Stigma
13 Jahre sind vergangen, seit Tom Kessler einem Kindermörder stundenlang ausgeliefert war. Noch immer hat er Panikattacken, kann sich aber an nichts erinnern. Seine bei einer Hypnosetherapie geweckten Erinnerungen sind so grausam, dass die Rückführung außer Kontrolle gerät.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Stigma “
13 Jahre sind vergangen, seit Tom Kessler einem Kindermörder stundenlang ausgeliefert war. Noch immer hat er Panikattacken, kann sich aber an nichts erinnern. Seine bei einer Hypnosetherapie geweckten Erinnerungen sind so grausam, dass die Rückführung außer Kontrolle gerät.
Klappentext zu „Stigma “
13 Jahre sind vergangen, seit Tom Kessler einem Kindermörder über Stunden hilflos ausgeliefert war, bevor er gerettet wurde. Noch immer leidet Tom unter Panikattacken, kann sich aber an nichts erinnern. Dann wird ein kleines Mädchen ermordet. Neben der Leiche findet man einen Zettel, der nur von dem damaligen Täter stammen kann. Er droht damit, Toms Trauma zu wiederholen. Auf Anraten seiner Ärztin beginnt Tom eine Hypnosetherapie, die ihn in die Vergangenheit versetzt. Doch die Erinnerungen an jenen Tag sind so grausam, dass die Rückführung außer Kontrolle gerät ...
Lese-Probe zu „Stigma “
Stigma von Michael Hübner Prolog
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Es war ein Dienstag, der dreiundzwanzigste Juli, an dem Tom Kesslers Kindheit endete. Er war zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt.
Eigentlich hieß er Thomas, doch solange er zurückdenken konnte, nannten die Leute ihn Tom. Aus Bequemlichkeit, wie er vermutete, obwohl sein Großvater einmal behauptet hatte, diese Kurzform würde besser zu der Leichtfüßigkeit passen, mit der er der Welt entgegentrat. Vielleicht lag es auch daran, dass er für sein Alter schon ziemlich erwachsen wirkte. Seine Körpergröße, mit der er Gleichaltrige um gut einen Kopf überragte, und ein früh einsetzender Bartwuchs ließen ihn schon in diesem Alter wie einen jungen Mann aussehen. Zudem verlieh ihm sein dunkelbraunes Haar, das ihm stets ein wenig zerzaust in die Stirn hing, eine gewisse Verwegenheit, die seine Mitschülerinnen bereits zu dem einen oder anderen bewundernden Blick verleitet hatte.
Bis zu jenem Tag, an dem Gewalt und Wahnsinn so unverhofft in sein Leben einschlugen, war Tom ein glücklicher Junge gewesen. Er lebte mit seinen Eltern und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Sandra in einer kleinen Hochhaussiedlung am Rand von Wiesbaden. Tom war ein guter Schüler und sehr beliebt. Neben seinen Freunden nahm seine Leidenschaft für Bücher den größten Teil seiner Freizeit in Anspruch, und bereits als Kind war seine Vorstellungskraft ausgereift genug, um erste Kurzgeschichten zu verfassen. Außerdem war er ein begeisterter Fußballspieler, liebte Schach und schwärmte für alte Hollywoodfilme.
Es gab viele Dinge, die ihm wichtig waren. Doch nichts von alldem konnte ihn auf das vorbereiten, was an diesem Sommertag geschehen sollte, als zwei kräftige Männerhände ihn in diesen Keller zerrten, hinein in eine Welt, die er bis dahin nur aus Büchern kannte. Hände, die nach Zigaretten und feuchter Erde gerochen hatten, nach Verwesung und Tod. Hände, die so unvorstellbare Grausamkeiten verübt hatten. Werkzeuge des Bösen.
Noch nie hatte er eine Leiche gesehen. Gelesen hatte er oft davon. Aber es waren nur Worte gewesen, erfundene Geschichten, die sich so schnell wieder verflüchtigten wie ein Alptraum, aus dem man erwachte und in dem man nichts Reales entdecken konnte. Nichts jedenfalls, was einen auf Dauer ängstigte oder verfolgte oder den Glauben an eine gute Welt zerstörte.
Tom liebte Geschichten. Oft hatte er seinem Vater zugehört, wenn der abends beim Essen von seiner Arbeit als Polizist erzählte, von Verkehrsdelikten, Einbrüchen und Verhaftungen. Es faszinierte ihn, in eine Welt einzutauchen, die außerhalb der fiktiven Bücher lag. Denn es war der unwiderstehliche Reiz des Wirklichen, der ihn anzog und der sich in seinen Geschichten niederschlug. Aber diese Wirklichkeit war es auch, die ihn zum ersten Mal erkennen ließ, dass manche Ereignisse einen Menschen verändern konnten.
Tom merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, als sein Vater am Tag vor dem Ferienbeginn früher nach Hause kam. Frank Kessler saß stumm auf seinem Stuhl in der Küche und starrte die ganze Zeit über verloren vor sich hin, als suche er in seinem Inneren verzweifelt nach etwas, das ihn befreien und ihm seinen Glauben an das Gute in der Welt zurückgeben konnte. Erst gegen Abend war sein Vater bereit, darüber zu reden, was ihn bedrückte. Noch immer tat er sich sehr schwer damit, musste hin und wieder Pausen einlegen. Wenn es um den Tod eines Menschen ging, war es eben nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. Doch Tom vermutete, dass es für seinen Vater wichtig war, darüber zu sprechen, genauso wie es für ihn wichtig war, seine Geschichten zu erzählen. Eine Art Ventil, mit dessen Hilfe er angestauten Druck ablassen konnte, indem er ihn mit anderen teilte. Also hörte Tom aufmerksam zu, als sein Vater von dem Unfall auf der Autobahn berichtete. Von den ineinander verkeilten Autos und den Schreien der Insassen. Davon, wie sein Kollege versucht hatte, die Unfallstelle zu sichern, und dabei von einem heranrasenden Auto erfasst und in zwei Stücke gerissen worden war. Und er sah die Tränen in den Augen seines Vaters, während er davon erzählte.
An diesem Abend fiel das Essen aus, und die Familie ging früh zu Bett. Doch Tom lag noch lange wach und grübelte. Die Bilder in seinem Kopf ließen ihn nicht los. Nie zuvor hatte er seinen Vater weinen sehen. Diesen groß gewachsenen Mann, der allein durch seine Anwesenheit Autorität ausstrahlte. Und er begriff, dass nicht alles im Leben nach einem festen Raster verlief, sondern dass Ereignisse eintreten konnten, die einen Menschen nachhaltig beeinflussten und die ihre Spuren hinterließen. Er verstand auch, dass es Zeit brauchte, um mit diesen Dingen fertigzuwerden. Mit Dingen wie Tod und Verzweiflung. Dingen, denen man hilflos ausgeliefert war.
Damals war ihm nicht annähernd bewusst, wie sehr und wie nachhaltig ihn das schon bald selbst betreffen sollte.
Es war bereits früher Nachmittag, als er an diesem dreiundzwanzigsten Juli über den Lamellenzaun auf das abgelegene Grundstück kletterte. Die drückende Hitze dieses Sommers stellte sich ihm entgegen wie eine physische Barriere, die ihn an seinem Vorhaben hindern wollte. Nur wenige Meter entfernt standen seine Freunde und feuerten ihn an, bewunderten seinen Mut und seine Entschlossenheit.
Es sollte das letzte Mal sein, dass Tom sie sah.
Er hörte ihre Rufe noch, als er die frische Grube mit ihrem schrecklichen Inhalt in dem Garten entdeckte und sich kurz darauf die Hände des Mannes auf seinen Mund und um seinen Nacken legten.
Von da an schien die Zeit für ihn stillzustehen.
Vierzig Minuten dauerte es, bis Toms Freunde die Suche nach ihm aufgaben und seine Eltern verständigten. Weitere zwanzig Minuten, bis sein Vater in Begleitung zweier Kollegen vergeblich an der Tür des Hauses klingelte. Eine knappe halbe Stunde brauchte man, um die Adresse mit zwei Anzeigen und einer Suchmeldung in Verbindung zu bringen, und weitere eineinhalb Stunden für den richterlichen Durchsuchungsbefehl. Erst nach etwas mehr als drei Stunden drang die Polizei in das Haus ein. Drei qualvoll lange Stunden, die Tom im Keller des Mannes verbrachte, der sich selbst als »der Wächter« bezeichnete. Drei Stunden in Gegenwart des vollkommenen und menschenverachtenden Wahnsinns.
Was genau sich in dieser Zeit zugetragen hatte, konnte die Polizei nur anhand von Indizien rekonstruieren. Doch diese gaben nicht annähernd das wieder, was Tom tatsächlich durchlebt hatte. Mehrere Gegenstände wurden sichergestellt und den zahlreichen Verletzungen und Misshandlungsspuren an Toms Körper zugeordnet. Des Weiteren fand man vier Leichen auf dem Grundstück, Kinder im Alter zwischen vier und zehn Jahren, die zum Teil schon seit Monaten als vermisst gemeldet waren.
Tom selbst war nicht in der Lage gewesen, sich zu den Vorfällen zu äußern. Das Letzte, was er bei halbwegs klarem Verstand wahrgenommen hatte, war das Gefühl von warmem Sommerregen auf seiner Haut gewesen und ein gurgelndes, abscheuliches Lachen. Danach hatte sein Bewusstsein abgeschaltet wie ein überlasteter Stromkreis, und er war in tiefe, schützende Finsternis versunken. Er wurde sofort in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht und umfassend medizinisch versorgt. Doch es gab Verletzungen, die man nicht einfach schienen oder verbinden konnte. Wunden, die weit tiefer in ihn eingedrungen waren als nur in sein Fleisch. Und er würde Zeit brauchen, bis diese Wunden sich schließen konnten. Sehr viel Zeit.
Es sollten Jahre vergehen, bis sie endlich zu heilen begannen.
Dreizehn Jahre später
Montag, 15 . Mai
Fast völlig entmutigt saß er am Schreibtisch seines Arbeitszimmers und starrte den blinkenden Cursor auf dem ansonsten leeren Bildschirm an. Seit geschlagenen vier Stunden tat er das. Und er hatte in dieser Zeit nicht einen vernünftigen Satz getippt. Es gab Tage, an denen er das Schreiben hasste, an denen ihm diese Gabe wie ein Fluch erschien. Heute war so ein Tag. Es gelang ihm einfach nicht, sich in seine Geschichte zu vertiefen, sich in seine eigens geschaffenen Charaktere hineinzuversetzen. Eigentlich war dies ein natürlicher Vorgang beim Schreiben, der ihm bei seinem ersten Buch vor vier Jahren wie von selbst von der Hand gegangen war.
Schatten der Seele hatte sich fünfzehn Monate in den Bestsellerlisten gehalten. Drei weitere Romane hatte er seitdem veröffentlicht, alle mit demselben Erfolg. Er konnte also getrost davon ausgehen, dass er sein Handwerk beherrschte. Und dennoch mehrten sich die Tage, an denen er eine völlige innere Leere verspürte. Ein tiefes schwarzes Loch, in dem er schwerelos zu schweben schien und das ihm jegliche Konzentration entzog. Dabei war ihm das Schreiben nie schwergefallen. Es war vielmehr ein eigenständiger Prozess, der ohne sein Zutun ablief. Beinahe so, als wäre da eine innere Stimme, die ihm diktierte, was er schreiben sollte. Und manchmal kam es ihm so vor, als ob diese Stimme tatsächlich existierte, als ob sie direkt aus seinem Kopf zu ihm sprach. Das Beunruhigende daran war, dass diese Stimme nicht wie seine eigene klang, ihm aber dennoch vertraut vorkam. Und noch viel beunruhigender war es, gelegentlich auch andere Stimmen zu hören, die sich dazugesellten. Dr. Westphal, seine Therapeutin, bei der er seit Jahren in Behandlung war, hatte sie als »Suggestivstimmen« bezeichnet. Als »Boten seiner Seele«. Und das Schreiben sei so etwas wie eine Therapie, ein »Ventil« für unverarbeitete Erlebnisse.
Übersetzt klang das für ihn so, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Doch seine Ärztin meinte, dieses Verhalten sei eine ganz natürliche Reaktion auf die traumatischen Erlebnisse in seiner Kindheit, die zwar noch immer in seinem Unterbewusstsein verankert waren, auf die er jedoch keinen Zugriff mehr hatte. Auch die Gedächtnislücken und die gelegentlichen Panikattacken führte sie darauf zurück. Er müsse sich seiner Vergangenheit stellen und seine Dämonen besiegen, hatte sie gesagt, sie ein für alle Mal auslöschen.
Sich der Vergangenheit stellen.
Zum Teufel, das würde er ja gern tun, wenn er sich verdammt noch mal an sie erinnern könnte!
»Tom!«, tönte es schwach von unten durch die geschlossene Tür seines Arbeitszimmers. »Das Essen wird kalt, kommst du bitte? Es gibt Gemüseauflauf.«
»Komme sofort!«, rief er zurück und konnte gerade noch etwas durch den Flur hallen hören, das sich anhörte wie »Das sagst du immer!«. Normalerweise kam er selten in den Genuss, sein Mittagessen warm zu sich zu nehmen, zumindest wenn er in seine Arbeit vertieft war. Heute jedoch war er mehr als dankbar für diese Unterbrechung. Entweder hatte sein Unterbewusstsein die Schreibtherapie für beendet erklärt, oder sein »Ventil« war verstopft.
Er knipste den Monitor aus und zog die Jalousie vor dem Fenster hoch, die ihn vor den blendenden Sonnenstrahlen schützte. Und er fragte sich, ob ein leerer Bildschirm es tatsächlich rechtfertigte, einen so herrlichen Frühlingstag auszusperren, der ihm einen nahezu ungehinderten Blick auf den angrenzenden See und die umliegenden Wälder ermöglichte, deren Grün zu dieser Jahreszeit besonders zu leuchten schien.
Nur schwer löste er sich von diesem idyllischen Anblick und öffnete die Tür seines Arbeitszimmers. Unter dem gequälten Knarren der Dielen schritt er den Flur entlang, vorbei an Schlaf- und Kinderzimmer. Dabei beschloss er, nach dem Essen ein wenig im Garten zu arbeiten. Karin hatte am Morgen die bestellten Stauden in der Gärtnerei abgeholt. Wenn das Wetter es zuließ, und danach sah es aus, würde er sie am Nachmittag einpflanzen. Vielleicht brachte ihn das auf andere Gedanken, und hoffentlich auf einen rettenden Einfall.
Er stieg die geschwungene Holztreppe ins Erdgeschoss hinab, wo es bereits köstlich nach Essen roch. Karins erstaunter Gesichtsausdruck entging ihm nicht, als er die geräumige Landhausküche betrat und sich an den Tisch setzte, an dem bereits ihr dreijähriger Sohn Mark saß und sich emsig die eigens für ihn angerichteten Pommes frites in den Mund stopfte.
»So schnell?«, sagte sie erstaunt und stellte eine Schüssel mit Blattsalat in die Mitte des Tisches. »Lass mich raten: Du kommst nicht weiter, richtig?«
»Es ist wie verhext«, bestätigte er niedergeschlagen. »Seit Wochen sitze ich da und starre diesen verdammten Bildschirm an. Und mir fällt einfach keine brauchbare Strategie ein, wie ich das ändern könnte. Ich fühle mich vollkommen ausgebrannt.«
»Kein Wunder«, meinte Karin gelassen. »Du schläfst in letzter Zeit auch ziemlich unruhig. Manchmal redest du sogar im Schlaf.«
»Ach ja, worüber denn?«
»Über deine rassige achtzehnjährige Geliebte, die du jeden Samstag im Hotel triffst, und über deine Pläne, mich zu verlassen.«
Entgeistert starrte Tom seine Frau an, doch sie lachte nur und küsste ihn sanft auf die Wange. Dabei streifte ihn eine Strähne ihres blonden Haares, das wunderbar nach Früchten duftete.
»Keine Bange, ich konnte kein Wort von dem verstehen, was du in dein Kissen gemurmelt hast. Dazu war ich selbst viel zu erledigt.«
»Na wenigstens kommt einer von uns beiden zur Ruhe.«
»Ja, und wenn du damit aufhören würdest, mitten in der Nacht im Haus herumzugeistern, könnte ich vielleicht sogar durchschlafen«, gab sie schnippisch zurück.
Tom wandte sich Mark zu, der mit einem Pommes einen Klumpen Mayonnaise mit Ketchup zu einer weiß-roten Soße zusammenmanschte. »Na, Champion«, sagte er, während er ihm das dunkelblonde Haar strubbelte, das genauso störrisch war wie sein eigenes. »Wie war's im Kindergarten?«
»Wie immer«, antwortete sein Sohn mit vollem Mund.
Das sollte wohl heißen: »Nicht besonders aufregend.«
Sein Blick glitt wieder zu Karin hinüber. »Du sagst, ich bin letzte Nacht im Haus herumgelaufen? Daran kann ich mich gar nicht erinnern.«
»Wirst du jetzt auch noch zum Schlafwandler? Vielleicht sollte ich dich nachts an die Leine legen.«
»Na ja«, bemerkte er grinsend, »wahrscheinlich hab ich mir gedacht, wenn sie mir nicht zuhört, geh ich eben woandershin.«
Sie lachte, so dass das kleine Muttermal kurz über ihrem rechten Mundwinkel auf und ab hüpfte. Doch gleich darauf wurde sie ernst. »Bedrückt dich irgendetwas?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Bis auf die Tatsache, dass ich gelegentlich Todesängste ausstehe und keine Ahnung habe, weshalb. »Jedenfalls nichts, was mir bewusst wäre.« Seine Augen verengten sich und wurden starr. »Diese ganze Geschichte von damals ... Es ist wie ausgelöscht. Meine Kindheit, meine Jugend ... Ich kann mich kaum noch daran erinnern, einmal jung gewesen zu sein.«
»Vielleicht solltest du mal mit Dr. Westphal darüber reden. Glaubst du, das könnte etwas mit deinen Panikanfällen zu tun haben?«
»Möglich ist alles, wenn es um die menschliche Psyche geht. Das behauptet sie zumindest. Die Seele vergisst niemals, das ist einer von ihren Standardsätzen. Wenn ich nur wüsste, was diese Anfälle auslöst.«
»Ihr werdet schon noch dahinterkommen. Sie ist eine gute Ärztin.«
»Ich weiß«, stimmte er ihr zu. »Ich habe ja nicht ohne Grund über sie für mein erstes Buch recherchiert.«
Schatten der Seele, rief er sich den Titel ins Gedächtnis. Möglicherweise hatte er sich einfach zu lange mit dieser Materie beschäftigt, und nun holten ihn seine eigenen Fantasien ein.
»Vielleicht brauchst du nur mal Urlaub«, bemerkte Karin und begann den Auflauf zu verteilen. »Seit über vier Monaten schreibst du ununterbrochen an deinem neuen Buch. Du müsstest vielleicht nur mal abschalten und auf andere Gedanken kommen.«
Karin schloss die Klappe des Backofens und war gerade im Begriff, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen, als es an der Tür klingelte.
»Wer kann denn das sein, um die Mittagszeit?«, knurrte Tom.
»Ach, das ist bestimmt das Kleid, das ich mir bestellt habe. Du weißt schon, für Samstag.«
Tom sah sie verständnislos an.
»Samstag?«, wiederholte sie fragend. »Der zwanzigste Mai ...« Entschieden fügte sie hinzu: »Mein Geburtstag!«
Toms Augen weiteten sich. »Dein Geburtstag ... natürlich!« Er spielte verlegen mit dem Besteck. Über seinen verzweifelten Bemühungen, ein paar brauchbare Sätze zu Papier zu bringen, hatte er tatsächlich die Feier zu ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag vergessen. Vielleicht hatte er dieses Ereignis auch schlicht verdrängt, denn er war kein großer Anhänger solcher Feierlichkeiten. Zu viele Menschen in einem Raum machten ihn nervös, zumal die meisten davon für ihn Fremde waren, zu denen er kaum einen Bezugspunkt hatte. Karin war Elternsprecherin der Kindergartengruppe und half, Feste, Wanderungen und Ausflüge zu organisieren. Außerdem saß sie im Vorstand des Arbeiterwohlfahrtsvereins, der Freizeitaktivitäten für Senioren ausrichtete. All das machte ihren Freundeskreis für Tom sehr unübersichtlich, da er selbst so gut wie nie das Haus verließ. Lediglich einer einzigen Person hatte er es zu verdanken, dass seine Angst vor fremden Menschen ihn nicht zum sozialen Eremiten verkümmern ließ.
»Ich habe übrigens auch Fanta eingeladen«, rief Karin durch den Flur, während sie zur Haustür ging.
Stefan Tauber, sein kritischster Leser und bester Freund, den vermutlich alle außer Tom mit dem Kürzel »Fanta« ansprachen, das sich aus den letzten drei Buchstaben seines Vor- und den beiden ersten seines Nachnamens zusammensetzte. Tom dagegen fand diesen Spitznamen reichlich unpassend für einen Mann, der alles andere als ein frenetischer Anhänger schaler Brauselimonade war. Würden die Leute ihn »Hefe« nennen, so hätte Tom sich eher damit anfreunden können. Allerdings lag Stefans modisches Erscheinungsbild weit jenseits jeden konventionellen Geschmacks und machte ihn, gepaart mit seiner äußerst direkten Art, in Toms Augen zum wohl ausgeflipptesten Typen auf diesem Planeten. Weshalb das Kürzel zumindest in dieser Hinsicht seine Berechtigung hatte.
Durch den Flur hörte Tom, wie Karin die Tür öffnete. Kurz darauf vernahm er eine fremde Männerstimme, konnte aber keine Einzelheiten verstehen. Es dauerte nicht lange, bis Karin in die Küche zurückkehrte und ihn unsicher ansah.
»Was ist denn?«, fragte er. »Haben sie das falsche Kleid geliefert?«
»Mark, Schätzchen.« Karin hob ihren Sohn von seinem Kinderstuhl. »Bitte geh in dein Zimmer, ja?«
»Aber Mama«, protestierte der Kleine. »Ich will doch noch Nachtisch.«
»Den gibt es heute ausnahmsweise mal später.«
»Was ist denn los?«, wiederholte Tom hörbar besorgt, nachdem Mark den Raum verlassen hatte.
»Es ist die Kriminalpolizei«, berichtete Karin erschrocken. »Sie sagen, es geht um einen Mord.«
»Sind Sie Tom Kessler?«, erkundigte sich einer der beiden Männer, als Tom die Tür erreichte.
»Thomas Kessler - ja, der bin ich«, antwortete er verstört. »Dürfen wir hereinkommen?«
»Um was genau geht es denn bitte?«
»Das würden wir Ihnen gerne drinnen erklären, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Copyright © 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Es war ein Dienstag, der dreiundzwanzigste Juli, an dem Tom Kesslers Kindheit endete. Er war zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt.
Eigentlich hieß er Thomas, doch solange er zurückdenken konnte, nannten die Leute ihn Tom. Aus Bequemlichkeit, wie er vermutete, obwohl sein Großvater einmal behauptet hatte, diese Kurzform würde besser zu der Leichtfüßigkeit passen, mit der er der Welt entgegentrat. Vielleicht lag es auch daran, dass er für sein Alter schon ziemlich erwachsen wirkte. Seine Körpergröße, mit der er Gleichaltrige um gut einen Kopf überragte, und ein früh einsetzender Bartwuchs ließen ihn schon in diesem Alter wie einen jungen Mann aussehen. Zudem verlieh ihm sein dunkelbraunes Haar, das ihm stets ein wenig zerzaust in die Stirn hing, eine gewisse Verwegenheit, die seine Mitschülerinnen bereits zu dem einen oder anderen bewundernden Blick verleitet hatte.
Bis zu jenem Tag, an dem Gewalt und Wahnsinn so unverhofft in sein Leben einschlugen, war Tom ein glücklicher Junge gewesen. Er lebte mit seinen Eltern und seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Sandra in einer kleinen Hochhaussiedlung am Rand von Wiesbaden. Tom war ein guter Schüler und sehr beliebt. Neben seinen Freunden nahm seine Leidenschaft für Bücher den größten Teil seiner Freizeit in Anspruch, und bereits als Kind war seine Vorstellungskraft ausgereift genug, um erste Kurzgeschichten zu verfassen. Außerdem war er ein begeisterter Fußballspieler, liebte Schach und schwärmte für alte Hollywoodfilme.
Es gab viele Dinge, die ihm wichtig waren. Doch nichts von alldem konnte ihn auf das vorbereiten, was an diesem Sommertag geschehen sollte, als zwei kräftige Männerhände ihn in diesen Keller zerrten, hinein in eine Welt, die er bis dahin nur aus Büchern kannte. Hände, die nach Zigaretten und feuchter Erde gerochen hatten, nach Verwesung und Tod. Hände, die so unvorstellbare Grausamkeiten verübt hatten. Werkzeuge des Bösen.
Noch nie hatte er eine Leiche gesehen. Gelesen hatte er oft davon. Aber es waren nur Worte gewesen, erfundene Geschichten, die sich so schnell wieder verflüchtigten wie ein Alptraum, aus dem man erwachte und in dem man nichts Reales entdecken konnte. Nichts jedenfalls, was einen auf Dauer ängstigte oder verfolgte oder den Glauben an eine gute Welt zerstörte.
Tom liebte Geschichten. Oft hatte er seinem Vater zugehört, wenn der abends beim Essen von seiner Arbeit als Polizist erzählte, von Verkehrsdelikten, Einbrüchen und Verhaftungen. Es faszinierte ihn, in eine Welt einzutauchen, die außerhalb der fiktiven Bücher lag. Denn es war der unwiderstehliche Reiz des Wirklichen, der ihn anzog und der sich in seinen Geschichten niederschlug. Aber diese Wirklichkeit war es auch, die ihn zum ersten Mal erkennen ließ, dass manche Ereignisse einen Menschen verändern konnten.
Tom merkte sofort, dass etwas nicht stimmte, als sein Vater am Tag vor dem Ferienbeginn früher nach Hause kam. Frank Kessler saß stumm auf seinem Stuhl in der Küche und starrte die ganze Zeit über verloren vor sich hin, als suche er in seinem Inneren verzweifelt nach etwas, das ihn befreien und ihm seinen Glauben an das Gute in der Welt zurückgeben konnte. Erst gegen Abend war sein Vater bereit, darüber zu reden, was ihn bedrückte. Noch immer tat er sich sehr schwer damit, musste hin und wieder Pausen einlegen. Wenn es um den Tod eines Menschen ging, war es eben nicht leicht, die richtigen Worte zu finden. Doch Tom vermutete, dass es für seinen Vater wichtig war, darüber zu sprechen, genauso wie es für ihn wichtig war, seine Geschichten zu erzählen. Eine Art Ventil, mit dessen Hilfe er angestauten Druck ablassen konnte, indem er ihn mit anderen teilte. Also hörte Tom aufmerksam zu, als sein Vater von dem Unfall auf der Autobahn berichtete. Von den ineinander verkeilten Autos und den Schreien der Insassen. Davon, wie sein Kollege versucht hatte, die Unfallstelle zu sichern, und dabei von einem heranrasenden Auto erfasst und in zwei Stücke gerissen worden war. Und er sah die Tränen in den Augen seines Vaters, während er davon erzählte.
An diesem Abend fiel das Essen aus, und die Familie ging früh zu Bett. Doch Tom lag noch lange wach und grübelte. Die Bilder in seinem Kopf ließen ihn nicht los. Nie zuvor hatte er seinen Vater weinen sehen. Diesen groß gewachsenen Mann, der allein durch seine Anwesenheit Autorität ausstrahlte. Und er begriff, dass nicht alles im Leben nach einem festen Raster verlief, sondern dass Ereignisse eintreten konnten, die einen Menschen nachhaltig beeinflussten und die ihre Spuren hinterließen. Er verstand auch, dass es Zeit brauchte, um mit diesen Dingen fertigzuwerden. Mit Dingen wie Tod und Verzweiflung. Dingen, denen man hilflos ausgeliefert war.
Damals war ihm nicht annähernd bewusst, wie sehr und wie nachhaltig ihn das schon bald selbst betreffen sollte.
Es war bereits früher Nachmittag, als er an diesem dreiundzwanzigsten Juli über den Lamellenzaun auf das abgelegene Grundstück kletterte. Die drückende Hitze dieses Sommers stellte sich ihm entgegen wie eine physische Barriere, die ihn an seinem Vorhaben hindern wollte. Nur wenige Meter entfernt standen seine Freunde und feuerten ihn an, bewunderten seinen Mut und seine Entschlossenheit.
Es sollte das letzte Mal sein, dass Tom sie sah.
Er hörte ihre Rufe noch, als er die frische Grube mit ihrem schrecklichen Inhalt in dem Garten entdeckte und sich kurz darauf die Hände des Mannes auf seinen Mund und um seinen Nacken legten.
Von da an schien die Zeit für ihn stillzustehen.
Vierzig Minuten dauerte es, bis Toms Freunde die Suche nach ihm aufgaben und seine Eltern verständigten. Weitere zwanzig Minuten, bis sein Vater in Begleitung zweier Kollegen vergeblich an der Tür des Hauses klingelte. Eine knappe halbe Stunde brauchte man, um die Adresse mit zwei Anzeigen und einer Suchmeldung in Verbindung zu bringen, und weitere eineinhalb Stunden für den richterlichen Durchsuchungsbefehl. Erst nach etwas mehr als drei Stunden drang die Polizei in das Haus ein. Drei qualvoll lange Stunden, die Tom im Keller des Mannes verbrachte, der sich selbst als »der Wächter« bezeichnete. Drei Stunden in Gegenwart des vollkommenen und menschenverachtenden Wahnsinns.
Was genau sich in dieser Zeit zugetragen hatte, konnte die Polizei nur anhand von Indizien rekonstruieren. Doch diese gaben nicht annähernd das wieder, was Tom tatsächlich durchlebt hatte. Mehrere Gegenstände wurden sichergestellt und den zahlreichen Verletzungen und Misshandlungsspuren an Toms Körper zugeordnet. Des Weiteren fand man vier Leichen auf dem Grundstück, Kinder im Alter zwischen vier und zehn Jahren, die zum Teil schon seit Monaten als vermisst gemeldet waren.
Tom selbst war nicht in der Lage gewesen, sich zu den Vorfällen zu äußern. Das Letzte, was er bei halbwegs klarem Verstand wahrgenommen hatte, war das Gefühl von warmem Sommerregen auf seiner Haut gewesen und ein gurgelndes, abscheuliches Lachen. Danach hatte sein Bewusstsein abgeschaltet wie ein überlasteter Stromkreis, und er war in tiefe, schützende Finsternis versunken. Er wurde sofort in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht und umfassend medizinisch versorgt. Doch es gab Verletzungen, die man nicht einfach schienen oder verbinden konnte. Wunden, die weit tiefer in ihn eingedrungen waren als nur in sein Fleisch. Und er würde Zeit brauchen, bis diese Wunden sich schließen konnten. Sehr viel Zeit.
Es sollten Jahre vergehen, bis sie endlich zu heilen begannen.
Dreizehn Jahre später
Montag, 15 . Mai
Fast völlig entmutigt saß er am Schreibtisch seines Arbeitszimmers und starrte den blinkenden Cursor auf dem ansonsten leeren Bildschirm an. Seit geschlagenen vier Stunden tat er das. Und er hatte in dieser Zeit nicht einen vernünftigen Satz getippt. Es gab Tage, an denen er das Schreiben hasste, an denen ihm diese Gabe wie ein Fluch erschien. Heute war so ein Tag. Es gelang ihm einfach nicht, sich in seine Geschichte zu vertiefen, sich in seine eigens geschaffenen Charaktere hineinzuversetzen. Eigentlich war dies ein natürlicher Vorgang beim Schreiben, der ihm bei seinem ersten Buch vor vier Jahren wie von selbst von der Hand gegangen war.
Schatten der Seele hatte sich fünfzehn Monate in den Bestsellerlisten gehalten. Drei weitere Romane hatte er seitdem veröffentlicht, alle mit demselben Erfolg. Er konnte also getrost davon ausgehen, dass er sein Handwerk beherrschte. Und dennoch mehrten sich die Tage, an denen er eine völlige innere Leere verspürte. Ein tiefes schwarzes Loch, in dem er schwerelos zu schweben schien und das ihm jegliche Konzentration entzog. Dabei war ihm das Schreiben nie schwergefallen. Es war vielmehr ein eigenständiger Prozess, der ohne sein Zutun ablief. Beinahe so, als wäre da eine innere Stimme, die ihm diktierte, was er schreiben sollte. Und manchmal kam es ihm so vor, als ob diese Stimme tatsächlich existierte, als ob sie direkt aus seinem Kopf zu ihm sprach. Das Beunruhigende daran war, dass diese Stimme nicht wie seine eigene klang, ihm aber dennoch vertraut vorkam. Und noch viel beunruhigender war es, gelegentlich auch andere Stimmen zu hören, die sich dazugesellten. Dr. Westphal, seine Therapeutin, bei der er seit Jahren in Behandlung war, hatte sie als »Suggestivstimmen« bezeichnet. Als »Boten seiner Seele«. Und das Schreiben sei so etwas wie eine Therapie, ein »Ventil« für unverarbeitete Erlebnisse.
Übersetzt klang das für ihn so, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Doch seine Ärztin meinte, dieses Verhalten sei eine ganz natürliche Reaktion auf die traumatischen Erlebnisse in seiner Kindheit, die zwar noch immer in seinem Unterbewusstsein verankert waren, auf die er jedoch keinen Zugriff mehr hatte. Auch die Gedächtnislücken und die gelegentlichen Panikattacken führte sie darauf zurück. Er müsse sich seiner Vergangenheit stellen und seine Dämonen besiegen, hatte sie gesagt, sie ein für alle Mal auslöschen.
Sich der Vergangenheit stellen.
Zum Teufel, das würde er ja gern tun, wenn er sich verdammt noch mal an sie erinnern könnte!
»Tom!«, tönte es schwach von unten durch die geschlossene Tür seines Arbeitszimmers. »Das Essen wird kalt, kommst du bitte? Es gibt Gemüseauflauf.«
»Komme sofort!«, rief er zurück und konnte gerade noch etwas durch den Flur hallen hören, das sich anhörte wie »Das sagst du immer!«. Normalerweise kam er selten in den Genuss, sein Mittagessen warm zu sich zu nehmen, zumindest wenn er in seine Arbeit vertieft war. Heute jedoch war er mehr als dankbar für diese Unterbrechung. Entweder hatte sein Unterbewusstsein die Schreibtherapie für beendet erklärt, oder sein »Ventil« war verstopft.
Er knipste den Monitor aus und zog die Jalousie vor dem Fenster hoch, die ihn vor den blendenden Sonnenstrahlen schützte. Und er fragte sich, ob ein leerer Bildschirm es tatsächlich rechtfertigte, einen so herrlichen Frühlingstag auszusperren, der ihm einen nahezu ungehinderten Blick auf den angrenzenden See und die umliegenden Wälder ermöglichte, deren Grün zu dieser Jahreszeit besonders zu leuchten schien.
Nur schwer löste er sich von diesem idyllischen Anblick und öffnete die Tür seines Arbeitszimmers. Unter dem gequälten Knarren der Dielen schritt er den Flur entlang, vorbei an Schlaf- und Kinderzimmer. Dabei beschloss er, nach dem Essen ein wenig im Garten zu arbeiten. Karin hatte am Morgen die bestellten Stauden in der Gärtnerei abgeholt. Wenn das Wetter es zuließ, und danach sah es aus, würde er sie am Nachmittag einpflanzen. Vielleicht brachte ihn das auf andere Gedanken, und hoffentlich auf einen rettenden Einfall.
Er stieg die geschwungene Holztreppe ins Erdgeschoss hinab, wo es bereits köstlich nach Essen roch. Karins erstaunter Gesichtsausdruck entging ihm nicht, als er die geräumige Landhausküche betrat und sich an den Tisch setzte, an dem bereits ihr dreijähriger Sohn Mark saß und sich emsig die eigens für ihn angerichteten Pommes frites in den Mund stopfte.
»So schnell?«, sagte sie erstaunt und stellte eine Schüssel mit Blattsalat in die Mitte des Tisches. »Lass mich raten: Du kommst nicht weiter, richtig?«
»Es ist wie verhext«, bestätigte er niedergeschlagen. »Seit Wochen sitze ich da und starre diesen verdammten Bildschirm an. Und mir fällt einfach keine brauchbare Strategie ein, wie ich das ändern könnte. Ich fühle mich vollkommen ausgebrannt.«
»Kein Wunder«, meinte Karin gelassen. »Du schläfst in letzter Zeit auch ziemlich unruhig. Manchmal redest du sogar im Schlaf.«
»Ach ja, worüber denn?«
»Über deine rassige achtzehnjährige Geliebte, die du jeden Samstag im Hotel triffst, und über deine Pläne, mich zu verlassen.«
Entgeistert starrte Tom seine Frau an, doch sie lachte nur und küsste ihn sanft auf die Wange. Dabei streifte ihn eine Strähne ihres blonden Haares, das wunderbar nach Früchten duftete.
»Keine Bange, ich konnte kein Wort von dem verstehen, was du in dein Kissen gemurmelt hast. Dazu war ich selbst viel zu erledigt.«
»Na wenigstens kommt einer von uns beiden zur Ruhe.«
»Ja, und wenn du damit aufhören würdest, mitten in der Nacht im Haus herumzugeistern, könnte ich vielleicht sogar durchschlafen«, gab sie schnippisch zurück.
Tom wandte sich Mark zu, der mit einem Pommes einen Klumpen Mayonnaise mit Ketchup zu einer weiß-roten Soße zusammenmanschte. »Na, Champion«, sagte er, während er ihm das dunkelblonde Haar strubbelte, das genauso störrisch war wie sein eigenes. »Wie war's im Kindergarten?«
»Wie immer«, antwortete sein Sohn mit vollem Mund.
Das sollte wohl heißen: »Nicht besonders aufregend.«
Sein Blick glitt wieder zu Karin hinüber. »Du sagst, ich bin letzte Nacht im Haus herumgelaufen? Daran kann ich mich gar nicht erinnern.«
»Wirst du jetzt auch noch zum Schlafwandler? Vielleicht sollte ich dich nachts an die Leine legen.«
»Na ja«, bemerkte er grinsend, »wahrscheinlich hab ich mir gedacht, wenn sie mir nicht zuhört, geh ich eben woandershin.«
Sie lachte, so dass das kleine Muttermal kurz über ihrem rechten Mundwinkel auf und ab hüpfte. Doch gleich darauf wurde sie ernst. »Bedrückt dich irgendetwas?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.« Bis auf die Tatsache, dass ich gelegentlich Todesängste ausstehe und keine Ahnung habe, weshalb. »Jedenfalls nichts, was mir bewusst wäre.« Seine Augen verengten sich und wurden starr. »Diese ganze Geschichte von damals ... Es ist wie ausgelöscht. Meine Kindheit, meine Jugend ... Ich kann mich kaum noch daran erinnern, einmal jung gewesen zu sein.«
»Vielleicht solltest du mal mit Dr. Westphal darüber reden. Glaubst du, das könnte etwas mit deinen Panikanfällen zu tun haben?«
»Möglich ist alles, wenn es um die menschliche Psyche geht. Das behauptet sie zumindest. Die Seele vergisst niemals, das ist einer von ihren Standardsätzen. Wenn ich nur wüsste, was diese Anfälle auslöst.«
»Ihr werdet schon noch dahinterkommen. Sie ist eine gute Ärztin.«
»Ich weiß«, stimmte er ihr zu. »Ich habe ja nicht ohne Grund über sie für mein erstes Buch recherchiert.«
Schatten der Seele, rief er sich den Titel ins Gedächtnis. Möglicherweise hatte er sich einfach zu lange mit dieser Materie beschäftigt, und nun holten ihn seine eigenen Fantasien ein.
»Vielleicht brauchst du nur mal Urlaub«, bemerkte Karin und begann den Auflauf zu verteilen. »Seit über vier Monaten schreibst du ununterbrochen an deinem neuen Buch. Du müsstest vielleicht nur mal abschalten und auf andere Gedanken kommen.«
Karin schloss die Klappe des Backofens und war gerade im Begriff, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen, als es an der Tür klingelte.
»Wer kann denn das sein, um die Mittagszeit?«, knurrte Tom.
»Ach, das ist bestimmt das Kleid, das ich mir bestellt habe. Du weißt schon, für Samstag.«
Tom sah sie verständnislos an.
»Samstag?«, wiederholte sie fragend. »Der zwanzigste Mai ...« Entschieden fügte sie hinzu: »Mein Geburtstag!«
Toms Augen weiteten sich. »Dein Geburtstag ... natürlich!« Er spielte verlegen mit dem Besteck. Über seinen verzweifelten Bemühungen, ein paar brauchbare Sätze zu Papier zu bringen, hatte er tatsächlich die Feier zu ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag vergessen. Vielleicht hatte er dieses Ereignis auch schlicht verdrängt, denn er war kein großer Anhänger solcher Feierlichkeiten. Zu viele Menschen in einem Raum machten ihn nervös, zumal die meisten davon für ihn Fremde waren, zu denen er kaum einen Bezugspunkt hatte. Karin war Elternsprecherin der Kindergartengruppe und half, Feste, Wanderungen und Ausflüge zu organisieren. Außerdem saß sie im Vorstand des Arbeiterwohlfahrtsvereins, der Freizeitaktivitäten für Senioren ausrichtete. All das machte ihren Freundeskreis für Tom sehr unübersichtlich, da er selbst so gut wie nie das Haus verließ. Lediglich einer einzigen Person hatte er es zu verdanken, dass seine Angst vor fremden Menschen ihn nicht zum sozialen Eremiten verkümmern ließ.
»Ich habe übrigens auch Fanta eingeladen«, rief Karin durch den Flur, während sie zur Haustür ging.
Stefan Tauber, sein kritischster Leser und bester Freund, den vermutlich alle außer Tom mit dem Kürzel »Fanta« ansprachen, das sich aus den letzten drei Buchstaben seines Vor- und den beiden ersten seines Nachnamens zusammensetzte. Tom dagegen fand diesen Spitznamen reichlich unpassend für einen Mann, der alles andere als ein frenetischer Anhänger schaler Brauselimonade war. Würden die Leute ihn »Hefe« nennen, so hätte Tom sich eher damit anfreunden können. Allerdings lag Stefans modisches Erscheinungsbild weit jenseits jeden konventionellen Geschmacks und machte ihn, gepaart mit seiner äußerst direkten Art, in Toms Augen zum wohl ausgeflipptesten Typen auf diesem Planeten. Weshalb das Kürzel zumindest in dieser Hinsicht seine Berechtigung hatte.
Durch den Flur hörte Tom, wie Karin die Tür öffnete. Kurz darauf vernahm er eine fremde Männerstimme, konnte aber keine Einzelheiten verstehen. Es dauerte nicht lange, bis Karin in die Küche zurückkehrte und ihn unsicher ansah.
»Was ist denn?«, fragte er. »Haben sie das falsche Kleid geliefert?«
»Mark, Schätzchen.« Karin hob ihren Sohn von seinem Kinderstuhl. »Bitte geh in dein Zimmer, ja?«
»Aber Mama«, protestierte der Kleine. »Ich will doch noch Nachtisch.«
»Den gibt es heute ausnahmsweise mal später.«
»Was ist denn los?«, wiederholte Tom hörbar besorgt, nachdem Mark den Raum verlassen hatte.
»Es ist die Kriminalpolizei«, berichtete Karin erschrocken. »Sie sagen, es geht um einen Mord.«
»Sind Sie Tom Kessler?«, erkundigte sich einer der beiden Männer, als Tom die Tür erreichte.
»Thomas Kessler - ja, der bin ich«, antwortete er verstört. »Dürfen wir hereinkommen?«
»Um was genau geht es denn bitte?«
»Das würden wir Ihnen gerne drinnen erklären, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Copyright © 2011 by Wilhelm Goldmann Verlag,
München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Michael Hübner
Michael Hübner, Jahrgang 1968, hat als als Keramiker, Logistiker und freiberuflicher Webdesigner gearbeitet, bevor er das Schreiben für sich entdeckte und seinen ersten Roman schrieb. Seine zweite Leidenschaft gilt der Fotografie und dem digitalen Bearbeiten von Bildern. Er lebt mit seiner Frau und drei Töchtern in der Nähe von Koblenz.
Autoren-Interview mit Michael Hübner
Michael Hübner im Interview über sein Thrillerdebüt „Stigma"Sie haben schon früh begonnen zu schreiben, doch Ihr Weg zum Autor ist kein geradliniger. Können Sie uns etwas mehr über Ihren beruflichen Werdegang erzählen?
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Tatsächlich habe ich bereits als Kind den Drang verspürt, mir Geschichten auszudenken. Und natürlich wollte ich ein berühmter Schriftsteller werden - noch lieber übrigens als der obligatorische Rennfahrer. Allerdings hielt ich das damals für eine vorübergehende Phase kindlicher Schwärmerei und hätte mich nie getraut, diesen Berufswunsch öffentlich zu äußern. Erst später, als der Drang zum Schreiben anhielt, fing ich an, mich intensiver damit zu beschäftigen. Ich verfasste erste Kurzgeschichten und schickte sie an Zeitschriften. Doch obwohl mir immer wieder Talent bescheinigt wurde, erhielt ich nur Absagen. Das war natürlich entmutigend und ließ mich an meiner Berufung zweifeln. Also studierte ich zunächst Keramik-Technik, ging anschließend in den Verkauf und schlug mich eine Zeitlang als Webdesigner durch. Doch keine dieser Tätigkeiten begeisterte mich auf Dauer. Im Gegenteil, ich empfand sie zunehmend als Zeitverschwendung, da es mich immer wieder zum Schreiben hinzog. Allerdings stellte ich irgendwann fest, dass es eine gewisse Reife und Lebenserfahrung erfordert, gut und glaubwürdig schreiben zu können. Die hat man mit Mitte zwanzig üblicherweise noch nicht. Trotz aller Unzufriedenheit entschied ich mich daher, erst einmal so weiterzumachen. Schließlich gründete ich eine Familie und fand dort den nötigen Rückhalt. Ich lernte die Höhen und Tiefen des Lebens in Geschichten zu verarbeiten und setzte mich auf diese Weise mit meinen Gefühlen auseinander. Als sich dann nach einigen Jahren die richtige Idee zu einem Roman einstellte, da wusste ich, ich bin soweit.
Um als Autor neue Erkenntnisse zu gewinnen, hatten Sie auch an einem Kurs in kreativem Schreiben teilgenommen. Doch Sie wurden enttäuscht. Woran lag das, und wie haben Sie das Handwerkszeug des Schriftstellers gelernt?
Schulische Ausbildung hat mir nie wirklich etwas gegeben. Gerne würde ich behaupten, meine Deutschlehrer hätten in mir die Leidenschaft für Sprache geweckt. Dem ist aber absolut nicht so, denn der Unterricht beschränkte sich die meiste Zeit auf das Sezieren von Texten. Da ich jedoch Autor und kein Pathologe werden wollte, empfand ich das als trocken und langweilig. Für mich war Sprache schon immer ein Gefühl. Ich habe einen guten Text nie nach seinem Satzaufbau beurteilt, sondern danach, wie er klingt und was er in mir auslöst. Ich höre sozusagen Texte. Im Grunde ist das Schreiben für mich eine Art komponieren: Wenn Melodie, Rhythmus und Aussage stimmen, dann kann es ein Hit werden. Eine Erkenntnis, die mir bis heute kein Lehrer vermitteln konnte. Ich bin autodidaktisch veranlagt und habe mich auf Themen beschränkt, die mich wirklich interessieren, und von denen ich hoffte, sie würden mich weiterbringen. Ebenso verhielt es sich mit dem Schreiben. Das meiste, was ich darüber weiß, habe ich aus Büchern gelernt. Der Rest ist Intuition. Ich will nicht behaupten, dass Schreibkurse grundsätzlich schlecht sind. Sie können einem durchaus helfen, Talent zu erkennen und zu fördern. Dennoch sollte sich niemand mit der naiven Vorstellung dort anmelden, er wäre hinterher ein ausgebildeter Autor. Dazu benötigt es vor allem harte Arbeit, Ausdauer und den Willen, notfalls auch gegen Windmühlen anzukämpfen. Mich inspiriert nichts mehr als das Lesen von Büchern. Sie sind der beste Lehrstoff für Story-Entwicklung, Charakterzeichnung und Spannungsaufbau. Und sie helfen einem, ein Gefühl für die Sprache zu bekommen. Kein Schreibkurs dieser Welt kann das besser vermitteln.
Als literarisches Vorbild nennen Sie Stephen King - vor allen anderen Autoren. Was fasziniert Sie an ihm und welche seiner Romane sind Ihre Lieblingsbücher?
Neben seiner unglaublichen erzählerischen Bandbreite und seiner Fähigkeit, das abgrundtief Böse in alltägliche Geschichten zu verpacken, habe ich an Stephen King immer die Lebendigkeit seiner Figuren bewundert. Die absolut authentische Aura, die seine Charaktere selbst in den wahnwitzigsten Situationen umgibt. Diese emotionale Verbundenheit mit seinen Geschichten hat in mir die Faszination für das Schreiben geweckt. Stephen King brach immer wieder mit literarischen Konventionen, indem er ganze Heerscharen von Hauptfiguren entwickelte. Zugleich brachte er das Kunststück fertig, den Leser nie die Übersicht verlieren zu lassen. Ich denke hier an die immense Dichte und Komplexität von „Es" oder die fast schon epischen Ausmaße von „Das letzte Gefecht". Stephen King beherrscht aber auch das Gegenteil: den Leser mit nur wenigen Mitteln in seinen Bann zu ziehen. Hierzu zählt für mich die nahezu klaustrophobische Intensität von „Shining" und „Misery", aber auch „Die dunkle Hälfte". Kein anderer Autor hat es vermocht, mich so in meinem eigenen Stil und meiner Sprache zu prägen.
Der Thriller „Stigma" ist Ihr Debütroman. Im Zentrum steht der junge erfolgreiche Schriftsteller Tom Kessler, der mitten in einer Schaffenskrise gezwungen wird, sich den traumatischen Erlebnissen seiner frühen Jugend zu stellen. In welcher Situation steckt Tom Kessler, und was veranlasst ihn dazu, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen?
Tom hat bereits als Kind das schlimmste Trauma seines Lebens durchlitten: Er ist dem absolut Bösen begegnet, dem vollkommenen und menschenverachtenden Wahnsinn. Eine Erfahrung, die man als Kind kaum verarbeiten kann. Deshalb beschließt sein Verstand, diese grausamen Erfahrungen zu verdrängen. Selbst dreizehn Jahre später kann Tom sich noch immer nicht an die Vorfälle erinnern, die seine Seele zerstört haben. Er lebt mit seiner Familie zurückgezogen in seinem Haus und empfindet jegliche Veränderung in seinem Alltag als Bedrohung. Auch leidet er zunehmend unter Panikattacken und immer größer werdenden Gedächtnislücken, die er sich zunächst nicht erklären kann, bis sein damaliger Peiniger - von dem er sicher war, dass er längst tot ist - ihn erneut bedroht. Dadurch wird er gezwungen, sich mit den grausamen Vorfällen aus seiner Kindheit zu beschäftigen, die ihn verstärkt in Form plötzlich aufkommender Rückblenden heimsuchen. Dies zwingt ihn, aus seinem Käfig auszubrechen und gegen seine Ängste anzukämpfen. Dabei gerät er in immer dramatischere Situationen und wird schließlich auf die überraschende und unfassbare Wahrheit gestoßen, die sein Leben völlig auf den Kopf stellt.
In der Danksagung zu Ihrem Buch sprechen Sie von einem Geistesblitz, der Ihnen den Einfall für „Stigma" beschert hat. Um welche zündende Idee handelte es sich, und wie reifte daraus die außerordentlich komplexe Geschichte?
Ich kann mich noch gut an den Abend erinnern, an dem mir die Idee zu „Stigma" kam - gerade als ich am wenigsten damit gerechnet hatte. Ich lag zu Hause im Bett und las eine Geschichte, in der es um Kindesmissbrauch ging. Die drastische Darstellung schockierte und berührte mich. Immer wieder hielt ich inne und dachte nach. Und plötzlich war sie da, diese Idee. Sie elektrisierte mich auf der Stelle, als hätte mich ein Blitz getroffen. Ich saß kerzengerade im Bett und starrte wie versteinert auf die Wand gegenüber. Mir war klar, dass ich die Romanidee meines Lebens hatte. Ich sah das Ende der Geschichte so deutlich vor mir, als würde es sich tatsächlich vor meinen Augen abspielen. Die erste Idee zog magnetisch andere Ideen an, so dass sich die Geschichte wie von selbst erzählte. In dieser Nacht und in der folgenden darauf, bekam ich kein Auge zu, weil ich wie besessen von dieser Idee war. Ich erlebte damals einen jener magischen Momente, die das Schreiben für mich zur Leidenschaft machen.
In den Roman fließt profundes medizinisches Fachwissen ein, beispielsweise über posttraumatische Belastungsstörungen sowie verschieden Formen psychischer Erkrankung und ihre Behandlung. Wie haben Sie die medizinischen Hintergründe recherchiert?
Viele Menschen betrachten das Internet und seine Inhalte mit Skepsis und das sicherlich oftmals zu Recht. Für mich ist es jedoch eine nahezu unerschöpfliche Quelle des Wissens, auf die ich jederzeit ohne großen Aufwand zugreifen kann. Natürlich sind Recherchen unerlässlich, wenn man eine Thematik glaubhaft darstellen möchte, von der man wenig versteht. Aber ich gebe zu, dass es mir oft lästig ist zu recherchieren, weil es mich vom Schreiben abhält. Dass eine Geschichte in sich stimmig ist, halte ich für wichtiger als hundertprozentigen Realismus. In „Stigma" entsprechen jedoch alle medizinischen Fakten und erwähnten Fälle den Tatsachen. Sollten sich dennoch Fehler eingeschlichen haben, ist das allein meiner ausufernden Fantasie zuzuschreiben.
Hat es Sie als Vater von drei Töchtern belastet, sich beim Schreiben intensiv mit Kindesmisshandlung und -mord auseinanderzusetzen, um die Qualen der Opfer und die Motive des Täters nachvollziehbar zu machen?
Der Missbrauch von Kindern war immer ein Thema, das mich sehr schockiert und berührt hat. Für mich gibt es kaum ein verachtenswerteres Verbrechen, als einer Kinderseele die Unschuld zu rauben und dadurch ein junges Leben im Keim zu zerstören. Auch für mich als Autor, der darum bemüht ist, sich in die Beweggründe anderer Menschen hineinzuversetzen, ist es unbegreiflich, wie jemand einem Kind etwas antun kann. Daher war Geisteskrankheit, und somit Unzurechnungsfähigkeit, für mich das einzige halbwegs annehmbare Motiv für eine derartige Tat. Beim Schreiben blende ich solche Gefühle jedoch vollkommen aus. Die Realität um mich herum existiert nicht mehr. Ich versetze mich voll und ganz in meine Figuren, betrachte das Geschehen von einer rein sachlichen und logischen Ebene aus. Nur auf diese Weise ist es mir gelungen, die brutale Gewalt und den Wahnsinn, dem Tom ausgeliefert war, so intensiv zu schildern. Hätte ich dabei ständig die Gesichter meiner Kinder vor Augen gehabt, hätte ich dieses Buch vermutlich niemals schreiben können.
Am Ende des Romans landen Sie einen Coup: mit einer völlig verblüffenden, aber plausiblen Wendung. Haben Sie je von einem ähnlichen Fall in der Medizin gehört?
Ja, so unfassbar das klingen mag, aber das habe ich tatsächlich. Allerdings wurde der Fall erst bekannt, nachdem ich die Arbeit an „Stigma" beendet hatte. Mein Agent machte mich darauf aufmerksam und schickte mir einen Link zu einem Zeitungsartikel, den ich völlig perplex studierte. Zwar lag in dem dort geschilderten Fall kein Missbrauch, sondern eine Krankheit zugrunde, aber gewisse Parallelen ließen sich nicht verleugnen. Es erschreckt mich immer wieder, wie nahe sich meine Fantasie gelegentlich an der Realität bewegt.
Die Fantasie als schöpferische Kraft übernimmt eine Schlüsselrolle in Ihrem Thriller. Welche Bedeutung trägt die Fantasie in Ihrem Leben?
Eine ziemlich große! Sie hat einen entscheidenden Anteil daran, dass ich zum Autor geworden bin und nun diesen Traum leben darf. Meine Fantasie war es, die mich immer wieder zum Schreiben gedrängt hat und die mich durchhalten ließ. Dadurch hat sie mir ein völlig neues Leben ermöglicht, fernab von Ellenbogenmentalität und jeglicher Art von Zwang. Und es vergeht kein Tag, an dem ich ihr nicht auf Knien dankbar dafür bin.
Können Sie uns schon etwas darüber verraten, worum es in Ihrem nächsten Roman gehen wird?
In meinem nächsten Roman geht es um Themen wie Macht- und Profitgier, um Mord, Reue und Glauben. Und es geht um Wissenschaft und ihre Grenzen. Auch dabei wird die Vergangenheit eine wichtige Rolle spielen. Allerdings in Form einer Fehlentscheidung, die Jahre später noch Folgen haben wird, da den Betreffenden schwere Selbstvorwürfe plagen, die sich zu einer Psychose ausweiten. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Kommissar, der gezwungen ist, mit einem verhassten Journalisten zusammenzuarbeiten, der Jahre zuvor ein dienstliches Untersuchungsverfahren gegen ihn angeregt und ihn dadurch beinahe um den Job gebracht hatte. Die beiden decken nach und nach skrupellose Machenschaften auf, die eine ganze Region erschüttern und eine milliardenschwere Branche in Verruf bringen. Doch bis dahin werden die beiden natürlich einige hochspannende und dramatische Wendungen durchleben.
Das Interview führte Elke Kreil
Tatsächlich habe ich bereits als Kind den Drang verspürt, mir Geschichten auszudenken. Und natürlich wollte ich ein berühmter Schriftsteller werden - noch lieber übrigens als der obligatorische Rennfahrer. Allerdings hielt ich das damals für eine vorübergehende Phase kindlicher Schwärmerei und hätte mich nie getraut, diesen Berufswunsch öffentlich zu äußern. Erst später, als der Drang zum Schreiben anhielt, fing ich an, mich intensiver damit zu beschäftigen. Ich verfasste erste Kurzgeschichten und schickte sie an Zeitschriften. Doch obwohl mir immer wieder Talent bescheinigt wurde, erhielt ich nur Absagen. Das war natürlich entmutigend und ließ mich an meiner Berufung zweifeln. Also studierte ich zunächst Keramik-Technik, ging anschließend in den Verkauf und schlug mich eine Zeitlang als Webdesigner durch. Doch keine dieser Tätigkeiten begeisterte mich auf Dauer. Im Gegenteil, ich empfand sie zunehmend als Zeitverschwendung, da es mich immer wieder zum Schreiben hinzog. Allerdings stellte ich irgendwann fest, dass es eine gewisse Reife und Lebenserfahrung erfordert, gut und glaubwürdig schreiben zu können. Die hat man mit Mitte zwanzig üblicherweise noch nicht. Trotz aller Unzufriedenheit entschied ich mich daher, erst einmal so weiterzumachen. Schließlich gründete ich eine Familie und fand dort den nötigen Rückhalt. Ich lernte die Höhen und Tiefen des Lebens in Geschichten zu verarbeiten und setzte mich auf diese Weise mit meinen Gefühlen auseinander. Als sich dann nach einigen Jahren die richtige Idee zu einem Roman einstellte, da wusste ich, ich bin soweit.
Um als Autor neue Erkenntnisse zu gewinnen, hatten Sie auch an einem Kurs in kreativem Schreiben teilgenommen. Doch Sie wurden enttäuscht. Woran lag das, und wie haben Sie das Handwerkszeug des Schriftstellers gelernt?
Schulische Ausbildung hat mir nie wirklich etwas gegeben. Gerne würde ich behaupten, meine Deutschlehrer hätten in mir die Leidenschaft für Sprache geweckt. Dem ist aber absolut nicht so, denn der Unterricht beschränkte sich die meiste Zeit auf das Sezieren von Texten. Da ich jedoch Autor und kein Pathologe werden wollte, empfand ich das als trocken und langweilig. Für mich war Sprache schon immer ein Gefühl. Ich habe einen guten Text nie nach seinem Satzaufbau beurteilt, sondern danach, wie er klingt und was er in mir auslöst. Ich höre sozusagen Texte. Im Grunde ist das Schreiben für mich eine Art komponieren: Wenn Melodie, Rhythmus und Aussage stimmen, dann kann es ein Hit werden. Eine Erkenntnis, die mir bis heute kein Lehrer vermitteln konnte. Ich bin autodidaktisch veranlagt und habe mich auf Themen beschränkt, die mich wirklich interessieren, und von denen ich hoffte, sie würden mich weiterbringen. Ebenso verhielt es sich mit dem Schreiben. Das meiste, was ich darüber weiß, habe ich aus Büchern gelernt. Der Rest ist Intuition. Ich will nicht behaupten, dass Schreibkurse grundsätzlich schlecht sind. Sie können einem durchaus helfen, Talent zu erkennen und zu fördern. Dennoch sollte sich niemand mit der naiven Vorstellung dort anmelden, er wäre hinterher ein ausgebildeter Autor. Dazu benötigt es vor allem harte Arbeit, Ausdauer und den Willen, notfalls auch gegen Windmühlen anzukämpfen. Mich inspiriert nichts mehr als das Lesen von Büchern. Sie sind der beste Lehrstoff für Story-Entwicklung, Charakterzeichnung und Spannungsaufbau. Und sie helfen einem, ein Gefühl für die Sprache zu bekommen. Kein Schreibkurs dieser Welt kann das besser vermitteln.
Als literarisches Vorbild nennen Sie Stephen King - vor allen anderen Autoren. Was fasziniert Sie an ihm und welche seiner Romane sind Ihre Lieblingsbücher?
Neben seiner unglaublichen erzählerischen Bandbreite und seiner Fähigkeit, das abgrundtief Böse in alltägliche Geschichten zu verpacken, habe ich an Stephen King immer die Lebendigkeit seiner Figuren bewundert. Die absolut authentische Aura, die seine Charaktere selbst in den wahnwitzigsten Situationen umgibt. Diese emotionale Verbundenheit mit seinen Geschichten hat in mir die Faszination für das Schreiben geweckt. Stephen King brach immer wieder mit literarischen Konventionen, indem er ganze Heerscharen von Hauptfiguren entwickelte. Zugleich brachte er das Kunststück fertig, den Leser nie die Übersicht verlieren zu lassen. Ich denke hier an die immense Dichte und Komplexität von „Es" oder die fast schon epischen Ausmaße von „Das letzte Gefecht". Stephen King beherrscht aber auch das Gegenteil: den Leser mit nur wenigen Mitteln in seinen Bann zu ziehen. Hierzu zählt für mich die nahezu klaustrophobische Intensität von „Shining" und „Misery", aber auch „Die dunkle Hälfte". Kein anderer Autor hat es vermocht, mich so in meinem eigenen Stil und meiner Sprache zu prägen.
Der Thriller „Stigma" ist Ihr Debütroman. Im Zentrum steht der junge erfolgreiche Schriftsteller Tom Kessler, der mitten in einer Schaffenskrise gezwungen wird, sich den traumatischen Erlebnissen seiner frühen Jugend zu stellen. In welcher Situation steckt Tom Kessler, und was veranlasst ihn dazu, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen?
Tom hat bereits als Kind das schlimmste Trauma seines Lebens durchlitten: Er ist dem absolut Bösen begegnet, dem vollkommenen und menschenverachtenden Wahnsinn. Eine Erfahrung, die man als Kind kaum verarbeiten kann. Deshalb beschließt sein Verstand, diese grausamen Erfahrungen zu verdrängen. Selbst dreizehn Jahre später kann Tom sich noch immer nicht an die Vorfälle erinnern, die seine Seele zerstört haben. Er lebt mit seiner Familie zurückgezogen in seinem Haus und empfindet jegliche Veränderung in seinem Alltag als Bedrohung. Auch leidet er zunehmend unter Panikattacken und immer größer werdenden Gedächtnislücken, die er sich zunächst nicht erklären kann, bis sein damaliger Peiniger - von dem er sicher war, dass er längst tot ist - ihn erneut bedroht. Dadurch wird er gezwungen, sich mit den grausamen Vorfällen aus seiner Kindheit zu beschäftigen, die ihn verstärkt in Form plötzlich aufkommender Rückblenden heimsuchen. Dies zwingt ihn, aus seinem Käfig auszubrechen und gegen seine Ängste anzukämpfen. Dabei gerät er in immer dramatischere Situationen und wird schließlich auf die überraschende und unfassbare Wahrheit gestoßen, die sein Leben völlig auf den Kopf stellt.
In der Danksagung zu Ihrem Buch sprechen Sie von einem Geistesblitz, der Ihnen den Einfall für „Stigma" beschert hat. Um welche zündende Idee handelte es sich, und wie reifte daraus die außerordentlich komplexe Geschichte?
Ich kann mich noch gut an den Abend erinnern, an dem mir die Idee zu „Stigma" kam - gerade als ich am wenigsten damit gerechnet hatte. Ich lag zu Hause im Bett und las eine Geschichte, in der es um Kindesmissbrauch ging. Die drastische Darstellung schockierte und berührte mich. Immer wieder hielt ich inne und dachte nach. Und plötzlich war sie da, diese Idee. Sie elektrisierte mich auf der Stelle, als hätte mich ein Blitz getroffen. Ich saß kerzengerade im Bett und starrte wie versteinert auf die Wand gegenüber. Mir war klar, dass ich die Romanidee meines Lebens hatte. Ich sah das Ende der Geschichte so deutlich vor mir, als würde es sich tatsächlich vor meinen Augen abspielen. Die erste Idee zog magnetisch andere Ideen an, so dass sich die Geschichte wie von selbst erzählte. In dieser Nacht und in der folgenden darauf, bekam ich kein Auge zu, weil ich wie besessen von dieser Idee war. Ich erlebte damals einen jener magischen Momente, die das Schreiben für mich zur Leidenschaft machen.
In den Roman fließt profundes medizinisches Fachwissen ein, beispielsweise über posttraumatische Belastungsstörungen sowie verschieden Formen psychischer Erkrankung und ihre Behandlung. Wie haben Sie die medizinischen Hintergründe recherchiert?
Viele Menschen betrachten das Internet und seine Inhalte mit Skepsis und das sicherlich oftmals zu Recht. Für mich ist es jedoch eine nahezu unerschöpfliche Quelle des Wissens, auf die ich jederzeit ohne großen Aufwand zugreifen kann. Natürlich sind Recherchen unerlässlich, wenn man eine Thematik glaubhaft darstellen möchte, von der man wenig versteht. Aber ich gebe zu, dass es mir oft lästig ist zu recherchieren, weil es mich vom Schreiben abhält. Dass eine Geschichte in sich stimmig ist, halte ich für wichtiger als hundertprozentigen Realismus. In „Stigma" entsprechen jedoch alle medizinischen Fakten und erwähnten Fälle den Tatsachen. Sollten sich dennoch Fehler eingeschlichen haben, ist das allein meiner ausufernden Fantasie zuzuschreiben.
Hat es Sie als Vater von drei Töchtern belastet, sich beim Schreiben intensiv mit Kindesmisshandlung und -mord auseinanderzusetzen, um die Qualen der Opfer und die Motive des Täters nachvollziehbar zu machen?
Der Missbrauch von Kindern war immer ein Thema, das mich sehr schockiert und berührt hat. Für mich gibt es kaum ein verachtenswerteres Verbrechen, als einer Kinderseele die Unschuld zu rauben und dadurch ein junges Leben im Keim zu zerstören. Auch für mich als Autor, der darum bemüht ist, sich in die Beweggründe anderer Menschen hineinzuversetzen, ist es unbegreiflich, wie jemand einem Kind etwas antun kann. Daher war Geisteskrankheit, und somit Unzurechnungsfähigkeit, für mich das einzige halbwegs annehmbare Motiv für eine derartige Tat. Beim Schreiben blende ich solche Gefühle jedoch vollkommen aus. Die Realität um mich herum existiert nicht mehr. Ich versetze mich voll und ganz in meine Figuren, betrachte das Geschehen von einer rein sachlichen und logischen Ebene aus. Nur auf diese Weise ist es mir gelungen, die brutale Gewalt und den Wahnsinn, dem Tom ausgeliefert war, so intensiv zu schildern. Hätte ich dabei ständig die Gesichter meiner Kinder vor Augen gehabt, hätte ich dieses Buch vermutlich niemals schreiben können.
Am Ende des Romans landen Sie einen Coup: mit einer völlig verblüffenden, aber plausiblen Wendung. Haben Sie je von einem ähnlichen Fall in der Medizin gehört?
Ja, so unfassbar das klingen mag, aber das habe ich tatsächlich. Allerdings wurde der Fall erst bekannt, nachdem ich die Arbeit an „Stigma" beendet hatte. Mein Agent machte mich darauf aufmerksam und schickte mir einen Link zu einem Zeitungsartikel, den ich völlig perplex studierte. Zwar lag in dem dort geschilderten Fall kein Missbrauch, sondern eine Krankheit zugrunde, aber gewisse Parallelen ließen sich nicht verleugnen. Es erschreckt mich immer wieder, wie nahe sich meine Fantasie gelegentlich an der Realität bewegt.
Die Fantasie als schöpferische Kraft übernimmt eine Schlüsselrolle in Ihrem Thriller. Welche Bedeutung trägt die Fantasie in Ihrem Leben?
Eine ziemlich große! Sie hat einen entscheidenden Anteil daran, dass ich zum Autor geworden bin und nun diesen Traum leben darf. Meine Fantasie war es, die mich immer wieder zum Schreiben gedrängt hat und die mich durchhalten ließ. Dadurch hat sie mir ein völlig neues Leben ermöglicht, fernab von Ellenbogenmentalität und jeglicher Art von Zwang. Und es vergeht kein Tag, an dem ich ihr nicht auf Knien dankbar dafür bin.
Können Sie uns schon etwas darüber verraten, worum es in Ihrem nächsten Roman gehen wird?
In meinem nächsten Roman geht es um Themen wie Macht- und Profitgier, um Mord, Reue und Glauben. Und es geht um Wissenschaft und ihre Grenzen. Auch dabei wird die Vergangenheit eine wichtige Rolle spielen. Allerdings in Form einer Fehlentscheidung, die Jahre später noch Folgen haben wird, da den Betreffenden schwere Selbstvorwürfe plagen, die sich zu einer Psychose ausweiten. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Kommissar, der gezwungen ist, mit einem verhassten Journalisten zusammenzuarbeiten, der Jahre zuvor ein dienstliches Untersuchungsverfahren gegen ihn angeregt und ihn dadurch beinahe um den Job gebracht hatte. Die beiden decken nach und nach skrupellose Machenschaften auf, die eine ganze Region erschüttern und eine milliardenschwere Branche in Verruf bringen. Doch bis dahin werden die beiden natürlich einige hochspannende und dramatische Wendungen durchleben.
Das Interview führte Elke Kreil
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Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Hübner
- 2011, 444 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442474175
- ISBN-13: 9783442474172
Rezension zu „Stigma “
»Hammerharter Erstling mit einem noch nie dagewesenen Schlussakkord. Ein muss für eingefleischte Psychothriller-Fans.«
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