Sterblich
Überraschend, spannend, tiefgründig norwegisch!
Nach zwei Jahren Auszeit kehrt Henning Juul zurück an seinen alten Arbeitsplatz in der Online-Redaktion von 123nyheter. Bei einem Wohnungsbrand wurde er schwer verletzt....
Nach zwei Jahren Auszeit kehrt Henning Juul zurück an seinen alten Arbeitsplatz in der Online-Redaktion von 123nyheter. Bei einem Wohnungsbrand wurde er schwer verletzt....
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sterblich “
Überraschend, spannend, tiefgründig norwegisch!
Nach zwei Jahren Auszeit kehrt Henning Juul zurück an seinen alten Arbeitsplatz in der Online-Redaktion von 123nyheter. Bei einem Wohnungsbrand wurde er schwer verletzt. Die Narben zeichnen ihn bis heute. Doch noch schlimmer ist für ihn, nicht zu begreifen, wie der Brand entstehen konnte, dem sein kleiner Sohn zum Opfer fiel.
Henning bezweifelt, dass er jemals wieder der Alte sein wird der Enthüllungsreporter mit bombensicherer Spürnase für das Böse, für den Bodensatz, für die gefährlichsten Stories. Doch seine Kollegen kennen kein Pardon und schicken ihn an seinem ersten Arbeitstag zu einer Pressekonferenz der Osloer Polizei. Auf dem Ekeberg wurde die Leiche einer 23-jährigen Studentin gefunden. Der Körper weist schreckliche Folterspuren auf oder sind es die Folgen einer Strafe nach den Regeln der Scharia? Polizeiermittler und Journalisten glauben an einen Ehrenmord. Nur Hennings Instinkt sagt etwas anderes. Aber kann er sich darauf noch verlassen?
Nach zwei Jahren Auszeit kehrt Henning Juul zurück an seinen alten Arbeitsplatz in der Online-Redaktion von 123nyheter. Bei einem Wohnungsbrand wurde er schwer verletzt. Die Narben zeichnen ihn bis heute. Doch noch schlimmer ist für ihn, nicht zu begreifen, wie der Brand entstehen konnte, dem sein kleiner Sohn zum Opfer fiel.
Henning bezweifelt, dass er jemals wieder der Alte sein wird der Enthüllungsreporter mit bombensicherer Spürnase für das Böse, für den Bodensatz, für die gefährlichsten Stories. Doch seine Kollegen kennen kein Pardon und schicken ihn an seinem ersten Arbeitstag zu einer Pressekonferenz der Osloer Polizei. Auf dem Ekeberg wurde die Leiche einer 23-jährigen Studentin gefunden. Der Körper weist schreckliche Folterspuren auf oder sind es die Folgen einer Strafe nach den Regeln der Scharia? Polizeiermittler und Journalisten glauben an einen Ehrenmord. Nur Hennings Instinkt sagt etwas anderes. Aber kann er sich darauf noch verlassen?
Klappentext zu „Sterblich “
Ex-Polizistin Karin Schaffer hat sich mit ihrem neuen Mann und dem gemeinsamen Sohn in Brooklyn ein gutes Leben aufgebaut. Sie leidet unter einer späten Fehlgeburt, die erst wenige Monate zurückliegt und ihr Mann Mac versucht, seine Privatdetektei voranzutreiben. Eng befreundet sind die beiden mit Detective Billy Staples von der Mordkommission. Er kam bei einem seiner letzten Fälle nur knapp mit dem Leben davon und leidet seitdem an Angstanfällen. Als er einen solchen an einem neuen Tatort erleidet, ruft er Karin um Hilfe. Dadurch wird sie in die Ermittlungen zu einem Serienkiller-Fall hineingezogen. Ein Unbekannter tötet Prostituierte in Brooklyn und geht immer nach demselben Muster vor: er verwendet stets ein ganz spezielles, seltenes Jagdmesser.Als wieder eine Tote gefunden wird, gibt es zum ersten Mal eine Zeugin. Am nächtlichen Tatort liegt ein kleines Mädchen im Schnee - bewusstlos und schwer verletzt. Sie ist vermutlich die einzige Zeugin, und Karin beginnt sich für ihr Schicksal zu interessieren. Als die Eltern des Mädchens brutal ermordet aufgefunden werden, wird klar, dass hier noch etwas anderes im Gange ist. Haben die Morde etwas miteinander zu tun? Dann schlägt der Killer wieder zu - und diesmal ist das Opfer Karins Kindermädchen ...
Lese-Probe zu „Sterblich “
Sterblich von Thomas EngerPROLOG
September 2007
... mehr
Er hat das Gefühl, nur von Dunkelheit umgeben zu sein. Ist sich nicht sicher, schafft es nicht, die Augen zu öffnen. Vielleicht ist der Boden unter ihm kalt. Vielleicht ist er nass.
Er glaubt, dass es regnet. Spürt etwas auf seinem Gesicht. Aber vielleicht ist das auch schon der erste Schnee.
Jonas liebt Schnee.
Jonas.
Welke Karotten in weißen Gesichtern voller Gras und Erde. Nein, kein Schneemann, das geht jetzt nicht.
Er versucht, den rechten Arm zu heben, doch der will nicht gehorchen. Hände. Hat er die noch? Ein Daumen lässt sich bewegen.
Glaubt er.
Die Haut besteht nur noch aus trockenen, dünnen Schuppen. Überall Flammen. So heiß. Das Gesicht erstarrt wie Pfannkuchenteig in einer glühend heißen Pfanne.
Jonas liebt Pfannkuchen.
Jonas.
Der Boden bebt. Stimmen. Stille. Wunderbare Stille. Bitte, hüll mich ein, du, der du mich siehst!
Alles wird gut. Hab keine Angst. Ich passe auf dich auf.
Gelächter, das verstummt. Keine Luft mehr, lass mich tief in dir einatmen.
Aber wo bist du?
Da. Da bist du. Wir waren hier. Du und ich.
Jonas liebt du und ich.
Jonas.
Horizonte. Platzregen auf einem endlosen blauen Spiegel. Ein Platschen, das die gläserne Oberfläche durchbricht, bevor Köder und Schnur nach unten sinken.
Kalte Planken unter den Füßen. Verklebte Augen. Alles wird gut. Hab keine Angst. Ich passe auf dich auf.
Er spürt den Fuß auf dem Geländer. Hat sicheren Halt. Glaubt er.
Leere Hände. Wo bist du? Spul zurück, bitte, spul zurück! Eine Wand aus Dunkelheit. Alles ist finster. So finster. Singende Laute nähern sich.
Es gelingt ihm, ein Auge zu öffnen. Das ist kein Schnee, kein Regen, sondern einfach nur Dunkelheit.
Er hat so ein Dunkel noch nie gesehen. Noch nie gesehen, was alles darin Platz hat.
Aber jetzt sieht er es.
Jonas hatte Angst vor dem Dunkel.
Er liebt Jonas.
Jonas.
1
Juni 2009
Die weißblonden Locken sind nass, nicht nur vom Blut.
Es sieht aus, als hätte die Erde sich aufgetan, um sie zu verschlingen. Nur ihr Kopf und ihr Oberkörper sind zu sehen. Rings um ihren steifen Körper türmt sich feuchte Erde, als wäre sie eine einsame, zerbrechliche, langstielige Rose. Das Blut ist aus den langen aufgeplatzten Rissen über den Rücken geronnen, wie Tränen über eine dunkle Wange. Ihr nackter Rücken gleicht einem Gemälde.
Mit unentschlossenen Schritten tritt er ins Zelt und sieht sich um. Kehr um, sagt er zu sich selbst. Das hier, das hat nichts mit dir zu tun. Kehr um! Geh wieder raus, geh nach Hause, und vergiss, was du gesehen hast. Aber es gelingt ihm nicht. Wie auch?
»H... Hallo?«
Nur der Wald antwortet ihm. Leise wispert der Wind in den Zweigen. Er macht einen weiteren Schritt in das Zelt hinein. Die Luft ist klamm, schnürt ihm den Hals zu. Und der Geruch erinnert ihn an etwas, aber an was?
Das Zelt hat gestern noch nicht dort gestanden. Für jemanden wie ihn, der jeden Tag seinen Hund am Ekeberg ausführt, war der Anblick des großen weißen Zelts eine Versuchung, der er nicht widerstehen konnte. Ein merkwürdiger Platz für ein Zelt. Er musste einfach einen Blick hereinwerfen. Hätte er es nur nicht getan.
Eine Hand ist abgetrennt, sie hängt nicht mehr mit dem Arm zusammen, als hätte sie sich vom Handgelenk gelöst. Der Kopf liegt schlaff auf der Schulter. Sein Blick fällt wieder auf die hellen, fast weißen Locken mit den vom Blut verklebten Strähnen. Sie wirken fast wie eine Perücke.
Er tritt neben die junge Frau, bleibt dann aber wie angewurzelt stehen und atmet hektisch ein und aus. Seine Bauchmuskeln ziehen sich zusammen und machen sich bereit, den Morgenkaffee und die Banane wieder von sich zu geben, doch es gelingt ihm, diesen Reflex zu unterdrücken. Langsam weicht er zurück, kneift die Augen zu und öffnet sie wieder, um sie ein letztes Mal anzusehen.
Eines ihrer Augen hängt aus der Höhle, und ihre Nase ist platt gehauen, fast in ihrem Schädel verschwunden. Die Kiefer sind uneben und übersät von dunkelroten Flecken und Streifen. Schwarzes, zähes Blut ist aus einer Platzwunde auf der Stirn über den Nasenrücken und die Augen gelaufen. Ein Zahn hängt an einer Faser aus getrocknetem Blut auf der Innenseite ihrer Unterlippe. Weitere Zähne liegen lose im Gras neben der Frau, die einmal ein Gesicht gehabt hat.
Jetzt ist es zerschmettert.
Das Letzte, was Thorbjørn Skagestad registriert, ehe er aus dem Zelt stolpert, ist der Nagellack an ihren Fingern. Er ist blutrot.
Genau wie die schweren Steine neben ihr.
Henning Juul weiß nicht, warum er dort sitzt. An genau diesem Platz. Die Bretter sind hart. Voller Splitter. Unbequem.
Trotzdem setzt er sich immer auf genau diesen Platz. Bittersüßer Nachtschatten wächst zwischen den Brettern, die etwas geneigt am Vereinsheim von Dælenenga befestigt sind. Hummeln umschwirren die giftigen Beeren. Das Holz ist nass. Er spürt die Feuchtigkeit durch den Hosenboden, denkt, dass er sich umziehen muss, wenn er nach Hause kommt. Er weiß aber nicht, ob er das schaffen wird.
Früher hat er sich immer dorthin gesetzt, um eine Zigarette zu rauchen. Jetzt raucht er nicht mehr. Nicht aus Rücksicht auf seine Gesundheit oder aus Vernunft - seine Mutter hat eine Raucherlunge. Nein. Er würde liebend gerne rauchen. Weiße, dünne Freunde, die immer gut gelaunt sind, wenn sie einen besuchen, und nie lange bleiben. Aber es geht nicht, er schafft es nicht.
Außer ihm sitzen noch ein paar andere Menschen dort, etwas entfernt. Eine Fußballmutter auf einer Wolldecke sieht zu ihm herüber, und er wendet rasch den Blick ab. Er ist es gewohnt, dass fast alle, die auch dort sind, ihn anstarren und dabei so tun, als täten sie es nicht. Dabei weiß er ganz genau, dass sie sich fragen, wer er ist, was mit ihm geschehen ist und warum er dort sitzt. Aber es spricht ihn nie jemand an. Das trauen sie sich nicht.
Er macht ihnen keinen Vorwurf.
Als die Sonne müde wird, steht er auf und geht. Er zieht ein Bein leicht nach. Die Ärzte sagen, er solle versuchen, so normal wie möglich zu gehen, aber es gelingt ihm nicht. Es tut zu weh. Wobei »weh« vielleicht nicht das richtige Wort ist.
Er weiß, was Schmerzen sind.
Er schlendert durch den Birkelunden-Park, vorbei an dem frisch renovierten und neu gedeckten Pavillon. Eine Möwe schreit. Wie immer wimmelt es hier im Park vor Möwen. Er hasst die Viecher, aber er liebt den Birkelunden-Park.
Mit schleppenden Schritten geht er an Liebespaaren vorbei, an nackten Bäuchen, überschäumenden Bierdosen und erkalteten Einweggrillen. Ein alter Mann konzentriert sich und wirft eine silberfarbene Kugel auf andere silberfarbene Kugeln, die auf dem Schotter bei dem Bronzepferd liegen, das heute einmal nicht von Kindern belagert wird. Der Mann verfehlt sein Ziel. Wie immer.
Du und ich, denkt Henning, wir haben viel gemeinsam.
Der erste Regentropfen fällt, als er in die Seilduksgata einbiegt. Mit wenigen Schritten lässt er den Lärm von Grünerløkka hinter sich. Er mag diesen Lärm nicht. Er mag auch Chelsea nicht oder Politessen, aber was kann er schon dagegen tun. Es gibt viele Politessen in der Seilduksgata. Und vielleicht sind einige davon sogar Chelsea-Fans. Aber die Seilduksgata mag er. Das ist seine Straße.
Während der Regen sanft auf seinen Kopf trommelt, läuft er der Sonne über der alten Segeltuchfabrik entgegen. Er lässt die Tropfen kommen und blinzelt, um die Konturen vor sich besser zu erkennen. Ein gigantischer gelber Baukran ragt vor ihm in den Himmel. Der steht jetzt schon eine Ewigkeit hier. Die Wolken hinter ihm sind bleigrau.
Henning nähert sich der Kreuzung, an der der Markvei in voller Fahrt von rechts kommt, er denkt, dass morgen schon alles anders sein kann, und fragt sich, ob dieser Gedanke wirklich von ihm stammt oder ob ihm das jemand eingeredet hat. Vielleicht ändert sich ja gar nichts. Vielleicht klingen die Stimmen und Laute bloß ein bisschen anders.
Wenn sich nicht tatsächlich alles verändert, alles oder nichts. In der Spanne, die sich dazwischen auftut, läuft die Welt rückwärts. Gehöre ich eigentlich noch dazu?, fragt er sich. Gibt es noch einen Platz für mich? Werde ich es schaffen, die Worte und Gedanken und Erinnerungen hervorzuholen, die tief in meinem Inneren begraben sind?
Er weiß es nicht.
Es gibt so viel, das er nicht weiß.
Nach unzähligen Stufen, über denen der Staub über dem im Holz festgetretenen Dreck schwebt, schließt er auf der dritten Etage seine Wohnungstür auf. Der Übergang ist stimmig. Er wohnt in einem Loch. Es ist ihm lieber so, er glaubt, keine breite, ansehnliche Tür verdient zu haben oder Kleiderschränke, die geräumig wie Einkaufszentren sind, oder eine Küche mit glänzenden Schrankoberflächen und Arbeitsplatten wie polierte Schlittschuhbahnen. Selbstreinigende Küchengeräte, samtweiche Holzdielen, die nach langsamen Tanzschritten lechzen, oder Regale voller Klassiker und Lexika. Er verdient keine geschnitzte Uhr, keine Kerzenständer von Georg Jensen, keine in die Bettdecke eingenähte Kolibrivorhaut. Alles, was er braucht, ist die neunzig Zentimeter breite Matratze, einen Kühlschrank und einen Platz, auf den er sich setzen kann, wenn es dunkel wird. Und dunkel wird es.
Jedes Mal, wenn er die Tür hinter sich schließt, hat er das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Er beginnt, schneller zu atmen, der Schweiß bricht ihm aus, und seine Hände werden klamm. Rechter Hand im Flur steht eine Trittleiter. Er nimmt sie, steigt hinauf, zieht die Clas-Ohlson-Tüte von der alten, abgenutzten Hutablage und nimmt die Schachtel mit den Batterien hervor. Dann streckt er seinen Arm zum Rauchmelder empor, nimmt die Batterie heraus und ersetzt sie durch eine neue.
Er überprüft sie, versichert sich, dass alles funktioniert.
Während sein Atem sich langsam beruhigt, steigt er wieder nach unten. Er hat diese Rauchmelder lieben gelernt. So sehr, dass er inzwischen acht Stück von ihnen besitzt.
2
Als der Wecker klingelt, dreht er sich missmutig um und brummt. Nur widerwillig lässt er den Traum davonziehen, als er die Augen aufschlägt und das Morgenlicht in sich aufnimmt. Eine Frau hat in dem Traum eine Rolle gespielt, und auch wenn er sich nicht mehr erinnert, wie sie aussah, weiß er, dass sie seine Traumfrau war.
Er flucht, richtet sich auf und sieht sich um. Sein Blick bleibt an dem Pillenglas und der Schachtel Streichhölzer hängen, die immer neben ihm auf dem Nachtschränkchen parat liegen. Er seufzt, schiebt die Beine über die Bettkante und denkt, dass er es heute - heute - schaffen wird.
Er holt tief Luft, reibt sich mit den Händen übers Gesicht und beginnt mit der einfacheren der beiden Übungen. Die Pillen. Trocken und scheußlich. Er schluckt sie wie immer ohne Wasser, weil es so am schwersten ist, zwingt sie am Zäpfchen vorbei in die Speiseröhre und wartet, dass sie im Verdauungstrakt verschwinden und dort die Arbeit erledigen, die laut Dr. Helges engagiertem Dafürhalten zu Hennings Bestem ist.
Er knallt das Tablettenglas unnötig hart auf das Nachttischchen, als wollte er sich selbst wecken. Dann greift er energisch zu den Streichhölzern, schiebt langsam die Schachtel auf und starrt den Inhalt an. Dünne Holzsoldaten aus der Hölle. Er nimmt einen davon heraus, den Blick auf den Schwefelkopf geheftet, diese rote Kappe geballter Boshaftigkeit. Auf der Packung steht etwas von Sicherheitshölzern.
Scheiß Sicherheit.
Er legt das dünne Hölzchen an die Reibefläche und will es anreißen, aber seine Hände verkrampfen und schließen sich. Er kann sie nicht mehr bewegen, strengt sich an, konzentriert alle Kraft auf seine Hände, auf die Finger, aber dieses verfluchte kleine Stückchen Holz will sich nicht rühren. Es will einfach nicht kapieren, lässt sich durch nichts beeindrucken. Ihm bricht der Schweiß aus, seine Brust wird eng, er will Luft holen, aber es geht nicht. Er versucht es wieder, nimmt das winzige Schwert der Boshaftigkeit von der Reibefläche, um es gleich darauf erneut zu versuchen, spürt aber sofort, dass sein Kampfwille und damit auch seine Entschlossenheit nachgelassen haben, und hält inne. Jetzt versucht er, die Kraft in seine Gedanken zu legen, sieht aber ein, dass er atmen muss, und erstickt den in ihm aufkeimenden Drang zu schreien.
Alles nur, weil es so schrecklich früh am Morgen ist. Arne, der über ihm wohnt, schläft vermutlich noch, sonst würde man ihn sicher, wie sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit, Gedichte von Halldis Moren Vesaas vortragen hören.
Henning seufzt und legt die Schachtel vorsichtig zurück an die exakt gleiche Stelle. Langsam fährt er sich mit den Händen über das Gesicht und betastet die Stellen seiner Haut, die sich anders anfühlen. Weicher und unebener. Die äußerlichen Narben sind nichts im Vergleich zu denen in seinem Inneren, denkt er und steht auf.
Schlafende Städte sind seine Bestimmung. Dort will er sein, und dort ist er jetzt. Grünerløkka früh am Morgen, bevor der Stadtteil vor Leben brummt, sich die Straßencafés füllen, Mütter und Väter zur Arbeit und die Kinder in den Kindergarten müssen. Noch sind keine Radfahrer unterwegs, die auf dem Weg über die Toftes gate so viele rote Ampeln wie nur möglich überfahren. Um diese Zeit ist außer den ewig hungrigen Tauben niemand wach.
Er geht an dem Brunnen auf dem Olav Ryes plass vorbei und lauscht dem Spiel des Wassers. Er ist ein guter Zuhörer. Und er kennt sich mit Lauten aus. Kann die Stille aus dem fließenden Wasser heraushören und denkt, dass es gut und gern der letzte Tag der Welt sein könnte. Mit ein wenig Konzentration würde er vielleicht sogar ein paar vorsichtige Streicher und die dunklen Klänge eines Cellos hören. Töne, die sich annähern, aneinanderschmiegen, aufeinander einlassen und schließlich Gesellschaft von Pauken bekommen, die das herannahende Elend verkünden.
Aber er hat nicht die Zeit, die Morgenmusik in sich aufzunehmen, denn er ist auf dem Weg zur Arbeit. Allein schon der Gedanke daran macht Gummi aus seinen Beinen. Er weiß nicht, ob es Henning Juul noch gibt, den Juul, der jedes Jahr vier Jobangebote bekam, stumme Quellen zum Singen und die Tage dazu brachte, ein paar Stunden länger zu sein - nur ihm zuliebe -, weil er zum Jagen seiner Beute Licht brauchte.
Er weiß, wer er war.
Ob Halldis auch einen Vers für solche wie mich hat?, fragt er sich. Vermutlich.
Halldis hat für jeden ihren Vers.
Er bleibt stehen, als er den gigantischen gelben Koloss am Beginn der Urtegata sieht. Wegen des riesigen Securitas-Logos an der Wand glauben alle, dass in diesem Gebäude nur die Sicherheitsfirma ansässig ist, dabei gibt es dort auch diverse private Firmen und Behördenstellen. Und die Firma www. 123nyheter.no, Hennings Arbeitsplatz, eine reine Internetzeitung, die mit dem Slogan »Nachrichten in 1-2-3« operiert.
Er ist sich unschlüssig, was er von diesem Slogan halten soll, aber im Grunde genommen sind ihm solche Sachen egal. Sie haben sich fair verhalten, ihm Zeit gegeben, wieder zu sich zu kommen, die Chance für einen Neustart.
Ein Zaun aus hohen schwarzen Speeren ragt vor dem gelben Gebäude drei Meter in die Höhe. Das Tor ist ein Teil dieses Zauns. Es öffnet sich langsam, als ein Geldtransporter herausfährt.
Er geht an einem kleinen leeren Pförtnerbüro vorbei und legt die Hand an die Eingangstür. Sie rührt sich nicht. Er blickt durch das Glas nach drinnen. Es steht niemand in der Nähe. Schließlich drückt er auf die Klingel aus gebürstetem Stahl, über der »Empfang« steht.
»Ja«, ertönt mürrisch eine Frauenstimme.
»Hallo«, sagt er und räuspert sich. »Können Sie mich reinlassen?«
»Zu wem wollen Sie?«
»Ich arbeite hier.«
Es bleibt für ein paar Sekunden still.
»Haben Sie Ihre Schlüsselkarte vergessen?«
Er denkt nach. Schlüsselkarte?
»Nein, ich habe keine bekommen.«
»Alle haben Schlüsselkarten bekommen.«
»Ich nicht.«
Es wird wieder still. Er wartet auf eine Fortsetzung, die nicht kommt.
»Würden Sie mich reinlassen?«
Ein scharfes Bzzzzzz lässt ihn zusammenzucken, die Tür summt. Er zieht sie überrascht zu sich, geht hinein und blickt nach oben. Seine Augen haben rasch das runde Ding an der Decke gefunden. Er wartet, bis es rot zu blinken beginnt.
Die grauen Schieferplatten am Boden sind neu, die waren beim letzten Mal noch nicht da. Wie das meiste andere, denkt er. Auf dem Boden stehen große Pflanzen in noch größeren Töpfen, und an den weißen Wänden hängen Kunstwerke, die ihm nichts sagen. Sie haben jetzt auch eine Kantine, stellt er fest, als er links durch eine Glastür schaut. Die Rezeption liegt auf der anderen Seite hinter einer weiteren Glastür. Er geht hinein. Auch hier hängt so ein Ding unter der Decke. Gut.
Eine Frau mit rotem, zu einem Pferdeschwanz zusammengefasstem Haar sitzt hinter dem Tresen. Wütend hackt sie etwas in die Tastatur des Computers, während das Licht des Bildschirms auf ihr müdes Gesicht fällt. Die Postfächer hinter ihr an der Wand sind übervoll mit Papieren, Broschüren, Päckchen und Briefen. An der Wand hängt ein Bildschirm, der mit einem PC gekoppelt ist. Er wirft einen Blick auf die Topnews.
FRAUENLEICHE GEFUNDEN
Auch den Lead bekommt er mit.
In einem Zelt am Ekeberg wurde die Leiche einer Frau gefunden. Die Polizei geht von einem Verbrechen aus.
Die Nachrichtenredaktion hat sich noch nicht darum kümmern können, denkt er, sonst stünde im Lead mehr als in der Schlagzeile. Vermutlich sind die Reporter noch gar nicht ausgerückt. Als Illustration dient ein Foto von einem Polizeiabsperrband an einem ganz anderen Tatort.
Wie originell.
Henning wartet darauf, dass sie ihn ansieht. Aber das tut sie nicht. Er geht auf die Frau zu und begrüßt sie. Sie hebt ihren Blick und sieht ihn an, als hätte er sie geohrfeigt. Dann kommt das Unausweichliche. Ihr Mund öffnet sich, und ihre Augen nehmen alles auf, das Gesicht, die Brandverletzungen und die Narben. Er ist nicht völlig entstellt, die Narben sind nicht groß, nicht aufdringlich groß, aber doch groß genug, dass die Leute ihn einen Augenblick zu lange anstarren, wenn er sich im selben Raum wie sie befindet.
»Ich brauche offensichtlich eine Schlüsselkarte«, sagt er so höflich, wie er kann. Sie starrt ihn noch immer an, ehe sie sich selbst aus der Blase reißt, in der sie Zuflucht gesucht hat, und in einem Stapel Papiere zu blättern beginnt, die vor ihr liegen.
»Äh, ja. Äh ... wie heißen Sie denn?«
»Henning Juul.«
Abrupt hält sie inne und blickt wieder auf. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, bis sie sagt: »Sie sind das also.«
Er nickt verlegen. Dann öffnet sie eine Schublade, nimmt ein paar Unterlagen heraus, bis sie einen Kartenhalter und eine Schlüsselkarte findet.
»Ich kann Ihnen nur eine vorläufige Karte geben. Es dauert etwas, eine neue herzustellen. Sie müssen sich draußen im Pförtnerbüro registrieren lassen, damit Sie die Tür selbst öffnen können, und - aber das wissen Sie ja sicher - der Code ist 1221. Den kann man sich leicht merken.«
Sie reicht ihm die Karte.
»Und dann muss ich noch ein Foto von Ihnen machen.« Er sieht sie an.
»Ein Foto?«
»Ja, für die Schlüsselkarte. Und für die Autorenzeile in der Zeitung. So schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe, ist doch gut, oder?«
Sie lächelt, aber ihre Lippen zittern leicht.
»Ich habe einen Fotokurs gemacht«, sagt sie, als wollte sie seine Bedenken zerstreuen. »Bleiben Sie einfach da stehen, wo Sie jetzt sind. Ich kümmere mich um den Rest.«
Hinter dem Tresen taucht eine an einem Stativ befestigte Kamera auf, die sie aufstellt. Henning weiß nicht, wohin er gucken soll, weshalb er den Blick starr nach vorn richtet.
»So, ja. Versuchen Sie zu lächeln.«
Lächeln. Er weiß nicht, wann er zuletzt gelächelt hat. Sie macht drei Fotos schnell hintereinander.
»Gut! Ich heiße Sølvi«, sagt sie und reicht ihm über den Tresen hinweg die Hand. Er schlägt ein. Weiche, angenehme Haut. Er kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt weiche, angenehme Haut in seiner Hand gespürt hat. Sie drückt gerade fest genug zu. Er sieht sie an und lässt los.
Als er sich umdreht und geht, fragt er sich, ob sie wohl sein schwaches Lächeln bemerkt hat.
...
Übersetzung: Günther Frauenlob und Maike Dörries
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Er hat das Gefühl, nur von Dunkelheit umgeben zu sein. Ist sich nicht sicher, schafft es nicht, die Augen zu öffnen. Vielleicht ist der Boden unter ihm kalt. Vielleicht ist er nass.
Er glaubt, dass es regnet. Spürt etwas auf seinem Gesicht. Aber vielleicht ist das auch schon der erste Schnee.
Jonas liebt Schnee.
Jonas.
Welke Karotten in weißen Gesichtern voller Gras und Erde. Nein, kein Schneemann, das geht jetzt nicht.
Er versucht, den rechten Arm zu heben, doch der will nicht gehorchen. Hände. Hat er die noch? Ein Daumen lässt sich bewegen.
Glaubt er.
Die Haut besteht nur noch aus trockenen, dünnen Schuppen. Überall Flammen. So heiß. Das Gesicht erstarrt wie Pfannkuchenteig in einer glühend heißen Pfanne.
Jonas liebt Pfannkuchen.
Jonas.
Der Boden bebt. Stimmen. Stille. Wunderbare Stille. Bitte, hüll mich ein, du, der du mich siehst!
Alles wird gut. Hab keine Angst. Ich passe auf dich auf.
Gelächter, das verstummt. Keine Luft mehr, lass mich tief in dir einatmen.
Aber wo bist du?
Da. Da bist du. Wir waren hier. Du und ich.
Jonas liebt du und ich.
Jonas.
Horizonte. Platzregen auf einem endlosen blauen Spiegel. Ein Platschen, das die gläserne Oberfläche durchbricht, bevor Köder und Schnur nach unten sinken.
Kalte Planken unter den Füßen. Verklebte Augen. Alles wird gut. Hab keine Angst. Ich passe auf dich auf.
Er spürt den Fuß auf dem Geländer. Hat sicheren Halt. Glaubt er.
Leere Hände. Wo bist du? Spul zurück, bitte, spul zurück! Eine Wand aus Dunkelheit. Alles ist finster. So finster. Singende Laute nähern sich.
Es gelingt ihm, ein Auge zu öffnen. Das ist kein Schnee, kein Regen, sondern einfach nur Dunkelheit.
Er hat so ein Dunkel noch nie gesehen. Noch nie gesehen, was alles darin Platz hat.
Aber jetzt sieht er es.
Jonas hatte Angst vor dem Dunkel.
Er liebt Jonas.
Jonas.
1
Juni 2009
Die weißblonden Locken sind nass, nicht nur vom Blut.
Es sieht aus, als hätte die Erde sich aufgetan, um sie zu verschlingen. Nur ihr Kopf und ihr Oberkörper sind zu sehen. Rings um ihren steifen Körper türmt sich feuchte Erde, als wäre sie eine einsame, zerbrechliche, langstielige Rose. Das Blut ist aus den langen aufgeplatzten Rissen über den Rücken geronnen, wie Tränen über eine dunkle Wange. Ihr nackter Rücken gleicht einem Gemälde.
Mit unentschlossenen Schritten tritt er ins Zelt und sieht sich um. Kehr um, sagt er zu sich selbst. Das hier, das hat nichts mit dir zu tun. Kehr um! Geh wieder raus, geh nach Hause, und vergiss, was du gesehen hast. Aber es gelingt ihm nicht. Wie auch?
»H... Hallo?«
Nur der Wald antwortet ihm. Leise wispert der Wind in den Zweigen. Er macht einen weiteren Schritt in das Zelt hinein. Die Luft ist klamm, schnürt ihm den Hals zu. Und der Geruch erinnert ihn an etwas, aber an was?
Das Zelt hat gestern noch nicht dort gestanden. Für jemanden wie ihn, der jeden Tag seinen Hund am Ekeberg ausführt, war der Anblick des großen weißen Zelts eine Versuchung, der er nicht widerstehen konnte. Ein merkwürdiger Platz für ein Zelt. Er musste einfach einen Blick hereinwerfen. Hätte er es nur nicht getan.
Eine Hand ist abgetrennt, sie hängt nicht mehr mit dem Arm zusammen, als hätte sie sich vom Handgelenk gelöst. Der Kopf liegt schlaff auf der Schulter. Sein Blick fällt wieder auf die hellen, fast weißen Locken mit den vom Blut verklebten Strähnen. Sie wirken fast wie eine Perücke.
Er tritt neben die junge Frau, bleibt dann aber wie angewurzelt stehen und atmet hektisch ein und aus. Seine Bauchmuskeln ziehen sich zusammen und machen sich bereit, den Morgenkaffee und die Banane wieder von sich zu geben, doch es gelingt ihm, diesen Reflex zu unterdrücken. Langsam weicht er zurück, kneift die Augen zu und öffnet sie wieder, um sie ein letztes Mal anzusehen.
Eines ihrer Augen hängt aus der Höhle, und ihre Nase ist platt gehauen, fast in ihrem Schädel verschwunden. Die Kiefer sind uneben und übersät von dunkelroten Flecken und Streifen. Schwarzes, zähes Blut ist aus einer Platzwunde auf der Stirn über den Nasenrücken und die Augen gelaufen. Ein Zahn hängt an einer Faser aus getrocknetem Blut auf der Innenseite ihrer Unterlippe. Weitere Zähne liegen lose im Gras neben der Frau, die einmal ein Gesicht gehabt hat.
Jetzt ist es zerschmettert.
Das Letzte, was Thorbjørn Skagestad registriert, ehe er aus dem Zelt stolpert, ist der Nagellack an ihren Fingern. Er ist blutrot.
Genau wie die schweren Steine neben ihr.
Henning Juul weiß nicht, warum er dort sitzt. An genau diesem Platz. Die Bretter sind hart. Voller Splitter. Unbequem.
Trotzdem setzt er sich immer auf genau diesen Platz. Bittersüßer Nachtschatten wächst zwischen den Brettern, die etwas geneigt am Vereinsheim von Dælenenga befestigt sind. Hummeln umschwirren die giftigen Beeren. Das Holz ist nass. Er spürt die Feuchtigkeit durch den Hosenboden, denkt, dass er sich umziehen muss, wenn er nach Hause kommt. Er weiß aber nicht, ob er das schaffen wird.
Früher hat er sich immer dorthin gesetzt, um eine Zigarette zu rauchen. Jetzt raucht er nicht mehr. Nicht aus Rücksicht auf seine Gesundheit oder aus Vernunft - seine Mutter hat eine Raucherlunge. Nein. Er würde liebend gerne rauchen. Weiße, dünne Freunde, die immer gut gelaunt sind, wenn sie einen besuchen, und nie lange bleiben. Aber es geht nicht, er schafft es nicht.
Außer ihm sitzen noch ein paar andere Menschen dort, etwas entfernt. Eine Fußballmutter auf einer Wolldecke sieht zu ihm herüber, und er wendet rasch den Blick ab. Er ist es gewohnt, dass fast alle, die auch dort sind, ihn anstarren und dabei so tun, als täten sie es nicht. Dabei weiß er ganz genau, dass sie sich fragen, wer er ist, was mit ihm geschehen ist und warum er dort sitzt. Aber es spricht ihn nie jemand an. Das trauen sie sich nicht.
Er macht ihnen keinen Vorwurf.
Als die Sonne müde wird, steht er auf und geht. Er zieht ein Bein leicht nach. Die Ärzte sagen, er solle versuchen, so normal wie möglich zu gehen, aber es gelingt ihm nicht. Es tut zu weh. Wobei »weh« vielleicht nicht das richtige Wort ist.
Er weiß, was Schmerzen sind.
Er schlendert durch den Birkelunden-Park, vorbei an dem frisch renovierten und neu gedeckten Pavillon. Eine Möwe schreit. Wie immer wimmelt es hier im Park vor Möwen. Er hasst die Viecher, aber er liebt den Birkelunden-Park.
Mit schleppenden Schritten geht er an Liebespaaren vorbei, an nackten Bäuchen, überschäumenden Bierdosen und erkalteten Einweggrillen. Ein alter Mann konzentriert sich und wirft eine silberfarbene Kugel auf andere silberfarbene Kugeln, die auf dem Schotter bei dem Bronzepferd liegen, das heute einmal nicht von Kindern belagert wird. Der Mann verfehlt sein Ziel. Wie immer.
Du und ich, denkt Henning, wir haben viel gemeinsam.
Der erste Regentropfen fällt, als er in die Seilduksgata einbiegt. Mit wenigen Schritten lässt er den Lärm von Grünerløkka hinter sich. Er mag diesen Lärm nicht. Er mag auch Chelsea nicht oder Politessen, aber was kann er schon dagegen tun. Es gibt viele Politessen in der Seilduksgata. Und vielleicht sind einige davon sogar Chelsea-Fans. Aber die Seilduksgata mag er. Das ist seine Straße.
Während der Regen sanft auf seinen Kopf trommelt, läuft er der Sonne über der alten Segeltuchfabrik entgegen. Er lässt die Tropfen kommen und blinzelt, um die Konturen vor sich besser zu erkennen. Ein gigantischer gelber Baukran ragt vor ihm in den Himmel. Der steht jetzt schon eine Ewigkeit hier. Die Wolken hinter ihm sind bleigrau.
Henning nähert sich der Kreuzung, an der der Markvei in voller Fahrt von rechts kommt, er denkt, dass morgen schon alles anders sein kann, und fragt sich, ob dieser Gedanke wirklich von ihm stammt oder ob ihm das jemand eingeredet hat. Vielleicht ändert sich ja gar nichts. Vielleicht klingen die Stimmen und Laute bloß ein bisschen anders.
Wenn sich nicht tatsächlich alles verändert, alles oder nichts. In der Spanne, die sich dazwischen auftut, läuft die Welt rückwärts. Gehöre ich eigentlich noch dazu?, fragt er sich. Gibt es noch einen Platz für mich? Werde ich es schaffen, die Worte und Gedanken und Erinnerungen hervorzuholen, die tief in meinem Inneren begraben sind?
Er weiß es nicht.
Es gibt so viel, das er nicht weiß.
Nach unzähligen Stufen, über denen der Staub über dem im Holz festgetretenen Dreck schwebt, schließt er auf der dritten Etage seine Wohnungstür auf. Der Übergang ist stimmig. Er wohnt in einem Loch. Es ist ihm lieber so, er glaubt, keine breite, ansehnliche Tür verdient zu haben oder Kleiderschränke, die geräumig wie Einkaufszentren sind, oder eine Küche mit glänzenden Schrankoberflächen und Arbeitsplatten wie polierte Schlittschuhbahnen. Selbstreinigende Küchengeräte, samtweiche Holzdielen, die nach langsamen Tanzschritten lechzen, oder Regale voller Klassiker und Lexika. Er verdient keine geschnitzte Uhr, keine Kerzenständer von Georg Jensen, keine in die Bettdecke eingenähte Kolibrivorhaut. Alles, was er braucht, ist die neunzig Zentimeter breite Matratze, einen Kühlschrank und einen Platz, auf den er sich setzen kann, wenn es dunkel wird. Und dunkel wird es.
Jedes Mal, wenn er die Tür hinter sich schließt, hat er das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Er beginnt, schneller zu atmen, der Schweiß bricht ihm aus, und seine Hände werden klamm. Rechter Hand im Flur steht eine Trittleiter. Er nimmt sie, steigt hinauf, zieht die Clas-Ohlson-Tüte von der alten, abgenutzten Hutablage und nimmt die Schachtel mit den Batterien hervor. Dann streckt er seinen Arm zum Rauchmelder empor, nimmt die Batterie heraus und ersetzt sie durch eine neue.
Er überprüft sie, versichert sich, dass alles funktioniert.
Während sein Atem sich langsam beruhigt, steigt er wieder nach unten. Er hat diese Rauchmelder lieben gelernt. So sehr, dass er inzwischen acht Stück von ihnen besitzt.
2
Als der Wecker klingelt, dreht er sich missmutig um und brummt. Nur widerwillig lässt er den Traum davonziehen, als er die Augen aufschlägt und das Morgenlicht in sich aufnimmt. Eine Frau hat in dem Traum eine Rolle gespielt, und auch wenn er sich nicht mehr erinnert, wie sie aussah, weiß er, dass sie seine Traumfrau war.
Er flucht, richtet sich auf und sieht sich um. Sein Blick bleibt an dem Pillenglas und der Schachtel Streichhölzer hängen, die immer neben ihm auf dem Nachtschränkchen parat liegen. Er seufzt, schiebt die Beine über die Bettkante und denkt, dass er es heute - heute - schaffen wird.
Er holt tief Luft, reibt sich mit den Händen übers Gesicht und beginnt mit der einfacheren der beiden Übungen. Die Pillen. Trocken und scheußlich. Er schluckt sie wie immer ohne Wasser, weil es so am schwersten ist, zwingt sie am Zäpfchen vorbei in die Speiseröhre und wartet, dass sie im Verdauungstrakt verschwinden und dort die Arbeit erledigen, die laut Dr. Helges engagiertem Dafürhalten zu Hennings Bestem ist.
Er knallt das Tablettenglas unnötig hart auf das Nachttischchen, als wollte er sich selbst wecken. Dann greift er energisch zu den Streichhölzern, schiebt langsam die Schachtel auf und starrt den Inhalt an. Dünne Holzsoldaten aus der Hölle. Er nimmt einen davon heraus, den Blick auf den Schwefelkopf geheftet, diese rote Kappe geballter Boshaftigkeit. Auf der Packung steht etwas von Sicherheitshölzern.
Scheiß Sicherheit.
Er legt das dünne Hölzchen an die Reibefläche und will es anreißen, aber seine Hände verkrampfen und schließen sich. Er kann sie nicht mehr bewegen, strengt sich an, konzentriert alle Kraft auf seine Hände, auf die Finger, aber dieses verfluchte kleine Stückchen Holz will sich nicht rühren. Es will einfach nicht kapieren, lässt sich durch nichts beeindrucken. Ihm bricht der Schweiß aus, seine Brust wird eng, er will Luft holen, aber es geht nicht. Er versucht es wieder, nimmt das winzige Schwert der Boshaftigkeit von der Reibefläche, um es gleich darauf erneut zu versuchen, spürt aber sofort, dass sein Kampfwille und damit auch seine Entschlossenheit nachgelassen haben, und hält inne. Jetzt versucht er, die Kraft in seine Gedanken zu legen, sieht aber ein, dass er atmen muss, und erstickt den in ihm aufkeimenden Drang zu schreien.
Alles nur, weil es so schrecklich früh am Morgen ist. Arne, der über ihm wohnt, schläft vermutlich noch, sonst würde man ihn sicher, wie sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit, Gedichte von Halldis Moren Vesaas vortragen hören.
Henning seufzt und legt die Schachtel vorsichtig zurück an die exakt gleiche Stelle. Langsam fährt er sich mit den Händen über das Gesicht und betastet die Stellen seiner Haut, die sich anders anfühlen. Weicher und unebener. Die äußerlichen Narben sind nichts im Vergleich zu denen in seinem Inneren, denkt er und steht auf.
Schlafende Städte sind seine Bestimmung. Dort will er sein, und dort ist er jetzt. Grünerløkka früh am Morgen, bevor der Stadtteil vor Leben brummt, sich die Straßencafés füllen, Mütter und Väter zur Arbeit und die Kinder in den Kindergarten müssen. Noch sind keine Radfahrer unterwegs, die auf dem Weg über die Toftes gate so viele rote Ampeln wie nur möglich überfahren. Um diese Zeit ist außer den ewig hungrigen Tauben niemand wach.
Er geht an dem Brunnen auf dem Olav Ryes plass vorbei und lauscht dem Spiel des Wassers. Er ist ein guter Zuhörer. Und er kennt sich mit Lauten aus. Kann die Stille aus dem fließenden Wasser heraushören und denkt, dass es gut und gern der letzte Tag der Welt sein könnte. Mit ein wenig Konzentration würde er vielleicht sogar ein paar vorsichtige Streicher und die dunklen Klänge eines Cellos hören. Töne, die sich annähern, aneinanderschmiegen, aufeinander einlassen und schließlich Gesellschaft von Pauken bekommen, die das herannahende Elend verkünden.
Aber er hat nicht die Zeit, die Morgenmusik in sich aufzunehmen, denn er ist auf dem Weg zur Arbeit. Allein schon der Gedanke daran macht Gummi aus seinen Beinen. Er weiß nicht, ob es Henning Juul noch gibt, den Juul, der jedes Jahr vier Jobangebote bekam, stumme Quellen zum Singen und die Tage dazu brachte, ein paar Stunden länger zu sein - nur ihm zuliebe -, weil er zum Jagen seiner Beute Licht brauchte.
Er weiß, wer er war.
Ob Halldis auch einen Vers für solche wie mich hat?, fragt er sich. Vermutlich.
Halldis hat für jeden ihren Vers.
Er bleibt stehen, als er den gigantischen gelben Koloss am Beginn der Urtegata sieht. Wegen des riesigen Securitas-Logos an der Wand glauben alle, dass in diesem Gebäude nur die Sicherheitsfirma ansässig ist, dabei gibt es dort auch diverse private Firmen und Behördenstellen. Und die Firma www. 123nyheter.no, Hennings Arbeitsplatz, eine reine Internetzeitung, die mit dem Slogan »Nachrichten in 1-2-3« operiert.
Er ist sich unschlüssig, was er von diesem Slogan halten soll, aber im Grunde genommen sind ihm solche Sachen egal. Sie haben sich fair verhalten, ihm Zeit gegeben, wieder zu sich zu kommen, die Chance für einen Neustart.
Ein Zaun aus hohen schwarzen Speeren ragt vor dem gelben Gebäude drei Meter in die Höhe. Das Tor ist ein Teil dieses Zauns. Es öffnet sich langsam, als ein Geldtransporter herausfährt.
Er geht an einem kleinen leeren Pförtnerbüro vorbei und legt die Hand an die Eingangstür. Sie rührt sich nicht. Er blickt durch das Glas nach drinnen. Es steht niemand in der Nähe. Schließlich drückt er auf die Klingel aus gebürstetem Stahl, über der »Empfang« steht.
»Ja«, ertönt mürrisch eine Frauenstimme.
»Hallo«, sagt er und räuspert sich. »Können Sie mich reinlassen?«
»Zu wem wollen Sie?«
»Ich arbeite hier.«
Es bleibt für ein paar Sekunden still.
»Haben Sie Ihre Schlüsselkarte vergessen?«
Er denkt nach. Schlüsselkarte?
»Nein, ich habe keine bekommen.«
»Alle haben Schlüsselkarten bekommen.«
»Ich nicht.«
Es wird wieder still. Er wartet auf eine Fortsetzung, die nicht kommt.
»Würden Sie mich reinlassen?«
Ein scharfes Bzzzzzz lässt ihn zusammenzucken, die Tür summt. Er zieht sie überrascht zu sich, geht hinein und blickt nach oben. Seine Augen haben rasch das runde Ding an der Decke gefunden. Er wartet, bis es rot zu blinken beginnt.
Die grauen Schieferplatten am Boden sind neu, die waren beim letzten Mal noch nicht da. Wie das meiste andere, denkt er. Auf dem Boden stehen große Pflanzen in noch größeren Töpfen, und an den weißen Wänden hängen Kunstwerke, die ihm nichts sagen. Sie haben jetzt auch eine Kantine, stellt er fest, als er links durch eine Glastür schaut. Die Rezeption liegt auf der anderen Seite hinter einer weiteren Glastür. Er geht hinein. Auch hier hängt so ein Ding unter der Decke. Gut.
Eine Frau mit rotem, zu einem Pferdeschwanz zusammengefasstem Haar sitzt hinter dem Tresen. Wütend hackt sie etwas in die Tastatur des Computers, während das Licht des Bildschirms auf ihr müdes Gesicht fällt. Die Postfächer hinter ihr an der Wand sind übervoll mit Papieren, Broschüren, Päckchen und Briefen. An der Wand hängt ein Bildschirm, der mit einem PC gekoppelt ist. Er wirft einen Blick auf die Topnews.
FRAUENLEICHE GEFUNDEN
Auch den Lead bekommt er mit.
In einem Zelt am Ekeberg wurde die Leiche einer Frau gefunden. Die Polizei geht von einem Verbrechen aus.
Die Nachrichtenredaktion hat sich noch nicht darum kümmern können, denkt er, sonst stünde im Lead mehr als in der Schlagzeile. Vermutlich sind die Reporter noch gar nicht ausgerückt. Als Illustration dient ein Foto von einem Polizeiabsperrband an einem ganz anderen Tatort.
Wie originell.
Henning wartet darauf, dass sie ihn ansieht. Aber das tut sie nicht. Er geht auf die Frau zu und begrüßt sie. Sie hebt ihren Blick und sieht ihn an, als hätte er sie geohrfeigt. Dann kommt das Unausweichliche. Ihr Mund öffnet sich, und ihre Augen nehmen alles auf, das Gesicht, die Brandverletzungen und die Narben. Er ist nicht völlig entstellt, die Narben sind nicht groß, nicht aufdringlich groß, aber doch groß genug, dass die Leute ihn einen Augenblick zu lange anstarren, wenn er sich im selben Raum wie sie befindet.
»Ich brauche offensichtlich eine Schlüsselkarte«, sagt er so höflich, wie er kann. Sie starrt ihn noch immer an, ehe sie sich selbst aus der Blase reißt, in der sie Zuflucht gesucht hat, und in einem Stapel Papiere zu blättern beginnt, die vor ihr liegen.
»Äh, ja. Äh ... wie heißen Sie denn?«
»Henning Juul.«
Abrupt hält sie inne und blickt wieder auf. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, bis sie sagt: »Sie sind das also.«
Er nickt verlegen. Dann öffnet sie eine Schublade, nimmt ein paar Unterlagen heraus, bis sie einen Kartenhalter und eine Schlüsselkarte findet.
»Ich kann Ihnen nur eine vorläufige Karte geben. Es dauert etwas, eine neue herzustellen. Sie müssen sich draußen im Pförtnerbüro registrieren lassen, damit Sie die Tür selbst öffnen können, und - aber das wissen Sie ja sicher - der Code ist 1221. Den kann man sich leicht merken.«
Sie reicht ihm die Karte.
»Und dann muss ich noch ein Foto von Ihnen machen.« Er sieht sie an.
»Ein Foto?«
»Ja, für die Schlüsselkarte. Und für die Autorenzeile in der Zeitung. So schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe, ist doch gut, oder?«
Sie lächelt, aber ihre Lippen zittern leicht.
»Ich habe einen Fotokurs gemacht«, sagt sie, als wollte sie seine Bedenken zerstreuen. »Bleiben Sie einfach da stehen, wo Sie jetzt sind. Ich kümmere mich um den Rest.«
Hinter dem Tresen taucht eine an einem Stativ befestigte Kamera auf, die sie aufstellt. Henning weiß nicht, wohin er gucken soll, weshalb er den Blick starr nach vorn richtet.
»So, ja. Versuchen Sie zu lächeln.«
Lächeln. Er weiß nicht, wann er zuletzt gelächelt hat. Sie macht drei Fotos schnell hintereinander.
»Gut! Ich heiße Sølvi«, sagt sie und reicht ihm über den Tresen hinweg die Hand. Er schlägt ein. Weiche, angenehme Haut. Er kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt weiche, angenehme Haut in seiner Hand gespürt hat. Sie drückt gerade fest genug zu. Er sieht sie an und lässt los.
Als er sich umdreht und geht, fragt er sich, ob sie wohl sein schwaches Lächeln bemerkt hat.
...
Übersetzung: Günther Frauenlob und Maike Dörries
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Thomas Enger
Thomas Enger, 1973 in Oslo geboren, wuchs in Jessheim auf. Er studierte Publizistik, Sport und Geschichte und arbeitete nach dem Studium in einer Onlineredaktion. Nebenbei schrieb er seine ersten Romane und war an verschiedenen Musicalproduktionen beteiligt. Sterblich ist sein erster Thriller. Inzwischen lebt er zusammen mit seiner Freundin und zwei Kindern wieder in Oslo.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Enger
- 2012, 1, 416 Seiten, Maße: 13,5 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652819
- ISBN-13: 9783863652814
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