Stirb sanft, Geliebte
Ein Serienmörder spielt ein grausames Spiel: Bevor er seine Opfer ermordet, schickt er dem FBI Rätsel. Durch Lösen des Rätsels könnten die Agenten die Opfer retten. Doch schon fünfmal sind sie schon an den Aufgaben...
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Produktinformationen zu „Stirb sanft, Geliebte “
Ein Serienmörder spielt ein grausames Spiel: Bevor er seine Opfer ermordet, schickt er dem FBI Rätsel. Durch Lösen des Rätsels könnten die Agenten die Opfer retten. Doch schon fünfmal sind sie schon an den Aufgaben gescheitert. Nun hat der Killer das sechste Opfer in seiner Gewalt und Profilerin Imogen Page soll ihn aufhalten. Aber der Killer spielt ein grausames Spiel mit Imogen.
Lese-Probe zu „Stirb sanft, Geliebte “
Stirb sanft, Geliebte von Michele Jaffe1
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Ich hoffe, mit Reißverschlüssen kommst du besser zurecht.« Das Mädchen kicherte an seiner Schulter, während er am Tür¬schloss herumnestelte.
»Allerdings«, erwiderte er humorlos. Er wusste immer noch nicht so recht, wie man mit Mädchen redete. Es war nicht schwer, sie dazu zu bringen, mit ihm nach Hause zu kommen, aber das Reden ...
Er konzentrierte sich auf die unzähligen Kratzer in dem di¬cken beigefarbenen Lack um den Türknauf herum, verursacht von Generationen betrunkener Studenten, die versucht hatten, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Er war nicht betrunken, aber seine Finger zitterten.
Endlich schaffte er es, und die Tür ging knarrend auf. Er drückte dagegen und küsste das Mädchen leidenschaftlich, um sie nach drinnen zu drängen. Er war besser, wenn er nichts sagte und die Augen schloss. Sie machten sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten, sondern zogen sich sofort aus. Er schob sie auf das Wasserbett und hatte endlich das warme, beruhigende Gefühl eines Mädchenkörpers unter sich.
»Ohhh, schön!«, murmelte sie, schlang die Beine um ihn und zog ihn an sich.
Das dritte Newton'sche Gesetz: Jeder Kraftwirkung ent¬spricht eine gleich große, aber entgegengesetzt gerichtete Ge¬genwirkung.
Sie bog ihm die Hüften entgegen, und er glitt in sie hinein. Sie war warm und weich und roch angenehm nach Babypuder-Deodorant und Rotwein. Während er die Hände über ihren Körper gleiten ließ, wirbelten ihm Zahlen durch den Kopf.
Ein Auto bricht um 5:45 Uhr zu seinem Ziel auf. Es bewegt sich fünf Meilen mit einer Geschwindigkeit von 45 Meilen pro Stunde bis zu einem Stoppschild, wo es nicht vollkommen zum Stehen kommt, aber langsamer wird, bevor es für vier Minuten auf 60 Meilen pro Stunde beschleunigt.
Während er sich auf ihr bewegte, stellte er sich vor, wie das Licht der Autoscheinwerfer über die geduckten Umrisse der verschneiten Bäume entlang der geraden Strecke zuckte, ihre Silhouetten gegen den festgebackenen Schnee abzeichnete.
»Fester.« Sie biss ihn aufstöhnend in die Schulter. »Fester.« Das zweite Newton'sche Gesetz: Kraft ist gleich dem Produkt der Masse eines Körpers und der Geschwindigkeit, mit der er sich bewegt.
Er legte sein ganzes Gewicht in den nächsten Stoß.
Sechs Minuten lang bewegt sich die Geschwindigkeit des Autos zwischen 35 und 75 Meilen pro Stunde.
Er konnte sich vorstellen, wie der Fahrer ein Tic Tac im Mund hin und her rollte, um den bitteren Geschmack aufgewärmten Kaffees zu überdecken, und wie er sich mit zusammengeknif¬fenen Augen vorbeugte, als könnten die paar Zoll ihm tatsäch¬lich helfen, den dichten Morgennebel besser zu durchdringen.
»O mein Engel, das ist so gut!«, sagte das Mädchen an sei¬ner Schulter, als seine Lippen, seine Zähne über ihren Hals streiften.
Wenn das Auto weiter beschleunigt -
»O ja, genau so.«
- und die Straße abschüssig wird -
»O Gott, gleich ... gleich.«
- erreichen die Passagiere ihr Ziel -
»Ja, das ist es ... jetzt ... ja!«
Das Telefonklingeln schrillte durch ihre Schreie.
Er zog sie an seine Brust, um sie zum Schweigen zu bringen, und griff nach dem Hörer.
»Hallo?«
»Ich bin so froh, dass ich dich erreiche! O Gott, es ist schreck¬lich, einfach schrecklich! Es gab einen Unfall. Das Auto ist aus der Kurve geraten und ... « Er hörte, wie jemand am anderen Ende tief Luft holte. »Dein Vater ist tot.«
Er spürte, wie das Mädchen ihn fester umschlang. Er fragte nur: »Wann?«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung schwieg einen Moment. »Wie bitte?«
»Ich sagte, wann ist es passiert?«
»Ach so. Äh, sie geben den Todeszeitpunkt mit sechs Uhr vier an.«
»Sechs Uhr vier«, wiederholte er. »Danke, Nelson.«
»War das wichtig?«, fragte das Mädchen ein wenig schmol¬lend, als er auflegte.
»Nein. Tut mir Leid, Babe. Wo waren wir stehen geblieben?« »Ich glaube nicht, dass ich ... «
Er schnitt ihr das Wort ab, indem er ihren Po mit adrenalin¬gestärkten Händen packte und weitermachte, wo er aufgehört hatte.
Wenn die Straße abschüssig wird -
Ihre Augen begannen zu leuchten, und sie seufzte: »O jaaa.« - und die Bremsen des Autos versagen -
»Das ist es!«
- erreichen die Passagiere ihr Ziel -
»O Engel, ja, ja, JA!«
- um sechs Uhr vier.
»Mein Gott, du bist wirklich eine Naturgewalt«, flüsterte sie später, als er wieder in ihr war.
Das erste Newton'sche Gesetz: Jeder Körper verharrt im Zu¬stand der Bewegung, solange ihn keine von außen wirkenden Kräfte veranlassen, diesen Zustand zu ändern.
Er lächelte in sich hinein und sagte: »Ja, das bin ich.«
Jahre später lächelte er auf ganz ähnliche Art, als er an seinem Schreibtisch saß und mit den Fingerspitzen am Rand der ver¬gilbten Zeitungsseite entlangfuhr, die den Tag seines Triumphs dokumentierte. Es hatte mehrere Todesmeldungen gegeben, aber die der Lokalzeitung mochte er am liebsten. Der Verstor¬bene hinterlässt einen Sohn, stand da, und diese Worte kamen ihm wie Poesie vor. Er war derjenige, der überlebt hatte. Diese Runde hatte er gewonnen.
Lasst die Spiele beginnen.
Er würde auch die anderen gewinnen.
Vorsichtig schloss er das Album und legte die Finger auf die tief in das dicke Leder eingeprägten Buchstaben, nahm die Let¬tern F-A-M-I-L-I-E-N-E-R-I-N-N-E-R-U-N-G-E-N einzeln mit den Fingerspitzen wahr. Fünf Minuten lang verinnerlichte er Gefühl und Botschaft, die sie vermittelten, wie eine göttliche Beschwörung.
Dann legte er Schere und Kleber weg, steckte seine neueste Schöpfung in einen Umschlag, schaltete die Schreibtischlampe aus und schloss ab. Es war Zeit zu gehen.
Mir ist egal, ob ihr bereit seid oder nicht - ich komme!
2
Hospiz der Mayo-Klinik, Rochester, Minnesota
Der lange Flur war still, und das gebleichte Kiefernholz des Bodens schimmerte sanft unter der neuen Schicht von Boh¬nerwachs, die die Putzmannschaft um 10:30 Uhr angebracht hatte. Imogen Page wusste, dass es nicht wirklich Kiefernholz war, nur Furnier über Kunststoff, das sich an der Ecke vor der Tür, über der Ausgang stand, ein wenig wellte. Echtes Holz hätte zu viel Lärm verursacht, und Lärm war hier nicht ge¬stattet. Das hier war ein Ort der Stille und Zurückhaltung. Alles war zurückhaltend, die pastellfarbenen Wände, die Sitz¬möbel mit den knotigen Baumwollbezügen. Zurückhaltende Pflanzen, nichts Aufregendes und Tropisches, hingen in den Zimmern. Jalousien ließen nur diffuses Licht herein, Telefone summten eher, als dass sie klingelten, Türen schlossen sich mit Hilfe von Spezialscharnieren langsam und sachte und fielen niemals krachend ins Schloss. Alles war gedämpft, still, erwar¬tungsvoll. Es war ein Warten auf den Tod.
Es passte überhaupt nicht zu Sam. Sam war nie still und zurückhaltend gewesen. Sam, der vor Leben, vor Vitalität über¬sprühte, Sam, der eher rief als sprach, eher schallend lachte als lächelte. Sam konnte einen Raum ganz allein ausfüllen. Der große, starke Sam, Sam, der sie beschützt und sich um sie ge¬kümmert hatte. Ihr Bruder Sam.
Er durfte nicht sterben.
Imogen wandte sich vom Fenster ab und betrachtete den Mann, der dort im Bett lag, umgeben von Pflanzen, Luftbal¬lons und albernen Filzstiftzeichnungen. Er war kaum mehr ein Mensch, bestand nur noch aus den Grundbestandteilen, Haut und Knochen.
Wie ein Renaissancegemälde eines Totenkopfs. Gott, er war so dünn! Er musste in den letzten drei Wochen fünfzig Pfund verloren haben.
Er wird vielleicht noch zwei Monate leben, hatte der Arzt ge¬sagt. Aber es gibt wirklich nichts, was wir für ihn tun können.
Aber er war doch letzten Monat gesund und stark gewesen, und lebendig!, rief ihr Verstand. Letzten Monat auf Hawaii hatten sie vor dem kleinen Haus, in dem sie wohnten, in den Wellen gespielt wie die sorglosen Teenager, die sie nie gewesen waren, waren herumgesprungen, hatten Sandkrabben gejagt und abends den sich im Wind bewegenden Palmwedeln ge¬lauscht. Hatten Drinks in ausgehöhlten Ananasfrüchten, mit Smilies auf Zahnstochern serviert, genossen, sich Papierschirm¬chen hinter die Ohren geklemmt. Eines Abends waren sie so lange am Strand spazieren gegangen - Sam hatte alberne Witze erzählt, und sie hatte darüber gelacht, wie sie nie mit anderen lachte -, dass sie zu müde gewesen waren, Abendessen zu ma¬chen, und sie hatten es nicht einmal vermisst.
Sie hatte mit der Faust auf den Tisch des Arztes schlagen wollen, wie er so dasaß und gewandt seine Worte abwog. Dr. Stephen Gold. Er war in ihrem Alter, vielleicht ein wenig äl¬ter, und sah wohlhabend und gut genährt aus. Er hatte die braun gebrannten Unterarme eines Tennisspielers, und Imogen fragte sich, ob er zum letzten Ärztekongress in den Tropen wohl seine Frau (Ehering an der linken Hand) oder seine Mätresse (kein weißer Rand unter dem Ehering) mitgenommen hatte. So braun war er nicht in Minnesota geworden, und sie konnte die Überreste seiner Untreue noch in der Luft, die ihn umgab, schmecken. Er war selbstzufrieden, wie es jemand sein konnte, der mit den großen Geheimnissen von Leben und Tod umging. Leben und Tod waren auch ihr Beruf, aber nicht so. Nicht auf diese gewichtige Art. Nicht Sam. Nicht ihr Bruder.
Wie meinen Sie das, Sie können nichts für ihn tun?, wollte sie dem braun gebrannten, ehebrechenden, Tennis spielenden Arzt ins Gesicht schreien. Verstehen Sie denn nicht, dass das nicht geht? Sie können vielleicht zusammen mit ihrer Mätresse auf einen Quickie von hier verschwinden, aber wenn ich jetzt gehe, habe ich nichts, niemanden außer Sam! Verstehen Sie nicht, dass er einfach nicht sterben darf? Er ist Sam, der Starke, Sportliche. Der Olympionike. Ich bin diejenige, die sterben sollte, ich, die Gescheite, die Nutzlose; nicht Sam. Bitte, wollte sie einwenden, das muss ein Versehen sein. Bitte, wollte sie schreien, das kann einfach nicht wahr sein.
»Ich verstehe«, hatte sie ruhig gesagt.
»Es wäre das Beste«, fuhr Dr. Stephen Gold fort und sah sie dabei nicht an, sondern über sie hinweg, »ihn in ein Hospiz zu bringen. Er braucht mehr Pflege, als Sie ihm zu Hause geben können, und er wird es dort bequemer haben als auf der Inten¬sivstation. Und es gibt nichts mehr, was wir hier in der Mayo¬Klinik für ihn tun können.«
»Ich verstehe«, hatte sie gesagt. Und zum ersten Mal in ihrem Leben war das eine Lüge gewesen.
Imogen Page kannte sich verdammt gut aus, wenn es darum ging, etwas zu verstehen. Es war ihr Job zu verstehen, Dinge zu begreifen, die keiner sonst erklären konnte, unlogische Muster - Codes, Rätsel, Schachprobleme, Stichwunden - so zu deuten, dass sie verständlich wurden. Aber als sie dem Arzt zuhörte, war das alles plötzlich in sich zusammengebrochen. Von die¬sem Augenblick an verstand sie überhaupt nichts mehr. Jeden Tag verstand sie weniger und weniger. Und von diesem Tag an erkannte sie auch immer weniger von Sam in dem Körper, der dort vor ihr im Bett lag.
Jeden Tag ging ein wenig mehr von ihm, und nun war bei¬nahe nichts mehr geblieben.
Mit langsamen Bewegungen, damit sie keinen Lärm verur¬sachte, verließ sie das Hospizzimmer. Sie wusste nicht, wieso sie sich die Mühe machte, auf Zehenspitzen zu gehen, warum sie immer noch nach draußen ging, wenn sie weinen musste. Sam hatte die Augen seit zwei Tagen nicht mehr geöffnet. Er könne sie nicht hören, versicherten ihr die Schwestern, wenn sie sich vor ihm über seinen Zustand unterhielten. Er habe kein Empfindungsvermögen mehr, sagten die Ärzte. Aber Imogen glaubte ihnen nicht, konnte ihnen nicht glauben. Sie ging in den furnierten Flur hinaus.
Sobald sie das Kunststoffholz unter den Füßen hatte, be¬gann sie zu rennen. Schwer atmend schaffte sie es bis zur Da¬mentoilette und verriegelte die Tür hinter sich. Imogen Page würde nicht zulassen, dass jemand sie weinen sah, und sie drehte sich vom Spiegel weg, damit sie selbst es nicht sehen musste. Sie lehnte sich an die Tür, drückte ihre Schultern fest dagegen und schluchzte. Die Arme vor der Brust verschränkt wie die Mumie eines uralten Pharaos, lehnte sie den Kopf gegen die kühlen mintgrünen Wandkacheln und schrie vor Wut, winzige Schreie, die nur sie selbst in ihrem Kopf hören konnte. Verzweiflung und Wut überrollten sie in Wellen, und sie fühlte sich hin und her geworfen, gegen die Wände ihres leeren, einsamen Seins geschleudert. Und so plötzlich, wie es gekommen war, war das Unwetter vorbei. Sie hockte in der Ecke des gekachelten Raums, die Finger in die Oberschenkel gekrallt, die Augen fest zugekniffen. Sie wusch sich das Gesicht mit den rauen Papierhandtüchern und dieser rosa Pulverseife, die es auch im Umkleideraum der Grundschule gegeben hatte, in dem Jahr, in dem sie in Oregon gewohnt hatten, dem Jahr bevor -
Nachdem sie alle Tränenspuren beseitigt hatte, kehrte sie in Sams Zimmer zurück.
Er lag genauso da, wie sie ihn verlassen hatte, aber das Zim¬mer schmeckte ein wenig anders. Schwach pfeffrig. Sie sah sich um und entdeckte, dass seine Hand sich bewegt hatte. Sie er¬griff sie, um sie wieder auf seinen Bauch zurückzulegen, auf die andere Hand, in einer dem Tod angemessenen Haltung, und er schlug die Augen auf.
»Gigi.« Er sprach es nicht wirklich aus, bewegte nur die Lip¬pen, aber sie wusste, was es war, wusste, dass er ihren Namen sagte, den Namen, den er ihr gegeben hatte. Er sah sie durch¬dringend an und hob die Arme - langsam, etwas.
»Soll ich das Bett hochstellen?«, fragte sie und drückte den Knopf, der das Kopfteil hochfuhr.
Sie sah ihn erwartungsvoll an. Er schüttelte den Kopf, um¬schloss mit einer Hand das andere Handgelenk - diese Gold¬medaillengewinner-Handgelenke waren so gelenkig gewesen - und hob die Arme.
»Das Bett ist so hoch, wie es geht«, flüsterte sie und beugte sich zu ihm.
Eine Träne der Frustration lief ihm aus dem Augenwinkel. Seine Lippen, gesprungen und trocken, waren leicht geöffnet. Er roch nach Kunstfaserbettwäsche und Verfall. Wieder hob er die zu einem Kreis geschlossenen Arme.
Ein Kreis. Wie ein Glas. Imogen nahm den Becher mit den Eiswürfeln, der auf dem Tisch neben dem Bett stand. Er hatte offenbar Durst. »Sie lutschen gern Eis, wenn sie nicht mehr essen können«, hatte die Schwester gesagt. Imogen hielt ihm vorsichtig ein kleines Stück an die Lippen.
Sam drehte den Kopf weg und hob die Arme abermals.
Sie zitterte jetzt, so unzulänglich fühlte sie sich. »Ich weiß nicht, was du willst, Sammie«, sagte sie flehentlich. »Ich weiß nicht, wie ich dir geben soll, was du willst. Ich verstehe dich nicht.«
Wieder sah er sie an, ganz direkt, und seine Augen waren auf eine Art klar, wie sie es seit Wochen nicht mehr gewesen waren. Das waren wieder die Augen, die sie kannte, rein-blaue Augen wie die ihren, die versuchten, ihr etwas zu sagen. Eine Bitte stand in diesen Augen, eine Botschaft. Eine Frage, die sie nicht deuten konnte.
Ihre eigenen Augen brannten, und sie hatte einen Kloß in der Kehle. Sie glaubte, nie wieder schlucken zu können.
Sie schaltete das Licht über ihm ein, rückte die Kissen zu¬recht, versuchte es noch einmal mit dem Eis, beinahe manisch jetzt, versuchte alles und wischte sich die Tränen aus den Augen¬winkeln, bevor er sie sehen konnte, aber er schaute sie einfach nur weiterhin ein wenig traurig an. Schließlich hob er die ge¬schlossenen Arme wieder, und seine Lippen formten ein Wort.
Bruder und Schwester starrten einander an, zum ersten Mal unfähig zu kommunizieren. Es lag Liebe in seinem Blick, so viel Liebe, und Angst, aber es gab auch noch etwas anderes, und sie konnte einfach nicht herausfinden, was es war.
Schließlich lehnte sich Sam wieder in die Kissen, die sie zu¬rechtgezupft hatte, er senkte die Arme und schloss die Augen. Sie hörte, wie er einatmete, flach und ruhig, und dann noch einmal. Noch einmal. Dann gab es ein schreckliches, rasseln¬des Geräusch, ein Geräusch, von dem Imogen ewig träumen würde. Es war das Geräusch des Todes, ein letzter Laut, ein letzter Atemzug.
Er war tot.
Verzweifelt umarmte sie ihn, zog den Kopf mit dem schütteren Haar an ihre Schulter, klammerte sich an ihn, wollte das Leben in ihm festhalten, es mit ihrem Körper festhalten, aber es war zu spät.
Es gab kein Leben mehr. Kein Atmen. Sam war tot.
Tot. Und erst jetzt verstand Imogen. In diesem Augenblick verstand sie, jetzt, als es zu spät war, was die zu einem Kreis ge¬schlossenen Arme bedeutet hatten. Sie erkannte es mit nieder¬schmetternder Deutlichkeit. Und diese Erkenntnis war schlim¬mer als der Tod und schlimmer als Traurigkeit.
Zu spät.
Sie saß da und hielt Sams Hand, wiegte sich vor und zurück, weinte leise und klammerte sich an seine Finger, bis sie steif und kalt wurden. Dann legte sie seine Hand zurück auf seine Brust und rief nach der Schwester. An diesem Abend verließ sie das Hospiz zum ersten Mal seit zwei Wochen. Sie bemerkte das Wetter nicht, bemerkte nicht die Fußspuren in Größe 43 vor dem Fenster ihres Bruders und auch nicht, dass jemand ihr Auto für sie freigeschaufelt hatte. Jetzt empfand sie keine Traurigkeit, keinen Zorn und nichts von den Dingen, die sie zu empfinden erwartet hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben schmeckte sie überhaupt nichts.
In der Todesmeldung stand, dass Samuel Page am Samstag um 4:54 Uhr an einer Blutvergiftung gestorben war. Der Olympiasieger im Fechten, hieß es, hinterließ eine Schwester, Imogen Page, die FBI-Agentin, die die Bildhauer-Morde auf¬geklärt hatte.
Die Meldung war falsch.
Imogen wusste das noch nicht, würde es noch lange nicht wissen. Aber der Mann, der sie in der Flughafenlounge las, wusste es.
Als er fertig war, legte er die Zeitung sorgfältig zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Das Kamelhaarbraun sei¬nes maßgeschneiderten Kaschmirmantels passte hervorragend zu seiner gebräunten Haut, und mehrere Frauen drehten sich nach ihm um, als er vorbeischlenderte. Er konnte ihre Blicke im Rücken spüren. Er trug eine Pilotenbrille, um seine Augen zu verbergen, aber mit seinen einsneunzig war er schwer zu übersehen.
Im Kopf spielte er ein Spiel und versuchte zu erraten, was die Leute wohl über ihn sagten, wenn er an ihnen vorbeikam. »Ist das nicht ... «, fragte die Brünette in dem engen roten Pul¬lover an der Bar vielleicht gerade den Barkeeper. Der Barkeeper würde nicken. »In der Tat. Das ist ein Mann, mit dem ich wirk¬lich gerne tauschen würde.«
Der Mann im Kaschmirmantel verbiss sich ein Lächeln. Die Leute sagten immer solche Dinge über ihn. Er wusste, wie er aussah: reich, mächtig, erfolgreich, gepflegt. Sorglos. Und er wusste, dass das stimmte. Jedenfalls beinahe.
Denn tatsächlich war er sorgsam. Sehr sorgsam. Ein helles, jungenhaftes Kichern über das Wortspiel entschlüpfte ihm und verpuffte so schnell, wie es gekommen war. Dafür hatte er jetzt keine Zeit, mahnte er sich. Er war jetzt dieser andere Mann, der Mann, der nicht lachte. Und es gab immer noch so viel zu tun. So vieles, um das er sich kümmern musste. So viele Leute, um die er Sorge tragen musste.
Übersetzung: Regina Winter
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Ich hoffe, mit Reißverschlüssen kommst du besser zurecht.« Das Mädchen kicherte an seiner Schulter, während er am Tür¬schloss herumnestelte.
»Allerdings«, erwiderte er humorlos. Er wusste immer noch nicht so recht, wie man mit Mädchen redete. Es war nicht schwer, sie dazu zu bringen, mit ihm nach Hause zu kommen, aber das Reden ...
Er konzentrierte sich auf die unzähligen Kratzer in dem di¬cken beigefarbenen Lack um den Türknauf herum, verursacht von Generationen betrunkener Studenten, die versucht hatten, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Er war nicht betrunken, aber seine Finger zitterten.
Endlich schaffte er es, und die Tür ging knarrend auf. Er drückte dagegen und küsste das Mädchen leidenschaftlich, um sie nach drinnen zu drängen. Er war besser, wenn er nichts sagte und die Augen schloss. Sie machten sich nicht die Mühe, das Licht einzuschalten, sondern zogen sich sofort aus. Er schob sie auf das Wasserbett und hatte endlich das warme, beruhigende Gefühl eines Mädchenkörpers unter sich.
»Ohhh, schön!«, murmelte sie, schlang die Beine um ihn und zog ihn an sich.
Das dritte Newton'sche Gesetz: Jeder Kraftwirkung ent¬spricht eine gleich große, aber entgegengesetzt gerichtete Ge¬genwirkung.
Sie bog ihm die Hüften entgegen, und er glitt in sie hinein. Sie war warm und weich und roch angenehm nach Babypuder-Deodorant und Rotwein. Während er die Hände über ihren Körper gleiten ließ, wirbelten ihm Zahlen durch den Kopf.
Ein Auto bricht um 5:45 Uhr zu seinem Ziel auf. Es bewegt sich fünf Meilen mit einer Geschwindigkeit von 45 Meilen pro Stunde bis zu einem Stoppschild, wo es nicht vollkommen zum Stehen kommt, aber langsamer wird, bevor es für vier Minuten auf 60 Meilen pro Stunde beschleunigt.
Während er sich auf ihr bewegte, stellte er sich vor, wie das Licht der Autoscheinwerfer über die geduckten Umrisse der verschneiten Bäume entlang der geraden Strecke zuckte, ihre Silhouetten gegen den festgebackenen Schnee abzeichnete.
»Fester.« Sie biss ihn aufstöhnend in die Schulter. »Fester.« Das zweite Newton'sche Gesetz: Kraft ist gleich dem Produkt der Masse eines Körpers und der Geschwindigkeit, mit der er sich bewegt.
Er legte sein ganzes Gewicht in den nächsten Stoß.
Sechs Minuten lang bewegt sich die Geschwindigkeit des Autos zwischen 35 und 75 Meilen pro Stunde.
Er konnte sich vorstellen, wie der Fahrer ein Tic Tac im Mund hin und her rollte, um den bitteren Geschmack aufgewärmten Kaffees zu überdecken, und wie er sich mit zusammengeknif¬fenen Augen vorbeugte, als könnten die paar Zoll ihm tatsäch¬lich helfen, den dichten Morgennebel besser zu durchdringen.
»O mein Engel, das ist so gut!«, sagte das Mädchen an sei¬ner Schulter, als seine Lippen, seine Zähne über ihren Hals streiften.
Wenn das Auto weiter beschleunigt -
»O ja, genau so.«
- und die Straße abschüssig wird -
»O Gott, gleich ... gleich.«
- erreichen die Passagiere ihr Ziel -
»Ja, das ist es ... jetzt ... ja!«
Das Telefonklingeln schrillte durch ihre Schreie.
Er zog sie an seine Brust, um sie zum Schweigen zu bringen, und griff nach dem Hörer.
»Hallo?«
»Ich bin so froh, dass ich dich erreiche! O Gott, es ist schreck¬lich, einfach schrecklich! Es gab einen Unfall. Das Auto ist aus der Kurve geraten und ... « Er hörte, wie jemand am anderen Ende tief Luft holte. »Dein Vater ist tot.«
Er spürte, wie das Mädchen ihn fester umschlang. Er fragte nur: »Wann?«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung schwieg einen Moment. »Wie bitte?«
»Ich sagte, wann ist es passiert?«
»Ach so. Äh, sie geben den Todeszeitpunkt mit sechs Uhr vier an.«
»Sechs Uhr vier«, wiederholte er. »Danke, Nelson.«
»War das wichtig?«, fragte das Mädchen ein wenig schmol¬lend, als er auflegte.
»Nein. Tut mir Leid, Babe. Wo waren wir stehen geblieben?« »Ich glaube nicht, dass ich ... «
Er schnitt ihr das Wort ab, indem er ihren Po mit adrenalin¬gestärkten Händen packte und weitermachte, wo er aufgehört hatte.
Wenn die Straße abschüssig wird -
Ihre Augen begannen zu leuchten, und sie seufzte: »O jaaa.« - und die Bremsen des Autos versagen -
»Das ist es!«
- erreichen die Passagiere ihr Ziel -
»O Engel, ja, ja, JA!«
- um sechs Uhr vier.
»Mein Gott, du bist wirklich eine Naturgewalt«, flüsterte sie später, als er wieder in ihr war.
Das erste Newton'sche Gesetz: Jeder Körper verharrt im Zu¬stand der Bewegung, solange ihn keine von außen wirkenden Kräfte veranlassen, diesen Zustand zu ändern.
Er lächelte in sich hinein und sagte: »Ja, das bin ich.«
Jahre später lächelte er auf ganz ähnliche Art, als er an seinem Schreibtisch saß und mit den Fingerspitzen am Rand der ver¬gilbten Zeitungsseite entlangfuhr, die den Tag seines Triumphs dokumentierte. Es hatte mehrere Todesmeldungen gegeben, aber die der Lokalzeitung mochte er am liebsten. Der Verstor¬bene hinterlässt einen Sohn, stand da, und diese Worte kamen ihm wie Poesie vor. Er war derjenige, der überlebt hatte. Diese Runde hatte er gewonnen.
Lasst die Spiele beginnen.
Er würde auch die anderen gewinnen.
Vorsichtig schloss er das Album und legte die Finger auf die tief in das dicke Leder eingeprägten Buchstaben, nahm die Let¬tern F-A-M-I-L-I-E-N-E-R-I-N-N-E-R-U-N-G-E-N einzeln mit den Fingerspitzen wahr. Fünf Minuten lang verinnerlichte er Gefühl und Botschaft, die sie vermittelten, wie eine göttliche Beschwörung.
Dann legte er Schere und Kleber weg, steckte seine neueste Schöpfung in einen Umschlag, schaltete die Schreibtischlampe aus und schloss ab. Es war Zeit zu gehen.
Mir ist egal, ob ihr bereit seid oder nicht - ich komme!
2
Hospiz der Mayo-Klinik, Rochester, Minnesota
Der lange Flur war still, und das gebleichte Kiefernholz des Bodens schimmerte sanft unter der neuen Schicht von Boh¬nerwachs, die die Putzmannschaft um 10:30 Uhr angebracht hatte. Imogen Page wusste, dass es nicht wirklich Kiefernholz war, nur Furnier über Kunststoff, das sich an der Ecke vor der Tür, über der Ausgang stand, ein wenig wellte. Echtes Holz hätte zu viel Lärm verursacht, und Lärm war hier nicht ge¬stattet. Das hier war ein Ort der Stille und Zurückhaltung. Alles war zurückhaltend, die pastellfarbenen Wände, die Sitz¬möbel mit den knotigen Baumwollbezügen. Zurückhaltende Pflanzen, nichts Aufregendes und Tropisches, hingen in den Zimmern. Jalousien ließen nur diffuses Licht herein, Telefone summten eher, als dass sie klingelten, Türen schlossen sich mit Hilfe von Spezialscharnieren langsam und sachte und fielen niemals krachend ins Schloss. Alles war gedämpft, still, erwar¬tungsvoll. Es war ein Warten auf den Tod.
Es passte überhaupt nicht zu Sam. Sam war nie still und zurückhaltend gewesen. Sam, der vor Leben, vor Vitalität über¬sprühte, Sam, der eher rief als sprach, eher schallend lachte als lächelte. Sam konnte einen Raum ganz allein ausfüllen. Der große, starke Sam, Sam, der sie beschützt und sich um sie ge¬kümmert hatte. Ihr Bruder Sam.
Er durfte nicht sterben.
Imogen wandte sich vom Fenster ab und betrachtete den Mann, der dort im Bett lag, umgeben von Pflanzen, Luftbal¬lons und albernen Filzstiftzeichnungen. Er war kaum mehr ein Mensch, bestand nur noch aus den Grundbestandteilen, Haut und Knochen.
Wie ein Renaissancegemälde eines Totenkopfs. Gott, er war so dünn! Er musste in den letzten drei Wochen fünfzig Pfund verloren haben.
Er wird vielleicht noch zwei Monate leben, hatte der Arzt ge¬sagt. Aber es gibt wirklich nichts, was wir für ihn tun können.
Aber er war doch letzten Monat gesund und stark gewesen, und lebendig!, rief ihr Verstand. Letzten Monat auf Hawaii hatten sie vor dem kleinen Haus, in dem sie wohnten, in den Wellen gespielt wie die sorglosen Teenager, die sie nie gewesen waren, waren herumgesprungen, hatten Sandkrabben gejagt und abends den sich im Wind bewegenden Palmwedeln ge¬lauscht. Hatten Drinks in ausgehöhlten Ananasfrüchten, mit Smilies auf Zahnstochern serviert, genossen, sich Papierschirm¬chen hinter die Ohren geklemmt. Eines Abends waren sie so lange am Strand spazieren gegangen - Sam hatte alberne Witze erzählt, und sie hatte darüber gelacht, wie sie nie mit anderen lachte -, dass sie zu müde gewesen waren, Abendessen zu ma¬chen, und sie hatten es nicht einmal vermisst.
Sie hatte mit der Faust auf den Tisch des Arztes schlagen wollen, wie er so dasaß und gewandt seine Worte abwog. Dr. Stephen Gold. Er war in ihrem Alter, vielleicht ein wenig äl¬ter, und sah wohlhabend und gut genährt aus. Er hatte die braun gebrannten Unterarme eines Tennisspielers, und Imogen fragte sich, ob er zum letzten Ärztekongress in den Tropen wohl seine Frau (Ehering an der linken Hand) oder seine Mätresse (kein weißer Rand unter dem Ehering) mitgenommen hatte. So braun war er nicht in Minnesota geworden, und sie konnte die Überreste seiner Untreue noch in der Luft, die ihn umgab, schmecken. Er war selbstzufrieden, wie es jemand sein konnte, der mit den großen Geheimnissen von Leben und Tod umging. Leben und Tod waren auch ihr Beruf, aber nicht so. Nicht auf diese gewichtige Art. Nicht Sam. Nicht ihr Bruder.
Wie meinen Sie das, Sie können nichts für ihn tun?, wollte sie dem braun gebrannten, ehebrechenden, Tennis spielenden Arzt ins Gesicht schreien. Verstehen Sie denn nicht, dass das nicht geht? Sie können vielleicht zusammen mit ihrer Mätresse auf einen Quickie von hier verschwinden, aber wenn ich jetzt gehe, habe ich nichts, niemanden außer Sam! Verstehen Sie nicht, dass er einfach nicht sterben darf? Er ist Sam, der Starke, Sportliche. Der Olympionike. Ich bin diejenige, die sterben sollte, ich, die Gescheite, die Nutzlose; nicht Sam. Bitte, wollte sie einwenden, das muss ein Versehen sein. Bitte, wollte sie schreien, das kann einfach nicht wahr sein.
»Ich verstehe«, hatte sie ruhig gesagt.
»Es wäre das Beste«, fuhr Dr. Stephen Gold fort und sah sie dabei nicht an, sondern über sie hinweg, »ihn in ein Hospiz zu bringen. Er braucht mehr Pflege, als Sie ihm zu Hause geben können, und er wird es dort bequemer haben als auf der Inten¬sivstation. Und es gibt nichts mehr, was wir hier in der Mayo¬Klinik für ihn tun können.«
»Ich verstehe«, hatte sie gesagt. Und zum ersten Mal in ihrem Leben war das eine Lüge gewesen.
Imogen Page kannte sich verdammt gut aus, wenn es darum ging, etwas zu verstehen. Es war ihr Job zu verstehen, Dinge zu begreifen, die keiner sonst erklären konnte, unlogische Muster - Codes, Rätsel, Schachprobleme, Stichwunden - so zu deuten, dass sie verständlich wurden. Aber als sie dem Arzt zuhörte, war das alles plötzlich in sich zusammengebrochen. Von die¬sem Augenblick an verstand sie überhaupt nichts mehr. Jeden Tag verstand sie weniger und weniger. Und von diesem Tag an erkannte sie auch immer weniger von Sam in dem Körper, der dort vor ihr im Bett lag.
Jeden Tag ging ein wenig mehr von ihm, und nun war bei¬nahe nichts mehr geblieben.
Mit langsamen Bewegungen, damit sie keinen Lärm verur¬sachte, verließ sie das Hospizzimmer. Sie wusste nicht, wieso sie sich die Mühe machte, auf Zehenspitzen zu gehen, warum sie immer noch nach draußen ging, wenn sie weinen musste. Sam hatte die Augen seit zwei Tagen nicht mehr geöffnet. Er könne sie nicht hören, versicherten ihr die Schwestern, wenn sie sich vor ihm über seinen Zustand unterhielten. Er habe kein Empfindungsvermögen mehr, sagten die Ärzte. Aber Imogen glaubte ihnen nicht, konnte ihnen nicht glauben. Sie ging in den furnierten Flur hinaus.
Sobald sie das Kunststoffholz unter den Füßen hatte, be¬gann sie zu rennen. Schwer atmend schaffte sie es bis zur Da¬mentoilette und verriegelte die Tür hinter sich. Imogen Page würde nicht zulassen, dass jemand sie weinen sah, und sie drehte sich vom Spiegel weg, damit sie selbst es nicht sehen musste. Sie lehnte sich an die Tür, drückte ihre Schultern fest dagegen und schluchzte. Die Arme vor der Brust verschränkt wie die Mumie eines uralten Pharaos, lehnte sie den Kopf gegen die kühlen mintgrünen Wandkacheln und schrie vor Wut, winzige Schreie, die nur sie selbst in ihrem Kopf hören konnte. Verzweiflung und Wut überrollten sie in Wellen, und sie fühlte sich hin und her geworfen, gegen die Wände ihres leeren, einsamen Seins geschleudert. Und so plötzlich, wie es gekommen war, war das Unwetter vorbei. Sie hockte in der Ecke des gekachelten Raums, die Finger in die Oberschenkel gekrallt, die Augen fest zugekniffen. Sie wusch sich das Gesicht mit den rauen Papierhandtüchern und dieser rosa Pulverseife, die es auch im Umkleideraum der Grundschule gegeben hatte, in dem Jahr, in dem sie in Oregon gewohnt hatten, dem Jahr bevor -
Nachdem sie alle Tränenspuren beseitigt hatte, kehrte sie in Sams Zimmer zurück.
Er lag genauso da, wie sie ihn verlassen hatte, aber das Zim¬mer schmeckte ein wenig anders. Schwach pfeffrig. Sie sah sich um und entdeckte, dass seine Hand sich bewegt hatte. Sie er¬griff sie, um sie wieder auf seinen Bauch zurückzulegen, auf die andere Hand, in einer dem Tod angemessenen Haltung, und er schlug die Augen auf.
»Gigi.« Er sprach es nicht wirklich aus, bewegte nur die Lip¬pen, aber sie wusste, was es war, wusste, dass er ihren Namen sagte, den Namen, den er ihr gegeben hatte. Er sah sie durch¬dringend an und hob die Arme - langsam, etwas.
»Soll ich das Bett hochstellen?«, fragte sie und drückte den Knopf, der das Kopfteil hochfuhr.
Sie sah ihn erwartungsvoll an. Er schüttelte den Kopf, um¬schloss mit einer Hand das andere Handgelenk - diese Gold¬medaillengewinner-Handgelenke waren so gelenkig gewesen - und hob die Arme.
»Das Bett ist so hoch, wie es geht«, flüsterte sie und beugte sich zu ihm.
Eine Träne der Frustration lief ihm aus dem Augenwinkel. Seine Lippen, gesprungen und trocken, waren leicht geöffnet. Er roch nach Kunstfaserbettwäsche und Verfall. Wieder hob er die zu einem Kreis geschlossenen Arme.
Ein Kreis. Wie ein Glas. Imogen nahm den Becher mit den Eiswürfeln, der auf dem Tisch neben dem Bett stand. Er hatte offenbar Durst. »Sie lutschen gern Eis, wenn sie nicht mehr essen können«, hatte die Schwester gesagt. Imogen hielt ihm vorsichtig ein kleines Stück an die Lippen.
Sam drehte den Kopf weg und hob die Arme abermals.
Sie zitterte jetzt, so unzulänglich fühlte sie sich. »Ich weiß nicht, was du willst, Sammie«, sagte sie flehentlich. »Ich weiß nicht, wie ich dir geben soll, was du willst. Ich verstehe dich nicht.«
Wieder sah er sie an, ganz direkt, und seine Augen waren auf eine Art klar, wie sie es seit Wochen nicht mehr gewesen waren. Das waren wieder die Augen, die sie kannte, rein-blaue Augen wie die ihren, die versuchten, ihr etwas zu sagen. Eine Bitte stand in diesen Augen, eine Botschaft. Eine Frage, die sie nicht deuten konnte.
Ihre eigenen Augen brannten, und sie hatte einen Kloß in der Kehle. Sie glaubte, nie wieder schlucken zu können.
Sie schaltete das Licht über ihm ein, rückte die Kissen zu¬recht, versuchte es noch einmal mit dem Eis, beinahe manisch jetzt, versuchte alles und wischte sich die Tränen aus den Augen¬winkeln, bevor er sie sehen konnte, aber er schaute sie einfach nur weiterhin ein wenig traurig an. Schließlich hob er die ge¬schlossenen Arme wieder, und seine Lippen formten ein Wort.
Bruder und Schwester starrten einander an, zum ersten Mal unfähig zu kommunizieren. Es lag Liebe in seinem Blick, so viel Liebe, und Angst, aber es gab auch noch etwas anderes, und sie konnte einfach nicht herausfinden, was es war.
Schließlich lehnte sich Sam wieder in die Kissen, die sie zu¬rechtgezupft hatte, er senkte die Arme und schloss die Augen. Sie hörte, wie er einatmete, flach und ruhig, und dann noch einmal. Noch einmal. Dann gab es ein schreckliches, rasseln¬des Geräusch, ein Geräusch, von dem Imogen ewig träumen würde. Es war das Geräusch des Todes, ein letzter Laut, ein letzter Atemzug.
Er war tot.
Verzweifelt umarmte sie ihn, zog den Kopf mit dem schütteren Haar an ihre Schulter, klammerte sich an ihn, wollte das Leben in ihm festhalten, es mit ihrem Körper festhalten, aber es war zu spät.
Es gab kein Leben mehr. Kein Atmen. Sam war tot.
Tot. Und erst jetzt verstand Imogen. In diesem Augenblick verstand sie, jetzt, als es zu spät war, was die zu einem Kreis ge¬schlossenen Arme bedeutet hatten. Sie erkannte es mit nieder¬schmetternder Deutlichkeit. Und diese Erkenntnis war schlim¬mer als der Tod und schlimmer als Traurigkeit.
Zu spät.
Sie saß da und hielt Sams Hand, wiegte sich vor und zurück, weinte leise und klammerte sich an seine Finger, bis sie steif und kalt wurden. Dann legte sie seine Hand zurück auf seine Brust und rief nach der Schwester. An diesem Abend verließ sie das Hospiz zum ersten Mal seit zwei Wochen. Sie bemerkte das Wetter nicht, bemerkte nicht die Fußspuren in Größe 43 vor dem Fenster ihres Bruders und auch nicht, dass jemand ihr Auto für sie freigeschaufelt hatte. Jetzt empfand sie keine Traurigkeit, keinen Zorn und nichts von den Dingen, die sie zu empfinden erwartet hatte. Zum ersten Mal in ihrem Leben schmeckte sie überhaupt nichts.
In der Todesmeldung stand, dass Samuel Page am Samstag um 4:54 Uhr an einer Blutvergiftung gestorben war. Der Olympiasieger im Fechten, hieß es, hinterließ eine Schwester, Imogen Page, die FBI-Agentin, die die Bildhauer-Morde auf¬geklärt hatte.
Die Meldung war falsch.
Imogen wusste das noch nicht, würde es noch lange nicht wissen. Aber der Mann, der sie in der Flughafenlounge las, wusste es.
Als er fertig war, legte er die Zeitung sorgfältig zusammen und klemmte sie sich unter den Arm. Das Kamelhaarbraun sei¬nes maßgeschneiderten Kaschmirmantels passte hervorragend zu seiner gebräunten Haut, und mehrere Frauen drehten sich nach ihm um, als er vorbeischlenderte. Er konnte ihre Blicke im Rücken spüren. Er trug eine Pilotenbrille, um seine Augen zu verbergen, aber mit seinen einsneunzig war er schwer zu übersehen.
Im Kopf spielte er ein Spiel und versuchte zu erraten, was die Leute wohl über ihn sagten, wenn er an ihnen vorbeikam. »Ist das nicht ... «, fragte die Brünette in dem engen roten Pul¬lover an der Bar vielleicht gerade den Barkeeper. Der Barkeeper würde nicken. »In der Tat. Das ist ein Mann, mit dem ich wirk¬lich gerne tauschen würde.«
Der Mann im Kaschmirmantel verbiss sich ein Lächeln. Die Leute sagten immer solche Dinge über ihn. Er wusste, wie er aussah: reich, mächtig, erfolgreich, gepflegt. Sorglos. Und er wusste, dass das stimmte. Jedenfalls beinahe.
Denn tatsächlich war er sorgsam. Sehr sorgsam. Ein helles, jungenhaftes Kichern über das Wortspiel entschlüpfte ihm und verpuffte so schnell, wie es gekommen war. Dafür hatte er jetzt keine Zeit, mahnte er sich. Er war jetzt dieser andere Mann, der Mann, der nicht lachte. Und es gab immer noch so viel zu tun. So vieles, um das er sich kümmern musste. So viele Leute, um die er Sorge tragen musste.
Übersetzung: Regina Winter
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Michele Jaffe
- 2009, 1, 477 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800226X
- ISBN-13: 9783868002263
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