Spiel der Teufel
Andreas Franz - der erfolgreichste deutsche Krimi-Autor!
Die Gesamtauflage von Andreas Franz umfasst über 2,5 Millionen.
Der Kieler Kommissar Sören Henning und seine Kollegin Lisa Santos sind fassungslos: ihr Freund und...
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Produktinformationen zu „Spiel der Teufel “
Andreas Franz - der erfolgreichste deutsche Krimi-Autor!
Die Gesamtauflage von Andreas Franz umfasst über 2,5 Millionen.
Der Kieler Kommissar Sören Henning und seine Kollegin Lisa Santos sind fassungslos: ihr Freund und Kollege Gerd Wegner soll sich umgebracht haben. Doch schnell ist klar, dass Wegner kaltschnäuzig ermordet wurde. Wer könnte ihn auf dem Gewissen haben? Und was hat sein Tod mit der Leiche der Auftragskillerin zu tun, die kurz darauf gefunden wird? Die Ermittlungen zeigen, dass Wegner offenbar ins Visier der internationalen Organmafia geraten ist.
"Beste Thrillerliteratur von einem der besten deutschen Krimischriftsteller."
Penthouse
"Deutschlands Krimi-Autor Nr. 1 hat wieder einen gnadenlos guten Bestseller geschrieben."
Neue Woche
Lese-Probe zu „Spiel der Teufel “
ANDREAS FRANZ Spiel der Teufel Kriminalroman Glaub mir, ich kenne alle, sogar den Teufel. Und soll ich dir sagen, wie er aussieht? … Wie du und ich. PROLOG St. Petersburg, November 2001 Es war kalt, als Larissa ihre Sachen packte. Kalt in der Stadt,
wo bereits im Oktober der erste Schnee gefallen war, kalt in
ihrem kärglich eingerichteten Zimmer, weil wieder einmal die
Heizung nicht funktionierte und sich seit vorgestern am Fenster
winzige Eisblumen gebildet hatten. Sie fror, obwohl sie
über der Unterwäsche eine dicke Wollstrumpfhose, Wollsocken,
eine Jeans und einen Wollpullover trug, wovon bis auf
die Jeans alles von ihrer Mutter gestrickt worden war. Ihre
Hände und ihre Nase waren von der Kälte rot. Sie hatte, als sie
ihr Elternhaus verließ, gewusst, dass es in St. Petersburg nicht
einfach werden würde, und sie hatte auch gewusst, dass sie sich
als eine junge Frau vom Lande in der Großstadt erst einmal würde zurechtfi nden müssen.
... mehr
Anfangs schien es zu klappen. Sie kam mit dem Geld recht gut
über die Runden, doch bereits nach vier Monaten waren ihre
wenigen Ersparnisse aufgebraucht, und sie hatte überlegt, ob es
nicht besser wäre, das Studium abzubrechen und wieder nach
Hause zu fahren. Aber sie wollte unbedingt ein besseres Leben
führen, ein besseres als ihre Eltern, und vielleicht würde sie es
sogar schaffen, ihnen eines Tages hin und wieder etwas Geld zukommen zu lassen.
Doch jeder Tag wurde zu einem Kampf ums Überleben. Sie
musste die Miete zahlen, die ihre herrische Vermieterin pünktlich
an jedem Ersten des Monats einforderte, sie musste essen,
was oft nicht mehr als trocken Brot und ein paar Kartoffeln
waren. Seit sie in der großen Stadt lebte, hatte sie sich nichts
Neues zum Anziehen zugelegt. Sie ging sehr sorgsam mit ihrer
Kleidung um, die ihre Eltern ihr zum Abschied gekauft hatten,
wofür sie ihr letztes Geld zusammengekratzt hatten. Aber sie
waren stolz auf Larissa und ihren Ehrgeiz und hofften, sie würde es irgendwann besser haben.
Es dauerte nicht lange, bis Larissa einen Aushilfsjob in einem
Restaurant fand, wo sie als Spülerin ein paar Rubel hinzuverdiente,
und später in einem Sexshop, bis sie von dem Besitzer
gefragt wurde, ob sie nicht lieber mehr Geld hätte. So hübsch
und attraktiv, wie sie sei, wäre es ein Leichtes, in dieser teuren
Stadt angenehm und ohne Sorgen zu leben. Sie wusste, was er
damit meinte, bat jedoch um Bedenkzeit. Nach ein paar Tagen
hatte sie sich entschieden, ihren Körper niemals zu verkaufen,
lieber würde sie sterben. Doch bereits am Abend nach ihrem
Entschluss, den sie dem Sexshopbesitzer mitteilte, standen, als
sie sich bereits fürs Bett fertigmachen wollte, drei Polizisten
vor ihrer Tür, zerrten sie wortlos die Treppe hinunter und in
einen Streifenwagen und vergewaltigten sie mehrfach an einer
dunklen Stelle am Ufer der Newa. Die Männer hatten die ganze
Zeit über kaum ein Wort gesprochen, sie hatten nur ein
paarmal hämisch gelacht, und als sie fertig waren, hatten sie
Larissa einfach im Dreck liegenlassen und waren davongefahren,
nicht ohne ihr vorher deutlich zu verstehen zu geben,
dass sie ab sofort jeden Abend zwischen zwanzig Uhr und
zwei Uhr an einer bestimmten Stelle zu stehen und so viele
Freier zu bedienen habe, wie nach ihr verlangten. Sie hatten
ihren Körper misshandelt und missbraucht, aber sie hatten
nicht Larissas Willen und Stolz gebrochen, obwohl sie viele
Tage benötigte, um sich physisch von dem Geschehenen zu erholen.
Seit jener verhängnisvollen Nacht stand sie selbst in der größten
Kälte allabendlich an der Straße und erfüllte Freiern die
ausgefallensten und perversesten Wünsche, doch das Geld, das
sie dabei verdiente, gehörte nicht ihr, nein, sie musste es bis auf
ein paar wenige Rubel an die drei Polizisten abführen. Und
wenn sie einmal keinen Freier hatte, was durchaus passierte,
kamen die drei und vergingen sich wieder an ihr als Strafe dafür, nicht genug Einsatz zu zeigen.
Larissa wusste von einigen Studienkolleginnen, dass sie das
gleiche Schicksal erlitten wie sie, und man munkelte, dass fast
die Hälfte der Studentinnen Dinge tun musste, die sie eigentlich
nicht tun wollten. Doch dies war nur ein Gerücht. Sie
wusste aber auch, dass etliche von ihnen drogenabhängig waren
oder an der Flasche hingen, weil sie dem Druck nicht mehr
gewachsen waren. Und zwei dieser jungen Frauen hatten sich
innerhalb weniger Tage das Leben genommen.
Knapp drei Wochen waren seit der ersten Vergewaltigung vergangen,
als sie an einem Freitagmittag von ihrer Professorin in
deren Büro bestellt und ihr Tee und Gebäck angeboten wurde.
Die kleine, leicht gedrungene, aber nicht unattraktive Frau sah
Larissa mit mütterlich-gütigem Blick an und sagte lächelnd
und mit der gewohnt sanften Stimme, die sie nur manchmal
leicht erhob: »Sie werden sich fragen, warum ich Sie in mein
Büro gebeten habe. Nun, ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass
ich Sie für eine weit überdurchschnittlich talentierte Malerin
halte, für ein Ausnahmetalent, um genau zu sein. Sie können
sicher sein, dass ich das gewiss nicht jedem sage.«
Danach machte sie eine kurze Pause, die braunen Augen auf
Larissa gerichtet, deren Gesicht sich gerötet hatte, denn solche
Worte hatte sie bislang nur einmal gehört, von ihrem Lehrer in
der Schule. »Geh weg von hier«, hatte er gesagt, »hier ist nicht
der rechte Platz für eine junge und so talentierte Frau wie dich.
Du hast so viel Ausdruck in deinen Bildern, so viel Gefühl, so
viele Emotionen, du würdest dein Leben wegwerfen, wenn du
hierbleiben würdest. Geh und folge deiner Bestimmung.«
Nicht lange danach hatte sie sich auf den Weg nach St. Petersburg
gemacht, mehr als zweitausend Kilometer von zu Hause
entfernt, wo kaum jemand ein Telefon besaß, wo die meisten
Häuser noch aus Holz gebaut und die Straßen, wenn es überhaupt
welche gab, kaum als solche zu bezeichnen waren.
Aber die Illusion der schönen großen Stadt war spätestens vor
drei Wochen wie eine Seifenblase zerplatzt. Und nun saß sie
vor ihrer Professorin, die sie mit noch immer gütigem Blick ansah.
»Und ich möchte Ihnen auch sagen, dass ich St. Petersburg
nicht für den geeigneten Ort halte. Ich meine, Sie sind hier
nicht gut aufgehoben. Die Bedingungen hier sind für Sie, wenn
ich mir Ihre Akte und Ihre Herkunft anschaue, alles andere als
ideal. Aber lassen Sie mich auf den Punkt kommen, denn ich
habe gleich noch einen Termin. Was ich sagen will, ist, dass ich
Sie an einer anderen Universität unterbringen könnte, wo alles für Sie leichter wäre.«
»An einer anderen Universität? Was meinen Sie damit?«, fragte
Larissa, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Erst hatte ihr Lehrer
in ihrem Dorf gesagt, sie solle nach St. Petersburg gehen,
weil es keine Universität auf der ganzen Welt gebe, wo man
die Feinheiten des Malens besser erlernen könne. Und nun
sagte ihre Professorin, sie solle an einer anderen Universität studieren.
»Schauen Sie, in St. Petersburg gibt es nicht viele Studenten, die
ein unbeschwertes Leben führen können. Sie sind nicht allein
mit Ihrem Problem, ich kenne eine Menge anderer Studentinnen,
die sich ihren Lebensunterhalt auf geradezu menschenunwürdige
Weise verdienen müssen …« Larissa wollte gerade
etwas einwerfen, doch ihre Professorin hinderte sie mit einer
Handbewegung daran. »Lassen Sie mich bitte ausreden. Ich
möchte nicht, dass Sie in dieser Stadt kaputtgehen. Ich habe
sehr gute Beziehungen ins Ausland, besonders nach Deutschland.
Ich weiß, dass Sie recht gut Deutsch sprechen, weil ihre
Vorfahren aus Deutschland stammen und Sie zu Hause viel
Deutsch gesprochen haben und … Nun, um es kurz zu machen,
ich kann Sie an eine Universität in Berlin vermitteln, wo
Sie in Ruhe studieren können, vorausgesetzt, Sie wollen das.
Außerdem hätten Sie dort immer genug zu essen, ein schönes
Zimmer und eine nette Familie, bei der Sie wohnen würden. Es
ist eine Vorzugsbehandlung, ich weiß, aber ich weiß auch, dass
Ihr Leben zurzeit nicht gerade ein Zuckerschlecken ist …« »Was wissen Sie von mir?«
Larissas Professorin lächelte milde und gleichzeitig geheimnisvoll
und erwiderte: »Genug. Man zwingt Sie zu Dingen, die
Sie nicht tun wollen. Keine Frau will das, doch viele können
sich nicht entziehen. Viele Studentinnen sind hier gezwungen,
sich ihren Lebensunterhalt wie Sie zu verdienen. Nur leider
kann ich nicht jeder helfen«, fügte sie bedauernd hinzu. »Was
halten Sie von meinem Angebot? Ich habe erst vorhin die Anfrage
dieser Familie auf meinen Tisch bekommen«, sagte sie
und legte ein Foto und einen Brief vor Larissa, »und dabei
habe ich sofort an Sie gedacht. Sie müssen sich aber schnell
entscheiden, denn diese Familie braucht dringend Unterstützung im Haushalt.«
»Berlin? Was muss ich dafür tun?«, fragte Larissa misstrauisch.
»Das sagte ich bereits, Sie sollen im Haushalt helfen. Die Deutschen
sind reich und großzügig. Sie werden es dort gut haben.« »Und das geht einfach so?«
»Sie brauchen nur ja zu sagen, und ich werde alles Weitere in
die Wege leiten. Schon in wenigen Tagen können Sie in Berlin
sein, vorausgesetzt, Sie wollen das.«
»So schnell? Natürlich würde ich gerne, aber …«
»Was aber? Wahrscheinlich möchten Sie wissen, worin Ihre
Gegenleistung besteht. Nun, es gibt keine. Sie müssen sich lediglich
einer medizinischen Untersuchung unterziehen, das ist
alles. Ich brauche nur anzurufen, und Sie können gleich zum Arzt gehen.«
Larissa fühlte sich etwas überrumpelt und sah ihre Professorin
noch einen Tick misstrauischer an. Bisher war alles, was sie in
St. Petersburg gemacht hatte, mit Bedingungen verbunden, nur
ausgerechnet diesmal nicht? Aber die ihr gegenübersitzende
Frau, die sie seit nunmehr gut zwei Semestern kannte und vor
allem schätzte, lächelte sie nur an, aufmunternd und Hoffnung gebend.
Ȇberlegen Sie nicht zu lange, denn die Familie, die sich an
mich gewandt hat, sucht wirklich sehr dringend eine Haushaltshilfe
und jemanden, der die Kinder beaufsichtigt, wenn
die Eltern einmal weggehen wollen. Es sind Arbeiten, die Sie
sehr gut mit Ihrem Studium verbinden können. Sie wohnen
umsonst, bekommen ein großzügiges Taschengeld und Kleidung
und vielleicht noch die eine oder andere Zuwendung.
Aber ich will Sie zu nichts drängen. Nehmen Sie ein paar
Minuten auf dem Gang Platz und überlegen Sie es sich, ich
muss dringend ein Telefonat führen. Lassen Sie sich das Angebot
durch den Kopf gehen, und glauben Sie mir, ich verliere
Sie nur sehr ungern, aber ich will wirklich nur Ihr Bestes.
Sie werden es zu etwas ganz Großem bringen, das verspreche
ich Ihnen. Ihre Bilder werden eines Tages in den
größten und berühmtesten Galerien hängen. Bei Ihrem Talent. «
Larissa nickte, erhob sich und ging nach draußen. In ihrem
Kopf drehte sich ein Karussell. Sie war mit einem Mal mit etwas
konfrontiert worden, das sie in ihren kühnsten und verwegensten
Träumen nicht geträumt hätte. Deutschland, ein Land,
über das sie immer nur Gutes gehört hatte. Aber Deutschland
war weit weg, noch viel weiter weg von ihren Eltern, als sie
jetzt schon war. Doch wenn sie nach Deutschland ging, würde
sie nicht mehr mit fremden Männern schlafen müssen, sie würde
keine Gewalt mehr erleben, sie würde ihr Studium beenden
und es eines Tages geschafft haben, wie ihr Lehrer schon vor Jahren prophezeit hatte.
Nach etwa zehn Minuten wurde sie wieder in das Büro der Professorin gebeten.
»Und, sind Sie zu einem Entschluss gekommen?«
»Ich würde Ihr Angebot gerne annehmen«, antwortete Larissa
leise, obwohl sie lieber noch etwas mehr Bedenkzeit gehabt hätte.
»Höre ich da einen kleinen Zweifel in Ihrer Stimme?«
»Nein, es ist nur, dass ich überhaupt keine Gelegenheit habe,
mich von meinen Eltern zu verabschieden. Sie haben kein Telefon, und ein Brief dauert lang …«
»Wenn Sie in Berlin sind, schreiben Sie ihnen von dort. Ich
wollte Sie sowieso dringend darum bitten, mit niemandem
über unser Gespräch zu reden. Sie wissen ja, die Neider sind
überall. Und Ihre Eltern würden sich auch nur unnötige Sorgen
machen, wenn sie schon jetzt von Ihrer Entscheidung erführen.
Glauben Sie mir, es ist besser, wenn Sie fahren und ihnen
schreiben, sobald Sie in Berlin angekommen sind.« »Und wie komme ich dorthin?«
»Sie fahren mit dem Schiff und dann weiter mit dem Auto.
Aber das wird man Ihnen alles noch erklären. Vertrauen Sie mir einfach.« »Und was ist mit Papieren?«
»Auch das wird ganz unbürokratisch geregelt. Wir haben ein
Abkommen mit den deutschen Behörden. Wir leben schließlich
nicht mehr in der Sowjetunion, sondern in einem freien
Land, das in der ganzen Welt angesehen ist«, antwortete sie mit
einem warmen und weichen Lachen. »Wie gesagt, vertrauen Sie
mir einfach. Soll ich den Arzt anrufen?«
Larissa nickte. Das Telefonat war nach kaum einer Minute beendet.
»Hier ist die Adresse, es sind nur ein paar Minuten zu Fuß. Die
Untersuchung wird ein wenig dauern, aber Sie haben ja Zeit. Alles Gute und viel Glück.«
Larissa nahm den Zettel, verabschiedete sich von ihrer Professorin
und ging zu der angegebenen Adresse. Die Untersuchung
dauerte über vier Stunden, bis der Arzt ihr mitteilte, dass sie
kerngesund sei und bedenkenlos nach Deutschland fahren
könne. Zum Abschluss sagte er, dass in zwei Stunden eine Frau
bei ihr vorbeikomme, um ihr letzte Instruktionen zu erteilen.
Die Frau, die sich nur mit »Marina« vorstellte und groß und
schlank und kaum älter als Larissa war, kam gegen zweiundzwanzig
Uhr in das kleine Zimmer, in dem Larissa hauste. Sie
unterhielten sich etwa eine halbe Stunde, wobei die meiste Zeit
die junge Frau sprach. Larissa solle ihre Sachen am Samstagnachmittag
gepackt haben, am Abend um Punkt einundzwanzig
Uhr stehe ein Wagen vor dem Haus, um sie abzuholen.
Samstag, das war bereits morgen, also viel schneller, als ihre Professorin ihr gesagt hatte.
Als Larissa ihre wenigen Habseligkeiten gepackt hatte, sah sie
sich noch einmal in dem kleinen Zimmer um, dachte an ihre
Eltern, die beiden jüngeren Geschwister und an ihre ältere
Schwester, die als Polizistin in Moskau arbeitete. Sie hätte gerne
noch einmal mit ihr gesprochen, denn es gab niemanden, zu
dem sie einen engeren Kontakt hatte, auch wenn sie ihr von der
Vergewaltigung und Misshandlung und den vielen Demütigungen
nichts erzählt hatte, zu sehr schämte sie sich dafür, und
Larissa wollte auch nicht, dass sie sich Sorgen machte oder gar
nach St. Petersburg kam. Sie liebte ihre Schwester, doch sie
würde sich an die Anweisungen halten und ihr erst schreiben,
wenn sie in Berlin war. Und wenn die Familie so nett wie auf
dem Foto war, würde sie vielleicht sogar mit ihr telefonieren dürfen.
Larissa wartete ungeduldig, bis es einundzwanzig Uhr war. Sie
hatte Hunger und Durst und fror erbärmlich, ging mehr als
zwei Stunden im Zimmer auf und ab, rieb sich immer wieder
die mit dicken Handschuhen bedeckten Hände oder wärmte
ihr Gesicht mit ihrem Atem, den sie in die Handfl ächen blies, die sie dicht vors Gesicht hielt.
Ein paar Minuten vor neun ging sie nach unten, wo bereits das
Auto stand, das sie zum Hafen bringen würde. Und schon in
zwei Tagen würde sie in Berlin sein, bei einer Familie, die sie
nur von einem Foto kannte. Nette Menschen, mit zwei kleinen
Kindern. Und doch beschlich sie ein mulmiges Gefühl, als sie
in das Auto stieg, wo noch zwei andere junge Frauen außer
dem Fahrer saßen. Auf dem Weg zum Hafen wurde kein Wort
gewechselt, es herrschte eine beinahe beängstigende Stille. Larissa
war nervös und aufgeregt, wollte sich dies aber nicht anmerken
lassen, denn sie redete sich immer und immer wieder
ein, es habe schon alles seine Richtigkeit, auch wenn ihr Bauch
ihr etwas anderes sagte. Doch sie wollte nicht darauf hören.
Ihre Gedanken waren bei ihrer Familie, ihrem Vater, der als
Lehrer an einer kleinen Dorfschule gerade so viel verdiente,
dass sie immer genug zu essen hatten, und bei ihrer Schwester,
die es als Erste geschafft hatte, aus den ärmlichen Verhältnissen
auszubrechen und eine einigermaßen gutbezahlte Anstellung
bei der Polizei in Moskau hatte. In zwei, spätestens drei Tagen
würde Larissa mit ihr Kontakt aufnehmen und ihr eine Menge mitzuteilen haben.
Am Hafen angelangt, standen dort bereits fünf weitere Fahrzeuge,
zwei Lieferwagen, ein Mercedes und zwei Polizeiwagen.
Die Türen der Lieferwagen wurden geöffnet, und etwa
dreißig Personen stiegen aus, die jüngste vielleicht fünf Jahre
alt, die älteste höchstens fünfundzwanzig. Nur die Fahrer waren älter.
Sie wurden zu einem Frachter geführt. Das mulmige Gefühl
wurde immer intensiver und wandelte sich schlagartig in Angst.
Am liebsten wäre Larissa davongerannt, doch um die Gruppe
herum hatten sich mehrere Männer geschart, die wie Bluthunde
aufzupassen schienen, dass auch jeder auf direktem Weg auf
den Frachter ging. Unter diesen Männern befanden sich auch
sechs Polizisten, und drei von ihnen waren ebenjene, die Larissa
in den letzten Wochen mehrfach vergewaltigt hatten. Einer
von ihnen grinste und zwinkerte ihr hämisch zu, während er
sich eine Zigarette anzündete. Zwei kleine Kinder weinten und
hielten sich bei den Händen, eine junge Frau begann plötzlich
hysterisch zu schreien, bis einer der Männer sie kräftig am Arm
packte, kurz schüttelte und ihr etwas ins Ohr fl üsterte, das Larissa
jedoch nicht verstand, weil sie zu weit weg war. Die Frau
hatte vor Angst geweitete Augen und verstummte. Vier weitere
Polizisten tauchten wie aus dem Nichts auf, unterhielten sich
mit einem der Männer, und ein dicker Umschlag wechselte die Besitzer.
Es war ein riesiges Schiff mit vielen Containern. Zu einem davon
wurden sie gebracht, wie eine Herde Schweine, die zur
Schlachtbank geführt wurde. In dem riesigen Container, der
von einer matten Glühbirne nur spärlich erhellt wurde, standen
zwei Männer und zwei Frauen, von denen eine Larissa nur
zu gut kannte – ihre Professorin, in deren Augen jetzt aber
nichts Gütiges und Mütterliches mehr war. Sie runzelte lediglich
die Stirn, als Larissa sie hilfl os und fragend ansah. Rund
um die Wände waren Liegen aufgestellt, in der Mitte des kalten
Stahlwürfels war ein Tisch mit gefüllten Gläsern darauf. Die
andere Frau sagte, dass jeder ein Glas mit der klaren Flüssigkeit
trinken solle, es erleichtere die Reise. Als eine junge Frau, fast
noch ein Mädchen, sich weigerte und fragte, was das für ein
Getränk sei, wurde sie nur angeherrscht, dies sei nicht der geeignete
Ort, um Fragen zu stellen. Nachdem jeder sein Glas
leergetrunken hatte, wurden sie in unmissverständlichem Befehlston
gebeten, sich auf eine der Liegen zu legen. Larissa
wurde wie allen andern auch erst etwas schwindlig, schließlich
drehte sich alles um sie. Sie bekam kaum noch mit, wie die
Frauen den Container verließen, die Männer jedoch blieben.
Die Stahltür wurde mit einem lauten Knall zugeschoben und
von innen verriegelt. Larissa spürte nur noch, wie ihr etwas in
die Armvene injiziert wurde. Sie schlief ein.
Anfangs schien es zu klappen. Sie kam mit dem Geld recht gut
über die Runden, doch bereits nach vier Monaten waren ihre
wenigen Ersparnisse aufgebraucht, und sie hatte überlegt, ob es
nicht besser wäre, das Studium abzubrechen und wieder nach
Hause zu fahren. Aber sie wollte unbedingt ein besseres Leben
führen, ein besseres als ihre Eltern, und vielleicht würde sie es
sogar schaffen, ihnen eines Tages hin und wieder etwas Geld zukommen zu lassen.
Doch jeder Tag wurde zu einem Kampf ums Überleben. Sie
musste die Miete zahlen, die ihre herrische Vermieterin pünktlich
an jedem Ersten des Monats einforderte, sie musste essen,
was oft nicht mehr als trocken Brot und ein paar Kartoffeln
waren. Seit sie in der großen Stadt lebte, hatte sie sich nichts
Neues zum Anziehen zugelegt. Sie ging sehr sorgsam mit ihrer
Kleidung um, die ihre Eltern ihr zum Abschied gekauft hatten,
wofür sie ihr letztes Geld zusammengekratzt hatten. Aber sie
waren stolz auf Larissa und ihren Ehrgeiz und hofften, sie würde es irgendwann besser haben.
Es dauerte nicht lange, bis Larissa einen Aushilfsjob in einem
Restaurant fand, wo sie als Spülerin ein paar Rubel hinzuverdiente,
und später in einem Sexshop, bis sie von dem Besitzer
gefragt wurde, ob sie nicht lieber mehr Geld hätte. So hübsch
und attraktiv, wie sie sei, wäre es ein Leichtes, in dieser teuren
Stadt angenehm und ohne Sorgen zu leben. Sie wusste, was er
damit meinte, bat jedoch um Bedenkzeit. Nach ein paar Tagen
hatte sie sich entschieden, ihren Körper niemals zu verkaufen,
lieber würde sie sterben. Doch bereits am Abend nach ihrem
Entschluss, den sie dem Sexshopbesitzer mitteilte, standen, als
sie sich bereits fürs Bett fertigmachen wollte, drei Polizisten
vor ihrer Tür, zerrten sie wortlos die Treppe hinunter und in
einen Streifenwagen und vergewaltigten sie mehrfach an einer
dunklen Stelle am Ufer der Newa. Die Männer hatten die ganze
Zeit über kaum ein Wort gesprochen, sie hatten nur ein
paarmal hämisch gelacht, und als sie fertig waren, hatten sie
Larissa einfach im Dreck liegenlassen und waren davongefahren,
nicht ohne ihr vorher deutlich zu verstehen zu geben,
dass sie ab sofort jeden Abend zwischen zwanzig Uhr und
zwei Uhr an einer bestimmten Stelle zu stehen und so viele
Freier zu bedienen habe, wie nach ihr verlangten. Sie hatten
ihren Körper misshandelt und missbraucht, aber sie hatten
nicht Larissas Willen und Stolz gebrochen, obwohl sie viele
Tage benötigte, um sich physisch von dem Geschehenen zu erholen.
Seit jener verhängnisvollen Nacht stand sie selbst in der größten
Kälte allabendlich an der Straße und erfüllte Freiern die
ausgefallensten und perversesten Wünsche, doch das Geld, das
sie dabei verdiente, gehörte nicht ihr, nein, sie musste es bis auf
ein paar wenige Rubel an die drei Polizisten abführen. Und
wenn sie einmal keinen Freier hatte, was durchaus passierte,
kamen die drei und vergingen sich wieder an ihr als Strafe dafür, nicht genug Einsatz zu zeigen.
Larissa wusste von einigen Studienkolleginnen, dass sie das
gleiche Schicksal erlitten wie sie, und man munkelte, dass fast
die Hälfte der Studentinnen Dinge tun musste, die sie eigentlich
nicht tun wollten. Doch dies war nur ein Gerücht. Sie
wusste aber auch, dass etliche von ihnen drogenabhängig waren
oder an der Flasche hingen, weil sie dem Druck nicht mehr
gewachsen waren. Und zwei dieser jungen Frauen hatten sich
innerhalb weniger Tage das Leben genommen.
Knapp drei Wochen waren seit der ersten Vergewaltigung vergangen,
als sie an einem Freitagmittag von ihrer Professorin in
deren Büro bestellt und ihr Tee und Gebäck angeboten wurde.
Die kleine, leicht gedrungene, aber nicht unattraktive Frau sah
Larissa mit mütterlich-gütigem Blick an und sagte lächelnd
und mit der gewohnt sanften Stimme, die sie nur manchmal
leicht erhob: »Sie werden sich fragen, warum ich Sie in mein
Büro gebeten habe. Nun, ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass
ich Sie für eine weit überdurchschnittlich talentierte Malerin
halte, für ein Ausnahmetalent, um genau zu sein. Sie können
sicher sein, dass ich das gewiss nicht jedem sage.«
Danach machte sie eine kurze Pause, die braunen Augen auf
Larissa gerichtet, deren Gesicht sich gerötet hatte, denn solche
Worte hatte sie bislang nur einmal gehört, von ihrem Lehrer in
der Schule. »Geh weg von hier«, hatte er gesagt, »hier ist nicht
der rechte Platz für eine junge und so talentierte Frau wie dich.
Du hast so viel Ausdruck in deinen Bildern, so viel Gefühl, so
viele Emotionen, du würdest dein Leben wegwerfen, wenn du
hierbleiben würdest. Geh und folge deiner Bestimmung.«
Nicht lange danach hatte sie sich auf den Weg nach St. Petersburg
gemacht, mehr als zweitausend Kilometer von zu Hause
entfernt, wo kaum jemand ein Telefon besaß, wo die meisten
Häuser noch aus Holz gebaut und die Straßen, wenn es überhaupt
welche gab, kaum als solche zu bezeichnen waren.
Aber die Illusion der schönen großen Stadt war spätestens vor
drei Wochen wie eine Seifenblase zerplatzt. Und nun saß sie
vor ihrer Professorin, die sie mit noch immer gütigem Blick ansah.
»Und ich möchte Ihnen auch sagen, dass ich St. Petersburg
nicht für den geeigneten Ort halte. Ich meine, Sie sind hier
nicht gut aufgehoben. Die Bedingungen hier sind für Sie, wenn
ich mir Ihre Akte und Ihre Herkunft anschaue, alles andere als
ideal. Aber lassen Sie mich auf den Punkt kommen, denn ich
habe gleich noch einen Termin. Was ich sagen will, ist, dass ich
Sie an einer anderen Universität unterbringen könnte, wo alles für Sie leichter wäre.«
»An einer anderen Universität? Was meinen Sie damit?«, fragte
Larissa, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Erst hatte ihr Lehrer
in ihrem Dorf gesagt, sie solle nach St. Petersburg gehen,
weil es keine Universität auf der ganzen Welt gebe, wo man
die Feinheiten des Malens besser erlernen könne. Und nun
sagte ihre Professorin, sie solle an einer anderen Universität studieren.
»Schauen Sie, in St. Petersburg gibt es nicht viele Studenten, die
ein unbeschwertes Leben führen können. Sie sind nicht allein
mit Ihrem Problem, ich kenne eine Menge anderer Studentinnen,
die sich ihren Lebensunterhalt auf geradezu menschenunwürdige
Weise verdienen müssen …« Larissa wollte gerade
etwas einwerfen, doch ihre Professorin hinderte sie mit einer
Handbewegung daran. »Lassen Sie mich bitte ausreden. Ich
möchte nicht, dass Sie in dieser Stadt kaputtgehen. Ich habe
sehr gute Beziehungen ins Ausland, besonders nach Deutschland.
Ich weiß, dass Sie recht gut Deutsch sprechen, weil ihre
Vorfahren aus Deutschland stammen und Sie zu Hause viel
Deutsch gesprochen haben und … Nun, um es kurz zu machen,
ich kann Sie an eine Universität in Berlin vermitteln, wo
Sie in Ruhe studieren können, vorausgesetzt, Sie wollen das.
Außerdem hätten Sie dort immer genug zu essen, ein schönes
Zimmer und eine nette Familie, bei der Sie wohnen würden. Es
ist eine Vorzugsbehandlung, ich weiß, aber ich weiß auch, dass
Ihr Leben zurzeit nicht gerade ein Zuckerschlecken ist …« »Was wissen Sie von mir?«
Larissas Professorin lächelte milde und gleichzeitig geheimnisvoll
und erwiderte: »Genug. Man zwingt Sie zu Dingen, die
Sie nicht tun wollen. Keine Frau will das, doch viele können
sich nicht entziehen. Viele Studentinnen sind hier gezwungen,
sich ihren Lebensunterhalt wie Sie zu verdienen. Nur leider
kann ich nicht jeder helfen«, fügte sie bedauernd hinzu. »Was
halten Sie von meinem Angebot? Ich habe erst vorhin die Anfrage
dieser Familie auf meinen Tisch bekommen«, sagte sie
und legte ein Foto und einen Brief vor Larissa, »und dabei
habe ich sofort an Sie gedacht. Sie müssen sich aber schnell
entscheiden, denn diese Familie braucht dringend Unterstützung im Haushalt.«
»Berlin? Was muss ich dafür tun?«, fragte Larissa misstrauisch.
»Das sagte ich bereits, Sie sollen im Haushalt helfen. Die Deutschen
sind reich und großzügig. Sie werden es dort gut haben.« »Und das geht einfach so?«
»Sie brauchen nur ja zu sagen, und ich werde alles Weitere in
die Wege leiten. Schon in wenigen Tagen können Sie in Berlin
sein, vorausgesetzt, Sie wollen das.«
»So schnell? Natürlich würde ich gerne, aber …«
»Was aber? Wahrscheinlich möchten Sie wissen, worin Ihre
Gegenleistung besteht. Nun, es gibt keine. Sie müssen sich lediglich
einer medizinischen Untersuchung unterziehen, das ist
alles. Ich brauche nur anzurufen, und Sie können gleich zum Arzt gehen.«
Larissa fühlte sich etwas überrumpelt und sah ihre Professorin
noch einen Tick misstrauischer an. Bisher war alles, was sie in
St. Petersburg gemacht hatte, mit Bedingungen verbunden, nur
ausgerechnet diesmal nicht? Aber die ihr gegenübersitzende
Frau, die sie seit nunmehr gut zwei Semestern kannte und vor
allem schätzte, lächelte sie nur an, aufmunternd und Hoffnung gebend.
Ȇberlegen Sie nicht zu lange, denn die Familie, die sich an
mich gewandt hat, sucht wirklich sehr dringend eine Haushaltshilfe
und jemanden, der die Kinder beaufsichtigt, wenn
die Eltern einmal weggehen wollen. Es sind Arbeiten, die Sie
sehr gut mit Ihrem Studium verbinden können. Sie wohnen
umsonst, bekommen ein großzügiges Taschengeld und Kleidung
und vielleicht noch die eine oder andere Zuwendung.
Aber ich will Sie zu nichts drängen. Nehmen Sie ein paar
Minuten auf dem Gang Platz und überlegen Sie es sich, ich
muss dringend ein Telefonat führen. Lassen Sie sich das Angebot
durch den Kopf gehen, und glauben Sie mir, ich verliere
Sie nur sehr ungern, aber ich will wirklich nur Ihr Bestes.
Sie werden es zu etwas ganz Großem bringen, das verspreche
ich Ihnen. Ihre Bilder werden eines Tages in den
größten und berühmtesten Galerien hängen. Bei Ihrem Talent. «
Larissa nickte, erhob sich und ging nach draußen. In ihrem
Kopf drehte sich ein Karussell. Sie war mit einem Mal mit etwas
konfrontiert worden, das sie in ihren kühnsten und verwegensten
Träumen nicht geträumt hätte. Deutschland, ein Land,
über das sie immer nur Gutes gehört hatte. Aber Deutschland
war weit weg, noch viel weiter weg von ihren Eltern, als sie
jetzt schon war. Doch wenn sie nach Deutschland ging, würde
sie nicht mehr mit fremden Männern schlafen müssen, sie würde
keine Gewalt mehr erleben, sie würde ihr Studium beenden
und es eines Tages geschafft haben, wie ihr Lehrer schon vor Jahren prophezeit hatte.
Nach etwa zehn Minuten wurde sie wieder in das Büro der Professorin gebeten.
»Und, sind Sie zu einem Entschluss gekommen?«
»Ich würde Ihr Angebot gerne annehmen«, antwortete Larissa
leise, obwohl sie lieber noch etwas mehr Bedenkzeit gehabt hätte.
»Höre ich da einen kleinen Zweifel in Ihrer Stimme?«
»Nein, es ist nur, dass ich überhaupt keine Gelegenheit habe,
mich von meinen Eltern zu verabschieden. Sie haben kein Telefon, und ein Brief dauert lang …«
»Wenn Sie in Berlin sind, schreiben Sie ihnen von dort. Ich
wollte Sie sowieso dringend darum bitten, mit niemandem
über unser Gespräch zu reden. Sie wissen ja, die Neider sind
überall. Und Ihre Eltern würden sich auch nur unnötige Sorgen
machen, wenn sie schon jetzt von Ihrer Entscheidung erführen.
Glauben Sie mir, es ist besser, wenn Sie fahren und ihnen
schreiben, sobald Sie in Berlin angekommen sind.« »Und wie komme ich dorthin?«
»Sie fahren mit dem Schiff und dann weiter mit dem Auto.
Aber das wird man Ihnen alles noch erklären. Vertrauen Sie mir einfach.« »Und was ist mit Papieren?«
»Auch das wird ganz unbürokratisch geregelt. Wir haben ein
Abkommen mit den deutschen Behörden. Wir leben schließlich
nicht mehr in der Sowjetunion, sondern in einem freien
Land, das in der ganzen Welt angesehen ist«, antwortete sie mit
einem warmen und weichen Lachen. »Wie gesagt, vertrauen Sie
mir einfach. Soll ich den Arzt anrufen?«
Larissa nickte. Das Telefonat war nach kaum einer Minute beendet.
»Hier ist die Adresse, es sind nur ein paar Minuten zu Fuß. Die
Untersuchung wird ein wenig dauern, aber Sie haben ja Zeit. Alles Gute und viel Glück.«
Larissa nahm den Zettel, verabschiedete sich von ihrer Professorin
und ging zu der angegebenen Adresse. Die Untersuchung
dauerte über vier Stunden, bis der Arzt ihr mitteilte, dass sie
kerngesund sei und bedenkenlos nach Deutschland fahren
könne. Zum Abschluss sagte er, dass in zwei Stunden eine Frau
bei ihr vorbeikomme, um ihr letzte Instruktionen zu erteilen.
Die Frau, die sich nur mit »Marina« vorstellte und groß und
schlank und kaum älter als Larissa war, kam gegen zweiundzwanzig
Uhr in das kleine Zimmer, in dem Larissa hauste. Sie
unterhielten sich etwa eine halbe Stunde, wobei die meiste Zeit
die junge Frau sprach. Larissa solle ihre Sachen am Samstagnachmittag
gepackt haben, am Abend um Punkt einundzwanzig
Uhr stehe ein Wagen vor dem Haus, um sie abzuholen.
Samstag, das war bereits morgen, also viel schneller, als ihre Professorin ihr gesagt hatte.
Als Larissa ihre wenigen Habseligkeiten gepackt hatte, sah sie
sich noch einmal in dem kleinen Zimmer um, dachte an ihre
Eltern, die beiden jüngeren Geschwister und an ihre ältere
Schwester, die als Polizistin in Moskau arbeitete. Sie hätte gerne
noch einmal mit ihr gesprochen, denn es gab niemanden, zu
dem sie einen engeren Kontakt hatte, auch wenn sie ihr von der
Vergewaltigung und Misshandlung und den vielen Demütigungen
nichts erzählt hatte, zu sehr schämte sie sich dafür, und
Larissa wollte auch nicht, dass sie sich Sorgen machte oder gar
nach St. Petersburg kam. Sie liebte ihre Schwester, doch sie
würde sich an die Anweisungen halten und ihr erst schreiben,
wenn sie in Berlin war. Und wenn die Familie so nett wie auf
dem Foto war, würde sie vielleicht sogar mit ihr telefonieren dürfen.
Larissa wartete ungeduldig, bis es einundzwanzig Uhr war. Sie
hatte Hunger und Durst und fror erbärmlich, ging mehr als
zwei Stunden im Zimmer auf und ab, rieb sich immer wieder
die mit dicken Handschuhen bedeckten Hände oder wärmte
ihr Gesicht mit ihrem Atem, den sie in die Handfl ächen blies, die sie dicht vors Gesicht hielt.
Ein paar Minuten vor neun ging sie nach unten, wo bereits das
Auto stand, das sie zum Hafen bringen würde. Und schon in
zwei Tagen würde sie in Berlin sein, bei einer Familie, die sie
nur von einem Foto kannte. Nette Menschen, mit zwei kleinen
Kindern. Und doch beschlich sie ein mulmiges Gefühl, als sie
in das Auto stieg, wo noch zwei andere junge Frauen außer
dem Fahrer saßen. Auf dem Weg zum Hafen wurde kein Wort
gewechselt, es herrschte eine beinahe beängstigende Stille. Larissa
war nervös und aufgeregt, wollte sich dies aber nicht anmerken
lassen, denn sie redete sich immer und immer wieder
ein, es habe schon alles seine Richtigkeit, auch wenn ihr Bauch
ihr etwas anderes sagte. Doch sie wollte nicht darauf hören.
Ihre Gedanken waren bei ihrer Familie, ihrem Vater, der als
Lehrer an einer kleinen Dorfschule gerade so viel verdiente,
dass sie immer genug zu essen hatten, und bei ihrer Schwester,
die es als Erste geschafft hatte, aus den ärmlichen Verhältnissen
auszubrechen und eine einigermaßen gutbezahlte Anstellung
bei der Polizei in Moskau hatte. In zwei, spätestens drei Tagen
würde Larissa mit ihr Kontakt aufnehmen und ihr eine Menge mitzuteilen haben.
Am Hafen angelangt, standen dort bereits fünf weitere Fahrzeuge,
zwei Lieferwagen, ein Mercedes und zwei Polizeiwagen.
Die Türen der Lieferwagen wurden geöffnet, und etwa
dreißig Personen stiegen aus, die jüngste vielleicht fünf Jahre
alt, die älteste höchstens fünfundzwanzig. Nur die Fahrer waren älter.
Sie wurden zu einem Frachter geführt. Das mulmige Gefühl
wurde immer intensiver und wandelte sich schlagartig in Angst.
Am liebsten wäre Larissa davongerannt, doch um die Gruppe
herum hatten sich mehrere Männer geschart, die wie Bluthunde
aufzupassen schienen, dass auch jeder auf direktem Weg auf
den Frachter ging. Unter diesen Männern befanden sich auch
sechs Polizisten, und drei von ihnen waren ebenjene, die Larissa
in den letzten Wochen mehrfach vergewaltigt hatten. Einer
von ihnen grinste und zwinkerte ihr hämisch zu, während er
sich eine Zigarette anzündete. Zwei kleine Kinder weinten und
hielten sich bei den Händen, eine junge Frau begann plötzlich
hysterisch zu schreien, bis einer der Männer sie kräftig am Arm
packte, kurz schüttelte und ihr etwas ins Ohr fl üsterte, das Larissa
jedoch nicht verstand, weil sie zu weit weg war. Die Frau
hatte vor Angst geweitete Augen und verstummte. Vier weitere
Polizisten tauchten wie aus dem Nichts auf, unterhielten sich
mit einem der Männer, und ein dicker Umschlag wechselte die Besitzer.
Es war ein riesiges Schiff mit vielen Containern. Zu einem davon
wurden sie gebracht, wie eine Herde Schweine, die zur
Schlachtbank geführt wurde. In dem riesigen Container, der
von einer matten Glühbirne nur spärlich erhellt wurde, standen
zwei Männer und zwei Frauen, von denen eine Larissa nur
zu gut kannte – ihre Professorin, in deren Augen jetzt aber
nichts Gütiges und Mütterliches mehr war. Sie runzelte lediglich
die Stirn, als Larissa sie hilfl os und fragend ansah. Rund
um die Wände waren Liegen aufgestellt, in der Mitte des kalten
Stahlwürfels war ein Tisch mit gefüllten Gläsern darauf. Die
andere Frau sagte, dass jeder ein Glas mit der klaren Flüssigkeit
trinken solle, es erleichtere die Reise. Als eine junge Frau, fast
noch ein Mädchen, sich weigerte und fragte, was das für ein
Getränk sei, wurde sie nur angeherrscht, dies sei nicht der geeignete
Ort, um Fragen zu stellen. Nachdem jeder sein Glas
leergetrunken hatte, wurden sie in unmissverständlichem Befehlston
gebeten, sich auf eine der Liegen zu legen. Larissa
wurde wie allen andern auch erst etwas schwindlig, schließlich
drehte sich alles um sie. Sie bekam kaum noch mit, wie die
Frauen den Container verließen, die Männer jedoch blieben.
Die Stahltür wurde mit einem lauten Knall zugeschoben und
von innen verriegelt. Larissa spürte nur noch, wie ihr etwas in
die Armvene injiziert wurde. Sie schlief ein.
... weniger
Autoren-Porträt von Andreas Franz
Autoren-Porträt von Andreas Franz Andreas Franz gehört zu den erfolgreichsten deutschen Krimiautoren. Seine Lebensgeschichte beginnt am 12.01.1954 in Quedlinburg. 1955 zog die Familie nach Helmbrechts/Oberfranken, und 1967 nach der Trennung der Eltern ging er mit seiner Mutter nach Frankfurt. Die Gewalt in der Ehe seiner Eltern wurde zum einschneidenden Erlebnis in seinem Leben. Mit 17 Jahren machte er den Schulabschluss in Wirtschaftsenglisch und -französisch. Dann aber entschloss er sich, sein Hobby, die Musik, zum Beruf zu machen. Als Drummer in verschiedenen Bands lernte er Inge kennen, die er 1974 heiratete. Zu den zwei Kindern, die seine Frau mit in die Ehe gebracht hatte, kamen bis 1986 noch drei hinzu, sodass Andreas Franz für eine große Familie zu sorgen hatte. Er sagt dazu: „Irgendwann war Schluss mit lustig und der Musik“.
Als LKW-Fahrer, „Mädchen für alles“ in einer Werbeagentur, kaufmännischer Angestellter und graphologischer Gutachter verdiente er sein Geld und eröffnete 1990 ein eigenes Übersetzungsbüro.
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Auch in diesen harten Jahren nahm sich Franz Zeit zum Schreiben, verfasste Gedichte und Kurzgeschichten. 1986 war der erste „richtige“ Roman, „Der Finger Gottes“, fertig, den allerdings zunächst kein Verlag drucken wollte. Der Autor gab nicht auf und schickte jahrelang Manuskripte an zahlreiche Verlage – ohne Erfolg. 1996 war mit „Jung, blond, tot“ der Bann gebrochen. Der Kriminalroman mit der Frankfurter Protagonistin Julia Durant erschien. Es folgten zehn weitere Bücher dieser Reihe. Daneben entstand eine Reihe mit Peter Brandt, der in Offenbach ermittelt. In einer dritten Serie klären Sören Henning und Lisa Santos in Kiel Verbrechen auf.
Der Autor verrät, dass noch zahlreiche Manuskripte anderer Genres in der Schublade liegen. Manch einer fragt sich: Wie schafft er das alles? Vielleicht liegt die Erklärung in seinem Bekenntnis: „Ohne Gott und ohne meine Familie würde es mich heute nicht mehr geben.“
Der Autor verrät, dass noch zahlreiche Manuskripte anderer Genres in der Schublade liegen. Manch einer fragt sich: Wie schafft er das alles? Vielleicht liegt die Erklärung in seinem Bekenntnis: „Ohne Gott und ohne meine Familie würde es mich heute nicht mehr geben.“
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Autoren-Interview mit Andreas Franz
Interview mit Andreas FranzEs hat lange gedauert, ehe ein Buch von Ihnen von einem Verlag angenommen wurde und Sie zu einem erfolgreichen Krimiautor wurden. Schreiben Sie gerne, oder ist Schreiben vor allem harte Arbeit für Sie? Wie empfinden Sie es, nun ein Bestsellerautor zu sein?
Ich schreibe sogar sehr gerne, aber es ist auch harte Arbeit, verdammt harte Arbeit. Doch wie empfinde ich es, nun ein Bestsellerautor zu sein?! Bin ich überhaupt einer, nur weil ich ein paar tausend Bücher mehr als ein paar andere verkaufe? Ich denke, das Problem ist, dass die meisten glauben, Bestsellerautor müsste gleichbedeutend sein mit Bestverdiener. Das ist jedoch ein Riesenirrtum. Es gibt überall, auch hierzulande, Bestsellerautoren, die Millionen verdienen, ich hingegen bin froh, dass ich meine Familie einigermaßen über die Runden bringen kann. Ein weiteres Problem ist, dass z.B. ein Grisham oder Crichton oder eine Walters oder Cornwell oder George und viele andere schon Monate vor Erscheinen ihres neuen Werks - ganz gleich wie gut oder miserabel es auch ist - medienwirksam von den Verlagen promotet werden, dazu erhalten sie Vorschüsse, von denen ich und auch andere Autoren jahrelang sorglos leben könnten. Für die oben genannten wird automatisch ein Platz in der Bestsellerliste reserviert, doch wenn ich mir zu vielen derer Bücher die Leserrezensionen anschaue, dann weichen diese doch sehr häufig von der Meinung der Medienrezensenten ab. Seltsam, oder? Meine Leserschaft hat sich im Laufe der Jahre fast ausschließlich durch Mund-zu-Mund Propaganda aufgebaut, und durch die Empfehlungen von Buchhändlern, denen ich sehr, sehr dankbar bin. Das heißt aber auch, dass ich noch lange Zeit hart weiterarbeiten muss, bevor ich mir mal einen Burnout oder einen richtig langen Urlaub leisten kann, von einem schicken Haus ganz zu schweigen. Aber schau mer mal, was die Zukunft bringt. Ich lebe nach dem Motto -
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cogito ergo sum, ich denke, also bin ich. Und ich hoffe, noch lange denken und auch beobachten zu können. Und sollte irgend jemand nach dem Gelesenen meinen, ich wäre nur neidisch auf die Großverdiener - falsch, im Gegenteil, ich schreibe wenigstens noch selbst und bin froh und dankbar, einen Beruf ausüben zu können, von dem ich immer geträumt habe.
1970 haben Sie das Gymnasium verlassen und eine Sprachschule besucht, um "etwas Ordentliches aus meinem Leben zu machen." Ist Ihnen das gelungen?
Ich denke schon. Schreiben war ein lang gehegter Traum, der Wirklichkeit wurde. Was kann es Schöneres und Erfüllteres geben?!
Es gibt immer wieder Polizisten, die an dem, was sie über Jahre sehen, seelisch zerbrechen. Wie wird innerhalb der Polizei mit psychischen Problemen umgegangen? Welche Art von Hilfe ist hier überhaupt möglich?
Es gibt Polizeipsychologen, die sich um z.B. traumatisierte Beamte kümmern, die mit schrecklichen Bildern konfrontiert wurden. Allerdings reden viele Beamte nicht über ihre Probleme, sondern fangen etwa an zu trinken, häusliche Gewalt findet man in dieser Berufsgruppe auch nicht selten, die Scheidungsrate ist relativ hoch. Welche Hilfe überhaupt möglich ist ich weiß es nicht.
In Ihren Krimis geht es häufig um verschiedene Formen des Missbrauchs. Was bedeutet Ihnen dieses Thema?
Missbrauch jedweder Form ist für mich verabscheuungswürdig, weil er nicht nur häufig den Körper verletzt, sondern vor allem die Seele tötet. Und ich gebe zu, es macht mich unendlich wütend, wenn ich wieder einmal von einem besonders gravierenden Fall höre. In meinen Büchern spielt Missbrauch eine große Rolle, denn ich möchte meine Leser auch zum Nachdenken anregen. Kinder können sich nicht wehren, sie schreien ihren Schmerz nach innen und haben nur sehr selten eine Chance, ihrem Peiniger zu entkommen. Und ich spreche auch aus eigener Erfahrung, da ich in meiner Kindheit fast vierzehn Jahre miterleben musste, wie meine Mutter beinahe täglich misshandelt und missbraucht wurde. Deshalb an alle Männer: Finger weg von Kindern und Frauen, es gibt andere Möglichkeiten, seine inneren und äußeren Konflikte zu lösen! Über das Vorwort meines ersten Romans "Jung, blond, tot" habe ich geschrieben: Wenn die Seele verbrennt, bleibt nicht einmal Asche. Missbrauch wird jedenfalls immer wieder mal in einem meiner Bücher vorkommen, es wird allerdings kein Dauerthema sein.
Fast alle von Ihnen beschriebenen Fälle beruhen auf wahren Begebenheiten. Sie haben gute Kontakte zur Frankfurter Polizei. Gleichzeitig sagen Sie - wie mit ähnlichen Worten übrigens auch Henning Mankell: "Die Wirklichkeit sieht allemal düsterer aus, als meine Phantasie es zulässt." Wie passt das zusammen? Welche Wirklichkeiten verschließen sich Ihnen beim Schreiben?
Es ist richtig, dass ich das gesagt habe. Jedes Mal, wenn ich mit Kripobeamten spreche, erfahre ich, wie skrupellos manche Menschen vorgehen, so skrupellos, dass meine Phantasie nicht ausreicht, um mir dies auszudenken. Allerdings erhalte ich so nach und nach Einblick in Abgründe, die die wenigsten sehen oder sehen wollen. Dabei handelt es sich nicht nur um "einfache" Mörder oder Serientäter, sondern auch um die kriminellen Machenschaften in Politik und Wirtschaft. Es ist ein dichtes und immer dichter werdendes Netz der organisierten Kriminalität, die mittlerweile alle Bereiche des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens infiltriert oder sogar unter Kontrolle hat. Und das ist erschreckend, aber nicht mehr zu ändern.
Die Personen in Ihren Romanen sind psychologisch sehr einfühlsam gezeichnet. Dabei fällt auf, dass insbesondere das Verhalten der Täter erklärt, ja manchmal geradezu "entschuldigt" wird. Glauben Sie, dass sich jede kriminelle Tat psychologisch erklären lässt?
Dass ich Täterverhalten entschuldige, ist schlichtweg falsch. Ich versuche lediglich zu ergründen, was einen Menschen zum Beispiel zu einem Mörder hat werden lassen. Und da gibt es unzählige Gründe, doch einer der häufigsten - gerade bei Serienkillern - ist persönlich erlebter Missbrauch. Wie ich oben bereits erwähnte, verletzt Missbrauch nicht nur den Körper, sondern tötet die Seele, vor allem, wenn dieser Missbrauch über einen längeren Zeitraum hinweg geschieht. Da ich selbst im Alter von fünfzehn Jahren mit einem Serienkiller befreundet war und seine Kindheitsgeschichte fast zwanzig Jahre später erfuhr (darauf beruht übrigens "Jung, blond, tot"), begann ich mich intensiver mit dem Phänomen Serienkiller zu beschäftigen. Ich entschuldige nicht einen einzigen Mord, ich entschuldige aber auch nicht das, was diese Menschen letztlich dazu getrieben hat, diese schrecklichen Taten zu begehen. Nur in dem Buch "Das achte Opfer" versuche ich, Verständnis für das Verhalten des Täters zu wecken, denn dieses Buch beruht ebenfalls auf einer wahren Geschichte, die mir von einem höchst resignierten Hauptkommissar, der seit beinahe fünfunddreißig Jahren bei der Kripo ist, erzählt wurde. In besagtem Buch lege ich den Finger in eine Wunde und prangere unser Justizsystem an, was dazu führte, dass ich mehrere wütende Briefe und Mails von Staatsanwälten und Richtern erhalten habe, in denen ich bezichtigt wurde, Selbstjustiz gutzuheißen. Diese werten Damen und Herren sollten das Buch einmal nicht aus der juristischen, sondern der menschlichen Warte lesen. Außerdem sehe ich mich weniger als Roman-, denn als Berichtautor, da fast alle von mir niedergeschriebenen Fälle auf wahren Begebenheiten beruhen - und ich merke an den Reaktionen meiner LeserInnen, dass genau dies an meinen Büchern geschätzt wird. Und nein, ich glaube nicht, dass sich jede kriminelle Tat psychologisch erklären lässt, da manche Taten im Affekt oder in einem Zustand geistiger Verwirrung geschehen und somit nicht erklärbar sind, nicht einmal von den Tätern. Eigentlich lassen sich die wenigsten Taten, ganz gleich welcher Art, psychologisch erklären, auch wenn manche sogenannte Gutachter und Psychologen das zu können meinen. Der menschliche Geist, die Psyche und die Emotionen sind dazu noch viel zu wenig erforscht.
Die Fragen stellte Ulrike Künnecke, Literaturtest.
1970 haben Sie das Gymnasium verlassen und eine Sprachschule besucht, um "etwas Ordentliches aus meinem Leben zu machen." Ist Ihnen das gelungen?
Ich denke schon. Schreiben war ein lang gehegter Traum, der Wirklichkeit wurde. Was kann es Schöneres und Erfüllteres geben?!
Es gibt immer wieder Polizisten, die an dem, was sie über Jahre sehen, seelisch zerbrechen. Wie wird innerhalb der Polizei mit psychischen Problemen umgegangen? Welche Art von Hilfe ist hier überhaupt möglich?
Es gibt Polizeipsychologen, die sich um z.B. traumatisierte Beamte kümmern, die mit schrecklichen Bildern konfrontiert wurden. Allerdings reden viele Beamte nicht über ihre Probleme, sondern fangen etwa an zu trinken, häusliche Gewalt findet man in dieser Berufsgruppe auch nicht selten, die Scheidungsrate ist relativ hoch. Welche Hilfe überhaupt möglich ist ich weiß es nicht.
In Ihren Krimis geht es häufig um verschiedene Formen des Missbrauchs. Was bedeutet Ihnen dieses Thema?
Missbrauch jedweder Form ist für mich verabscheuungswürdig, weil er nicht nur häufig den Körper verletzt, sondern vor allem die Seele tötet. Und ich gebe zu, es macht mich unendlich wütend, wenn ich wieder einmal von einem besonders gravierenden Fall höre. In meinen Büchern spielt Missbrauch eine große Rolle, denn ich möchte meine Leser auch zum Nachdenken anregen. Kinder können sich nicht wehren, sie schreien ihren Schmerz nach innen und haben nur sehr selten eine Chance, ihrem Peiniger zu entkommen. Und ich spreche auch aus eigener Erfahrung, da ich in meiner Kindheit fast vierzehn Jahre miterleben musste, wie meine Mutter beinahe täglich misshandelt und missbraucht wurde. Deshalb an alle Männer: Finger weg von Kindern und Frauen, es gibt andere Möglichkeiten, seine inneren und äußeren Konflikte zu lösen! Über das Vorwort meines ersten Romans "Jung, blond, tot" habe ich geschrieben: Wenn die Seele verbrennt, bleibt nicht einmal Asche. Missbrauch wird jedenfalls immer wieder mal in einem meiner Bücher vorkommen, es wird allerdings kein Dauerthema sein.
Fast alle von Ihnen beschriebenen Fälle beruhen auf wahren Begebenheiten. Sie haben gute Kontakte zur Frankfurter Polizei. Gleichzeitig sagen Sie - wie mit ähnlichen Worten übrigens auch Henning Mankell: "Die Wirklichkeit sieht allemal düsterer aus, als meine Phantasie es zulässt." Wie passt das zusammen? Welche Wirklichkeiten verschließen sich Ihnen beim Schreiben?
Es ist richtig, dass ich das gesagt habe. Jedes Mal, wenn ich mit Kripobeamten spreche, erfahre ich, wie skrupellos manche Menschen vorgehen, so skrupellos, dass meine Phantasie nicht ausreicht, um mir dies auszudenken. Allerdings erhalte ich so nach und nach Einblick in Abgründe, die die wenigsten sehen oder sehen wollen. Dabei handelt es sich nicht nur um "einfache" Mörder oder Serientäter, sondern auch um die kriminellen Machenschaften in Politik und Wirtschaft. Es ist ein dichtes und immer dichter werdendes Netz der organisierten Kriminalität, die mittlerweile alle Bereiche des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebens infiltriert oder sogar unter Kontrolle hat. Und das ist erschreckend, aber nicht mehr zu ändern.
Die Personen in Ihren Romanen sind psychologisch sehr einfühlsam gezeichnet. Dabei fällt auf, dass insbesondere das Verhalten der Täter erklärt, ja manchmal geradezu "entschuldigt" wird. Glauben Sie, dass sich jede kriminelle Tat psychologisch erklären lässt?
Dass ich Täterverhalten entschuldige, ist schlichtweg falsch. Ich versuche lediglich zu ergründen, was einen Menschen zum Beispiel zu einem Mörder hat werden lassen. Und da gibt es unzählige Gründe, doch einer der häufigsten - gerade bei Serienkillern - ist persönlich erlebter Missbrauch. Wie ich oben bereits erwähnte, verletzt Missbrauch nicht nur den Körper, sondern tötet die Seele, vor allem, wenn dieser Missbrauch über einen längeren Zeitraum hinweg geschieht. Da ich selbst im Alter von fünfzehn Jahren mit einem Serienkiller befreundet war und seine Kindheitsgeschichte fast zwanzig Jahre später erfuhr (darauf beruht übrigens "Jung, blond, tot"), begann ich mich intensiver mit dem Phänomen Serienkiller zu beschäftigen. Ich entschuldige nicht einen einzigen Mord, ich entschuldige aber auch nicht das, was diese Menschen letztlich dazu getrieben hat, diese schrecklichen Taten zu begehen. Nur in dem Buch "Das achte Opfer" versuche ich, Verständnis für das Verhalten des Täters zu wecken, denn dieses Buch beruht ebenfalls auf einer wahren Geschichte, die mir von einem höchst resignierten Hauptkommissar, der seit beinahe fünfunddreißig Jahren bei der Kripo ist, erzählt wurde. In besagtem Buch lege ich den Finger in eine Wunde und prangere unser Justizsystem an, was dazu führte, dass ich mehrere wütende Briefe und Mails von Staatsanwälten und Richtern erhalten habe, in denen ich bezichtigt wurde, Selbstjustiz gutzuheißen. Diese werten Damen und Herren sollten das Buch einmal nicht aus der juristischen, sondern der menschlichen Warte lesen. Außerdem sehe ich mich weniger als Roman-, denn als Berichtautor, da fast alle von mir niedergeschriebenen Fälle auf wahren Begebenheiten beruhen - und ich merke an den Reaktionen meiner LeserInnen, dass genau dies an meinen Büchern geschätzt wird. Und nein, ich glaube nicht, dass sich jede kriminelle Tat psychologisch erklären lässt, da manche Taten im Affekt oder in einem Zustand geistiger Verwirrung geschehen und somit nicht erklärbar sind, nicht einmal von den Tätern. Eigentlich lassen sich die wenigsten Taten, ganz gleich welcher Art, psychologisch erklären, auch wenn manche sogenannte Gutachter und Psychologen das zu können meinen. Der menschliche Geist, die Psyche und die Emotionen sind dazu noch viel zu wenig erforscht.
Die Fragen stellte Ulrike Künnecke, Literaturtest.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Franz
- 2009, 1, 488 Seiten, Maße: 13,5 x 21,2 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828993281
- ISBN-13: 9783828993280
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