerning
- Verlag: Kein & Aber
- ISBN-10: 3036951571
- ISBN-13: 9783036951577
- Erscheinungsdatum: 21.03.2006
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