Sommerfest
Roman
"Woanders weiß er selber, wer er ist, hier wissen es die anderen. Das ist Heimat." "Storys, ehrlich, wo du hinguckst. Die liegen praktisch auf der Straße, die musst du nur aufheben!" Frank Goosens neuer Roman zelebriert ein Heimatwochenende voller skurriler...
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Produktinformationen zu „Sommerfest “
"Woanders weiß er selber, wer er ist, hier wissen es die anderen. Das ist Heimat." "Storys, ehrlich, wo du hinguckst. Die liegen praktisch auf der Straße, die musst du nur aufheben!" Frank Goosens neuer Roman zelebriert ein Heimatwochenende voller skurriler Figuren mit Fußball und Musik, mit großen Entscheidungen und viel Gefühl. Onkel Hermann, der seit dem Tod von Stefans Eltern in Bochum die Stellung hielt, ist gestorben, und Stefan muss zurück in die Heimat, um das kleine Bergarbeiterreihenhaus seiner Familie zu verkaufen. Zwei Tage, den Termin mit dem Makler hinter sich bringen, sich mit ein, zwei Leuten treffen, die es verdienen, und schnell wieder zurück nach München, ins wahre Leben. Rein, raus, keine Gefangenen. Das war der Plan. Doch schneller als man es für möglich hält, wird man in der Enge der Heimat zu Erinnerungen und Entscheidungen verurteilt. Just an diesem Wochenende wird die Sperrung der A40 im Ruhrgebiet zum kulturellen Happening, dessen Sog Stefan sich nicht entziehen kann. Und alle sind sie da, alle, mit denen er aufgewachsen ist: Toto, der Versager, Diggo, sein brutales Herrchen, Frank, der Statthalter, Karin, die Verwirrmaschine, Omma Luise, die Frau, die alles mitgemacht hat. Und Charlie. Sandkastenfreundin, nicht-leibliche Schwester, Jugendliebe. Keine Frau kennt Stefan so gut und wegen keiner Frau ist er so viele Jahre einem Ort ferngeblieben ... Ein rasanter Roadtrip durch den "Pott" von heute; ein urkomischer Roman voller Wehmut und Tiefgang. Cool und sentimental, derb-witzig und warmherzig. Frank Goosen ist ein Meister der Zwischentöne und versteht es wie kein anderer, auf unbeschwerte Weise die großen Lebensthemen zu verhandeln.
Klappentext zu „Sommerfest “
»Woanders weiß er selber, wer er ist, hier wissen es die anderen. Das ist Heimat.«»Storys, ehrlich, wo du hinguckst. Die liegen praktisch auf der Straße, die musst du nur aufheben!« Frank Goosens neuer Roman zelebriert ein Heimatwochenende voller skurriler Figuren - mit Fußball und Musik, mit großen Entscheidungen und viel Gefühl.
Onkel Hermann, der seit dem Tod von Stefans Eltern in Bochum die Stellung hielt, ist gestorben, und Stefan muss zurück in die Heimat, um das kleine Bergarbeiterreihenhaus seiner Familie zu verkaufen. Zwei Tage, den Termin mit dem Makler hinter sich bringen, sich mit ein, zwei Leuten treffen, die es verdienen, und schnell wieder zurück nach München, ins wahre Leben. Rein, raus, keine Gefangenen. Das war der Plan. Doch schneller als man es für möglich hält, wird man in der Enge der Heimat zu Erinnerungen und Entscheidungen verurteilt.Just an diesem Wochenende wird die Sperrung der A40 im Ruhrgebiet zum kulturellen Happening, dessen Sog Stefan sich nicht entziehen kann. Und alle sind sie da, alle, mit denen er aufgewachsen ist: Toto, der Ver sager, Diggo, sein brutales Herrchen, Frank, der Statthalter, Karin, die Verwirrmaschine, Omma Luise, die Frau, die alles mitgemacht hat. Und Charlie. Sandkastenfreundin, nicht-leibliche Schwester, Jugendliebe. Keine Frau kennt Stefan so gut - und wegen keiner Frau ist er so viele Jahre einem Ort ferngeblieben ...Ein rasanter Roadtrip durch den »Pott« von heute; ein urkomischer Roman voller Wehmut und Tiefgang. Cool und sentimental, derb-witzig und warmherzig. Frank Goosen ist ein Meister der Zwischentöne und versteht es wie kein anderer, auf unbeschwerte Weise die großen Lebensthemen zu verhandeln.
"Woanders weiß er selber, wer er ist, hier wissen es die anderen. Das ist Heimat." "Storys, ehrlich, wo du hinguckst. Die liegen praktisch auf der Straße, die musst du nur aufheben!" Frank Goosens neuer Roman zelebriert ein Heimatwochenende voller skurriler Figuren - mit Fußball und Musik, mit großen Entscheidungen und viel Gefühl. Onkel Hermann, der seit dem Tod von Stefans Eltern in Bochum die Stellung hielt, ist gestorben, und Stefan muss zurück in die Heimat, um das kleine Bergarbeiterreihenhaus seiner Familie zu verkaufen. Zwei Tage, den Termin mit dem Makler hinter sich bringen, sich mit ein, zwei Leuten treffen, die es verdienen, und schnell wieder zurück nach München, ins wahre Leben. Rein, raus, keine Gefangenen. Das war der Plan. Doch schneller als man es für möglich hält, wird man in der Enge der Heimat zu Erinnerungen und Entscheidungen verurteilt. Just an diesem Wochenende wird die Sperrung der A40 im Ruhrgebiet zum kulturellen Happening, dessen Sog Stefan sich nicht entziehen kann. Und alle sind sie da, alle, mit denen er aufgewachsen ist: Toto, der Versager, Diggo, sein brutales Herrchen, Frank, der Statthalter, Karin, die Verwirrmaschine, Omma Luise, die Frau, die alles mitgemacht hat. Und Charlie. Sandkastenfreundin, nicht-leibliche Schwester, Jugendliebe. Keine Frau kennt Stefan so gut - und wegen keiner Frau ist er so viele Jahre einem Ort ferngeblieben ... Ein rasanter Roadtrip durch den "Pott" von heute; ein urkomischer Roman voller Wehmut und Tiefgang. Cool und sentimental, derb-witzig und warmherzig. Frank Goosen ist ein Meister der Zwischentöne und versteht es wie kein anderer, auf unbeschwerte Weise die großen Lebensthemen zu verhandeln.rück nach München, ins wahre Leben. Rein, raus, keine Gefangenen. Das war der Plan. Doch schneller als man es für möglich hält, wird man in der Enge der Heimat zu Erinnerungen und Entscheidungen verurteilt. Just an diesem Wochenende wird die Sperrung der A40 im Ruhrgebiet zum kulturellen Happening, dessen Sog Stefan sich nicht entziehen kann. Und alle sind
Lese-Probe zu „Sommerfest “
Sommerfest von Frank Goosen1
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Als er aufwacht, kommt ihm alles sehr klein vor. Auch in der Nacht hatte er diesen Eindruck schon,
aber da hat er nicht so genau hingesehen. Es war dunkel, nur die Dielenlampe warf einen fahlen Kegel hier herein. Stefan zog sich schnell um und fiel ins Bett, einigermaßen angetrunken, weil er sich im Bordbistro die anderthalb Stunden Verspätung hatte schöntrinken müssen, die der Zug auf seiner Strecke von München hierher, nach Hause, zusammengefahren hatte. Außerdem hatte er getrunken, weil er sich kurz vor Aufbruch noch mit Anka gestritten hatte, die nicht verstehen konnte, weshalb er sie an diesem Wochenende nicht dabeihaben wollte, und er ihr zum x-ten Male hatte erklären müssen, dass er lauter Leute von früher treffen und über alte Zeiten reden würde, sodass sie sich elendiglich langweilen würde, was sie nicht glauben wollte, und es war ja auch tatsächlich nur die halbe Wahrheit.
Es schmerzt ihn, dass er Onkel Hermanns Beerdigung verpasst hat, die schon am Donnerstag gewesen ist, aber da hatte Stefan abends noch Vorstellung, sodass er erst am Freitag fahren konnte. Zwar ist die Beerdigung am Donnerstagvormittag gewesen, aber er hat so kurzfristig keinen Flug mehr bekommen, der ihn rechtzeitig zur Vorstellung nach München zurückgebracht hätte, und die Vorstellung ausfallen zu lassen war keine Option. Er hat Kollegen gesehen, die auf der Bühne gestanden haben, obwohl der Vater oder die Mutter am gleichen Tag überraschend gestorben waren, und wenn er ehrlich ist, hat er Onkel Hermann immer gemocht, ihm aber nie so richtig nahegestanden.
Freitag etwas zeitiger loszufahren war nicht möglich, da Anka ihn darauf festgenagelt hatte, am frühen Abend wenigstens noch einen Happen mit ihr zu essen, wenn sie schon nicht mitkommen dürfe. Das Wochenende hier mit Anka herumzulaufen wäre über seine Kräfte gegangen. Er will nichts erklären, er will niemandem irgendwelche Leute vorstellen, er will nur hier sein und erledigen, was zu erledigen ist.
Es fühlt sich ein bisschen so an, als sei Anka auch schuld daran, dass er die Beerdigung verpasst hat, obwohl das nicht stimmt, aber er hätte eben gern Onkel Hermann diese letzte Ehre erwiesen, zumal alles sicher in einem zünftigen Gelage in jener Kneipe oben am Hauptfriedhof geendet hat, der »Femlinde«, ein Name, über den Stefan sich schon vor dreißig Jahren gewundert hat, als er nach dem Begräbnis seiner Urgroßmutter mit der ganzen Familie dort gewesen ist, und eigentlich hat er immer nachschlagen wollen, was das noch gleich ist, »Ferne«, aber man kennt das ja, man nimmt sich so was vor, und wenn man dann endlich in der Nähe eines Lexikons ist oder vor dem Rechner sitzt, wo man es googeln oder bei Wikipedia nachschlagen könnte, hat man es schon wieder vergessen oder verdrängt, genauso wie man immer wieder vergisst oder verdrängt, in was für einem verdammt kleinen Zimmer man aufgewachsen ist.
Er steht nicht gleich auf, sondern nimmt sich ein paar Minuten, um anzukommen. Er will nicht hier sein, aber es geht nun mal nicht anders, und es ist nur ein Wochenende. Er muss sich mit dem Makler treffen, und der erledigt dann den Rest. Vielleicht wird Stefan dann noch mal zum Entrümpeln kommen müssen. Sicher kann man das auch über eine Firma abwickeln lassen, aber das kommt ihm nicht richtig vor, genauso wie es falsch wäre, nur mit dem Makler zu telefonieren oder das per Mail zu regeln, nein, da muss man sich mal überwinden und persönlich hier auftauchen. Vor manchen Dingen kann man sich nicht drücken, das hat er gelernt, das hat ihm sein Vater klargemacht, da muss man einfach durch.
Genauso muss er jetzt durch dieses Wochenende durch. Er kann sich nicht einfach im Haus verkriechen, den Verkauf abwickeln und am Sonntag wieder abhauen. Er wird Leuten über den Weg laufen, das ist unvermeidlich. Mit Frank Tenholt ist er fest verabredet. Also wird er wohl auch dessen Frau über den Weg laufen. Bei dem Gedanken kribbelt es kurz. Dann wären da noch Toto Starek und Diggo Decker. Typen, vor denen seine Mutter ihn immer gewarnt hat, ein zweiköpfiges Sinnbild für schlechte Gesellschaft, Typen zu denen es Stefan immer wieder hingezogen hat. Aber vielleicht sitzt Diggo ja mal wieder im Knast, oder lässt er das jetzt auch von Toto erledigen, seinem ergebenen Diener und Paladin?
Paladin. Ist das überhaupt das richtige Wort in diesem Zusammenhang? Auch das muss er mal googeln, schließlich will man nicht wie ein Idiot dastehen, wenn man so ein Wort völlig falsch benutzt. Vielleicht kann er aber auch einfach Frank Tenholt fragen, wenn er ihn später besucht. Der hat doch Geschichte studiert, der muss so etwas wissen, wahrscheinlich kann der ihm auch beim Thema »Ferne« weiterhelfen. Man muss solche Sachen klären, damit sie einem nicht das Gehirn verstopfen. In diesem Zusammenhang wäre vielleicht mal über einen Datentarif für sein schickes Mobiltelefon nachzudenken, das er sich bei der letzten Verlängerung seines Mobilfunkvertrages hat aufschwatzen lassen, mit dem er aber, wie er dem blasierten Bengel im Geschäft klarmachte, nur telefonieren wollte, woraufhin der ihn ansah, als spiele Stefan zu Hause noch Schellackplatten ab. Und es war klar, dass der Jüngling das nicht für einen sympathischen Spleen hielt. Stefan ärgerte sich am meisten darüber, dass ihn das überhaupt beschäftigte und der Blick des Bengels nicht einfach an ihm abprallte. Er hat dann, uneingestanden verunsichert, ziemlich schnell den Laden verlassen und kann deshalb bis heute mit seinem Telefon nicht ins Internet.
Seine Füße stoßen unten an. Das Konzept von Betten mit Fußende hat ihm nie eingeleuchtet. Stefan reibt sich einmal mit den Händen das Gesicht und greift nach seiner Armbanduhr auf dem Nachttisch. Einen Radiowecker mit Leuchtziffern gibt es hier nicht mehr, den hat er mitgenommen, als er auszog. Er fühlt sich etwas matt, aber das wird sich nach der ersten Tasse Kaffee erledigen. Er könnte sich unten einen kochen, doch er ist zum Frühstück mit Omma Luise verabredet, und wenn er jetzt einen Kaffee trinkt und bald darauf noch mal einen oder zwei, noch dazu das starke, fast zähflüssige Zeug, das seine Großmutter seit Jahrzehnten in sich hineinschüttet, dann wird ihm irgendwann die Pumpe galoppieren wie bei einem zünftigen Infarkt, was hier und jetzt gleich zwei Fragen aufwirft: Wie konnte Omma Luise trotz dieses Kaffees sechsundachtzig Jahre alt werden, ohne jemals Herzprobleme zu kriegen, und wann ist er eigentlich so ein Snob geworden? Schwarzen Filterkaffee, der womöglich schon eine ganze Weile auf einer Warmhalteplatte vor sich hin gammelt, empfindet Stefan mittlerweile als reines Gift.
Er nimmt frische Sachen aus dem Koffer, der geöffnet auf dem Boden unter dem Fenster liegt, vor dem alten Rippenheizkörper, den irgendein Bekannter seines Vaters installiert hat, wie das ganze Heizungssystem und wie überhaupt das ganze Haus praktisch in Eigenarbeit gebaut oder jedenfalls umgebaut worden ist, da ja hier jeder einen kennt, der noch zwei kennt, die bestimmte Sachen installieren oder reparieren oder besorgen können, das geht praktisch alles unter der Hand, die Welt besteht aus Handwerkern. Stefan nimmt sich ein schwarzes T-Shirt, legt es aber gleich wieder zurück. Nicht so künstlermäßig rüberkommen, denkt er sich, mit so einem schwarzen T-Shirt mit Rundhalsausschnitt sieht man doch gleich wie ein Künstler aus, und wer weiß, wie das hier ankommt. Wahrscheinlich macht sich andererseits niemand Gedanken darüber, also nimmt er das T-Shirt dann doch, dazu die Jeans und eine frische Unterhose, die nun gar nicht künstlermäßig ist, sondern einfach so ein Slip, und wer soll den heute schon zu sehen bekommen.
Das ist der Moment, in dem er zum ersten Mal an Charlie denkt, jedenfalls heute, aber wegen ihr ist er ja gar nicht hier, sondern wegen des Termins mit dem Makler. Immerhin, keine zehn Minuten hat es gedauert, denkt er, bis ich das erste Mal an sie gedacht habe, aber das geht auch wieder vorbei.
Den Termin mit dem Makler hinter sich bringen, sich mit ein, zwei Leuten treffen, die es verdienen, und dann wieder abhauen - das war der Plan. Schnell rein, schnell raus, keine Gefangenen.
Ganze zwei Mal ist er in den letzten zehn Jahren hier gewesen, und das auch nur wegen Omma Luise. Hat bei einem Kollegen in Essen übernachtet, sich wie ein Teilnehmer an einem Zeugenschutzprogramm in seine Heimatstadt geschlichen, bei Omma Luise Kuchen gegessen und ist wieder verschwunden. Telefoniert aber hat er immer wieder mit ihr. Mindestens einmal die Woche. Hat sich angehört, was ihre Beine und ihr Rücken machen und dass sie jetzt langsam Falten kriege, als würde sie alt. »Erst Mitte achtzig und schon Falten!«, hat Stefan mal gesagt, aber Omma Luise hat nicht gelacht. Einmal ist sie mit dem Zug nach München gekommen und hat eine seiner Vorstellungen besucht. Stefan brachte sie in einem sehr schicken Hotel unter, weil er ihr seine Bruchbude nicht zumuten wollte.
Der Makler konnte erst am späten Nachmittag und meinte, Stefan könne froh sein, am Wochenende überhaupt einen Termin zu bekommen, und der Ton, den der Typ am Telefon anschlug, machte Stefan mal wieder klar, dass er mit solchen Leuten eigentlich nichts zu tun haben wollte. Das hier ist kein Renommierprojekt, nur ein altes Bergarbeiter-Reihenhaus.
Bestimmt eine halbe Stunde hat er am letzten Dienstag mit Omma Luise telefoniert, die anrief, weil Onkel Hermann gestorben war. Eine halbe Stunde, in der ihm klar wurde, wie er sie vermisste. Sein schlechtes Gewissen fraß sich durch ihn hindurch wie ein Parasit. Wieder einer tot, sagte sie, bald bin ich dran. Nein, nein, Omma Luise, du lebst ewig, keiner kriegt dich kaputt, nicht mal der Sensenmann, aber sie lachte nur und sagte, er sei eben zu jung für so was, er habe noch so viel Zeit und müsse sich diese Gedanken nicht machen.
Und dann ist sie ins Erzählen gekommen. Nur ein paar Monate zuvor ist der Erich Grothemann unter die Erde gekommen, der alte Kommunist, der noch mit Omma Luises Vater, Otto Horstkämper, im Männergesangsverein gewesen war, jenem Verein, der sich im Hinterzimmer von Haus Rabe traf, der Kneipe, die Charlies Großvater Willy Abromeit, auch bekannt als Der Masurische Hammer, Anfang der Sechziger von Willi Jebollek übernommen hatte, dem verschwiegenen Wirt mit dem gebrochenen Herzen, und als Stefan all diese Namen gehört und gedacht hat, Horstkämper nämlich und Abromeit und Jebollek und Hermann Ellbringe und Wolfgang Mehls und Rosi Rabe und noch einige mehr, da wehte ihn so was an.
Auch an die Kneipe hat er sich erinnert, als er mit Omma Luise telefonierte. Nicht geringe Teile seiner Kindheit hat er dort verbracht, ist mit Charlie unter den Tischen herumgekrochen, hat später mit ihr hinterm Tresen ausgeholfen, hat den Männern zugehört, wie sie über Gott und die Welt und die Frauen und den Fußball herzogen. Er hat auch gesehen, wie sie sich geprügelt haben, hat gesehen, wie sein Onkel Joachim kräftig ausgeteilt und dabei gelacht hat. Nur wenn Messer ins Spiel kamen, war es nicht mehr lustig.
Und dann erzählte Omma Luise auch noch, dass ausgerechnet an diesem Sonntag die Autobahn gesperrt würde, sechzig Kilometer Tische und Aktionen, weil man ja jetzt Kulturhauptstadt war, und da dachte er dann doch, dass er sich das vielleicht nicht entgehen lassen sollte. Mal abgesehen davon, dass es dann nicht so aussah, als wolle er nur möglichst schnell wieder weg und den Leuten aus dem Weg gehen, weil er sich für was Besseres hielt, und man konnte sich ja einiges zuschulden kommen lassen, aber sich für was Besseres halten, das ging nun gar nicht. Also hängte er den Sonntag noch dran und buchte eine Fahrkarte für einen Zug am Abend.
Im Flur bleibt er kurz stehen und horcht. Nichts. Es ist still. Es war nie still in diesem Haus, denkt er, irgendwo wurde immer gemacht und getan und geklappert und gehämmert und geschraubt, oder es wurde gerülpst, gefurzt, gesungen, gelacht, geweint und geschrien, und wenn die Bewohner mal geschwiegen haben, hat das Haus seine Meinung gesagt und geächzt und geknackt und gestöhnt oder geseufzt, das war nicht immer so gut zu unterscheiden. Jetzt aber ist es still. Es ist so viel vorbei. Sogar das Haus hält die Klappe.
Das Herz des Hauses ist immer die Küche gewesen. Diese Familie hat immer aus Küchenmenschen bestanden, Menschen, die sich am liebsten in der Küche aufhalten, wenn sie ungestört und unbeobachtet sein wollen. Das Wohnzimmer ist zum Fernsehen und für den Besuch. Alle wichtigen Gespräche mit seinen Eltern haben in der Küche stattgefunden: Standpauken, Todesnachrichten und der Vortrag darüber, wo die kleinen Kinder herkommen, vom Storch nämlich, der einem Nachwuchs bringt, wenn man Zucker auf die Fensterbank legt. Na gut, auch die volle Wahrheit über Mamas Scheide und Pappas Penis ist in der Küche enthüllt worden, obwohl sich das alles völlig unglaubwürdig anhörte, aber da musste man durch, als Kind, das es nicht glauben, und als Vater, der es eigentlich nicht erzählen wollte.
Als Stefans Eltern Ende der Neunziger im Abstand von zwei Jahren starben, zog Onkel Hermann hier ein, weil seine Wohnung luxussaniert wurde und Stefan es damals nicht über sich brachte, das Haus zu verkaufen, und eigentlich war diese Lösung nur für den Übergang gedacht. Daraus wurden dann doch zehn Jahre, aber jetzt ist Schicht am Schacht, Ende Gelände beziehungsweise der Fahnenstange, Sense, Aus, Finito. Das Haus wird nicht viel bringen. Vielleicht gerade genug, dass sich Stefan keine Gedanken machen muss, selbst wenn das mit dem Vorsprechen am Montag nicht klappen sollte.
Stefan wollte von Onkel Hermann keine Miete haben, aber das ließ der Onkel - der eigentlich kein richtiger Onkel war, sondern nur ein »Nenn-Onkel« - nicht zu, also zahlte Onkel Hermann ein bisschen was und sorgte dafür, dass das Haus in Schuss blieb. Kleinere Reparaturen erledigte er bis zuletzt selbst, für den Rest hatte er einen Haufen Bekannte. Und wieder bleibt Stefan bei dem Gedanken hängen, dass diese Welt hier aus Handwerkern besteht, eine Welt, in der jeder jeden schon ewig kennt, nein, sogar länger als ewig, ein Leben lang nämlich, und man kann es glauben oder nicht, aber Onkel Hermann ist mit dem Schraubenzieher in der Hand gestorben, einfach umgefallen, auf dem Weg vom Werkzeugkasten in der kleinen Kammer in der Küche, irgendwohin, wo was wackelte. Ein schöner Tod, der beste, den man sich vorstellen kann, kein langes Dahinsiechen, sondern schnell und schmerzlos, in dem Gefühl, noch fix etwas Sinnvolles zu tun, etwas zu ar
beiten, nicht so ein beschissener Tod, wie er Stefans Eltern ereilt hat, ein sadistischer, heimtückischer, folternder Tod, eine Drecksau.
Eigentlich ist Onkel Hermann gar nicht so dicke mit Stefans Vater und Großvater gewesen, sondern mehr mit Wolfgang Mehls, praktisch unzertrennlich waren die beiden. Dessen Schwester Paula war nicht nur Charlies Großmutter, sondern auch die beste Freundin von Omma Luise, obwohl sie beide hinter dem gleichen Mann her waren, Willy Abromeit, dem Masurischen Hammer, bisweilen Preisboxer auf der Kirmes, ansonsten aber, obwohl eins-neunzig, im Pütt, bevor er dann Wirt wurde. Bessere Schangsen bei Willy Abromeit hat Omma Luise gehabt, aber die war schon verlobt mit Fritz Borchardt, später Stefans Großvater mütterlicherseits. Und dann wurde Omma Luise '44 von Oppa Fritz schwanger und im Januar '45 wurde geheiratet, und zwar im Sauerland, wo man bei Verwandten Unterschlupf gefunden hatte, nachdem man dann doch mal komplett ausgebombt worden war. Nach der Heirat ging natürlich nichts mehr zwischen Omma Luise und Willy Abromeit, denn Oppa Fritz verschwand zwar für einige Zeit in amerikanischer Gefangenschaft, tauchte aber '48 wieder auf, und das war nicht die Zeit, in der man als Frau sagte, ich will einen anderen, also hangelte man sich durch siebenundvierzig Jahre Ehe und fuhr zwischendurch in die Berge oder an die See, aber nicht zu weit weg, weil man zu weit weg dem Essen nicht trauen konnte.
So hängt alles irgendwie zusammen, denkt Stefan, man könnte glatt zum Buddhisten werden. Viel zu lange steht er jetzt schon im Flur und horcht. Denkt sich auch das Haus und lässt es irgendwo knacken, also betritt Stefan das seit zirka 1973 gelb gekachelte Bad und klemmt seinen Kulturbeutel hinter den Wasserhahn. Eine Dusche gibt es hier immer noch nicht. Ebenso wenig ein Fenster. Wie man das früher hat bauen können, wird ihm immer ein Rätsel bleiben, Badezimmer ohne Fenster, nur mit einem Gitter in der Wand über dem Klo, knapp unter der Decke, ein Gitter, in dem sich dicke Staubflocken sammeln. Über dem Waschbecken ein Spiegelschrank von Alibert, neben dem Wasserhahn eine Seifenschale mit einem Stück Industrieseife, die Onkel Hermann vor Jahren zentnerweise im Keller eingelagert hat. Immerhin gönnte er sich irgendwann normales Klopapier, wenn auch nur zweilagig, aber wenigstens nicht mehr dieses graue, harte Zeug, mit dem man sich früher immer den Arsch aufgerissen hat.
Stefan steigt in die Wanne und geht in die Hocke. Er nimmt die Handbrause, dreht das warme Wasser auf, mischt es mit kaltem und duscht sich, so gut es geht, ohne das ganze Bad unter Wasser zu setzen. Er benutzt die Seife für den Körper und das ockerfarbene Schampong für die Haare. Ja, er denkt Schampong. Wie Pafföng und Grateng und Restorang.
Als er zurück in sein Zimmer kommt, vibriert sein Handy. Er kann sich denken, wer das ist, und zieht sich erst mal in aller Ruhe an. Dann sucht er seine Uhr. Ohne Uhr ist er aufgeschmissen. Er hat kein Zeitgefühl. Hell und dunkel, Tag und Nacht, das kann er auseinanderhalten, aber damit hat es sich auch schon. Er ist kein Pfadfinder, der am Stand der Sonne die Zeit auf fünf Sekunden genau eingrenzen kann, und weiß auch nicht, auf welcher Seite des Baumes das Moos wächst und wie einem das helfen kann, wenn man sich verlaufen hat. Überhaupt pflegt er ein eher angespanntes Verhältnis zur Natur. Diese ständige An-die-Isar-Rennerei, diese bescheuerten Fahrten in die Alpen wie der letzte Familiendepp, da kann man sich ja gleich irgendein Zeug mit Hirschhornknöpfen zulegen oder einen Hut mit einem Rasierpinsel dran. Außerdem heißt Natur ja immer auch Insekten und Gliedertiere, wie etwa Spinnen, die absolut verzichtbarsten Tiere auf der ganzen Welt. Na gut, die fressen Fliegen, aber mit Fliegen hat Stefan kein Problem. Lieber sechs Fliegen, die um eine Lampe kreisen, als eine Spinne, die hinterhältig in der Ecke hockt. Er hasst diese Biester und damit fertig, ja er hat sogar, wenn er ehrlich ist, Angst vor ihnen, und dagegen helfen auch so rationale Argumente nichts, wie, Spinnen seien nicht nur sehr nützlich, sondern auch extrem harmlos, jedenfalls diejenigen, die in unseren Breiten vorkommen, denn mit Vernunft hat das natürlich nichts zu tun. Es ist schon peinlich wenn einem Kolleginnen und Kollegen, die ansonsten gern die irrationale Emotionskarte spielen, wenn es um schwierige Rollen geht, beim Thema Spinnen plötzlich mit Vernunft kommen.
Das Telefon vibriert schon wieder, aber jetzt muss er erst mal los und Brötchen besorgen und dann zu Omma Luise, und dann ruft er vielleicht mal in München an. Klar, sagt er sich, man soll so was nicht aufschieben, aber man soll auch gesünder leben und immer ehrlich sein und sich nicht so oft aufregen, aber das haut ja auch alles nicht hin, also geht er runter und tritt auf die Straße.
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© 2012, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Als er aufwacht, kommt ihm alles sehr klein vor. Auch in der Nacht hatte er diesen Eindruck schon,
aber da hat er nicht so genau hingesehen. Es war dunkel, nur die Dielenlampe warf einen fahlen Kegel hier herein. Stefan zog sich schnell um und fiel ins Bett, einigermaßen angetrunken, weil er sich im Bordbistro die anderthalb Stunden Verspätung hatte schöntrinken müssen, die der Zug auf seiner Strecke von München hierher, nach Hause, zusammengefahren hatte. Außerdem hatte er getrunken, weil er sich kurz vor Aufbruch noch mit Anka gestritten hatte, die nicht verstehen konnte, weshalb er sie an diesem Wochenende nicht dabeihaben wollte, und er ihr zum x-ten Male hatte erklären müssen, dass er lauter Leute von früher treffen und über alte Zeiten reden würde, sodass sie sich elendiglich langweilen würde, was sie nicht glauben wollte, und es war ja auch tatsächlich nur die halbe Wahrheit.
Es schmerzt ihn, dass er Onkel Hermanns Beerdigung verpasst hat, die schon am Donnerstag gewesen ist, aber da hatte Stefan abends noch Vorstellung, sodass er erst am Freitag fahren konnte. Zwar ist die Beerdigung am Donnerstagvormittag gewesen, aber er hat so kurzfristig keinen Flug mehr bekommen, der ihn rechtzeitig zur Vorstellung nach München zurückgebracht hätte, und die Vorstellung ausfallen zu lassen war keine Option. Er hat Kollegen gesehen, die auf der Bühne gestanden haben, obwohl der Vater oder die Mutter am gleichen Tag überraschend gestorben waren, und wenn er ehrlich ist, hat er Onkel Hermann immer gemocht, ihm aber nie so richtig nahegestanden.
Freitag etwas zeitiger loszufahren war nicht möglich, da Anka ihn darauf festgenagelt hatte, am frühen Abend wenigstens noch einen Happen mit ihr zu essen, wenn sie schon nicht mitkommen dürfe. Das Wochenende hier mit Anka herumzulaufen wäre über seine Kräfte gegangen. Er will nichts erklären, er will niemandem irgendwelche Leute vorstellen, er will nur hier sein und erledigen, was zu erledigen ist.
Es fühlt sich ein bisschen so an, als sei Anka auch schuld daran, dass er die Beerdigung verpasst hat, obwohl das nicht stimmt, aber er hätte eben gern Onkel Hermann diese letzte Ehre erwiesen, zumal alles sicher in einem zünftigen Gelage in jener Kneipe oben am Hauptfriedhof geendet hat, der »Femlinde«, ein Name, über den Stefan sich schon vor dreißig Jahren gewundert hat, als er nach dem Begräbnis seiner Urgroßmutter mit der ganzen Familie dort gewesen ist, und eigentlich hat er immer nachschlagen wollen, was das noch gleich ist, »Ferne«, aber man kennt das ja, man nimmt sich so was vor, und wenn man dann endlich in der Nähe eines Lexikons ist oder vor dem Rechner sitzt, wo man es googeln oder bei Wikipedia nachschlagen könnte, hat man es schon wieder vergessen oder verdrängt, genauso wie man immer wieder vergisst oder verdrängt, in was für einem verdammt kleinen Zimmer man aufgewachsen ist.
Er steht nicht gleich auf, sondern nimmt sich ein paar Minuten, um anzukommen. Er will nicht hier sein, aber es geht nun mal nicht anders, und es ist nur ein Wochenende. Er muss sich mit dem Makler treffen, und der erledigt dann den Rest. Vielleicht wird Stefan dann noch mal zum Entrümpeln kommen müssen. Sicher kann man das auch über eine Firma abwickeln lassen, aber das kommt ihm nicht richtig vor, genauso wie es falsch wäre, nur mit dem Makler zu telefonieren oder das per Mail zu regeln, nein, da muss man sich mal überwinden und persönlich hier auftauchen. Vor manchen Dingen kann man sich nicht drücken, das hat er gelernt, das hat ihm sein Vater klargemacht, da muss man einfach durch.
Genauso muss er jetzt durch dieses Wochenende durch. Er kann sich nicht einfach im Haus verkriechen, den Verkauf abwickeln und am Sonntag wieder abhauen. Er wird Leuten über den Weg laufen, das ist unvermeidlich. Mit Frank Tenholt ist er fest verabredet. Also wird er wohl auch dessen Frau über den Weg laufen. Bei dem Gedanken kribbelt es kurz. Dann wären da noch Toto Starek und Diggo Decker. Typen, vor denen seine Mutter ihn immer gewarnt hat, ein zweiköpfiges Sinnbild für schlechte Gesellschaft, Typen zu denen es Stefan immer wieder hingezogen hat. Aber vielleicht sitzt Diggo ja mal wieder im Knast, oder lässt er das jetzt auch von Toto erledigen, seinem ergebenen Diener und Paladin?
Paladin. Ist das überhaupt das richtige Wort in diesem Zusammenhang? Auch das muss er mal googeln, schließlich will man nicht wie ein Idiot dastehen, wenn man so ein Wort völlig falsch benutzt. Vielleicht kann er aber auch einfach Frank Tenholt fragen, wenn er ihn später besucht. Der hat doch Geschichte studiert, der muss so etwas wissen, wahrscheinlich kann der ihm auch beim Thema »Ferne« weiterhelfen. Man muss solche Sachen klären, damit sie einem nicht das Gehirn verstopfen. In diesem Zusammenhang wäre vielleicht mal über einen Datentarif für sein schickes Mobiltelefon nachzudenken, das er sich bei der letzten Verlängerung seines Mobilfunkvertrages hat aufschwatzen lassen, mit dem er aber, wie er dem blasierten Bengel im Geschäft klarmachte, nur telefonieren wollte, woraufhin der ihn ansah, als spiele Stefan zu Hause noch Schellackplatten ab. Und es war klar, dass der Jüngling das nicht für einen sympathischen Spleen hielt. Stefan ärgerte sich am meisten darüber, dass ihn das überhaupt beschäftigte und der Blick des Bengels nicht einfach an ihm abprallte. Er hat dann, uneingestanden verunsichert, ziemlich schnell den Laden verlassen und kann deshalb bis heute mit seinem Telefon nicht ins Internet.
Seine Füße stoßen unten an. Das Konzept von Betten mit Fußende hat ihm nie eingeleuchtet. Stefan reibt sich einmal mit den Händen das Gesicht und greift nach seiner Armbanduhr auf dem Nachttisch. Einen Radiowecker mit Leuchtziffern gibt es hier nicht mehr, den hat er mitgenommen, als er auszog. Er fühlt sich etwas matt, aber das wird sich nach der ersten Tasse Kaffee erledigen. Er könnte sich unten einen kochen, doch er ist zum Frühstück mit Omma Luise verabredet, und wenn er jetzt einen Kaffee trinkt und bald darauf noch mal einen oder zwei, noch dazu das starke, fast zähflüssige Zeug, das seine Großmutter seit Jahrzehnten in sich hineinschüttet, dann wird ihm irgendwann die Pumpe galoppieren wie bei einem zünftigen Infarkt, was hier und jetzt gleich zwei Fragen aufwirft: Wie konnte Omma Luise trotz dieses Kaffees sechsundachtzig Jahre alt werden, ohne jemals Herzprobleme zu kriegen, und wann ist er eigentlich so ein Snob geworden? Schwarzen Filterkaffee, der womöglich schon eine ganze Weile auf einer Warmhalteplatte vor sich hin gammelt, empfindet Stefan mittlerweile als reines Gift.
Er nimmt frische Sachen aus dem Koffer, der geöffnet auf dem Boden unter dem Fenster liegt, vor dem alten Rippenheizkörper, den irgendein Bekannter seines Vaters installiert hat, wie das ganze Heizungssystem und wie überhaupt das ganze Haus praktisch in Eigenarbeit gebaut oder jedenfalls umgebaut worden ist, da ja hier jeder einen kennt, der noch zwei kennt, die bestimmte Sachen installieren oder reparieren oder besorgen können, das geht praktisch alles unter der Hand, die Welt besteht aus Handwerkern. Stefan nimmt sich ein schwarzes T-Shirt, legt es aber gleich wieder zurück. Nicht so künstlermäßig rüberkommen, denkt er sich, mit so einem schwarzen T-Shirt mit Rundhalsausschnitt sieht man doch gleich wie ein Künstler aus, und wer weiß, wie das hier ankommt. Wahrscheinlich macht sich andererseits niemand Gedanken darüber, also nimmt er das T-Shirt dann doch, dazu die Jeans und eine frische Unterhose, die nun gar nicht künstlermäßig ist, sondern einfach so ein Slip, und wer soll den heute schon zu sehen bekommen.
Das ist der Moment, in dem er zum ersten Mal an Charlie denkt, jedenfalls heute, aber wegen ihr ist er ja gar nicht hier, sondern wegen des Termins mit dem Makler. Immerhin, keine zehn Minuten hat es gedauert, denkt er, bis ich das erste Mal an sie gedacht habe, aber das geht auch wieder vorbei.
Den Termin mit dem Makler hinter sich bringen, sich mit ein, zwei Leuten treffen, die es verdienen, und dann wieder abhauen - das war der Plan. Schnell rein, schnell raus, keine Gefangenen.
Ganze zwei Mal ist er in den letzten zehn Jahren hier gewesen, und das auch nur wegen Omma Luise. Hat bei einem Kollegen in Essen übernachtet, sich wie ein Teilnehmer an einem Zeugenschutzprogramm in seine Heimatstadt geschlichen, bei Omma Luise Kuchen gegessen und ist wieder verschwunden. Telefoniert aber hat er immer wieder mit ihr. Mindestens einmal die Woche. Hat sich angehört, was ihre Beine und ihr Rücken machen und dass sie jetzt langsam Falten kriege, als würde sie alt. »Erst Mitte achtzig und schon Falten!«, hat Stefan mal gesagt, aber Omma Luise hat nicht gelacht. Einmal ist sie mit dem Zug nach München gekommen und hat eine seiner Vorstellungen besucht. Stefan brachte sie in einem sehr schicken Hotel unter, weil er ihr seine Bruchbude nicht zumuten wollte.
Der Makler konnte erst am späten Nachmittag und meinte, Stefan könne froh sein, am Wochenende überhaupt einen Termin zu bekommen, und der Ton, den der Typ am Telefon anschlug, machte Stefan mal wieder klar, dass er mit solchen Leuten eigentlich nichts zu tun haben wollte. Das hier ist kein Renommierprojekt, nur ein altes Bergarbeiter-Reihenhaus.
Bestimmt eine halbe Stunde hat er am letzten Dienstag mit Omma Luise telefoniert, die anrief, weil Onkel Hermann gestorben war. Eine halbe Stunde, in der ihm klar wurde, wie er sie vermisste. Sein schlechtes Gewissen fraß sich durch ihn hindurch wie ein Parasit. Wieder einer tot, sagte sie, bald bin ich dran. Nein, nein, Omma Luise, du lebst ewig, keiner kriegt dich kaputt, nicht mal der Sensenmann, aber sie lachte nur und sagte, er sei eben zu jung für so was, er habe noch so viel Zeit und müsse sich diese Gedanken nicht machen.
Und dann ist sie ins Erzählen gekommen. Nur ein paar Monate zuvor ist der Erich Grothemann unter die Erde gekommen, der alte Kommunist, der noch mit Omma Luises Vater, Otto Horstkämper, im Männergesangsverein gewesen war, jenem Verein, der sich im Hinterzimmer von Haus Rabe traf, der Kneipe, die Charlies Großvater Willy Abromeit, auch bekannt als Der Masurische Hammer, Anfang der Sechziger von Willi Jebollek übernommen hatte, dem verschwiegenen Wirt mit dem gebrochenen Herzen, und als Stefan all diese Namen gehört und gedacht hat, Horstkämper nämlich und Abromeit und Jebollek und Hermann Ellbringe und Wolfgang Mehls und Rosi Rabe und noch einige mehr, da wehte ihn so was an.
Auch an die Kneipe hat er sich erinnert, als er mit Omma Luise telefonierte. Nicht geringe Teile seiner Kindheit hat er dort verbracht, ist mit Charlie unter den Tischen herumgekrochen, hat später mit ihr hinterm Tresen ausgeholfen, hat den Männern zugehört, wie sie über Gott und die Welt und die Frauen und den Fußball herzogen. Er hat auch gesehen, wie sie sich geprügelt haben, hat gesehen, wie sein Onkel Joachim kräftig ausgeteilt und dabei gelacht hat. Nur wenn Messer ins Spiel kamen, war es nicht mehr lustig.
Und dann erzählte Omma Luise auch noch, dass ausgerechnet an diesem Sonntag die Autobahn gesperrt würde, sechzig Kilometer Tische und Aktionen, weil man ja jetzt Kulturhauptstadt war, und da dachte er dann doch, dass er sich das vielleicht nicht entgehen lassen sollte. Mal abgesehen davon, dass es dann nicht so aussah, als wolle er nur möglichst schnell wieder weg und den Leuten aus dem Weg gehen, weil er sich für was Besseres hielt, und man konnte sich ja einiges zuschulden kommen lassen, aber sich für was Besseres halten, das ging nun gar nicht. Also hängte er den Sonntag noch dran und buchte eine Fahrkarte für einen Zug am Abend.
Im Flur bleibt er kurz stehen und horcht. Nichts. Es ist still. Es war nie still in diesem Haus, denkt er, irgendwo wurde immer gemacht und getan und geklappert und gehämmert und geschraubt, oder es wurde gerülpst, gefurzt, gesungen, gelacht, geweint und geschrien, und wenn die Bewohner mal geschwiegen haben, hat das Haus seine Meinung gesagt und geächzt und geknackt und gestöhnt oder geseufzt, das war nicht immer so gut zu unterscheiden. Jetzt aber ist es still. Es ist so viel vorbei. Sogar das Haus hält die Klappe.
Das Herz des Hauses ist immer die Küche gewesen. Diese Familie hat immer aus Küchenmenschen bestanden, Menschen, die sich am liebsten in der Küche aufhalten, wenn sie ungestört und unbeobachtet sein wollen. Das Wohnzimmer ist zum Fernsehen und für den Besuch. Alle wichtigen Gespräche mit seinen Eltern haben in der Küche stattgefunden: Standpauken, Todesnachrichten und der Vortrag darüber, wo die kleinen Kinder herkommen, vom Storch nämlich, der einem Nachwuchs bringt, wenn man Zucker auf die Fensterbank legt. Na gut, auch die volle Wahrheit über Mamas Scheide und Pappas Penis ist in der Küche enthüllt worden, obwohl sich das alles völlig unglaubwürdig anhörte, aber da musste man durch, als Kind, das es nicht glauben, und als Vater, der es eigentlich nicht erzählen wollte.
Als Stefans Eltern Ende der Neunziger im Abstand von zwei Jahren starben, zog Onkel Hermann hier ein, weil seine Wohnung luxussaniert wurde und Stefan es damals nicht über sich brachte, das Haus zu verkaufen, und eigentlich war diese Lösung nur für den Übergang gedacht. Daraus wurden dann doch zehn Jahre, aber jetzt ist Schicht am Schacht, Ende Gelände beziehungsweise der Fahnenstange, Sense, Aus, Finito. Das Haus wird nicht viel bringen. Vielleicht gerade genug, dass sich Stefan keine Gedanken machen muss, selbst wenn das mit dem Vorsprechen am Montag nicht klappen sollte.
Stefan wollte von Onkel Hermann keine Miete haben, aber das ließ der Onkel - der eigentlich kein richtiger Onkel war, sondern nur ein »Nenn-Onkel« - nicht zu, also zahlte Onkel Hermann ein bisschen was und sorgte dafür, dass das Haus in Schuss blieb. Kleinere Reparaturen erledigte er bis zuletzt selbst, für den Rest hatte er einen Haufen Bekannte. Und wieder bleibt Stefan bei dem Gedanken hängen, dass diese Welt hier aus Handwerkern besteht, eine Welt, in der jeder jeden schon ewig kennt, nein, sogar länger als ewig, ein Leben lang nämlich, und man kann es glauben oder nicht, aber Onkel Hermann ist mit dem Schraubenzieher in der Hand gestorben, einfach umgefallen, auf dem Weg vom Werkzeugkasten in der kleinen Kammer in der Küche, irgendwohin, wo was wackelte. Ein schöner Tod, der beste, den man sich vorstellen kann, kein langes Dahinsiechen, sondern schnell und schmerzlos, in dem Gefühl, noch fix etwas Sinnvolles zu tun, etwas zu ar
beiten, nicht so ein beschissener Tod, wie er Stefans Eltern ereilt hat, ein sadistischer, heimtückischer, folternder Tod, eine Drecksau.
Eigentlich ist Onkel Hermann gar nicht so dicke mit Stefans Vater und Großvater gewesen, sondern mehr mit Wolfgang Mehls, praktisch unzertrennlich waren die beiden. Dessen Schwester Paula war nicht nur Charlies Großmutter, sondern auch die beste Freundin von Omma Luise, obwohl sie beide hinter dem gleichen Mann her waren, Willy Abromeit, dem Masurischen Hammer, bisweilen Preisboxer auf der Kirmes, ansonsten aber, obwohl eins-neunzig, im Pütt, bevor er dann Wirt wurde. Bessere Schangsen bei Willy Abromeit hat Omma Luise gehabt, aber die war schon verlobt mit Fritz Borchardt, später Stefans Großvater mütterlicherseits. Und dann wurde Omma Luise '44 von Oppa Fritz schwanger und im Januar '45 wurde geheiratet, und zwar im Sauerland, wo man bei Verwandten Unterschlupf gefunden hatte, nachdem man dann doch mal komplett ausgebombt worden war. Nach der Heirat ging natürlich nichts mehr zwischen Omma Luise und Willy Abromeit, denn Oppa Fritz verschwand zwar für einige Zeit in amerikanischer Gefangenschaft, tauchte aber '48 wieder auf, und das war nicht die Zeit, in der man als Frau sagte, ich will einen anderen, also hangelte man sich durch siebenundvierzig Jahre Ehe und fuhr zwischendurch in die Berge oder an die See, aber nicht zu weit weg, weil man zu weit weg dem Essen nicht trauen konnte.
So hängt alles irgendwie zusammen, denkt Stefan, man könnte glatt zum Buddhisten werden. Viel zu lange steht er jetzt schon im Flur und horcht. Denkt sich auch das Haus und lässt es irgendwo knacken, also betritt Stefan das seit zirka 1973 gelb gekachelte Bad und klemmt seinen Kulturbeutel hinter den Wasserhahn. Eine Dusche gibt es hier immer noch nicht. Ebenso wenig ein Fenster. Wie man das früher hat bauen können, wird ihm immer ein Rätsel bleiben, Badezimmer ohne Fenster, nur mit einem Gitter in der Wand über dem Klo, knapp unter der Decke, ein Gitter, in dem sich dicke Staubflocken sammeln. Über dem Waschbecken ein Spiegelschrank von Alibert, neben dem Wasserhahn eine Seifenschale mit einem Stück Industrieseife, die Onkel Hermann vor Jahren zentnerweise im Keller eingelagert hat. Immerhin gönnte er sich irgendwann normales Klopapier, wenn auch nur zweilagig, aber wenigstens nicht mehr dieses graue, harte Zeug, mit dem man sich früher immer den Arsch aufgerissen hat.
Stefan steigt in die Wanne und geht in die Hocke. Er nimmt die Handbrause, dreht das warme Wasser auf, mischt es mit kaltem und duscht sich, so gut es geht, ohne das ganze Bad unter Wasser zu setzen. Er benutzt die Seife für den Körper und das ockerfarbene Schampong für die Haare. Ja, er denkt Schampong. Wie Pafföng und Grateng und Restorang.
Als er zurück in sein Zimmer kommt, vibriert sein Handy. Er kann sich denken, wer das ist, und zieht sich erst mal in aller Ruhe an. Dann sucht er seine Uhr. Ohne Uhr ist er aufgeschmissen. Er hat kein Zeitgefühl. Hell und dunkel, Tag und Nacht, das kann er auseinanderhalten, aber damit hat es sich auch schon. Er ist kein Pfadfinder, der am Stand der Sonne die Zeit auf fünf Sekunden genau eingrenzen kann, und weiß auch nicht, auf welcher Seite des Baumes das Moos wächst und wie einem das helfen kann, wenn man sich verlaufen hat. Überhaupt pflegt er ein eher angespanntes Verhältnis zur Natur. Diese ständige An-die-Isar-Rennerei, diese bescheuerten Fahrten in die Alpen wie der letzte Familiendepp, da kann man sich ja gleich irgendein Zeug mit Hirschhornknöpfen zulegen oder einen Hut mit einem Rasierpinsel dran. Außerdem heißt Natur ja immer auch Insekten und Gliedertiere, wie etwa Spinnen, die absolut verzichtbarsten Tiere auf der ganzen Welt. Na gut, die fressen Fliegen, aber mit Fliegen hat Stefan kein Problem. Lieber sechs Fliegen, die um eine Lampe kreisen, als eine Spinne, die hinterhältig in der Ecke hockt. Er hasst diese Biester und damit fertig, ja er hat sogar, wenn er ehrlich ist, Angst vor ihnen, und dagegen helfen auch so rationale Argumente nichts, wie, Spinnen seien nicht nur sehr nützlich, sondern auch extrem harmlos, jedenfalls diejenigen, die in unseren Breiten vorkommen, denn mit Vernunft hat das natürlich nichts zu tun. Es ist schon peinlich wenn einem Kolleginnen und Kollegen, die ansonsten gern die irrationale Emotionskarte spielen, wenn es um schwierige Rollen geht, beim Thema Spinnen plötzlich mit Vernunft kommen.
Das Telefon vibriert schon wieder, aber jetzt muss er erst mal los und Brötchen besorgen und dann zu Omma Luise, und dann ruft er vielleicht mal in München an. Klar, sagt er sich, man soll so was nicht aufschieben, aber man soll auch gesünder leben und immer ehrlich sein und sich nicht so oft aufregen, aber das haut ja auch alles nicht hin, also geht er runter und tritt auf die Straße.
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© 2012, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Autoren-Porträt von Frank Goosen
Frank Goosen hat neben seinen erfolgreichen Büchern, darunter »Raketenmänner«, »Sommerfest« und »Liegen lernen«, zahlreiche Kurzgeschichten undKolumnen in überregionalen Publikationen und diversen Anthologien veröffentlicht. Darüber hinaus verarbeitet er seine Texte teilweise zu Soloprogrammen, mit denen er deutschlandweit unterwegs ist. Einige seiner Bücher wurden dramatisiert oder verfilmt. Frank Goosen lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Bochum. Zuletzt erschien sein Band über »The Beatles« in der KiWi-Musikbibliothek (2020).
Bibliographische Angaben
- Autor: Frank Goosen
- 2012, 1. Auflage, 320 Seiten, Maße: 13,6 x 21,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462043862
- ISBN-13: 9783462043860
- Erscheinungsdatum: 16.02.2012
Rezension zu „Sommerfest “
»[Goosen ist] ein Mann, der die besten Heimatgeschichten des Landes erzählt. Er kann dies idiomatisch, seine Sprache ist körperlich spürbar.« taz 20120308
Pressezitat
»[Goosen ist] ein Mann, der die besten Heimatgeschichten des Landes erzählt. Er kann dies idiomatisch, seine Sprache ist körperlich spürbar.« taz 20120308
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