Spur ins Eis
Todeskälte
Vor fünf Jahren ist Rachael Innis tief im Südwesten der USA spurlos verschwunden. Nun ist ihr Mann Will gemeinsam mit der Tochter Devlin auf dem Weg nach Alaska. Denn seit eines Abends die FBI-Agentin Kalyn vor...
Vor fünf Jahren ist Rachael Innis tief im Südwesten der USA spurlos verschwunden. Nun ist ihr Mann Will gemeinsam mit der Tochter Devlin auf dem Weg nach Alaska. Denn seit eines Abends die FBI-Agentin Kalyn vor...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Spur ins Eis “
Todeskälte
Vor fünf Jahren ist Rachael Innis tief im Südwesten der USA spurlos verschwunden. Nun ist ihr Mann Will gemeinsam mit der Tochter Devlin auf dem Weg nach Alaska. Denn seit eines Abends die FBI-Agentin Kalyn vor seiner Tür stand, weiß er: Rachael ist nicht die einzige verschwundene Frau. Und die Spuren führen hinauf in die eisige Wildnis. Was er nicht weiß: Er begibt sich auf Reise mitten ins Herz eines Albtraums.
"Großartig ...ein fantastischer Erzähler!"
Lee Child
Lese-Probe zu „Spur ins Eis “
SPUR INS EIS von BLAKE CROUCH 1
Die falschen Sterne
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Am Abend des letzten guten Tages, den sie beide in den nächsten Jahren erleben würden, zog das Mädchen die Glasschiebetür auf und trat auf die hintere Veranda.
»Daddy?«
Will Innis legte die Akte beiseite und zog Devlin auf seinen Schoß. Seine Tochter war klein für ihre elf Jahre, und er fühlte ihre zarten Knochen, als er die Arme um sie legte.
»Was tust du hier draußen?«, fragte sie. Ihre Stimme war noch belegt von der letzten Erkältung, die sie gehabt hatte.
»Ich arbeite an einem Plädoyer für meine Verhandlung morgen früh.«
»Vertrittst du wieder den Bösen?«
Will lächelte. »Du bist wie deine Mutter. So darf ich es nicht sehen, Süße.«
»Was hat er denn getan?« Die untergehende Sonne warf einen rötlichen Schimmer auf das Gesicht des kleinen Mädchens, und die helleren Strähnen in ihrem ansonsten tiefschwarzen Haar traten deutlicher hervor.
»Er ist wegen vermeintlichem ...«
»Was bedeutet das?«
»Vermeintlich?«
»Ja.«
»Das bedeutet, dass es nicht bewiesen ist. Er wird beschuldigt, Drogen verkauft zu haben.«
»So was, was ich genommen habe?«
»Nein, deine Drogen sind gut. Sie helfen dir. Er hat schlechte Drogen an die Leute verkauft.«
»Warum sind sie schlecht?«
»Weil du davon die Kontrolle über dich verlierst.«
»Warum nehmen die Leute sie denn dann?«
»Sie finden es schön, wie sie sich dann fühlen.«
»Und wie fühlen sie sich?«
Er küsste sie auf die Stirn und blickte auf seine Uhr. »Es ist schon nach acht, Devi. Komm, wir gehen mal inhalieren.«
Sie seufzte, widersprach aber nicht. Sie versuchte nie, die Prozedur zu umgehen. Er stand auf und trat mit seiner Tochter auf dem Arm ans Geländer.
Sie blickten in die Wildnis, die an Oasis Hill, ihren Vorort grenzte. Die Gärten bei den Häusern auf der No-Water Lane bestanden aus der Sonora-Wüste.
»Schau mal«, sagte er. »Siehst du sie?« In einiger Entfernung bewegten sich Punkte aus einer trockenen Schlucht durch die Wüste auf einen schattenlosen Wald aus riesigen Kakteen zu, die sich gegen den Horizont abzeichneten.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Kojoten. Wollen wir wetten, dass sie anfangen zu jaulen, wenn die Sonne untergeht?«
Als Devlin im Bett lag, las er ihr aus Gefangene der Zeit vor. Sie waren mittlerweile schon beim vorletzten Kapitel angelangt, aber Devlin war erschöpft und schlief ein, noch ehe Will die zweite Seite beendet hatte.
Er klappte das Buch zu, legte es auf den Teppich und schaltete das Licht aus. Kühle Wüstenluft drang durch ein offenes Fenster ins Zimmer. Im Nachbargarten surrte die Bewässerungsanlage. Devlin gähnte und gab einen gurrenden Laut von sich. Er musste daran denken, wie er sie als Baby in den Schlaf gewiegt hatte. Ihre Augenlider flatterten, und sie sagte leise: »Mom?«
»Sie hat Spätdienst in der Klinik, Süße.«
»Wann kommt sie nach Hause?«
»In ein paar Stunden.«
»Sagst du ihr, sie soll noch zu mir kommen und mir einen Kuss geben?«
»Ja, das mache ich.«
Er war mit seinen Vorbereitungen auf die morgige Verhandlung noch nicht fertig, aber er blieb und strich Devlin über die Haare, bis sie wieder eingeschlafen war. Schließlich erhob er sich vorsichtig von ihrem Bett und ging auf die Terrasse, um seine Bücher und Akten zu holen. Vor ihm lag eine lange Nacht. Eine Kanne mit starkem Kaffee würde ihm sicherlich helfen.
Nebenan schwiegen die Sprinkler. Eine einsame Grille zirpte in der Wüste.
Irgendwo über Mexiko zuckten Blitze über den Himmel, und die Kojoten begannen zu heulen.
2
Das Gewitter holte Rachael Innis fünfzig Kilometer nördlich der mexikanischen Grenze ein. Es war halb zehn Uhr abends, und sie hatte einen langen Tag in der freien Klinik in Sonoyta hinter sich, wo sie einmal in der Woche kostenlos ihre Zeit und ihre Dienste als zweisprachige Psychologin zur Verfügung stellte. Die Scheibenwischer glitten hin und her, und im Licht der Scheinwerfer sah sie, dass Dampf vom Asphalt der Straße aufstieg. Im Rückspiegel sah Rachael etwa hundertfünfzig Meter entfernt die Scheinwerfer, die sie seit zehn Minuten verfolgten.
Auf dem Seitenstreifen direkt vor ihr tauchten auf einmal leuchtende Punkte auf. Sie trat heftig auf die Bremse und der Grand Cherokee geriet ins Schleudern, bevor er zum Stehen kam. Ein Reh und sein Kitz traten mitten auf die Straße und blickten wie gebannt in das grelle Licht. Rachael ließ die Stirn aufs Lenkrad sinken, schloss die Augen und holte tief Luft.
Die Tiere verschwanden, und sie fuhr wieder an. Einen weiteren Kilometer fuhr sie durch die Dunkelheit. Es hatte zu hageln begonnen, und die Körner prasselten auf die Motorhaube.
Der Cherokee brach wieder aus, und als sie versuchte, ihren Fahrfehler zu korrigieren, verlor sie erneut beinahe die Kontrolle über den Wagen. Rachael nahm den Fuß vom Gaspedal und hielt am Straßenrand an.
Als sie den Motor abstellte, war nur noch das Prasseln des Hagels zu hören. Das Auto, das hinter ihr gefahren war, schoss vorbei. Sie legte ihre Brille auf den Beifahrersitz, öffnete die Tür und trat prompt mit ihren Pumps in eine Pfütze. Der Regen durchnässte ihr schwarzes Kostüm. Sie fröstelte. Blitze zuckten über den pechschwarzen Himmel. Vorsichtig tastete sie sich an der Motorhaube entlang.
Nur ein paar Hundert Meter entfernt schlug ein Blitz in die Wüste ein. Ihr Körper prickelte, und das Blut in ihren Ohren rauschte. Ich werde verschmoren. Donnerschläge krachten und Blitze zuckten, und kurz wurde es so hell, dass sie sehen konnte, dass die Reifen auf der Fahrerseite intakt waren.
Ihre Hände zitterten jetzt. Ein großer Säulenkaktus stand brennend wie ein Kreuz in der Wüste. Hagelkörner, groß wie Murmeln, schlugen ihr auf den Kopf, als sie sich zur Beifahrerseite hangelte. Erneut erhellte ein Blitz die Landschaft.
In dem unheimlichen blauen Licht konnte sie erkennen, dass der Vorderreifen auf der Beifahrerseite platt war. Rachael setzte sich wieder ans Steuer. Im Spiegel sah sie, dass ihre Wimperntusche ihr wie schwarze Tränen übers Gesicht lief. Sie wrang ihre langen schwarzen Haare aus und massierte ihre Schläfen. Langsam bekam sie Kopfschmerzen. Ihre Tasche lag auf der Beifahrerseite auf dem Boden. Sie nahm sie auf den Schoß und kramte nach ihrem Handy. Als sie es gefunden hatte, wählte sie die Nummer ihres Mannes, aber wegen des heftigen Gewitters hatte sie keinen Empfang.
Rachael drehte sich um und betrachtete den Ersatzreifen, der hinten im Cherokee lag. Sie hatte keine Möglichkeit, den Automobilclub zu erreichen, und um diese späte Stunde würden nur wenige Autos auf diesem entlegenen Highway vorbeikommen.
Ich warte einfach und rufe Will noch einmal an, wenn das Gewitter nachgelassen hat.
Sie umklammerte das Lenkrad und starrte durch die Windschutzscheibe in das Unwetter, das irgendwo im Norden der Grenze im Organ Pipe Cactus National Monument niederging. Mitten im Nirgendwo.
Ein besonders heller Blitz zuckte über den Himmel. In diesem Bruchteil einer Sekunde sah sie einen schwarzen Escalade, der ein Stück weiter auf dem Randstreifen geparkt hatte.
Der Donner ließ die Fensterscheiben klirren. Fünf Sekunden vergingen. Als der Himmel wieder taghell erleuchtet wurde, verspürte Rachael auf einmal den unwiderstehlichen Drang, zur Beifahrerseite zu blicken.
Ein Mann schwang eine Brechstange gegen die Scheibe.
3
Will fuhr erschreckt auf, desorientiert und durstig. Es war so still - nur das leise Rauschen des Computerventilators und das Ticken der Uhr im Schlafzimmer nebenan waren zu hören. Er war auf dem ledernen Schreibtischsessel in seinem kleinen Arbeitszimmer eingeschlafen. Der Computer war noch an, und der Monitor war auf Energiesparmodus heruntergefahren.
Während er noch gähnte, überfiel ihn erneut Nervosität. Er hatte an seinem Schlussplädoyer gearbeitet und gegen zehn Uhr festgestellt, dass er verlieren würde. Nur einen Moment lang hatte er die Augen geschlossen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Er griff nach seinem Kaffeebecher und trank einen Schluck.
Kalt und bitter. Als er die Mouse bewegte, und der Bildschirm zum Leben erwachte, stellte er fest, dass er heute Nacht gar nicht mehr ins Bett zu gehen brauchte. Es war 4.09 morgens. In weniger als fünf Stunden musste er vor Gericht erscheinen. Das Wichtigste zuerst - er brauchte sofort einen starken Kaffee.
Sein Arbeitszimmer grenzte an das große Schlafzimmer, und als er es auf dem Weg in die Küche durchquerte, fiel ihm etwas Merkwürdiges auf. Er hatte eigentlich erwartet, seine Frau unter den Quilts und Decken auf ihrem Bett liegen zu sehen, aber sie war nicht da. Die Tagesdecke war unberührt, seit sie gestern früh das Bett gemacht hatten.
Er ging durch Wohnzimmer und Esszimmer und dann den Gang entlang. Wahrscheinlich war Rachael nach Hause gekommen, hatte ihn am Schreibtisch gesehen und war gleich nach oben gegangen, um Devlin einen Kuss zu geben. Und dann war sie wohl, erschöpft von ihrem langen, anstrengenden Arbeitstag, dort eingeschlafen. Er sah ihre Gesichter im Schein des Nachtlichts bereits vor sich, als er die Tür zum Zimmer seiner Tochter erreichte.
Sie war nur angelehnt, so wie er das Zimmer vor sieben Stunden verlassen hatte.
Er schob die Tür auf. Rachael war nicht bei Devlin. Mit einem Schlag war Will hellwach. Er schloss die Tür zu Devlins Zimmer und eilte wieder ins Esszimmer.
»Rachael? Bist du da, Liebes?«
Er ging zur Haustür, schob den Riegel zurück und trat nach draußen.
Dunkle Häuser. Licht an den Eingängen. Die Straßen noch nass von dem Gewitter, das vor einigen Stunden niedergegangen war. Kein Wind, der Himmel sternenklar.
Als er sie in der Einfahrt sah, gaben seine Knie nach. Er ließ sich auf die Stufen sinken und versuchte, ans Atmen zu denken. Ein Beamer, kein Cherokee und zwei Streifenwagen, aus denen zwei uniformierte Beamte auf ihn zukamen, die Kappen unter die Arme geklemmt.
Die Streifenpolizisten setzten sich auf die Couch im Wohnzimmer.
Will ließ sich auf einem Sessel ihnen gegenüber nieder.
Am vergangenen Wochenende hatten er und Rachael die Wände und die Gewölbedecke in einem Terrakotta-Ton gestrichen, und es roch noch stark nach Farbe. Die meisten der Schwarz-Weiß-Fotografien, die für gewöhnlich die Wände zierten, lehnten noch an der antiken Kommode und warteten darauf, wieder aufgehängt zu werden.
Die Gesetzeshüter berichteten ihm sachlich und mit ruhiger Stimme, was passiert war. Sie wechselten sich ständig ab, als ob sie vorher geübt hätten, wer was sagen sollte.
Viele Informationen gab es noch nicht. Rachaels Cherokee war auf dem Seitenstreifen der Arizona 85 in Organ Pipe Cactus National Monument gefunden worden. Der rechte Vorderreifen war platt. Jemand hatte einen Nagel hineingedrückt, damit der Reifen langsam und stetig Luft verlor. Das Fenster an der Beifahrerseite war eingeschlagen. Keine Rachael. Kein Blut.
Sie stellten Will ein paar Fragen. Sie versuchten, mitfühlend zu reagieren und sagten ihm, wie leid es ihnen täte. Bill starrte zu Boden. Sein Brustkorb zog sich zusammen, als ob ihm langsam die Luft abgeschnürt würde.
Irgendwann einmal blickte er auf, und da stand Devlin in der Diele, in einem rosa T-Shirt, das bis zum Boden reichte. Die zerschlissene Decke, mit der sie jede Nacht seit ihrer Geburt einschlief, hing über ihrem linken Arm. An ihrem Blick sah er, dass sie jedes Wort gehört hatte, das die Streifenpolizisten über ihre Mutter gesagt hatten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
4
Rachael Innis war mit Gurtbändern an den Ledersitz hinter dem Fahrer gefesselt. Sie starrte auf die Lichter am Armaturenbrett. Die Digitaluhr zeigte 4.32 Uhr an. Sie konnte sich nur noch an die Brechstange erinnern, die die Scheibe eingeschlagen hatte. Danach wusste sie nichts mehr.
Aus der Bose-Stereoanlage ertönte Bachs Suite für vier Lauten mit John Williams an der klassischen Gitarre. Draußen zeigte sich bereits ein schwacher Lichtstreifen am Horizont, und obwohl sie in einem luxuriösen SUV saß, spürte sie deutlich die Schlaglöcher des primitiven Wegs, den sie entlangfuhren.
Ihre Handgelenke und ihre Knöchel waren fest mit Nylonschnur umwickelt. Sie war nicht geknebelt. Von ihrem Platz aus konnte sie nur den Hinterkopf des Fahrers sehen, und gelegentlich zeichnete sich in der Glut seiner Zigarette sein Profil ab. Er war glatt rasiert, hatte dunkle Haare und roch unaufdringlich nach einem würzigen Rasierwasser.
Kurz ging ihr durch den Kopf, dass er gar nicht wusste, dass sie wach war, aber sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als er sie auch schon im Rückspiegel musterte. Sie fuhren weiter. Nagetiere huschten über die Straße, und ein Gedanke quälte sie: Er wollte ihr etwas antun. Nur deshalb fuhr er so tief mit ihr in die Wüste hinein. Irgendwann würde er anhalten.
»Hast du auf meinen Sitz uriniert?« Sie meinte, einen ganz leichten Akzent zu hören.
»Nein.«
»Sag mir Bescheid, wenn du pinkeln musst. Dann halte ich an.«
»Okay. Wo sind Sie ...«
»Halt den Mund. Du sagst nur etwas, wenn du pinkeln musst.«
»Ich wollte nur ...«
»Soll ich dir den Mund zukleben? Du hast eine Erkältung. Es würde dir schwerfallen, Luft zu holen.«
Devlin war das Einzige, um das sie jemals gebetet hatte, und das war schon Jahre her, aber während sie jetzt auf die Büsche und Kakteen blickte, die an den getönten Scheiben vorbeizogen, flehte sie Gott erneut an.
Jetzt wurde der Escalade langsamer und hielt schließlich an.
Er schaltete den Motor aus, stieg aus und schloss die Tür. Ihre Tür wurde geöffnet. Er stand da und sah sie an. Er sah sehr gut aus, mit makelloser brauner Haut (abgesehen von einer Kerbe auf dem Nasenrücken), leuchtend blauen Augen und schwarzen Haaren, die er mit Gel zurückgekämmt hatte. Seine schönen Zähne schimmerten in der Dunkelheit. Rachael holte tief Luft, sodass sich die Riemen um ihre Brust spannten.
»Ganz ruhig, Rachael«, sagte er. Aus seinem Mund klang ihr Name wie ein fremdes Wort. Er holte eine Spritze aus seiner schwarzen Lederjacke und zog die Kappe von der Nadel.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Du hast schöne Venen.« Er beugte sich vor und ergriff ihren Arm. Als die Nadel eindrang, keuchte sie auf.
»Bitte. Wenn dies eine Entführung ist ...«
»Nein, nein. Du gehörst mir schon. Im Moment gibt es für dich keinen sichereren Platz auf der Welt, als in meinem Besitz zu sein.«
Ein Rudel Kojoten begann irgendwie draußen in der leeren Dunkelheit zu heulen. Es hörte sich an wie die Schreie einer Frau, die bei lebendigem Leib verbrannte. Auch Rachael begann zu schreien, bis die Droge von ihr Besitz ergriff.
5
Nach vier Uhr nachmittags trudelten sie nacheinander ein. Gegen fünf war Rachaels Verschwinden der Aufmacher sämtlicher Nachrichtensender, sogar in Tucson und Phoenix. Und gegen sechs standen mehr Autos an der No-Water Lane als beim letzten Vierter-Juli-Barbecue der Hasslers.
Um Viertel nach sieben abends hielten sich mehr als vierzig Personen in Wills und Rachaels bescheidenem, kleinem Lehmsteinhaus in Ajo, Arizona, auf. Sie saßen im Esszimmer, im Wohnzimmer, in der Küche, ja sogar auf der Terrasse. Es war eine seltsame Versammlung. Man hatte das Gefühl, sich auf einem Leichenschmaus zu befinden, es gab zu essen und zu trinken, Gespräche fanden im Flüsterton statt, niemand lachte. Will, der mit Devlin im Arm auf dem Sofa saß, dachte, dass all die, die er liebte, Freunde, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, Nachbarn, mit denen er kaum ein Wort wechselte, dass all diese Leute gekommen waren, um mit ihm Wache zu halten.
Sie warteten darauf, dass verkündet wurde, man habe sie gefunden, obwohl jeder wusste, dass normalerweise niemand, der so nahe an der Grenze verloren ging, lebend, wenn überhaupt jemals, gefunden wurde.
»Will?« Er erwachte aus seiner Erstarrung und blickte Rachaels Mutter an, die mit einem Glas Bourbon in der Hand an den eingebauten Bücherregalen stand.
Debra sah ihrer Tochter sehr ähnlich, bis hin zu ihrer schlanken Figur und ihren schwarzen Haaren. Von Weitem hätte man sie für Schwestern halten können. Aus der Nähe betrachtet jedoch sah man die silbernen Strähnen und die ledrige Haut, die vom jahrzehntelangen Aufenthalt in der unbarmherzigen Wüstensonne kam.
»Ich weiß nicht mehr, ob du Eis nimmst oder nicht«, sagte sie.
»Doch, ich nehme Eis. Danke, das ist perfekt.« Sie reichte ihm seinen vierten Whiskey.
»Kann ich sie nehmen?« Debra wies auf ihre Enkelin, die in Wills Armen eingeschlafen war. Eigentlich hätte er es zugelassen, aber sie war vollgepumpt mit Valium und Wodka.
»Sie muss mich spüren, Mom.« Sein Gesicht rötete sich, als er den Whiskey trank, und einen Moment lang malte er sich aus, dass er in seinem Bourbonrausch gar nicht mitbekommen hatte, dass Rachaels Beerdigung bereits stattgefunden hatte. Es waren Trauerreden gehalten worden, die Sargträger hatten ernste Gesichter gemacht, und Devlin war in Tränen ausgebrochen, als der Sarg mit ihrer Mutter hinuntergelassen worden war.
Schwankend stand er auf und trug Devlin in ihr Zimmer.
Sie war mittlerweile völlig erschöpft. Er allerdings auch. Er legte sie ins Bett, deckte sie zu und hockte sich auf den Fußboden, um ihr beim Schlafen zuzusehen. Bei jedem Atemzug schmerzte sein Brustkorb. Nach einer Weile stand er auf und ging in sein Schlafzimmer. In Rachaels und sein Schlafzimmer. Er verschloss und verriegelte die Tür hinter sich und öffnete die Truhe, die am Fußende ihres Bettes stand.
Es lag ganz unten - ein verschlissenes Sweatshirt, das Rachael immer trug, wenn es kühler wurde. Es war marineblau, und vor Jahren hatte es den Schriftzug ihrer Universität getragen. Die weißen Buchstaben waren jedoch im Laufe der Zeit der Waschmaschine zum Opfer gefallen.
Er drückte das Sweatshirt ans Gesicht und roch seine Frau. Auf seinem Weg zurück ins Esszimmer blieb er am Gästezimmer stehen. Hinter der Tür schluchzte jemand laut. Er öffnete die Tür. Das Licht war ausgeschaltet, aber als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er die schwerfällige Gestalt von Rachaels Schwester Elise, die in der Ecke neben der Kommode kauerte.
»Alles in Ordnung?«, fragte er. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Stimme wiederfand. Er blickte über ihren Kopf aus dem Fenster, und ihm fiel auf, dass im Vorgarten seltsame Lichter waren.
»Sie ist tot, Will. Ich spüre es.« Er schloss die Augen und versuchte sich gegen ihre Worte zu wappnen. Am liebsten hätte er sie geschlagen, weil sie die Befürchtung aussprach, die alle insgeheim hegten. »Spürst du es nicht auch, Will?« Er verließ das Zimmer und ging wieder ins Esszimmer. Sein Whiskey stand noch auf dem Tisch.
Mit einem großen Schluck verstärkte er das wundervolle Kissen, das ihn vor der Realität abschirmte. Der Raum um ihn herum summte, und wenn er noch mehr trinken würde, würde sich alles drehen.
Er war gerade auf dem Weg zur Haustür, um nachzusehen, was es mit den merkwürdigen Lichtern auf sich hatte, als ihn jemand am Arm packte.
»Hey, Will. Sie halten doch durch, oder?« Er konnte sich an den Namen des Mannes nicht erinnern, und dann fiel ihm ein, warum. Er wohnte in der Nachbarschaft, aber sie hatten sich nie kennengelernt. Will erkannte ihn nur, weil der Mann jeden Samstagmorgen, wenn Will und Rachael auf dem Weg ins Fitnessstudio an seinem Haus vorbeifuhren, seinen weißen Lexus in der Einfahrt wusch. Er war in Wills Alter, Latino.
»Entschuldigung, wie ist Ihr Name?«, fragte Will.
»Miguel. Sie und Ihre Frau winken immer, wenn Sie an meinem Haus vorbeifahren. Ich habe die Nachrichten gesehen und all die Autos da draußen. Ich dachte, ich komme mal vorbei. Wenn ich etwas tun kann ...«
Will spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten, und ob es nun am Whiskey oder an diesem ganzen, schrecklichen Tag lag, er war plötzlich völlig überwältigt von der Freundlichkeit dieses Mannes, den er nur durch Gesten kannte.
»Danke, Miguel.« Er wischte sich über die Augen und räusperte sich. »Wollen Sie sich nicht etwas zu essen oder zu trinken holen? In der Küche ist ein Riesen-Büffet aufgebaut.«
Als Miguel gegangen war, öffnete Will die Haustür und trat auf die Veranda.
»O Gott«, flüsterte er. Das Kissen löste sich auf, und das ganze Gewicht von Rachaels Abwesenheit drückte ihn nieder. Er sank auf die Stufen. Das alles passiert also wirklich. Vor dem Haus stand der Lieferwagen eines Nachrichtensenders, eine große Satellitenschüssel auf dem Dach. Und auf dem Rasen stand etwa ein Dutzend Leute im Kreis zwischen den Yuccas und Saguaros. Sie hielten Kerzen in den Händen, deren Flammen im Abendwind aus der Wüste flackerten.
Er betrachtete den Flammenkreis. Der Himmel wurde dunkler, und er hatte solche Magenschmerzen, dass er nur ganz flach atmen konnte.
Die Stimme einer Frau sagte: »Gott im Himmel, du sagst, du bist anwesend, wo sich auch nur zwei in deinem Namen versammeln. Nun, hier stehen wir, Herr, und bitten dich darum, uns Rachael Innis zurückzubringen.«
Schwankend stand er auf und stolperte auf sie zu. Er hatte seit Jahren nicht mehr gebetet, seit sie erfahren hatten, dass ihre Tochter krank war. Er war sauer auf Gott gewesen. Das war heute Nacht vorbei.
6
Will trat aus dem Kerzenkreis und wandte sich zum Haus, um nach Devlin zu schauen. Er hatte es zwar eigentlich gewollt, aber dann hatte er doch nicht laut gebetet. Es war schon zu lange her, und seine Kommunikation mit Gott war eingerostet, vor allem in der Gegenwart fremder Menschen.
Er war gerade an der Haustür angekommen, als sie aufging. Rachaels Mutter stand auf der Schwelle.
»Im Wohnzimmer wartet ein Detective, Will. Er möchte mit dir sprechen.«
Aus irgendeinem Grund hatte Will einen jüngeren Mann erwartet, jemanden in seinem Alter, mit militärisch kurzen Haaren und strengem, misstrauischem Blick. Als Verteidiger hatte er viel mit Polizisten zu tun, und seiner Meinung nach waren die meisten süchtig nach Autorität, ein fantasieloser, reaktionärer Haufen, der sich rasch eine starre Meinung von etwas bildete. Aber auf den ersten Blick entsprach der Detective, der auf seiner Couch saß, nicht diesen Vorurteilen. Er saß zwischen zwei Freundinnen Rachaels aus dem Yogakurs, die Hände fl ach auf den Knien, und betrachtete mit stoischer Ruhe eine gerahmte Fotografie über dem Kaminsims - eine Aufnahme aus ihrem Sommerurlaub im Grand Canyon vor zwei Jahren.
Er war ein älterer, glatt rasierter Herr mit dichten weißen Haaren und klaren blauen Augen. Als er Will sah, stand er auf, knöpfte sein Jackett zu und lächelte ihn verhalten an.
»Mr Innis«, sagte er, als sie einander die Hände schüttelten.
»Detective Teddy Swicegood. Wenn ich mich nicht irre, haben sie mich vor Gericht ein paarmal im Kreuzverhör vernommen. Aber keine Sorge - ich nehme es Ihnen nicht übel. Es tut mir leid, dass ich unter diesen Umständen hier sein muss.«
Er war mindestens einen Kopf größer als Will, und trotz seines Alters war sein Händedruck kräftig und seine Figur schlank und durchtrainiert.
»Haben Sie Neuigkeiten?«, fragte Will.
»Hier drin ist es ziemlich voll. Können wir irgendwo unter vier Augen miteinander sprechen?«
»Ja. Möchten Sie etwas zu trinken?«
»Einen Whiskey würde ich nicht ablehnen.«
Will schenkte zwei Whiskeys ein und führte Swicegood durch die Glasschiebetür. Auf der Terrasse hielten sich sechs Personen auf, von denen Will die meisten nicht kannte. Sie saßen auf Stühlen, die sie sich aus der Küche geholt hatten, und aßen von Papptellern, als seien sie auf einer Sommerparty. Die beiden Männer gingen die Stufen hinunter und durch das Gras zu dem verwitterten Zaun, der die Gärten von Oasis Hills von der Wüste trennte.
Will lehnte sich an den Zaun. »Sagen Sie es mir einfach. Reden Sie nicht um den heißen Brei herum«, sagte er.
»Unsere Einsatzkräfte durchkämmen den Südwesten, und wir arbeiten auch mit den mexikanischen Behörden zusammen.«
»Sie haben sie noch nicht gefunden?«
Swicegood schüttelte den Kopf.
»Aber Sie glauben, sie ist noch am Leben?«
»Ich weiß nicht.«
»Ihre Meinung?«
»Mr Innis, es ist einfach noch zu früh, um ...«
»Bitte. Sie brauchen mich nicht mit Glacé-Handschuhen anzufassen.«
»Der Teil des Highways, auf dem sie verschwunden ist, ist eine üble Strecke. Drogenhandel, Menschenhandel. Es sieht nicht gut aus.«
Die Worte trafen Will wie Säure. Eine neue Welle von Trauer, größer und schmerzhafter als die vorherige, überwältigte ihn. Stumm standen sie da, tranken ihren Bourbon und blickten über die Wüste nach Mexico, wo noch ein letzter schmaler Lichtstreifen am Horizont lag.
Aber dann verschwand auch er, und auf einmal war der Himmel übersät mit funkelnden Sternen. Ein Kojote heulte. Ein großes Tier, wahrscheinlich ein Maultierhirsch, raschelte im Unterholz. Will dachte an Rachael, die irgendwo dort draußen war. Vielleicht lebte sie, vielleicht nicht - der Schmerz würde unweigerlich noch größer werden. Er lauerte bereits hinter den Dingen und wartete darauf, dass er am nächsten Morgen die Augen aufschlug und sich erneut diesem Albtraum stellte.
Ein Streichholz flammte auf. Swicegood zündete sich eine Zigarette an und blies die Flamme aus. Mit Daumen und Zeigefinger erstickte er die Glut, bevor er das Streichholz zu Boden warf. Dann zog er an seiner Zigarette und blies einen dünnen Rauchfaden in die Wüste.
»Ich habe mich gerade gefragt, Mr Innis, ob wohl jemand eine Zeit lang auf Ihre Tochter aufpassen könnte.« Will wandte sich zu dem Detective und blickte ihn fragend an. In seinem Kopf ging alles durcheinander, und es dauerte einen Moment, bis er begriff, was der Mann gesagt hatte.
»Warum sollte jemand auf sie aufpassen?«
»Ich dachte, wir beide könnten auf die Polizeiwache fahren und uns ein bisschen unterhalten.«
Die Luft prickelte auf einmal.
»Worüber?«
»Ich warte in meinem Auto. Es steht hinter den Nachrichtenwagen mit den Satellitenschüsseln auf den Dächern. Gehen Sie hinein und kümmern Sie sich um die Betreuung Ihrer Tochter, und dann kommen Sie zu mir.«
Will kippte den restlichen Whiskey herunter und stellte das Glas auf einen Zaunpfosten. Die Dunkelheit schien ihm entgegenzukommen. Schweiß trat ihm auf die Stirn, und er fröstelte.
»Scheiße.« Er wandte sich taumelnd ab und erbrach sich auf
den Rasen. Vornübergebeugt blieb er stehen und blickte zum Haus, auf all die Silhouetten, die sich wie Gespenster hinter den Fenstern bewegten. Um ihn herum war nur die dunkle Stille der Wüste. Er wischte sich über den Mund. »Meinen Sie das ernst?«, fragte er.
»Ja.«
»Muss ich einen Anwalt mitbringen?«
»Ich wüsste nicht, warum. Sie sollen mir nur ein paar Fragen beantworten, damit ich mir ein klareres Bild machen kann. Also, in fünf Minuten an meinem Auto.«
7
Javier wollte Kaffee - starken, heißen Kaffee -, und wie auf ein Stichwort tauchte ein paar Hundert Meter weiter ein Schild auf, das auf einen Starbucks neben einer Tankstelle an der Autobahn hinwies.
Es machte ihn zwar nervös, die Frau allein zu lassen, aber sie stellte eigentlich keine Gefahr dar, da sie unter Drogen stand. Und wenn er heil in Idaho ankommen wollte, ohne einzuschlafen und sie beide umzubringen, brauchte er dringend Koffein.
Im Laden duftete es nach Kaffee. Die verchromten Geräte glänzten und aus den Lautsprechern an der Decke drang Musik.
In der Schlange vor ihm standen neun Personen. Rachael trieb in einem warmen, dunklen Meer. Es schien Jahre zu dauern, bis sie endlich die Augen öffnen konnte, und als sie es tat, schaute sie blinzelnd in grelle Lichter. Um sie herum war Lärm. Sie stöhnte leise, allerdings nicht aus Schmerz, sondern aus brennender Euphorie.
Sie saß, mit dem Sicherheitsgurt angeschnallt, auf dem Beifahrersitz des Escalade. Der Wagen stand, aber der Motor lief. Mühsam drehte sie den Kopf zum Fahrersitz. Er war leer. Sie blickte durch die getönten Scheiben und versuchte, ihre Umgebung zu erkennen, aber schon die leiseste Bewegung ließ alles verschwimmen. Es kostete sie außergewöhnliche Willenskraft, ihre Gedanken nicht abschweifen zu lassen, aber dumpf war sie sich bewusst, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Sie wusste nur nicht, was passiert oder wie sie hierher gekommen war. Sie wusste nur, dass sie aus dem Auto herausmusste, bevor der Fahrer zurückkam.
Wenn sie ganz still saß, konnte sie die Umgebung draußen erkennen. Sie sah die hellen Lichter einer vertrauten Kette. Der Escalade parkte neben dem Eingang.
Drinnen hatte sich eine Schlange vor der Kasse gebildet. Der Mann, der den Escalade gefahren hatte, stand am Ende und beobachtete sie.
Von seinem Platz aus konnte Javier durch die große Glasfront erkennen, dass die Frau nicht mehr bewusstlos war, sondern sich aufsetzte.
Eine Kundin nahm ihr Getränk entgegen, und die Schlange rückte vor.
Das nächste Paar bestellte Latte Macchiato und Kuchen. Er stand direkt neben der Vitrine und sah zu, wie die Hand des stämmigen Barista zwei Stück Krümelkuchen herausholte. Er blickte nach draußen. Die Frau schaute nach unten. Wahrscheinlich hatte sie gemerkt, was er mit dem Gurt gemacht hatte.
Der nächste Kunde, ein LKW-Fahrer.
»Nur Kaffee, Schätzchen.«
Guter Mann. Dann eine Frau, die irgendein ein teures Wasser wollte, eine kurze Transaktion mit der Kreditkarte, und Vorfreude stieg in Javier auf. Gleich würde er sein Koffein bekommen und endlich weiterfahren können.
Sie wollte den Sicherheitsgurt lösen, musste aber feststellen, dass der Knopf dick mit Klebeband umwickelt war. Zu benommen und zu schwach, um es abzureißen, hob sie den Arm.
Beim vierten Versuch gelang es ihr, den Schalter zu betätigen, der die Scheibe heruntergleiten ließ. Rasch verschwand das getönte Glas in der Tür. Nachtluft drang ins Auto. Es roch nach Benzin und Öl. Von der Autobahn drang das unablässige Rauschen des Verkehrs. Die Luft war viel zu kühl für Süd-Arizona, und obwohl die Drogen sie benommen machten, fragte sie sich, wie weit sie wohl von zu Hause weg war.
Jetzt war nur noch eine Familie vor ihm - Vater und Mutter, ein Mädchen im Teenageralter und ein kleiner Junge, der Javier schon verstohlen musterte, seit er den Laden betreten hatte.
Vater: Kaffee.
Junge: Heiße Schokolade.
Mädchen: Latte Macchiato.
Javier blickte zu seinem Escalade und sah, wie das Fenster herunter glitt.
Mutter: »Ich möchte gerne einen geeisten, geschäumten, zehn Mal gepumpten Magermilch-Chai Latte, aber ohne Schaum.«
Javier starrte finster auf die Registrierkasse. Seine Schläfen begannen zu pochen.
Der Barista grinste. »Können Sie das bitte wiederholen? Eine Spur langsamer bitte.«
»Geeist. Mit Magermilch. Geschäumt. Chai latte. Zehn Mal gepumpt. Ohne Schaum.«
»Das zusätzliche Pumpen muss ich extra berechnen.«
»Das macht nichts.«
»Ich bin heute erst den zweiten Tag da, also lassen Sie mich das mal klarstellen. Wenn Sie ›Magermilch‹ sagen ...«
»Dann meine ich Milch ohne Fett.«
Der Barista verzog das Gesicht. »Die ist gerade alle.«
»Oh nein.« Die Mutter sank in sich zusammen. Javier schätzte, dass sein Blutdruck bestimmt schon auf 130/90 gestiegen war. Seine Ohrläppchen prickelten.
»Wir haben zweiprozentige.«
»Und einprozentige?«
»Tut mir leid.«
»Und wenn sie ihn mit Wasser machen?«
»Mit Wasser?«
»Statt geschäumter Milch.«
»Hm, das habe ich noch nie gehört, aber das ginge wahrscheinlich. Sie sind die Kundin.«
Er würde nicht den Mund halten können, wie er gehofft hatte, und er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass er etwas Explosives und Schreckliches tun würde, wenn er einfach nur geduldig dabeistand und wartete, wie damals in Juarez.
Javier öffnete den Mund, sagte allerdings nicht, was er eigentlich sagen wollte, sondern nur etwas, um sich selbst herunterzufahren.
»Haben Sie es schon einmal mit normalem Kaffee probiert?«, fragte er fröhlich. Die ganze Familie drehte sich zu ihm um. Javier lächelte, spürte aber gleichzeitig, wie der Hass durch seine Zähne entwich. »Heute Abend gibt es die Jubiläumsmischung. Sie sagen einfach nur ›Jubiläumsmischung, bitte‹. Keine komplizierte Bestellung. Und wissen Sie was? Der Barista muss einfach nur einen Becher nehmen, oder eine Tasse, wenn es für hier ist, und sie füllen. Und dann sind Sie fertig, und die nächste Person kann bestellen.«
»Ich brauche lange, nicht wahr?«, sagte die Mutter. »Entschuldigung.«
»Ist dies Ihr Lieblingsgetränk?«
»Erwischt! Ich trinke pro Tag zwei Chai Latte mindestens.«
»Ah.«
»Darf ich Sie zu Ihrem Kaffee einladen? Für die Unannehmlichkeiten?« Er sah ihr nicht an, ob es ihr wirklich leidtat oder ob sie ihn für ein Riesenarschloch hielt, aber er bewunderte, wie sie mit der Situation umging, auch wenn er sie eigentlich verachtete.
»Nein, danke.«
Aus dem Starbucks kam eine Familie mit einem Tablett voller Getränke.
Rachael beugte sich vor und hängte ihre Arme aus dem Fenster. Das Kinn stützte sie auf die Gummiabdichtung. Sie hob einen Arm und ließ ihn mit einem Knall gegen die Tür fallen. Die Familie war schon an ihr vorbeigegangen, ohne Notiz von ihr zu nehmen.
Erneut hob sie den Arm und knallte ihn gegen die Tür. Der kleine Junge blickte sich um, und als er sie sah, kniff er die Augen zusammen. Hilf mir. Er legte den Kopf schräg und starrte sie an. Rachael
drückte ihr Gesicht an die Tür. Ihre Haut war leichenblass, sie schwitzte und schielte.
»Hilf mir«, formte sie mit den Lippen.
Der Junge trat an die Tür.
»Hilf mir«, flüsterte sie. »Ich gehöre nicht hierher.«
»Du siehst komisch aus«, sagte er. »Was ist mit deinen Augen los?«
Rachael kämpfte gegen eine erneute Ohnmacht an.
»Dannie, komm endlich! Du hältst alle auf!«
»Dad, mit der Frau stimmt irgendwas nicht.«
Oh, danke, danke. Das Heroin raste durch ihr Blut. Ihr wurde wieder schwarz vor Augen, und es fiel ihr zunehmend schwerer, sich auf den Jungen zu konzentrieren. Er schien in Devlins Alter zu sein. Jetzt stand ein Mann neben ihm und blickte sie mit gerunzelter Stirn an. Er war weich und rund, ein junger Vater, der erst noch seinen Babyspeck verlieren musste, in einer Khaki-Shorts und einem gelben Polohemd.
Seine Lippen bewegten sich, aber es dauerte einen Moment, bis sie die Bewegungen mit den Lauten koordinieren konnte, die aus seinem Mund kamen.
»... brauchen Sie einen Arzt?« Holen Sie mich hier heraus.
»... ist derjenige, der Sie fährt, im Wagen?« O Gott. Bitte.
»... ich verstehe kein Wort.«
Der braunhäutige, blauäugige Mann, der sie entführt hatte, trat hinter den Jungen und seinen Vater. Rachael versuchte, den Blick von seinen Stiefeln zu heben - anscheinend waren sie aus der schwarz-gelb gefleckten Haut von Krustenechsen gemacht.
Der Junge sagte: »Was hat sie?«
Javier lächelte. »Das ist eine persönliche Angelegenheit, mein Sohn.« Er trat ans Auto, hob Rachaels Kopf sanft von der Gummiumrandung und küsste sie auf die Wange. »Schlaf jetzt weiter, Liebes.« Rachael stöhnte und wehrte sich gegen ihn mit allem, was sie hatte. Aber das war nicht viel. Er öffnete die Tür, ließ die Scheibe wieder hochgleiten und schloss die Tür. Als er sich umdrehte, standen der Junge und sein Vater immer noch da. Das Fenster ging wieder herunter.
»Helfen Sie mir«, sagte Rachael und stöhnte so laut, dass alle es hören konnten.
»Was ist hier los?«, fragte der Vater des Jungen.
Javier seufzte, blickte einen Moment lang zu Boden und studierte einen Ölfleck auf dem Asphalt.
»Meine Frau ist heroinsüchtig«, sagte er schließlich. »Und sie hat sich einen Schuss gesetzt. So weit ...« Er hielt Daumen und Zeigefinger dicht zusammen. »... von einer tödlichen Überdosis entfernt. Ich fahre sie zum Entzug in Salt Lake.«
»Oh, das tut mir leid. Das muss schrecklich schwierig für Sie sein.«
»Ja. Es ist kaum auszuhalten.«
»Entschuldigen Sie, dass wir sie gestört haben. Komm, Donnie.«
»Aber sie hat doch um Hilfe gebeten, Dad.«
Javier hockte sich hin und blickte den Jungen eindringlich an.
Die Überwachungskameras außen hatte er bereits alle entdeckt.
»Denk immer daran«, sagte er zu dem Jungen. »Denn das ...« Er wies mit dem Daumen auf seinen Wagen, wo Rachael gegen die Scheibe schlug. »... das machen Drogen mit dir.«
»Gott behüte«, sagte der Vater des Jungen, packte seinen Sohn an der Schulter und ging mit ihm zu einem Minivan, der an einer der hinteren Tanksäulen stand.
Javier stieg in den Escalade. Er warf Rachael, deren Kopf auf das Armaturenbrett gesunken war, einen Blick zu.
»Weißt du überhaupt, was du gerade getan hast?«, sagte er.
Im Minivan verteilte Rick Carter gerade die Getränke aus dem Starbucks an seine Frau und die Kinder. Vor ihm lag eine lange Nacht, und mit ein bisschen Glück kamen sie morgen Nachmittag in Albuquerque an.
Er hatte gerade den ersten Schluck getrunken, als es an seine Scheibe klopfte. Er wandte den Kopf, und als er den Mann aus dem Escalade da stehen sah, zog sich sein Magen zusammen. Kurz überlegte er, ob er nicht einfach den Gang einlegen und wegfahren sollte.
»Was mag er von uns wollen?«, fragte seine Frau.
»Das werden wir sicher erfahren.« Er ließ die Scheibe ein paar Zentimeter herunter. »Kann ich Ihnen helfen?«
Javier blickte auf die Kinder auf dem Rücksitz, auf die hübsche Frau des Mannes. Im Auto roch es nach Starbucks.
»Haben Sie ein Handy dabei?«, fragte Javier.
»Ja, müssen Sie ...?«
»Haben Sie den Notruf angerufen?«
»Äh, nein. Warum sollte ich ...«
»Sind Sie sicher?«
»Hören, ich verstehe nicht, was Sie ...«
Javier riss die Tür auf und schoss dem Mann ins Gesicht.
Zweimal feuerte er auf den Rücksitz, damit das Schreien aufhörte, dann wandte er sich der Frau zu, die den Papierbecher in der linken Hand zerdrückt hatte. Der heiße Chai lief ihr über die Faust.
»Na, genießt du deine geeiste, fettarme, geschäumte Chai Latte ohne Schaum?« Er schoss ihr in die Kehle und schlug die Tür wieder zu.
Übersetzung: Margarethe van Pée
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Am Abend des letzten guten Tages, den sie beide in den nächsten Jahren erleben würden, zog das Mädchen die Glasschiebetür auf und trat auf die hintere Veranda.
»Daddy?«
Will Innis legte die Akte beiseite und zog Devlin auf seinen Schoß. Seine Tochter war klein für ihre elf Jahre, und er fühlte ihre zarten Knochen, als er die Arme um sie legte.
»Was tust du hier draußen?«, fragte sie. Ihre Stimme war noch belegt von der letzten Erkältung, die sie gehabt hatte.
»Ich arbeite an einem Plädoyer für meine Verhandlung morgen früh.«
»Vertrittst du wieder den Bösen?«
Will lächelte. »Du bist wie deine Mutter. So darf ich es nicht sehen, Süße.«
»Was hat er denn getan?« Die untergehende Sonne warf einen rötlichen Schimmer auf das Gesicht des kleinen Mädchens, und die helleren Strähnen in ihrem ansonsten tiefschwarzen Haar traten deutlicher hervor.
»Er ist wegen vermeintlichem ...«
»Was bedeutet das?«
»Vermeintlich?«
»Ja.«
»Das bedeutet, dass es nicht bewiesen ist. Er wird beschuldigt, Drogen verkauft zu haben.«
»So was, was ich genommen habe?«
»Nein, deine Drogen sind gut. Sie helfen dir. Er hat schlechte Drogen an die Leute verkauft.«
»Warum sind sie schlecht?«
»Weil du davon die Kontrolle über dich verlierst.«
»Warum nehmen die Leute sie denn dann?«
»Sie finden es schön, wie sie sich dann fühlen.«
»Und wie fühlen sie sich?«
Er küsste sie auf die Stirn und blickte auf seine Uhr. »Es ist schon nach acht, Devi. Komm, wir gehen mal inhalieren.«
Sie seufzte, widersprach aber nicht. Sie versuchte nie, die Prozedur zu umgehen. Er stand auf und trat mit seiner Tochter auf dem Arm ans Geländer.
Sie blickten in die Wildnis, die an Oasis Hill, ihren Vorort grenzte. Die Gärten bei den Häusern auf der No-Water Lane bestanden aus der Sonora-Wüste.
»Schau mal«, sagte er. »Siehst du sie?« In einiger Entfernung bewegten sich Punkte aus einer trockenen Schlucht durch die Wüste auf einen schattenlosen Wald aus riesigen Kakteen zu, die sich gegen den Horizont abzeichneten.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Kojoten. Wollen wir wetten, dass sie anfangen zu jaulen, wenn die Sonne untergeht?«
Als Devlin im Bett lag, las er ihr aus Gefangene der Zeit vor. Sie waren mittlerweile schon beim vorletzten Kapitel angelangt, aber Devlin war erschöpft und schlief ein, noch ehe Will die zweite Seite beendet hatte.
Er klappte das Buch zu, legte es auf den Teppich und schaltete das Licht aus. Kühle Wüstenluft drang durch ein offenes Fenster ins Zimmer. Im Nachbargarten surrte die Bewässerungsanlage. Devlin gähnte und gab einen gurrenden Laut von sich. Er musste daran denken, wie er sie als Baby in den Schlaf gewiegt hatte. Ihre Augenlider flatterten, und sie sagte leise: »Mom?«
»Sie hat Spätdienst in der Klinik, Süße.«
»Wann kommt sie nach Hause?«
»In ein paar Stunden.«
»Sagst du ihr, sie soll noch zu mir kommen und mir einen Kuss geben?«
»Ja, das mache ich.«
Er war mit seinen Vorbereitungen auf die morgige Verhandlung noch nicht fertig, aber er blieb und strich Devlin über die Haare, bis sie wieder eingeschlafen war. Schließlich erhob er sich vorsichtig von ihrem Bett und ging auf die Terrasse, um seine Bücher und Akten zu holen. Vor ihm lag eine lange Nacht. Eine Kanne mit starkem Kaffee würde ihm sicherlich helfen.
Nebenan schwiegen die Sprinkler. Eine einsame Grille zirpte in der Wüste.
Irgendwo über Mexiko zuckten Blitze über den Himmel, und die Kojoten begannen zu heulen.
2
Das Gewitter holte Rachael Innis fünfzig Kilometer nördlich der mexikanischen Grenze ein. Es war halb zehn Uhr abends, und sie hatte einen langen Tag in der freien Klinik in Sonoyta hinter sich, wo sie einmal in der Woche kostenlos ihre Zeit und ihre Dienste als zweisprachige Psychologin zur Verfügung stellte. Die Scheibenwischer glitten hin und her, und im Licht der Scheinwerfer sah sie, dass Dampf vom Asphalt der Straße aufstieg. Im Rückspiegel sah Rachael etwa hundertfünfzig Meter entfernt die Scheinwerfer, die sie seit zehn Minuten verfolgten.
Auf dem Seitenstreifen direkt vor ihr tauchten auf einmal leuchtende Punkte auf. Sie trat heftig auf die Bremse und der Grand Cherokee geriet ins Schleudern, bevor er zum Stehen kam. Ein Reh und sein Kitz traten mitten auf die Straße und blickten wie gebannt in das grelle Licht. Rachael ließ die Stirn aufs Lenkrad sinken, schloss die Augen und holte tief Luft.
Die Tiere verschwanden, und sie fuhr wieder an. Einen weiteren Kilometer fuhr sie durch die Dunkelheit. Es hatte zu hageln begonnen, und die Körner prasselten auf die Motorhaube.
Der Cherokee brach wieder aus, und als sie versuchte, ihren Fahrfehler zu korrigieren, verlor sie erneut beinahe die Kontrolle über den Wagen. Rachael nahm den Fuß vom Gaspedal und hielt am Straßenrand an.
Als sie den Motor abstellte, war nur noch das Prasseln des Hagels zu hören. Das Auto, das hinter ihr gefahren war, schoss vorbei. Sie legte ihre Brille auf den Beifahrersitz, öffnete die Tür und trat prompt mit ihren Pumps in eine Pfütze. Der Regen durchnässte ihr schwarzes Kostüm. Sie fröstelte. Blitze zuckten über den pechschwarzen Himmel. Vorsichtig tastete sie sich an der Motorhaube entlang.
Nur ein paar Hundert Meter entfernt schlug ein Blitz in die Wüste ein. Ihr Körper prickelte, und das Blut in ihren Ohren rauschte. Ich werde verschmoren. Donnerschläge krachten und Blitze zuckten, und kurz wurde es so hell, dass sie sehen konnte, dass die Reifen auf der Fahrerseite intakt waren.
Ihre Hände zitterten jetzt. Ein großer Säulenkaktus stand brennend wie ein Kreuz in der Wüste. Hagelkörner, groß wie Murmeln, schlugen ihr auf den Kopf, als sie sich zur Beifahrerseite hangelte. Erneut erhellte ein Blitz die Landschaft.
In dem unheimlichen blauen Licht konnte sie erkennen, dass der Vorderreifen auf der Beifahrerseite platt war. Rachael setzte sich wieder ans Steuer. Im Spiegel sah sie, dass ihre Wimperntusche ihr wie schwarze Tränen übers Gesicht lief. Sie wrang ihre langen schwarzen Haare aus und massierte ihre Schläfen. Langsam bekam sie Kopfschmerzen. Ihre Tasche lag auf der Beifahrerseite auf dem Boden. Sie nahm sie auf den Schoß und kramte nach ihrem Handy. Als sie es gefunden hatte, wählte sie die Nummer ihres Mannes, aber wegen des heftigen Gewitters hatte sie keinen Empfang.
Rachael drehte sich um und betrachtete den Ersatzreifen, der hinten im Cherokee lag. Sie hatte keine Möglichkeit, den Automobilclub zu erreichen, und um diese späte Stunde würden nur wenige Autos auf diesem entlegenen Highway vorbeikommen.
Ich warte einfach und rufe Will noch einmal an, wenn das Gewitter nachgelassen hat.
Sie umklammerte das Lenkrad und starrte durch die Windschutzscheibe in das Unwetter, das irgendwo im Norden der Grenze im Organ Pipe Cactus National Monument niederging. Mitten im Nirgendwo.
Ein besonders heller Blitz zuckte über den Himmel. In diesem Bruchteil einer Sekunde sah sie einen schwarzen Escalade, der ein Stück weiter auf dem Randstreifen geparkt hatte.
Der Donner ließ die Fensterscheiben klirren. Fünf Sekunden vergingen. Als der Himmel wieder taghell erleuchtet wurde, verspürte Rachael auf einmal den unwiderstehlichen Drang, zur Beifahrerseite zu blicken.
Ein Mann schwang eine Brechstange gegen die Scheibe.
3
Will fuhr erschreckt auf, desorientiert und durstig. Es war so still - nur das leise Rauschen des Computerventilators und das Ticken der Uhr im Schlafzimmer nebenan waren zu hören. Er war auf dem ledernen Schreibtischsessel in seinem kleinen Arbeitszimmer eingeschlafen. Der Computer war noch an, und der Monitor war auf Energiesparmodus heruntergefahren.
Während er noch gähnte, überfiel ihn erneut Nervosität. Er hatte an seinem Schlussplädoyer gearbeitet und gegen zehn Uhr festgestellt, dass er verlieren würde. Nur einen Moment lang hatte er die Augen geschlossen, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Er griff nach seinem Kaffeebecher und trank einen Schluck.
Kalt und bitter. Als er die Mouse bewegte, und der Bildschirm zum Leben erwachte, stellte er fest, dass er heute Nacht gar nicht mehr ins Bett zu gehen brauchte. Es war 4.09 morgens. In weniger als fünf Stunden musste er vor Gericht erscheinen. Das Wichtigste zuerst - er brauchte sofort einen starken Kaffee.
Sein Arbeitszimmer grenzte an das große Schlafzimmer, und als er es auf dem Weg in die Küche durchquerte, fiel ihm etwas Merkwürdiges auf. Er hatte eigentlich erwartet, seine Frau unter den Quilts und Decken auf ihrem Bett liegen zu sehen, aber sie war nicht da. Die Tagesdecke war unberührt, seit sie gestern früh das Bett gemacht hatten.
Er ging durch Wohnzimmer und Esszimmer und dann den Gang entlang. Wahrscheinlich war Rachael nach Hause gekommen, hatte ihn am Schreibtisch gesehen und war gleich nach oben gegangen, um Devlin einen Kuss zu geben. Und dann war sie wohl, erschöpft von ihrem langen, anstrengenden Arbeitstag, dort eingeschlafen. Er sah ihre Gesichter im Schein des Nachtlichts bereits vor sich, als er die Tür zum Zimmer seiner Tochter erreichte.
Sie war nur angelehnt, so wie er das Zimmer vor sieben Stunden verlassen hatte.
Er schob die Tür auf. Rachael war nicht bei Devlin. Mit einem Schlag war Will hellwach. Er schloss die Tür zu Devlins Zimmer und eilte wieder ins Esszimmer.
»Rachael? Bist du da, Liebes?«
Er ging zur Haustür, schob den Riegel zurück und trat nach draußen.
Dunkle Häuser. Licht an den Eingängen. Die Straßen noch nass von dem Gewitter, das vor einigen Stunden niedergegangen war. Kein Wind, der Himmel sternenklar.
Als er sie in der Einfahrt sah, gaben seine Knie nach. Er ließ sich auf die Stufen sinken und versuchte, ans Atmen zu denken. Ein Beamer, kein Cherokee und zwei Streifenwagen, aus denen zwei uniformierte Beamte auf ihn zukamen, die Kappen unter die Arme geklemmt.
Die Streifenpolizisten setzten sich auf die Couch im Wohnzimmer.
Will ließ sich auf einem Sessel ihnen gegenüber nieder.
Am vergangenen Wochenende hatten er und Rachael die Wände und die Gewölbedecke in einem Terrakotta-Ton gestrichen, und es roch noch stark nach Farbe. Die meisten der Schwarz-Weiß-Fotografien, die für gewöhnlich die Wände zierten, lehnten noch an der antiken Kommode und warteten darauf, wieder aufgehängt zu werden.
Die Gesetzeshüter berichteten ihm sachlich und mit ruhiger Stimme, was passiert war. Sie wechselten sich ständig ab, als ob sie vorher geübt hätten, wer was sagen sollte.
Viele Informationen gab es noch nicht. Rachaels Cherokee war auf dem Seitenstreifen der Arizona 85 in Organ Pipe Cactus National Monument gefunden worden. Der rechte Vorderreifen war platt. Jemand hatte einen Nagel hineingedrückt, damit der Reifen langsam und stetig Luft verlor. Das Fenster an der Beifahrerseite war eingeschlagen. Keine Rachael. Kein Blut.
Sie stellten Will ein paar Fragen. Sie versuchten, mitfühlend zu reagieren und sagten ihm, wie leid es ihnen täte. Bill starrte zu Boden. Sein Brustkorb zog sich zusammen, als ob ihm langsam die Luft abgeschnürt würde.
Irgendwann einmal blickte er auf, und da stand Devlin in der Diele, in einem rosa T-Shirt, das bis zum Boden reichte. Die zerschlissene Decke, mit der sie jede Nacht seit ihrer Geburt einschlief, hing über ihrem linken Arm. An ihrem Blick sah er, dass sie jedes Wort gehört hatte, das die Streifenpolizisten über ihre Mutter gesagt hatten. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
4
Rachael Innis war mit Gurtbändern an den Ledersitz hinter dem Fahrer gefesselt. Sie starrte auf die Lichter am Armaturenbrett. Die Digitaluhr zeigte 4.32 Uhr an. Sie konnte sich nur noch an die Brechstange erinnern, die die Scheibe eingeschlagen hatte. Danach wusste sie nichts mehr.
Aus der Bose-Stereoanlage ertönte Bachs Suite für vier Lauten mit John Williams an der klassischen Gitarre. Draußen zeigte sich bereits ein schwacher Lichtstreifen am Horizont, und obwohl sie in einem luxuriösen SUV saß, spürte sie deutlich die Schlaglöcher des primitiven Wegs, den sie entlangfuhren.
Ihre Handgelenke und ihre Knöchel waren fest mit Nylonschnur umwickelt. Sie war nicht geknebelt. Von ihrem Platz aus konnte sie nur den Hinterkopf des Fahrers sehen, und gelegentlich zeichnete sich in der Glut seiner Zigarette sein Profil ab. Er war glatt rasiert, hatte dunkle Haare und roch unaufdringlich nach einem würzigen Rasierwasser.
Kurz ging ihr durch den Kopf, dass er gar nicht wusste, dass sie wach war, aber sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als er sie auch schon im Rückspiegel musterte. Sie fuhren weiter. Nagetiere huschten über die Straße, und ein Gedanke quälte sie: Er wollte ihr etwas antun. Nur deshalb fuhr er so tief mit ihr in die Wüste hinein. Irgendwann würde er anhalten.
»Hast du auf meinen Sitz uriniert?« Sie meinte, einen ganz leichten Akzent zu hören.
»Nein.«
»Sag mir Bescheid, wenn du pinkeln musst. Dann halte ich an.«
»Okay. Wo sind Sie ...«
»Halt den Mund. Du sagst nur etwas, wenn du pinkeln musst.«
»Ich wollte nur ...«
»Soll ich dir den Mund zukleben? Du hast eine Erkältung. Es würde dir schwerfallen, Luft zu holen.«
Devlin war das Einzige, um das sie jemals gebetet hatte, und das war schon Jahre her, aber während sie jetzt auf die Büsche und Kakteen blickte, die an den getönten Scheiben vorbeizogen, flehte sie Gott erneut an.
Jetzt wurde der Escalade langsamer und hielt schließlich an.
Er schaltete den Motor aus, stieg aus und schloss die Tür. Ihre Tür wurde geöffnet. Er stand da und sah sie an. Er sah sehr gut aus, mit makelloser brauner Haut (abgesehen von einer Kerbe auf dem Nasenrücken), leuchtend blauen Augen und schwarzen Haaren, die er mit Gel zurückgekämmt hatte. Seine schönen Zähne schimmerten in der Dunkelheit. Rachael holte tief Luft, sodass sich die Riemen um ihre Brust spannten.
»Ganz ruhig, Rachael«, sagte er. Aus seinem Mund klang ihr Name wie ein fremdes Wort. Er holte eine Spritze aus seiner schwarzen Lederjacke und zog die Kappe von der Nadel.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Du hast schöne Venen.« Er beugte sich vor und ergriff ihren Arm. Als die Nadel eindrang, keuchte sie auf.
»Bitte. Wenn dies eine Entführung ist ...«
»Nein, nein. Du gehörst mir schon. Im Moment gibt es für dich keinen sichereren Platz auf der Welt, als in meinem Besitz zu sein.«
Ein Rudel Kojoten begann irgendwie draußen in der leeren Dunkelheit zu heulen. Es hörte sich an wie die Schreie einer Frau, die bei lebendigem Leib verbrannte. Auch Rachael begann zu schreien, bis die Droge von ihr Besitz ergriff.
5
Nach vier Uhr nachmittags trudelten sie nacheinander ein. Gegen fünf war Rachaels Verschwinden der Aufmacher sämtlicher Nachrichtensender, sogar in Tucson und Phoenix. Und gegen sechs standen mehr Autos an der No-Water Lane als beim letzten Vierter-Juli-Barbecue der Hasslers.
Um Viertel nach sieben abends hielten sich mehr als vierzig Personen in Wills und Rachaels bescheidenem, kleinem Lehmsteinhaus in Ajo, Arizona, auf. Sie saßen im Esszimmer, im Wohnzimmer, in der Küche, ja sogar auf der Terrasse. Es war eine seltsame Versammlung. Man hatte das Gefühl, sich auf einem Leichenschmaus zu befinden, es gab zu essen und zu trinken, Gespräche fanden im Flüsterton statt, niemand lachte. Will, der mit Devlin im Arm auf dem Sofa saß, dachte, dass all die, die er liebte, Freunde, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, Nachbarn, mit denen er kaum ein Wort wechselte, dass all diese Leute gekommen waren, um mit ihm Wache zu halten.
Sie warteten darauf, dass verkündet wurde, man habe sie gefunden, obwohl jeder wusste, dass normalerweise niemand, der so nahe an der Grenze verloren ging, lebend, wenn überhaupt jemals, gefunden wurde.
»Will?« Er erwachte aus seiner Erstarrung und blickte Rachaels Mutter an, die mit einem Glas Bourbon in der Hand an den eingebauten Bücherregalen stand.
Debra sah ihrer Tochter sehr ähnlich, bis hin zu ihrer schlanken Figur und ihren schwarzen Haaren. Von Weitem hätte man sie für Schwestern halten können. Aus der Nähe betrachtet jedoch sah man die silbernen Strähnen und die ledrige Haut, die vom jahrzehntelangen Aufenthalt in der unbarmherzigen Wüstensonne kam.
»Ich weiß nicht mehr, ob du Eis nimmst oder nicht«, sagte sie.
»Doch, ich nehme Eis. Danke, das ist perfekt.« Sie reichte ihm seinen vierten Whiskey.
»Kann ich sie nehmen?« Debra wies auf ihre Enkelin, die in Wills Armen eingeschlafen war. Eigentlich hätte er es zugelassen, aber sie war vollgepumpt mit Valium und Wodka.
»Sie muss mich spüren, Mom.« Sein Gesicht rötete sich, als er den Whiskey trank, und einen Moment lang malte er sich aus, dass er in seinem Bourbonrausch gar nicht mitbekommen hatte, dass Rachaels Beerdigung bereits stattgefunden hatte. Es waren Trauerreden gehalten worden, die Sargträger hatten ernste Gesichter gemacht, und Devlin war in Tränen ausgebrochen, als der Sarg mit ihrer Mutter hinuntergelassen worden war.
Schwankend stand er auf und trug Devlin in ihr Zimmer.
Sie war mittlerweile völlig erschöpft. Er allerdings auch. Er legte sie ins Bett, deckte sie zu und hockte sich auf den Fußboden, um ihr beim Schlafen zuzusehen. Bei jedem Atemzug schmerzte sein Brustkorb. Nach einer Weile stand er auf und ging in sein Schlafzimmer. In Rachaels und sein Schlafzimmer. Er verschloss und verriegelte die Tür hinter sich und öffnete die Truhe, die am Fußende ihres Bettes stand.
Es lag ganz unten - ein verschlissenes Sweatshirt, das Rachael immer trug, wenn es kühler wurde. Es war marineblau, und vor Jahren hatte es den Schriftzug ihrer Universität getragen. Die weißen Buchstaben waren jedoch im Laufe der Zeit der Waschmaschine zum Opfer gefallen.
Er drückte das Sweatshirt ans Gesicht und roch seine Frau. Auf seinem Weg zurück ins Esszimmer blieb er am Gästezimmer stehen. Hinter der Tür schluchzte jemand laut. Er öffnete die Tür. Das Licht war ausgeschaltet, aber als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er die schwerfällige Gestalt von Rachaels Schwester Elise, die in der Ecke neben der Kommode kauerte.
»Alles in Ordnung?«, fragte er. Es dauerte einen Moment, bis sie ihre Stimme wiederfand. Er blickte über ihren Kopf aus dem Fenster, und ihm fiel auf, dass im Vorgarten seltsame Lichter waren.
»Sie ist tot, Will. Ich spüre es.« Er schloss die Augen und versuchte sich gegen ihre Worte zu wappnen. Am liebsten hätte er sie geschlagen, weil sie die Befürchtung aussprach, die alle insgeheim hegten. »Spürst du es nicht auch, Will?« Er verließ das Zimmer und ging wieder ins Esszimmer. Sein Whiskey stand noch auf dem Tisch.
Mit einem großen Schluck verstärkte er das wundervolle Kissen, das ihn vor der Realität abschirmte. Der Raum um ihn herum summte, und wenn er noch mehr trinken würde, würde sich alles drehen.
Er war gerade auf dem Weg zur Haustür, um nachzusehen, was es mit den merkwürdigen Lichtern auf sich hatte, als ihn jemand am Arm packte.
»Hey, Will. Sie halten doch durch, oder?« Er konnte sich an den Namen des Mannes nicht erinnern, und dann fiel ihm ein, warum. Er wohnte in der Nachbarschaft, aber sie hatten sich nie kennengelernt. Will erkannte ihn nur, weil der Mann jeden Samstagmorgen, wenn Will und Rachael auf dem Weg ins Fitnessstudio an seinem Haus vorbeifuhren, seinen weißen Lexus in der Einfahrt wusch. Er war in Wills Alter, Latino.
»Entschuldigung, wie ist Ihr Name?«, fragte Will.
»Miguel. Sie und Ihre Frau winken immer, wenn Sie an meinem Haus vorbeifahren. Ich habe die Nachrichten gesehen und all die Autos da draußen. Ich dachte, ich komme mal vorbei. Wenn ich etwas tun kann ...«
Will spürte, wie ihm Tränen in die Augen traten, und ob es nun am Whiskey oder an diesem ganzen, schrecklichen Tag lag, er war plötzlich völlig überwältigt von der Freundlichkeit dieses Mannes, den er nur durch Gesten kannte.
»Danke, Miguel.« Er wischte sich über die Augen und räusperte sich. »Wollen Sie sich nicht etwas zu essen oder zu trinken holen? In der Küche ist ein Riesen-Büffet aufgebaut.«
Als Miguel gegangen war, öffnete Will die Haustür und trat auf die Veranda.
»O Gott«, flüsterte er. Das Kissen löste sich auf, und das ganze Gewicht von Rachaels Abwesenheit drückte ihn nieder. Er sank auf die Stufen. Das alles passiert also wirklich. Vor dem Haus stand der Lieferwagen eines Nachrichtensenders, eine große Satellitenschüssel auf dem Dach. Und auf dem Rasen stand etwa ein Dutzend Leute im Kreis zwischen den Yuccas und Saguaros. Sie hielten Kerzen in den Händen, deren Flammen im Abendwind aus der Wüste flackerten.
Er betrachtete den Flammenkreis. Der Himmel wurde dunkler, und er hatte solche Magenschmerzen, dass er nur ganz flach atmen konnte.
Die Stimme einer Frau sagte: »Gott im Himmel, du sagst, du bist anwesend, wo sich auch nur zwei in deinem Namen versammeln. Nun, hier stehen wir, Herr, und bitten dich darum, uns Rachael Innis zurückzubringen.«
Schwankend stand er auf und stolperte auf sie zu. Er hatte seit Jahren nicht mehr gebetet, seit sie erfahren hatten, dass ihre Tochter krank war. Er war sauer auf Gott gewesen. Das war heute Nacht vorbei.
6
Will trat aus dem Kerzenkreis und wandte sich zum Haus, um nach Devlin zu schauen. Er hatte es zwar eigentlich gewollt, aber dann hatte er doch nicht laut gebetet. Es war schon zu lange her, und seine Kommunikation mit Gott war eingerostet, vor allem in der Gegenwart fremder Menschen.
Er war gerade an der Haustür angekommen, als sie aufging. Rachaels Mutter stand auf der Schwelle.
»Im Wohnzimmer wartet ein Detective, Will. Er möchte mit dir sprechen.«
Aus irgendeinem Grund hatte Will einen jüngeren Mann erwartet, jemanden in seinem Alter, mit militärisch kurzen Haaren und strengem, misstrauischem Blick. Als Verteidiger hatte er viel mit Polizisten zu tun, und seiner Meinung nach waren die meisten süchtig nach Autorität, ein fantasieloser, reaktionärer Haufen, der sich rasch eine starre Meinung von etwas bildete. Aber auf den ersten Blick entsprach der Detective, der auf seiner Couch saß, nicht diesen Vorurteilen. Er saß zwischen zwei Freundinnen Rachaels aus dem Yogakurs, die Hände fl ach auf den Knien, und betrachtete mit stoischer Ruhe eine gerahmte Fotografie über dem Kaminsims - eine Aufnahme aus ihrem Sommerurlaub im Grand Canyon vor zwei Jahren.
Er war ein älterer, glatt rasierter Herr mit dichten weißen Haaren und klaren blauen Augen. Als er Will sah, stand er auf, knöpfte sein Jackett zu und lächelte ihn verhalten an.
»Mr Innis«, sagte er, als sie einander die Hände schüttelten.
»Detective Teddy Swicegood. Wenn ich mich nicht irre, haben sie mich vor Gericht ein paarmal im Kreuzverhör vernommen. Aber keine Sorge - ich nehme es Ihnen nicht übel. Es tut mir leid, dass ich unter diesen Umständen hier sein muss.«
Er war mindestens einen Kopf größer als Will, und trotz seines Alters war sein Händedruck kräftig und seine Figur schlank und durchtrainiert.
»Haben Sie Neuigkeiten?«, fragte Will.
»Hier drin ist es ziemlich voll. Können wir irgendwo unter vier Augen miteinander sprechen?«
»Ja. Möchten Sie etwas zu trinken?«
»Einen Whiskey würde ich nicht ablehnen.«
Will schenkte zwei Whiskeys ein und führte Swicegood durch die Glasschiebetür. Auf der Terrasse hielten sich sechs Personen auf, von denen Will die meisten nicht kannte. Sie saßen auf Stühlen, die sie sich aus der Küche geholt hatten, und aßen von Papptellern, als seien sie auf einer Sommerparty. Die beiden Männer gingen die Stufen hinunter und durch das Gras zu dem verwitterten Zaun, der die Gärten von Oasis Hills von der Wüste trennte.
Will lehnte sich an den Zaun. »Sagen Sie es mir einfach. Reden Sie nicht um den heißen Brei herum«, sagte er.
»Unsere Einsatzkräfte durchkämmen den Südwesten, und wir arbeiten auch mit den mexikanischen Behörden zusammen.«
»Sie haben sie noch nicht gefunden?«
Swicegood schüttelte den Kopf.
»Aber Sie glauben, sie ist noch am Leben?«
»Ich weiß nicht.«
»Ihre Meinung?«
»Mr Innis, es ist einfach noch zu früh, um ...«
»Bitte. Sie brauchen mich nicht mit Glacé-Handschuhen anzufassen.«
»Der Teil des Highways, auf dem sie verschwunden ist, ist eine üble Strecke. Drogenhandel, Menschenhandel. Es sieht nicht gut aus.«
Die Worte trafen Will wie Säure. Eine neue Welle von Trauer, größer und schmerzhafter als die vorherige, überwältigte ihn. Stumm standen sie da, tranken ihren Bourbon und blickten über die Wüste nach Mexico, wo noch ein letzter schmaler Lichtstreifen am Horizont lag.
Aber dann verschwand auch er, und auf einmal war der Himmel übersät mit funkelnden Sternen. Ein Kojote heulte. Ein großes Tier, wahrscheinlich ein Maultierhirsch, raschelte im Unterholz. Will dachte an Rachael, die irgendwo dort draußen war. Vielleicht lebte sie, vielleicht nicht - der Schmerz würde unweigerlich noch größer werden. Er lauerte bereits hinter den Dingen und wartete darauf, dass er am nächsten Morgen die Augen aufschlug und sich erneut diesem Albtraum stellte.
Ein Streichholz flammte auf. Swicegood zündete sich eine Zigarette an und blies die Flamme aus. Mit Daumen und Zeigefinger erstickte er die Glut, bevor er das Streichholz zu Boden warf. Dann zog er an seiner Zigarette und blies einen dünnen Rauchfaden in die Wüste.
»Ich habe mich gerade gefragt, Mr Innis, ob wohl jemand eine Zeit lang auf Ihre Tochter aufpassen könnte.« Will wandte sich zu dem Detective und blickte ihn fragend an. In seinem Kopf ging alles durcheinander, und es dauerte einen Moment, bis er begriff, was der Mann gesagt hatte.
»Warum sollte jemand auf sie aufpassen?«
»Ich dachte, wir beide könnten auf die Polizeiwache fahren und uns ein bisschen unterhalten.«
Die Luft prickelte auf einmal.
»Worüber?«
»Ich warte in meinem Auto. Es steht hinter den Nachrichtenwagen mit den Satellitenschüsseln auf den Dächern. Gehen Sie hinein und kümmern Sie sich um die Betreuung Ihrer Tochter, und dann kommen Sie zu mir.«
Will kippte den restlichen Whiskey herunter und stellte das Glas auf einen Zaunpfosten. Die Dunkelheit schien ihm entgegenzukommen. Schweiß trat ihm auf die Stirn, und er fröstelte.
»Scheiße.« Er wandte sich taumelnd ab und erbrach sich auf
den Rasen. Vornübergebeugt blieb er stehen und blickte zum Haus, auf all die Silhouetten, die sich wie Gespenster hinter den Fenstern bewegten. Um ihn herum war nur die dunkle Stille der Wüste. Er wischte sich über den Mund. »Meinen Sie das ernst?«, fragte er.
»Ja.«
»Muss ich einen Anwalt mitbringen?«
»Ich wüsste nicht, warum. Sie sollen mir nur ein paar Fragen beantworten, damit ich mir ein klareres Bild machen kann. Also, in fünf Minuten an meinem Auto.«
7
Javier wollte Kaffee - starken, heißen Kaffee -, und wie auf ein Stichwort tauchte ein paar Hundert Meter weiter ein Schild auf, das auf einen Starbucks neben einer Tankstelle an der Autobahn hinwies.
Es machte ihn zwar nervös, die Frau allein zu lassen, aber sie stellte eigentlich keine Gefahr dar, da sie unter Drogen stand. Und wenn er heil in Idaho ankommen wollte, ohne einzuschlafen und sie beide umzubringen, brauchte er dringend Koffein.
Im Laden duftete es nach Kaffee. Die verchromten Geräte glänzten und aus den Lautsprechern an der Decke drang Musik.
In der Schlange vor ihm standen neun Personen. Rachael trieb in einem warmen, dunklen Meer. Es schien Jahre zu dauern, bis sie endlich die Augen öffnen konnte, und als sie es tat, schaute sie blinzelnd in grelle Lichter. Um sie herum war Lärm. Sie stöhnte leise, allerdings nicht aus Schmerz, sondern aus brennender Euphorie.
Sie saß, mit dem Sicherheitsgurt angeschnallt, auf dem Beifahrersitz des Escalade. Der Wagen stand, aber der Motor lief. Mühsam drehte sie den Kopf zum Fahrersitz. Er war leer. Sie blickte durch die getönten Scheiben und versuchte, ihre Umgebung zu erkennen, aber schon die leiseste Bewegung ließ alles verschwimmen. Es kostete sie außergewöhnliche Willenskraft, ihre Gedanken nicht abschweifen zu lassen, aber dumpf war sie sich bewusst, dass sie in Schwierigkeiten steckte. Sie wusste nur nicht, was passiert oder wie sie hierher gekommen war. Sie wusste nur, dass sie aus dem Auto herausmusste, bevor der Fahrer zurückkam.
Wenn sie ganz still saß, konnte sie die Umgebung draußen erkennen. Sie sah die hellen Lichter einer vertrauten Kette. Der Escalade parkte neben dem Eingang.
Drinnen hatte sich eine Schlange vor der Kasse gebildet. Der Mann, der den Escalade gefahren hatte, stand am Ende und beobachtete sie.
Von seinem Platz aus konnte Javier durch die große Glasfront erkennen, dass die Frau nicht mehr bewusstlos war, sondern sich aufsetzte.
Eine Kundin nahm ihr Getränk entgegen, und die Schlange rückte vor.
Das nächste Paar bestellte Latte Macchiato und Kuchen. Er stand direkt neben der Vitrine und sah zu, wie die Hand des stämmigen Barista zwei Stück Krümelkuchen herausholte. Er blickte nach draußen. Die Frau schaute nach unten. Wahrscheinlich hatte sie gemerkt, was er mit dem Gurt gemacht hatte.
Der nächste Kunde, ein LKW-Fahrer.
»Nur Kaffee, Schätzchen.«
Guter Mann. Dann eine Frau, die irgendein ein teures Wasser wollte, eine kurze Transaktion mit der Kreditkarte, und Vorfreude stieg in Javier auf. Gleich würde er sein Koffein bekommen und endlich weiterfahren können.
Sie wollte den Sicherheitsgurt lösen, musste aber feststellen, dass der Knopf dick mit Klebeband umwickelt war. Zu benommen und zu schwach, um es abzureißen, hob sie den Arm.
Beim vierten Versuch gelang es ihr, den Schalter zu betätigen, der die Scheibe heruntergleiten ließ. Rasch verschwand das getönte Glas in der Tür. Nachtluft drang ins Auto. Es roch nach Benzin und Öl. Von der Autobahn drang das unablässige Rauschen des Verkehrs. Die Luft war viel zu kühl für Süd-Arizona, und obwohl die Drogen sie benommen machten, fragte sie sich, wie weit sie wohl von zu Hause weg war.
Jetzt war nur noch eine Familie vor ihm - Vater und Mutter, ein Mädchen im Teenageralter und ein kleiner Junge, der Javier schon verstohlen musterte, seit er den Laden betreten hatte.
Vater: Kaffee.
Junge: Heiße Schokolade.
Mädchen: Latte Macchiato.
Javier blickte zu seinem Escalade und sah, wie das Fenster herunter glitt.
Mutter: »Ich möchte gerne einen geeisten, geschäumten, zehn Mal gepumpten Magermilch-Chai Latte, aber ohne Schaum.«
Javier starrte finster auf die Registrierkasse. Seine Schläfen begannen zu pochen.
Der Barista grinste. »Können Sie das bitte wiederholen? Eine Spur langsamer bitte.«
»Geeist. Mit Magermilch. Geschäumt. Chai latte. Zehn Mal gepumpt. Ohne Schaum.«
»Das zusätzliche Pumpen muss ich extra berechnen.«
»Das macht nichts.«
»Ich bin heute erst den zweiten Tag da, also lassen Sie mich das mal klarstellen. Wenn Sie ›Magermilch‹ sagen ...«
»Dann meine ich Milch ohne Fett.«
Der Barista verzog das Gesicht. »Die ist gerade alle.«
»Oh nein.« Die Mutter sank in sich zusammen. Javier schätzte, dass sein Blutdruck bestimmt schon auf 130/90 gestiegen war. Seine Ohrläppchen prickelten.
»Wir haben zweiprozentige.«
»Und einprozentige?«
»Tut mir leid.«
»Und wenn sie ihn mit Wasser machen?«
»Mit Wasser?«
»Statt geschäumter Milch.«
»Hm, das habe ich noch nie gehört, aber das ginge wahrscheinlich. Sie sind die Kundin.«
Er würde nicht den Mund halten können, wie er gehofft hatte, und er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass er etwas Explosives und Schreckliches tun würde, wenn er einfach nur geduldig dabeistand und wartete, wie damals in Juarez.
Javier öffnete den Mund, sagte allerdings nicht, was er eigentlich sagen wollte, sondern nur etwas, um sich selbst herunterzufahren.
»Haben Sie es schon einmal mit normalem Kaffee probiert?«, fragte er fröhlich. Die ganze Familie drehte sich zu ihm um. Javier lächelte, spürte aber gleichzeitig, wie der Hass durch seine Zähne entwich. »Heute Abend gibt es die Jubiläumsmischung. Sie sagen einfach nur ›Jubiläumsmischung, bitte‹. Keine komplizierte Bestellung. Und wissen Sie was? Der Barista muss einfach nur einen Becher nehmen, oder eine Tasse, wenn es für hier ist, und sie füllen. Und dann sind Sie fertig, und die nächste Person kann bestellen.«
»Ich brauche lange, nicht wahr?«, sagte die Mutter. »Entschuldigung.«
»Ist dies Ihr Lieblingsgetränk?«
»Erwischt! Ich trinke pro Tag zwei Chai Latte mindestens.«
»Ah.«
»Darf ich Sie zu Ihrem Kaffee einladen? Für die Unannehmlichkeiten?« Er sah ihr nicht an, ob es ihr wirklich leidtat oder ob sie ihn für ein Riesenarschloch hielt, aber er bewunderte, wie sie mit der Situation umging, auch wenn er sie eigentlich verachtete.
»Nein, danke.«
Aus dem Starbucks kam eine Familie mit einem Tablett voller Getränke.
Rachael beugte sich vor und hängte ihre Arme aus dem Fenster. Das Kinn stützte sie auf die Gummiabdichtung. Sie hob einen Arm und ließ ihn mit einem Knall gegen die Tür fallen. Die Familie war schon an ihr vorbeigegangen, ohne Notiz von ihr zu nehmen.
Erneut hob sie den Arm und knallte ihn gegen die Tür. Der kleine Junge blickte sich um, und als er sie sah, kniff er die Augen zusammen. Hilf mir. Er legte den Kopf schräg und starrte sie an. Rachael
drückte ihr Gesicht an die Tür. Ihre Haut war leichenblass, sie schwitzte und schielte.
»Hilf mir«, formte sie mit den Lippen.
Der Junge trat an die Tür.
»Hilf mir«, flüsterte sie. »Ich gehöre nicht hierher.«
»Du siehst komisch aus«, sagte er. »Was ist mit deinen Augen los?«
Rachael kämpfte gegen eine erneute Ohnmacht an.
»Dannie, komm endlich! Du hältst alle auf!«
»Dad, mit der Frau stimmt irgendwas nicht.«
Oh, danke, danke. Das Heroin raste durch ihr Blut. Ihr wurde wieder schwarz vor Augen, und es fiel ihr zunehmend schwerer, sich auf den Jungen zu konzentrieren. Er schien in Devlins Alter zu sein. Jetzt stand ein Mann neben ihm und blickte sie mit gerunzelter Stirn an. Er war weich und rund, ein junger Vater, der erst noch seinen Babyspeck verlieren musste, in einer Khaki-Shorts und einem gelben Polohemd.
Seine Lippen bewegten sich, aber es dauerte einen Moment, bis sie die Bewegungen mit den Lauten koordinieren konnte, die aus seinem Mund kamen.
»... brauchen Sie einen Arzt?« Holen Sie mich hier heraus.
»... ist derjenige, der Sie fährt, im Wagen?« O Gott. Bitte.
»... ich verstehe kein Wort.«
Der braunhäutige, blauäugige Mann, der sie entführt hatte, trat hinter den Jungen und seinen Vater. Rachael versuchte, den Blick von seinen Stiefeln zu heben - anscheinend waren sie aus der schwarz-gelb gefleckten Haut von Krustenechsen gemacht.
Der Junge sagte: »Was hat sie?«
Javier lächelte. »Das ist eine persönliche Angelegenheit, mein Sohn.« Er trat ans Auto, hob Rachaels Kopf sanft von der Gummiumrandung und küsste sie auf die Wange. »Schlaf jetzt weiter, Liebes.« Rachael stöhnte und wehrte sich gegen ihn mit allem, was sie hatte. Aber das war nicht viel. Er öffnete die Tür, ließ die Scheibe wieder hochgleiten und schloss die Tür. Als er sich umdrehte, standen der Junge und sein Vater immer noch da. Das Fenster ging wieder herunter.
»Helfen Sie mir«, sagte Rachael und stöhnte so laut, dass alle es hören konnten.
»Was ist hier los?«, fragte der Vater des Jungen.
Javier seufzte, blickte einen Moment lang zu Boden und studierte einen Ölfleck auf dem Asphalt.
»Meine Frau ist heroinsüchtig«, sagte er schließlich. »Und sie hat sich einen Schuss gesetzt. So weit ...« Er hielt Daumen und Zeigefinger dicht zusammen. »... von einer tödlichen Überdosis entfernt. Ich fahre sie zum Entzug in Salt Lake.«
»Oh, das tut mir leid. Das muss schrecklich schwierig für Sie sein.«
»Ja. Es ist kaum auszuhalten.«
»Entschuldigen Sie, dass wir sie gestört haben. Komm, Donnie.«
»Aber sie hat doch um Hilfe gebeten, Dad.«
Javier hockte sich hin und blickte den Jungen eindringlich an.
Die Überwachungskameras außen hatte er bereits alle entdeckt.
»Denk immer daran«, sagte er zu dem Jungen. »Denn das ...« Er wies mit dem Daumen auf seinen Wagen, wo Rachael gegen die Scheibe schlug. »... das machen Drogen mit dir.«
»Gott behüte«, sagte der Vater des Jungen, packte seinen Sohn an der Schulter und ging mit ihm zu einem Minivan, der an einer der hinteren Tanksäulen stand.
Javier stieg in den Escalade. Er warf Rachael, deren Kopf auf das Armaturenbrett gesunken war, einen Blick zu.
»Weißt du überhaupt, was du gerade getan hast?«, sagte er.
Im Minivan verteilte Rick Carter gerade die Getränke aus dem Starbucks an seine Frau und die Kinder. Vor ihm lag eine lange Nacht, und mit ein bisschen Glück kamen sie morgen Nachmittag in Albuquerque an.
Er hatte gerade den ersten Schluck getrunken, als es an seine Scheibe klopfte. Er wandte den Kopf, und als er den Mann aus dem Escalade da stehen sah, zog sich sein Magen zusammen. Kurz überlegte er, ob er nicht einfach den Gang einlegen und wegfahren sollte.
»Was mag er von uns wollen?«, fragte seine Frau.
»Das werden wir sicher erfahren.« Er ließ die Scheibe ein paar Zentimeter herunter. »Kann ich Ihnen helfen?«
Javier blickte auf die Kinder auf dem Rücksitz, auf die hübsche Frau des Mannes. Im Auto roch es nach Starbucks.
»Haben Sie ein Handy dabei?«, fragte Javier.
»Ja, müssen Sie ...?«
»Haben Sie den Notruf angerufen?«
»Äh, nein. Warum sollte ich ...«
»Sind Sie sicher?«
»Hören, ich verstehe nicht, was Sie ...«
Javier riss die Tür auf und schoss dem Mann ins Gesicht.
Zweimal feuerte er auf den Rücksitz, damit das Schreien aufhörte, dann wandte er sich der Frau zu, die den Papierbecher in der linken Hand zerdrückt hatte. Der heiße Chai lief ihr über die Faust.
»Na, genießt du deine geeiste, fettarme, geschäumte Chai Latte ohne Schaum?« Er schoss ihr in die Kehle und schlug die Tür wieder zu.
Übersetzung: Margarethe van Pée
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Blake Crouch
Blake Crouch stammt aus North Carolina und studierte Englisch und Creative Writing an der Universität Chapel Hill. Er hat bisher zehn Romane sowie zahlreiche Erzählungen und Kurzgeschichten veröffentlicht. Blake Crouch lebt in Durango, Colorado.Mehr über den Autor erfahren Sie unter www.blakecrouch.com
Bibliographische Angaben
- Autor: Blake Crouch
- 2013, 1, 304 Seiten, Taschenbuch
- ISBN-10: 3863653076
- ISBN-13: 9783863653071
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