Sündenhof
London 1667: Richter Orlando Trelawney wird nachts an den königlichen Hof gerufen. Dort hat man eine enthauptete Leiche gefunden. Der König persönlich beauftragt Orlando mit der Aufklärung des Falles - und untersagt ihm...
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Produktinformationen zu „Sündenhof “
London 1667: Richter Orlando Trelawney wird nachts an den königlichen Hof gerufen. Dort hat man eine enthauptete Leiche gefunden. Der König persönlich beauftragt Orlando mit der Aufklärung des Falles - und untersagt ihm ausdrücklich, seinen Freund, den katholischen Priester Jeremy Blackshaw, zu Rate zu ziehen. Doch Jeremy bekommt bald Wind von der Sache und errät, dass es sich bei dem Toten um einen Amtsbruder handelt. Er stellt eigene Nachforschungen an, unterstützt von der schönen Amoret, der Mätresse des Königs. Als diese herausfindet, wo genau die Leiche gefunden wurde, ahnt sie nicht, dass sie sich in höchste Gefahr begibt ...
Von der Autorin des Erfolgsromans "Die Sündentochter".
Lese-Probe zu „Sündenhof “
Sündenhof von Sandra LessmannErstes Kapitel
Februar 1667
Er war allein. Die nächtliche Stille, die ihn umgab, wurde nur vom Knistern des Feuers im Kamin durchbrochen. Seit Stunden schon stand er am Fenster und sah auf die Themse hinaus, die sich träge durch die schlafende Stadt wand. Die Dunkelheit hüllte alles so vollkommen ein, dass man den Fluss hinter den Glas scheiben, auf denen sich die tanzenden Flammen spiegelten, kaum mehr erahnen konnte. Doch er war ohnehin blind für seine Umgebung. Vor seinem inneren Auge stand das Objekt seiner Sehn sucht, der Stachel im Fleisch des Liebenden: La Belle Stewart. Er sah ihr Gesicht mit den edlen Zügen, ihr vollkommenes Profil, das bald als Britannia die Rückseite der neuen Münzen schmücken würde. Nur sie war dessen würdig, die keusche, betörend schöne Jungfrau, mit einer Haut wie Milch und Honig, einem Körper voller Grazie ... und einem Herzen aus Eis!
Er seufzte tief, und seine Züge verhärteten sich. Es war ein markantes dunkles Gesicht mit schwarzen Augen unter schweren Lidern, einer kräftigen Nase und einem starken Kinn. Dunkle Brauen beschatteten die Augen, und ein schmaler Oberlippenbart verlieh den groben Zügen eine gewisse Eleganz. Die schwarzen Locken einer Perücke umrahmten das Gesicht, in das Schmerz und Enttäuschung tiefere Linien gegraben hatten. So mancher Betrachter hätte es als hässlich bezeichnet.
Im Geiste liebkosten seine Hände den schlanken Frauenkörper, der für ihn unerreichbar blieb. Er hatte sie mit Geschenken und Aufmerksamkeiten überhäuft, ihr alles angeboten, alles - nur nicht die Ehe. Nun ahnte er, dass er sie verlieren würde. Es brach ihm das Herz. Zuweilen hasste er sie sogar.
... mehr
Das leichte Kratzen von Fingernägeln an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. »Jetzt nicht!«, rief er gereizt. Die Tür öffnete sich, und der Kammerdiener William Chiffinch trat, den Befehl seines Herrn missachtend, ein.
»Verzeiht, Euer Majestät, aber es ist etwas Schreckliches geschehen! «
»Was ist so wichtig, dass du mich zu dieser Stunde noch stören musst?«
»Ein Mord, Euer Majestät! Man hat im Palast eine Leiche gefunden. «
Der Tote war mit einem eilig herbeigeholten Bettlaken zugedeckt worden. König Charles II. gab Chiffinch ein Zeichen, das Laken anzuheben. Wortlos betrachtete er den übel zugerichteten Leichnam, dann nickte er und wandte sich ab.
»Wer hat ihn gefunden?«
Sein Bruder James, Herzog von York, antwortete mit gepresster Stimme: »Eine der Wachen. Er kam sofort zu mir.«
»Hat sonst noch jemand den Toten gesehen?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Er kann hier nicht liegenbleiben. Bringt ihn in einen unbenutzten Raum und bewacht die Tür«, befahl Charles dem Gardisten, der die Leiche gefunden hatte. »Niemand darf erfahren, dass es im Palast einen Mord gegeben hat. Die Königin und die Hofdamen würden sich nur ängstigen.«
»Gleichwohl muss der Mörder überführt werden«, mahnte James.
Sein Bruder nickte zustimmend. »Ich werde die Ermittlungen jemandem überlassen, der absolut vertrauenswürdig ist.«
»Wem?«
»Sir Orlando Trelawney.«
James hatte keine Einwände.
Der König blickte ihn eindringlich an. »Geh zu Bett! Ich kümmere mich um alles.«
Charles wartete, bis sich sein Bruder entfernt hatte. Dann wandte er sich an seinen Kammerdiener, der zusammen mit dem Gardisten den Leichnam in das Laken wickelte.
»Chiffinch, für dich habe ich eine besondere Aufgabe.«
Der Geruch der eben gelöschten Kerze hing noch in der Luft. Sir Orlando Trelawney, Richter des Königlichen Gerichtshofs, schmiegte seine Wange an die duftende Haut seiner Frau Jane und lauschte ihren gleichmäßigen Atemzügen. Nach dem Nachtmahl hatte sie sich nicht recht wohl gefühlt, doch nun schlief sie so ruhig, als gäbe es keine Sorgen auf der Welt. Darum beneidete er sie. Je weiter die Zeit fortschritt, desto schwieriger wurde es für ihn, einzuschlafen. Zuweilen lag er noch lange wach, so wie an diesem Abend, und betrachtete ihr schmales Gesicht, das so zerbrechlich wirkte und so gar nicht zu den schwellenden Brüsten und dem prallen Leib passen mochte. Seit dem Moment, da sie ihm gestanden hatte, dass sie schwanger war, lebte er in der ständigen Furcht, dass ihr oder dem Kind etwas zustoßen könnte. Seine erste Gemahlin war nach einer Fehlgeburt gestorben, und er gab sich die alleinige Schuld daran. Sein sehnlicher Wunsch, Kinder zu haben, hatte seine arme Beth frühzeitig ins Grab gebracht. Er wollte auf keinen Fall erleben, dass es Jane ebenso erging. Ängstlich beobachtete er sie, ob sie wohlauf war, fragte sie immerzu nach ihrem Befinden und umsorgte sie wie eine Glucke ihr Küken. Einmal die Woche schickte er nach seinem Freund Dr. Fauconer, damit er Jane untersuchte und Sir Orlando bestätigte, dass alles in Ordnung war. Dann erst gelang es dem Richter, ein wenig gelöster zu schlafen, denn er hatte uneingeschränktes Vertrauen in die Fähigkeiten des Arztes. Immerhin hatte dieser ihn einst von einer schweren Krankheit geheilt, als er von anderen Ärzten bereits verloren gegeben worden war. Wenn jemand sein Kind gesund auf die Welt bringen konnte, dann Dr. Fauconer! Sir Orlando verband eine außergewöhnliche Freundschaft mit diesem Mann, der nicht nur Arzt und Gelehrter, sondern auch katholischer Priester und Jesuit war. Da im protestantischen England die Ausübung des römischen Glaubens verboten war, arbeiteten die Priester, denen dem Gesetz nach die Todesstrafe drohte, unter falschem Namen im Verborgenen und hielten die heilige Messe für ihre Gläubigen in Privathäusern ab. So war auch Fauconer nicht der richtige Name seines Freundes. Manchmal erschien es dem Richter seltsam, dass er nicht wusste, wie der Mensch, dem er am meisten vertraute, in Wirklichkeit hieß, doch es war ihm nie wichtig gewesen.
Der langersehnte Schlaf begann Sir Orlando Trelawney endlich einzuhüllen, als ein Geräusch ihn hochfahren ließ. Jemand hämmerte unten an das Hauptportal. Sofort war der Richter hellwach. Wenn jemand zu dieser späten Stunde Einlass begehrte, musste es sich um etwas Wichtiges handeln. Vorsichtig erhob er sich aus dem Bett, bemüht, seine Gemahlin nicht zu wecken, doch da öffnete Jane auch schon die Augen.
»Wohin geht Ihr?«, fragte sie verschlafen.
»Da ist jemand an der Tür. Ich muss nachsehen, was er will.«
Er verzichtete darauf, die Kerze anzuzünden, und tastete im Dunkeln nach seinem Schlafrock. In diesem Moment wurde an der Tür zum Gemach gekratzt, und der Kammerdiener des Richters sah herein.
»Was gibt es, Malory?«
»Ein Bote des Königs ist gekommen, Mylord. Seine Majestät wünscht Euch zu sprechen.«
»Gut, sag ihm, ich bin gleich da. Und dann hilf mir beim Ankleiden. «
Der Diener nickte und verschwand.
»Was mag der König um diese Zeit von Euch wollen?«, fragte Jane verwundert.
»Ich hoffe, es handelt sich nicht um eine Staatskrise.«
»Ob die Holländer gelandet sind?«
Sir Orlando setzte sich auf die Bettkante und nahm die Hand seiner Frau, um sie zu beruhigen. »Selbst wenn es so wäre, bräuchtet Ihr keine Angst zu haben, meine Liebste.«
»Wann wird der König diesen unseligen Krieg endlich beenden? Wie sollen wir uns auf Dauer zweier so mächtiger Gegner wie Frankreich und Holland erwehren?«
»Macht Euch darüber keine Gedanken. Ihr dürft Euch in Eurem Zustand nicht aufregen. Überlasst die Sorge über den Krieg den Staatsdienern.«
Sir Orlando streichelte zärtlich ihre Wange. »Ich weiß nicht, wie lange ich wegbleiben muss. Ich werde nach Dr. Fauconer schicken, damit Ihr nicht allein bleibt.«
Sie lächelte, was er in der Dunkelheit nur erahnen konnte. »Glaubt mir, es geht mir gut. Ein paar Wochen wird es noch dauern, bis meine Zeit kommt.«
Er erhob sich vom Bett. »Ich bestehe darauf, meine Liebe. Vor ein paar Stunden habt Ihr noch über Unwohlsein geklagt. Und ich habe keine Ahnung, welchen Auftrag Seine Majestät für mich hat. Vielleicht zieht sich die Angelegenheit bis in den morgigen Tag hinein. Versteht doch, ich fühle mich einfach wohler, wenn ich Euch in guten Händen weiß.«
Sie hütete sich davor, ihm zu widersprechen, denn sie kannte seine Ängste. Als Malory erschien, zog sich der Richter mit dem Kammerdiener in den Ankleideraum nebenan zurück.
Wenig später rumpelte Sir Orlando Trelawneys Kutsche den Strand entlang, die Verbindungsstraße zwischen London und Westminster, vorbei an den Palästen des Adels aus dem vergangenen Jahrhundert, deren Gärten sich bis ans Ufer der Themse zogen. Nicht alle Hausbesitzer kamen ihrer Bürgerpfl icht nach und hängten von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang eine Lampe über ihre Tür, und so war es nach Einbruch der Dunkelheit in den Straßen von London recht düster. Die Kutsche des Richters war mit zwei Laternen ausgestattet, und in mondlosen Nächten wie dieser ging gewöhnlich ein Lakai mit einer Fackel voraus, um dem Gefährt den Weg zu leuchten. Diese Aufgabe hatte an diesem Abend jedoch der voranreitende Gardist übernommen. Bei Charing Cross bogen sie in Richtung des Whitehall- Palastes ab. Kurz darauf lenkte der Soldat sein Pferd durch das Palast-Tor in den Großen Hof und zügelte es vor dem Küchentrakt. Sir Orlando stieg aus seiner Kutsche und folgte ihm durch eine kleine Pforte ins Innere eines Gewirrs von Korridoren, Treppen und Zimmerfluchten, aus dem der alte Palast bestand. Über die Jahrhunderte hatte man immer neue Trakte an die bestehenden Gebäude angebaut, so dass Whitehall mehr und mehr einem verschachtelten Irrgarten glich. Trelawney wusste bald nicht mehr, wo sie sich befanden, und atmete auf, als der Gardist endlich vor einer Tür stehenblieb und mit der Hand darauf wies. Sir Orlando kratzte am Rahmen und trat ein, als eine Stimme ihn dazu aufforderte. Zu seiner Überraschung fand er sich in einem kleinen Kabinett wieder, in dem einige mit Tüchern bedeckte Möbel an den Wänden aufgereiht waren. Es wurde von zwei Laternen erleuchtet. In der Mitte stand der König. Auf dem Boden neben ihm lag eine menschliche Gestalt, die in ein Laken gehüllt war.
»Ah, da seid Ihr ja, Sir Orlando«, begrüßte Charles den Ankömmling.
Der Richter verbeugte sich und trat näher. »Zu Euren Diensten, Euer Majestät.«
»Ich habe Euch kommen lassen, weil ich weiß, dass auf Eure Diskretion Verlass ist, Mylord, und weil Ihr Erfahrung mit der Aufklärung von Verbrechen habt.« Der König deutete auf die verhüllte Gestalt. »Man fand diesen Leichnam auf dem Gelände von Whitehall. Ihr wisst, was das bedeutet: eine Herausforderung an den König! Jemand hat den Frieden meines Palastes gestört und stellt damit meine Autorität als Herrscher in Frage. Ich wünsche, dass Ihr herausfindet, wer dahintersteckt. «
»Ich werde mein Bestes tun, Sire«, versicherte Trelawney. »Weiß man, wer der Tote ist?«
Charles schüttelte den Kopf. Sein Blick richtete sich nachdenklich auf die Leiche.
»Nein, Mylord. Ihr werdet feststellen, dass es nicht einfach sein wird, das herauszufinden.«
Verständnislos krauste der Richter die Stirn. Bevor er etwas entgegnen konnte, ergriff der König erneut das Wort: »Es ist unerlässlich, dass die Angelegenheit geheim bleibt, Sir Orlando. Niemand würde sich am Hof seines Monarchen mehr sicher fühlen, vor allem die Damen nicht. Ich möchte unbedingt eine Panik vermeiden. «
»Natürlich, Euer Majestät.«
Charles trat ganz nah an Trelawney heran, und seine schwarzen Augen bohrten sich in die blauen Augen des Richters.
»Ihr dürft mit niemandem über diesen Vorfall sprechen, weder mit Euren Brüdern, dem Leichenbeschauer, Euren Dienern oder Eurer Frau - und ganz besonders nicht mit Eurem Freund Dr. Fauconer!«
Über Sir Orlandos Gesicht breitete sich ein Ausdruck der Verwirrung.
»Aber, Euer Majestät, ich versichere Euch, dass Dr. Fauconer vertrauenswürdig ist.«
»Ich weiß. Dennoch wünsche ich von Euch hier und jetzt das Versprechen, dass Ihr ihm gegenüber nicht die geringste Einzelheit über diesen Mord verlauten lasst.«
Die Stimme des Königs klang scharf, unnachgiebig. Es war ein Befehl, der Gehorsam forderte. Trelawney hatte keine andere Wahl, als nachzugeben.
»Ich verspreche es, Sire.«
Doch sein Gesicht gab nur allzu deutlich die Enttäuschung preis, die er empfand. In den vergangenen Jahren hatte er sich daran gewöhnt, seinen Freund, den Arzt und Priester, zu Rate zu ziehen, wann immer er ein Problem hatte. Und er war nie enttäuscht worden. Fauconers Wissen, das dieser sich durch lange Studien und als Missionar auf Reisen in ferne Länder angeeignet hatte, schien unerschöpflich. Er liebte es, knifflige Rätsel zu lösen, und bedachte Einzelheiten, die Trelawney gar nicht in den Sinn gekommen wären. Wie sollte er diesen Mord ohne Dr. Fauconers Hilfe aufklären?
Charles riss den Richter aus seinen Gedanken. »Ich überlasse Euch nun Euren Nachforschungen, Mylord. Warren wird Euch zur Hand gehen. Er hat den Toten gefunden.« Der König deutete auf den Gardisten, der Sir Orlando hergeführt hatte. »Wenn Ihr Neuigkeiten habt, wendet Euch an Chiffinch. Er ist außer mir und Warren der Einzige, der in die Sache eingeweiht ist. Viel Glück!«
Der Richter blickte Charles nach, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Seufzend wandte er sich dem am Boden liegenden Leichnam zu.
»Wo hat man den Toten gefunden?«
»Im Großen Hof«, antwortete John Warren kurz angebunden.
»Ich möchte die Stelle sehen.«
»Da ist nichts, Mylord. Nur eine Blutlache, und die habe ich beseitigt. «
Trelawney presste ärgerlich die Lippen zusammen. Die Untersuchung des Mordes würde nicht einfach werden, wenn es keine Spuren zu deuten gab.
»Nehmt das Laken ab.«
Der Gardist beugte sich zu dem Toten hinab und lüftete das Betttuch. Sir Orlando trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Bei Christi Blut! Der Kopf ... wo ist der Kopf?«
Er spürte, dass er bleich geworden war. Entsetzt starrte er auf die enthauptete Leiche, die in ein dunkles bürgerliches Gewand gekleidet war. Nun verstand er auch, weshalb Charles gesagt hatte, es würde schwierig werden, den Namen des Toten zu ermitteln. Ohne Kopf ... ohne Gesicht war es tatsächlich so gut wie unmöglich, herauszufinden, wer er war und weshalb man ihn getötet hatte.
Trelawney schmeckte bitteren Gallensaft auf der Zunge und bemühte sich, den Brechreiz zu überwinden. Ein paar Mal atmete er tief durch, dann sank er in die Hocke, um die Leiche näher zu begutachten. Die rechte Hand des Toten wies Verbrennungen an den Fingern auf. Sir Orlando hob sie an und betrachtete sie. Die Haut war verkohlt und glänzte im Schein der auf dem Boden stehenden Funzel. An den Handgelenken waren Striemen zu sehen. Das Wams des Leichnams zeigte an mehreren Stellen dunkle Flecken und Risse.
»Zieht ihm die Kleider aus«, befahl der Richter.
»Mylord?«
»Da ich weder den Leichenbeschauer noch einen Wundarzt zu Rate ziehen kann, muss ich mich selbst an die Untersuchung des Opfers machen.«
Wie gerne hätte Trelawney diese Aufgabe seinem Freund überlassen, der als ehemaliger Feldscher weitaus mehr Erfahrung mit Wunden hatte als er. Doch Sir Orlando hatte Fauconer mehrere Male bei der Untersuchung einer Leiche zugesehen und hoffte, dass es ihm gelingen würde, dessen Methoden anzuwenden.
Murrend machte sich der Soldat daran, die Kleider zu entfernen. Dabei fiel Sir Orlando auf, dass die Totenstarre noch nicht eingesetzt hatte. Das Opfer konnte also noch nicht allzu lange tot sein, ein paar Stunden vielleicht.
Nacheinander durchsuchte der Richter das Wams, die Kniehosen, das Hemd des Toten, fand jedoch nichts.
»Merkwürdig! Er hat nichts bei sich, nicht das Geringste. Niemand geht ohne ein paar Münzen aus dem Haus. Man muss ihn beraubt haben.«
Sir Orlando zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die Hände ab, die von der Berührung mit den Kleidern blutbeschmiert waren. Als der Körper nackt vor ihm lag, waren die Wunden mühelos zu erkennen. Es waren drei: eine in der linken Schulter, eine in der rechten Flanke und eine im Unterbauch. Vermutlich war Letztere tödlich gewesen. Trelawney überlegte, was sie verursacht haben könnte: ein Dolch, ein Stilett?
»Ich brauche Euren Degen«, sagte er.
Widerspruchslos zog der Gardist die Waffe aus der Scheide und reichte sie Sir Orlando mit dem Griff zuerst. Der Richter ließ die Spitze der Klinge in die Bauchwunde gleiten. Sie passte!
»Also ein Degen«, murmelte er, überrascht von seinem eigenen Einfallsreichtum. Fauconer wäre sicher stolz auf ihn.
Trelawney wiederholte das Experiment an der Schulterwunde und stellte fest, dass die Klinge kaum einen Zoll durch die Muskeln glitt, bevor sie auf ein Hindernis stieß. Auch klafften die Wundränder weiter auseinander, als sei die Degenklinge im Fleisch gedreht worden. Betroffen reichte er dem Gardisten die Waffe zurück.
»Die Verletzung an der Schulter wurde dem Mann nicht zugefügt, um ihn zu töten, sondern um ihm Schmerz zuzufügen. Man hat seine Hand ins Feuer gehalten und ihn mit Degenstichen durchbohrt.« Trelawneys Gesicht verzerrte sich vor Abscheu. »Jemand hat den Unglücklichen erbarmungslos gefoltert! «
Zorn stieg in Sir Orlando auf und versengte ihm die Kehle. Grausamkeit hatte ihn von jeher krank gemacht. Als Richter ging er rücksichtslos gegen Verbrecher vor, die anderen Menschen ohne Mitleid Schaden zufügten. In diesem Fall ahnte er jedoch, dass es schwierig werden würde, den Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Energisch zwang sich Trelawney zur Ruhe und beugte sich erneut über den Leichnam. Er wollte sicher sein, dass ihm nichts Wichtiges entging. An den Fußgelenken fanden sich ebenfalls Striemen. Man hatte das Opfer also gefesselt, bevor man es gequält hatte. Vielleicht war es über längere Zeit festgehalten worden.
An den Armen waren Blutergüsse zu erkennen. Trelawney legte seine Hand um den rechten Oberarm des Toten und bemerkte, dass seine Finger und die dunklen Male deckungsgleich waren. Man hatte den Unbekannten also roh an den Armen gepackt. Vermutlich hatte man ihn überfallen, entführt und anschließend gefesselt irgendwo gefangen gehalten. Hatte man ihn zwingen wollen, etwas preiszugeben, was nur er wusste? Und hatte er das Geheimnis verraten, oder war er standhaft geblieben? Angesichts der Wunden konnte Sir Orlando sich die zweite Möglichkeit kaum vorstellen. Der Unglückliche musste Höllenqualen gelitten haben. Auch war zu bezweifeln, dass der Stich in den Bauch sofort tödlich gewesen war. Wunden wie diese verursachten furchtbare Schmerzen. Der Verletzte siechte mitunter über Stunden dahin, bevor er starb. Was hatte dieser Mann getan, dass man ihm solche Grausamkeiten zugefügt hatte?
Trelawney stutzte, als er an der Innenseite des rechten Unterarms eine gelbliche Verfärbung entdeckte, die ihm bisher nicht aufgefallen war. Dies war kein Bluterguss und auch keine Brandwunde. Sir Orlando strich behutsam mit der Fingerspitze darüber. Die Haut fühlte sich vernarbt an. Eine alte Wunde? Vielleicht fand sich hier der einzige Hinweis, der ihm helfen könnte, den Namen des Toten herauszufi nden.
»Wenn Ihr mit Eurer Untersuchung fertig seid, Mylord, bringe ich die Leiche weg«, bemerkte der Gardist, dem das Warten zu lang wurde.
»Wohin?«, fragte Trelawney.
»Seine Majestät sagte, ich soll sie verschwinden lassen. Also werfe ich sie in die Themse.«
Der Richter sah den Soldaten missbilligend an. »Diese arme Kreatur hat ein ordentliches Grab verdient. Schlagt ihn wieder in das Laken und bringt ihn zu meiner Kutsche. Der Pfarrer meines Kirchspiels wird ihn auf meine Bitte hin heimlich begraben.«
»Wie Ihr wünscht, Mylord.«
Zweites Kapitel
Die Ruder tauchten in regelmäßigen Abständen in das ruhig fließende Wasser der Themse. Sir Orlandos Kammerdiener Malory zog den Umhang enger um seinen Körper, doch es half nichts. Die Kälte stieg von den Fluten auf und kroch unbarmherzig in seine Glieder.
»Wollt Ihr unter der Brücke hindurchschießen?«, fragte der Fährmann, der das Boot ruderte.
»Nein, lasst mich am ›Alten Schwan‹ aussteigen.«
»Aber die Stufen sind noch nicht wieder repariert, seit das große Feuer sie zerstört hat. Es gibt nur einen vorläufigen Landungssteg. «
»Das wird schon gehen«, antwortete Malory mit klappernden Zähnen.
Als das Boot angelegt hatte, bezahlte der Kammerdiener den Flussschiffer, bat ihn aber, auf seine Rückkehr zu warten. »Ich fahre gleich wieder zur Anlegestelle des Temple zurück.«
»Meinetwegen«, brummte der Fährmann. »Aber beeilt Euch.«
Malory nahm seine Laterne und hastete an der ausgebrannten Schenke vorbei. Zu seiner Linken breiteten sich die Trümmer der Stadt London aus, die ein verheerender Brand vor nun sechs Monaten dem Erdboden gleichgemacht hatte. Zwar waren die Straßen inzwischen vom Schutt befreit worden und auch wieder mit der Kutsche befahrbar, doch der Wiederaufbau kam nur schleppend in Gang. Malory beeilte sich, das verwüstete Gelände hinter sich zu lassen, denn dort wimmelte es von Diebesgesindel und Raubmördern. Jede Nacht kam es zu Übergriffen auf unvorsichtige Passanten oder auf die mittellosen Leute, die sich in den Trümmern der Häuser eingerichtet hatten. Der Kammerdiener war erleichtert, als er die ausgebrannte Hülle von St. Magnus the Martyr hinter sich gelassen hatte und die Brücke betrat. Auch hier hatte das Feuer den nördlichen Häuserblock vernichtet. Stattdessen war zu beiden Seiten ein Lattenzaun errichtet worden, der Fußgänger davor schützen sollte, bei Sturm in die Themse gerissen zu werden. Der Rest der Brücke bis zum Südufer trug noch immer die jahrhundertealten Holzbauten, die sich an manchen Stellen über der Straße trafen, eine Bauweise, die den Bewohnern einen zusätzlichen Raum bescherte.
Malory atmete auf, als er das nördlichste Gebäude, das Kapellenhaus, erreichte. Vor dem Haus schräg gegenüber auf der Westseite blieb er stehen. Über der Tür knarrte an einem schmiedeeisernen Arm ein Holzschild, auf dem ein Zuckerhut dargestellt war. Daneben war eine rot-weiß gestreifte Stange angebracht, an deren Ende eine Aderlassschale hing, das Zunftzeichen der Wundärzte.
Malory klopfte vernehmlich an die Tür. Die Fensterläden waren geschlossen und die Bewohner bereits im Bett, doch es dauerte nicht lange, bis dem Besucher geöffnet wurde. Ein Junge von fünfzehn Jahren steckte seinen blonden Schopf durch den Türspalt und musterte den Ankömmling neugierig. Da er Malory kannte, ließ er ihn ohne Zögern eintreten.
»Ich möchte mit Dr. Fauconer sprechen«, bat der Kammerdiener.
»Ich hole ihn.«
Malory sah dem Knaben nach, der im Nachthemd und mit nackten Füßen die Stiege hinaufeilte. Kurz darauf kehrte er mit Dr. Fauconer zurück.
»Malory, ist etwas passiert?«, fragte dieser besorgt.
»Seine Lordschaft ist soeben vom König nach Whitehall gerufen worden. Und er weiß nicht, wie lange er dort festgehalten wird.«
»Ich verstehe. Er möchte seine Gemahlin in ihrem Zustand nicht so lange allein lassen. Warte hier, ich ziehe mich nur rasch an.« Der Arzt stieg wieder in den zweiten Stock hinauf, wo sich die Schlafkammern befanden.
»Was ist los, Jeremy?«, fragte der Wundarzt Alan Ridgeway, der an der Tür zu seinem Gemach stand.
Sein Freund machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Nichts, was Euch Sorge bereiten sollte. Seine Lordschaft wurde an den Hof beordert und möchte, dass ich so lange über seine Gemahlin wache.«
Alan lächelte ironisch. »Der alte Knabe macht einen ganz schönen Aufstand um seinen zukünftigen Stammhalter.«
»Ich habe Verständnis für seine Ängste. Er hat mehrere Kinder noch im Säuglingsalter verloren, und er gibt sich die Schuld am Tod seiner ersten Frau. Sollte seinem Kind oder - Gott bewahre - seiner Gemahlin etwas zustoßen, brächte ihn das wahrscheinlich um den Verstand. Deshalb muss ich alles tun, was in meiner Macht steht, damit es diesmal gutgeht.«
»Soll ich mitkommen?«, erbot sich der Wundarzt.
»Nein, das wird nicht nötig sein. Mylady Trelawneys Zeit ist noch nicht gekommen. Ich möchte nur sehen, wie es ihr geht.«
Jeremy Blackshaw, der unter dem Namen Fauconer auftrat, um seine Familie vor den möglichen Folgen seiner verbotenen Tätigkeit zu schützen, warf sich rasch seine Kleider über und verließ mit Malory das Haus. Der Fährmann hatte geduldig gewartet und ruderte sie nun stromaufwärts, entlang des vom Brand zerstörten Uferstreifens, vorbei an den Ruinen von Coldharbour, des Stahlhofs und von Baynard's Castle. Die völlige Vernichtung des alten Stadtkerns hatte einige enthusiastische Architekten dazu angeregt, Vorschläge für eine grundlegend neue Straßenplanung vorzulegen. Kluge Köpfe wie Christopher Wren, John Evelyn und Robert Hooke hatten die Vision von einer Stadt mit großen, geräumigen Plätzen, von denen strahlenförmig breite Straßen ausgingen, die die verwinkelten Gassen der vergangenen Jahrhunderte ablösen sollten. Doch die kühnen Pläne scheiterten an den unentwirrbaren Grundbesitzverhältnissen. Und so blieb letztlich alles beim Alten. Die Gassen sollten in ihrem ursprünglichen Verlauf übernommen, wenn auch verbreitert und gepflastert werden. Noch beriet das Parlament über das »Gesetz zum Wiederaufbau der Stadt London«, doch man ging davon aus, dass es vor Ende des Monats verabschiedet würde. Dann konnten die Arbeiten endlich beginnen.
Das Boot legte an den Temple-Stufen an. Malory bezahlte den Fährmann und reichte seinem Begleiter die Hand, um ihm beim Aussteigen zu helfen. Es war nicht weit bis zum Haus des Richters auf der Chancery Lane. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, schloss Malory die Dienstbotentür auf und schlüpfte, gefolgt von Jeremy, hinein.
»Soll ich Euch heißen Würzwein oder Warmbier bringen, Doktor? «, erbot sich der Kammerdiener. »Es ist ganz hübsch kalt draußen.«
Jeremy hätte Tee vorgezogen, doch das exotische Getränk, das er als Missionar in Indien kennengelernt hatte, war in England noch nicht sehr verbreitet. Eigentlich hatte nur die Königin, die aus Portugal stammte, eine Schwäche dafür.
»Heißer Würzwein würde mir jetzt guttun, danke«, entschied sich Jeremy.
Während der Kammerdiener in der Küche zurückblieb, machte sich der Arzt mit einer Kerze allein auf den Weg zu seiner Patientin. Lady Trelawney lag im Bett, schlief aber nicht. Als Jeremy in der Tür erschien, bat sie ihn lächelnd herein. Er setzte sich auf einen gepolsterten Stuhl und betrachtete die zierliche junge Frau, die in dem großen massiven Baldachinbett fast verloren wirkte. Wie viele Möbelstücke war auch dieses Bett mit seinen aufwendigen Schnitzereien und Marketeriearbeiten eine Kostbarkeit, die von Generation zu Generation weitervererbt wurde. Es war fast hundert Jahre alt und hatte einst der Familie von Richter Trelawneys Mutter gehört. Er hatte es von seinem Großvater John Langham geerbt, weshalb es als Langham-Bett bezeichnet wurde. Phantastische Gestalten der griechischen Mythologie sahen von dem Kopfbrett und den Pfosten auf den Betrachter herab. Die ursprünglich roten Bettvorhänge waren durch grüne ersetzt worden, die auf den Ton von Lady Trelawneys Augen abgestimmt waren. Die Eheleute hatten ihre Hochzeitsnacht in diesem Bett verbracht, als es noch in Sir Orlandos Landsitz Oakleigh Hall gestanden hatte. Auf Bitten seiner Gattin hatte er es in sein Haus auf der Chancery Lane bringen lassen, da sie aufgrund von Trelawneys vielen Verpflichtungen das Landhaus nur selten aufsuchen konnten.
Janes schmales Gesicht verschwand beinahe in den dicken Federkissen, auf denen ihr Kopf ruhte. Mit Jeremys Hilfe richtete sie sich nun vorsichtig auf.
»Es ist sehr freundlich von Euch, mir Gesellschaft zu leisten, Pater «, sagte sie dankbar. Da sie allein waren, konnte sie es wagen, ihn als Priester anzusprechen. Lange kannte sie sein Geheimnis noch nicht. Vor einem halben Jahr, während des verheerenden Brandes, hatte sie durch Zufall erfahren, dass der beste Freund ihres Gemahls Jesuit war und dass Orlando trotz der Gesetze, die alle katholischen Priester in England zu Freiwild machten, seine schützende Hand über ihn hielt. Dadurch war ihr Gatte nur noch mehr in ihrer Achtung gestiegen.
»Es tut mir leid, dass Ihr meinetwegen um den Schlaf gebracht werdet«, entschuldigte sich Jane. »Aber es hätte keinen Sinn gehabt, Orlando zu widersprechen, als er nach Euch schicken wollte.«
Jeremy machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bin gerne gekommen, und sei es nur, damit er beruhigt ist. Es kann auch für Euch nicht einfach sein.«
Sie nickte ernst. »Ich fühle mich gesund, und ich fürchte mich auch nicht sehr vor der Niederkunft, aber wenn er mich so ängstlich umsorgt, dann wird mir auch ein wenig bang. Wenn er nun recht behalten sollte!«
Jeremy nahm beruhigend ihre schmale weiße Hand. »Ich weiß, er macht es Euch nicht leicht. Aber lasst Euch von seiner Sorge nicht anstecken. Ihr müsst doppelt stark sein, für Euch und für ihn. Dabei werde ich Euch, so gut ich kann, beistehen.«
»Ich wünschte, es wäre schon vorbei«, murmelte Jane, während sie eine Strähne ihres weißblonden Haares zurückstrich, die der Nachthaube entschlüpft war.
Malory erschien in der Tür und reichte dem Besucher einen Becher heißen Würzwein, an dem dieser seine noch immer klammen Finger wärmte. Jane lächelte verständnisvoll. Im Gegensatz zu ihrem sanguinischen Gatten wirkte Dr. Fauconer mit seinem hageren Gesicht, der knochigen Habichtsnase, den dünnen Lippen, dem energischen spitzen Kinn und der großen mageren Gestalt wie ein Asket, den man sich gut in Mönchskutte in einer kahlen Klosterzelle vorstellen konnte. Er war Ende dreißig. Der Blick seiner grauen Augen war scharf und durchdringend, konnte aber so sanft und gütig sein, dass man ihm ohne Zögern Vertrauen schenkte. So erging es auch Jane. Als sich die bleichen Wangen des Jesuiten unter Einwirkung des Weins zu röten begannen, fasste sie sich ein Herz und fragte scheu: »Glaubt Ihr, die heilige Mutter Gottes würde mich erhören, wenn ich sie um Beistand bäte?«
Jeremys Überraschung war nicht geheuchelt. Neugierig sah er sie an. »Natürlich würde sie das, Madam.«
Jane senkte den Blick auf ihre ineinander verflochtenen Finger.
»Orlando würde es vermutlich töricht finden, aber es fällt mir leichter, mich mit meinen Sorgen an die Mutter Maria zu wenden, auch wenn unsere Priester sagen, dass man seine Gebete an Gott den Herrn richten soll. Die Hebamme, die Ihr mir schicktet, Madame Farge, sagte, dass Eurem Glauben nach Frauen im Kindbett die Märtyrerinnen Barbara und Agathe und den heiligen Leonhard als Fürsprecher anrufen, damit das Kind gesund zur Welt kommt. Meine Urgroßmutter hat sich noch ihres Beistands versichert. Sie muss sich weniger allein gefühlt haben als ich.« Jane sah ihr Gegenüber unsicher an. »Ich weiß nicht, warum ich so empfinde, aber ich habe das Bedürfnis, meine Ängste und Sorgen den alten Heiligen anzuvertrauen. Gott ist so vollkommen und so fern.«
»Aber er ist auch barmherzig, Madam«, erinnerte Jeremy sie.
»Würdet Ihr mir von der Mutter Gottes und den Heiligen erzählen, Pater?«, bat Jane.
»Natürlich, wenn Ihr das wünscht.«
Sie lächelte ihm zu, dankbar und beruhigt.
»Seit ich weiß, dass Ihr Priester seid, frage ich mich, warum Ihr dieses gefährliche Leben führt«, gestand sie. »Die alten Gesetze sind doch nie abgeschafft worden. Man könnte Euch wegen Hochverrats hinrichten, nur weil Ihr katholischer Priester seid. Ihr setzt mit Eurer Anwesenheit in diesem Land Euer Leben aufs Spiel, Pater.«
»Da habt Ihr zweifellos recht, Madam. Aber ich bin nun einmal Engländer. Nach langen Jahren des Exils hatte ich den Wunsch, in meine Heimat zurückzukehren, auch wenn ich den meisten meiner Landsleute nicht willkommen bin. Einzig die Autorität des Königs, der nicht an der Treue seiner katholischen Untertanen zweifelt, schützt mich.«
»Ich habe nie verstanden, weshalb Seine Majestät die Strafgesetze nicht abschafft.«
»Weil er sich gegen die antikatholischen Einflüsse im Parlament nicht durchsetzen kann. Vor kurzem erst hat ein parlamentarisches Komitee eine Petition an den König gerichtet, in der die Verbannung aller ›papistischen Priester und Jesuiten‹ verlangt wird. Seine Majestät hat zugestimmt, um das Komitee zu beruhigen, auch wenn er eine solche Maßnahme nicht billigt. Er braucht Geld, um regieren und Krieg führen zu können, Geld, das nur das Parlament ihm bewilligen kann.« Er lächelte bitter. »Es heißt, dass die Musiker des Königs hungers sterben, weil Seine Majestät ihnen seit der Thronbesteigung vor sieben Jahren den Lohn schuldig geblieben ist. Und kürzlich habe der Bewahrer der Ratsprotokolle erklärt, er sei nicht mehr in der Lage, dem König Papier für die Ratssitzungen zur Verfügung zu stellen, da sein Privatvermögen aufgebraucht sei und er nie einen Penny als Ausgleich für seine Ausgaben bekommen habe.«
Janes Augen wurden groß. »Aber das ist doch nicht möglich. Steht es tatsächlich so schlimm?«
»Ich fürchte ja.«
»Mein Gatte erzählt mir nie solche Dinge«, murmelte sie bedauernd. »Er denkt wohl, eine Frau sollte sich nicht mit Staatsproblemen beschäftigen.«
»Er möchte nicht, dass Ihr Euch Sorgen macht«, sagte Jeremy in dem Versuch, seinen Freund zu entschuldigen.
Jane nickte schwach. »Ich weiß.« Sie schluckte ihre Enttäuschung hinunter und hob den Blick zu dem hageren Gesicht ihres Gegenübers. »Wisst Ihr diese Einzelheiten von Mylady St. Clair?«
»Ja«, gestand der Priester lächelnd. »Sie hält mich über den Hofklatsch auf dem Laufenden, ob ich ihn hören möchte oder nicht.«
»Sie ist Euer Beichtkind, nicht wahr?«, fragte Jane.
»Ja.«
»Es ist sicher nicht leicht, der Beichtvater einer Mätresse des Königs zu sein.«
Der Jesuit verdrehte vielsagend die Augen. »Das ist es tatsächlich nicht. Aber es war ihr Wunsch, und ich konnte es ihr nicht abschlagen. Wir kennen uns, seit sie ein Kind war. Ich war für eine Weile ein Vaterersatz für sie, nachdem ihr leiblicher Vater in der Schlacht von Worcester umgekommen war. Ihre Mutter hatte sie schon einige Jahre zuvor verloren.«
»Man hört so viel Anrüchiges über die Damen des Hofes. Aber Mylady St. Clair scheint mir ein offener und herzlicher Mensch zu sein.«
»Ihr würdet sie mögen, Madam«, bestätigte Jeremy.
Jane verzog mit einem Mal das Gesicht und stemmte die Hände in die Matratze, auf der Suche nach einer bequemeren Stellung. Fürsorglich erhob sich der Priester und schüttelte ihr die Kissen zurecht.
»Habt Ihr Rückenschmerzen, Madam?« »Ein wenig. Das Kind ist manchmal recht unruhig. Die Hebamme sagt, es wird vermutlich ein Junge, weil meine rechte Brust stärker geschwollen ist als die linke.«
Sie sah ihn lächeln. »Ihr glaubt nicht an solche Voraussagen, Pater? «
»Nun, Männer sind im Allgemeinen warm und trocken, Frauen aber kalt und feucht. Daher macht die Vermutung, dass ein Knabe auf der rechten Seite des Uterus, nahe der blutkochenden und Wärme spendenden Leber heranreift, und ein Mädchen auf der linken Seite, die der kühleren Milz zugewandt ist, schon Sinn. Dennoch glaube ich nicht, dass sich der Plan Gottes so leicht durchschauen lässt. Lasst Euch überraschen, Madam. Auch wenn Sir Orlando sich sehnlichst einen Erben wünscht, würde er eine Tochter doch ebenso lieben.«
Ein leises Geräusch verriet, dass das Hauptportal geöffnet wurde. Die Schwangere und der Priester verstummten und lauschten den Schritten, die sich die Treppe herauf näherten. Kurz darauf stand Sir Orlando Trelawney in der Tür des Schlafgemachs. Jeremy, der sich von seinem Stuhl erhoben hatte, bemerkte trotz des kümmerlichen Lichts, dass das Gesicht des Richters blass und besorgt wirkte.
»Mylord, ist alles in Ordnung?«
Sir Orlandos Blick begegnete dem seines Freundes. Wie gern hätte er das bedrückende Erlebnis der letzten Stunden mit ihm geteilt und seinen Rat eingeholt. Ärgerlich presste er die Lippen aufeinander, als er an die Worte des Königs dachte, die ihm diese Erleichterung versagten. Der Grund für das Verbot blieb ihm ein Rätsel. Seine Majestät kannte Dr. Fauconer und wusste, dass dieser alles andere als eine Klatschbase war. Das Geheimnis wäre bei ihm sicher aufgehoben. Für einen Moment verspürte Trelawney den Drang, sich über den Befehl des Königs hinwegzusetzen und Fauconer ins Vertrauen zu ziehen, doch sein Pflichtbewusstsein hinderte ihn schließlich daran.
Als der Richter seinen Freund begrüßte, spürte Jeremy dessen Unbehagen. Aufmerksam studierte der Priester Sir Orlandos Gesicht mit den wohlgeformten fleischigen Zügen, die seine vierundvierzig Jahre kaum verrieten. Seine blauen Augen blickten ernst, die Lippen waren voll und sinnlich, das hellblonde Haar verschwand ganz unter der gelockten Perücke, deren Farbe auf die dichten blonden Augenbrauen abgestimmt war. Er war ein gutaussehender Mann von hohem, schlankem Wuchs, der keine Verantwortung scheute, dem aber nur selten ein Lachen über die Lippen kam. Nie hatte es einen Zweifel an seiner Redlichkeit gegeben, ein Umstand, der sicherlich Anteil an seinem raschen Aufstieg zum Richter des Königlichen Gerichtshofs gehabt hatte.
»Weshalb hat Seine Majestät Euch rufen lassen, Mylord?«, fragte Jeremy, der seine Neugier nicht länger bezähmen konnte.
»Es gibt ein Problem bei Hof. Der König wünscht allerdings, dass über die Sache Stillschweigen bewahrt wird«, antwortete Sir Orlando ausweichend.
Jeremy gab sich zufrieden. »Ich verstehe.«
Der Richter bemühte sich, das Thema rasch zu beenden. »Wie geht es meiner Frau?«
»Es geht ihr gut. Aber nun solltet Ihr Eurer Gemahlin noch etwas Ruhe gönnen.«
»Das werde ich. Vielen Dank, dass Ihr über sie gewacht habt«, sagte Trelawney, und seine Stimme wurde wieder herzlich.
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Das leichte Kratzen von Fingernägeln an der Tür riss ihn aus seinen Gedanken. »Jetzt nicht!«, rief er gereizt. Die Tür öffnete sich, und der Kammerdiener William Chiffinch trat, den Befehl seines Herrn missachtend, ein.
»Verzeiht, Euer Majestät, aber es ist etwas Schreckliches geschehen! «
»Was ist so wichtig, dass du mich zu dieser Stunde noch stören musst?«
»Ein Mord, Euer Majestät! Man hat im Palast eine Leiche gefunden. «
Der Tote war mit einem eilig herbeigeholten Bettlaken zugedeckt worden. König Charles II. gab Chiffinch ein Zeichen, das Laken anzuheben. Wortlos betrachtete er den übel zugerichteten Leichnam, dann nickte er und wandte sich ab.
»Wer hat ihn gefunden?«
Sein Bruder James, Herzog von York, antwortete mit gepresster Stimme: »Eine der Wachen. Er kam sofort zu mir.«
»Hat sonst noch jemand den Toten gesehen?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Er kann hier nicht liegenbleiben. Bringt ihn in einen unbenutzten Raum und bewacht die Tür«, befahl Charles dem Gardisten, der die Leiche gefunden hatte. »Niemand darf erfahren, dass es im Palast einen Mord gegeben hat. Die Königin und die Hofdamen würden sich nur ängstigen.«
»Gleichwohl muss der Mörder überführt werden«, mahnte James.
Sein Bruder nickte zustimmend. »Ich werde die Ermittlungen jemandem überlassen, der absolut vertrauenswürdig ist.«
»Wem?«
»Sir Orlando Trelawney.«
James hatte keine Einwände.
Der König blickte ihn eindringlich an. »Geh zu Bett! Ich kümmere mich um alles.«
Charles wartete, bis sich sein Bruder entfernt hatte. Dann wandte er sich an seinen Kammerdiener, der zusammen mit dem Gardisten den Leichnam in das Laken wickelte.
»Chiffinch, für dich habe ich eine besondere Aufgabe.«
Der Geruch der eben gelöschten Kerze hing noch in der Luft. Sir Orlando Trelawney, Richter des Königlichen Gerichtshofs, schmiegte seine Wange an die duftende Haut seiner Frau Jane und lauschte ihren gleichmäßigen Atemzügen. Nach dem Nachtmahl hatte sie sich nicht recht wohl gefühlt, doch nun schlief sie so ruhig, als gäbe es keine Sorgen auf der Welt. Darum beneidete er sie. Je weiter die Zeit fortschritt, desto schwieriger wurde es für ihn, einzuschlafen. Zuweilen lag er noch lange wach, so wie an diesem Abend, und betrachtete ihr schmales Gesicht, das so zerbrechlich wirkte und so gar nicht zu den schwellenden Brüsten und dem prallen Leib passen mochte. Seit dem Moment, da sie ihm gestanden hatte, dass sie schwanger war, lebte er in der ständigen Furcht, dass ihr oder dem Kind etwas zustoßen könnte. Seine erste Gemahlin war nach einer Fehlgeburt gestorben, und er gab sich die alleinige Schuld daran. Sein sehnlicher Wunsch, Kinder zu haben, hatte seine arme Beth frühzeitig ins Grab gebracht. Er wollte auf keinen Fall erleben, dass es Jane ebenso erging. Ängstlich beobachtete er sie, ob sie wohlauf war, fragte sie immerzu nach ihrem Befinden und umsorgte sie wie eine Glucke ihr Küken. Einmal die Woche schickte er nach seinem Freund Dr. Fauconer, damit er Jane untersuchte und Sir Orlando bestätigte, dass alles in Ordnung war. Dann erst gelang es dem Richter, ein wenig gelöster zu schlafen, denn er hatte uneingeschränktes Vertrauen in die Fähigkeiten des Arztes. Immerhin hatte dieser ihn einst von einer schweren Krankheit geheilt, als er von anderen Ärzten bereits verloren gegeben worden war. Wenn jemand sein Kind gesund auf die Welt bringen konnte, dann Dr. Fauconer! Sir Orlando verband eine außergewöhnliche Freundschaft mit diesem Mann, der nicht nur Arzt und Gelehrter, sondern auch katholischer Priester und Jesuit war. Da im protestantischen England die Ausübung des römischen Glaubens verboten war, arbeiteten die Priester, denen dem Gesetz nach die Todesstrafe drohte, unter falschem Namen im Verborgenen und hielten die heilige Messe für ihre Gläubigen in Privathäusern ab. So war auch Fauconer nicht der richtige Name seines Freundes. Manchmal erschien es dem Richter seltsam, dass er nicht wusste, wie der Mensch, dem er am meisten vertraute, in Wirklichkeit hieß, doch es war ihm nie wichtig gewesen.
Der langersehnte Schlaf begann Sir Orlando Trelawney endlich einzuhüllen, als ein Geräusch ihn hochfahren ließ. Jemand hämmerte unten an das Hauptportal. Sofort war der Richter hellwach. Wenn jemand zu dieser späten Stunde Einlass begehrte, musste es sich um etwas Wichtiges handeln. Vorsichtig erhob er sich aus dem Bett, bemüht, seine Gemahlin nicht zu wecken, doch da öffnete Jane auch schon die Augen.
»Wohin geht Ihr?«, fragte sie verschlafen.
»Da ist jemand an der Tür. Ich muss nachsehen, was er will.«
Er verzichtete darauf, die Kerze anzuzünden, und tastete im Dunkeln nach seinem Schlafrock. In diesem Moment wurde an der Tür zum Gemach gekratzt, und der Kammerdiener des Richters sah herein.
»Was gibt es, Malory?«
»Ein Bote des Königs ist gekommen, Mylord. Seine Majestät wünscht Euch zu sprechen.«
»Gut, sag ihm, ich bin gleich da. Und dann hilf mir beim Ankleiden. «
Der Diener nickte und verschwand.
»Was mag der König um diese Zeit von Euch wollen?«, fragte Jane verwundert.
»Ich hoffe, es handelt sich nicht um eine Staatskrise.«
»Ob die Holländer gelandet sind?«
Sir Orlando setzte sich auf die Bettkante und nahm die Hand seiner Frau, um sie zu beruhigen. »Selbst wenn es so wäre, bräuchtet Ihr keine Angst zu haben, meine Liebste.«
»Wann wird der König diesen unseligen Krieg endlich beenden? Wie sollen wir uns auf Dauer zweier so mächtiger Gegner wie Frankreich und Holland erwehren?«
»Macht Euch darüber keine Gedanken. Ihr dürft Euch in Eurem Zustand nicht aufregen. Überlasst die Sorge über den Krieg den Staatsdienern.«
Sir Orlando streichelte zärtlich ihre Wange. »Ich weiß nicht, wie lange ich wegbleiben muss. Ich werde nach Dr. Fauconer schicken, damit Ihr nicht allein bleibt.«
Sie lächelte, was er in der Dunkelheit nur erahnen konnte. »Glaubt mir, es geht mir gut. Ein paar Wochen wird es noch dauern, bis meine Zeit kommt.«
Er erhob sich vom Bett. »Ich bestehe darauf, meine Liebe. Vor ein paar Stunden habt Ihr noch über Unwohlsein geklagt. Und ich habe keine Ahnung, welchen Auftrag Seine Majestät für mich hat. Vielleicht zieht sich die Angelegenheit bis in den morgigen Tag hinein. Versteht doch, ich fühle mich einfach wohler, wenn ich Euch in guten Händen weiß.«
Sie hütete sich davor, ihm zu widersprechen, denn sie kannte seine Ängste. Als Malory erschien, zog sich der Richter mit dem Kammerdiener in den Ankleideraum nebenan zurück.
Wenig später rumpelte Sir Orlando Trelawneys Kutsche den Strand entlang, die Verbindungsstraße zwischen London und Westminster, vorbei an den Palästen des Adels aus dem vergangenen Jahrhundert, deren Gärten sich bis ans Ufer der Themse zogen. Nicht alle Hausbesitzer kamen ihrer Bürgerpfl icht nach und hängten von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang eine Lampe über ihre Tür, und so war es nach Einbruch der Dunkelheit in den Straßen von London recht düster. Die Kutsche des Richters war mit zwei Laternen ausgestattet, und in mondlosen Nächten wie dieser ging gewöhnlich ein Lakai mit einer Fackel voraus, um dem Gefährt den Weg zu leuchten. Diese Aufgabe hatte an diesem Abend jedoch der voranreitende Gardist übernommen. Bei Charing Cross bogen sie in Richtung des Whitehall- Palastes ab. Kurz darauf lenkte der Soldat sein Pferd durch das Palast-Tor in den Großen Hof und zügelte es vor dem Küchentrakt. Sir Orlando stieg aus seiner Kutsche und folgte ihm durch eine kleine Pforte ins Innere eines Gewirrs von Korridoren, Treppen und Zimmerfluchten, aus dem der alte Palast bestand. Über die Jahrhunderte hatte man immer neue Trakte an die bestehenden Gebäude angebaut, so dass Whitehall mehr und mehr einem verschachtelten Irrgarten glich. Trelawney wusste bald nicht mehr, wo sie sich befanden, und atmete auf, als der Gardist endlich vor einer Tür stehenblieb und mit der Hand darauf wies. Sir Orlando kratzte am Rahmen und trat ein, als eine Stimme ihn dazu aufforderte. Zu seiner Überraschung fand er sich in einem kleinen Kabinett wieder, in dem einige mit Tüchern bedeckte Möbel an den Wänden aufgereiht waren. Es wurde von zwei Laternen erleuchtet. In der Mitte stand der König. Auf dem Boden neben ihm lag eine menschliche Gestalt, die in ein Laken gehüllt war.
»Ah, da seid Ihr ja, Sir Orlando«, begrüßte Charles den Ankömmling.
Der Richter verbeugte sich und trat näher. »Zu Euren Diensten, Euer Majestät.«
»Ich habe Euch kommen lassen, weil ich weiß, dass auf Eure Diskretion Verlass ist, Mylord, und weil Ihr Erfahrung mit der Aufklärung von Verbrechen habt.« Der König deutete auf die verhüllte Gestalt. »Man fand diesen Leichnam auf dem Gelände von Whitehall. Ihr wisst, was das bedeutet: eine Herausforderung an den König! Jemand hat den Frieden meines Palastes gestört und stellt damit meine Autorität als Herrscher in Frage. Ich wünsche, dass Ihr herausfindet, wer dahintersteckt. «
»Ich werde mein Bestes tun, Sire«, versicherte Trelawney. »Weiß man, wer der Tote ist?«
Charles schüttelte den Kopf. Sein Blick richtete sich nachdenklich auf die Leiche.
»Nein, Mylord. Ihr werdet feststellen, dass es nicht einfach sein wird, das herauszufinden.«
Verständnislos krauste der Richter die Stirn. Bevor er etwas entgegnen konnte, ergriff der König erneut das Wort: »Es ist unerlässlich, dass die Angelegenheit geheim bleibt, Sir Orlando. Niemand würde sich am Hof seines Monarchen mehr sicher fühlen, vor allem die Damen nicht. Ich möchte unbedingt eine Panik vermeiden. «
»Natürlich, Euer Majestät.«
Charles trat ganz nah an Trelawney heran, und seine schwarzen Augen bohrten sich in die blauen Augen des Richters.
»Ihr dürft mit niemandem über diesen Vorfall sprechen, weder mit Euren Brüdern, dem Leichenbeschauer, Euren Dienern oder Eurer Frau - und ganz besonders nicht mit Eurem Freund Dr. Fauconer!«
Über Sir Orlandos Gesicht breitete sich ein Ausdruck der Verwirrung.
»Aber, Euer Majestät, ich versichere Euch, dass Dr. Fauconer vertrauenswürdig ist.«
»Ich weiß. Dennoch wünsche ich von Euch hier und jetzt das Versprechen, dass Ihr ihm gegenüber nicht die geringste Einzelheit über diesen Mord verlauten lasst.«
Die Stimme des Königs klang scharf, unnachgiebig. Es war ein Befehl, der Gehorsam forderte. Trelawney hatte keine andere Wahl, als nachzugeben.
»Ich verspreche es, Sire.«
Doch sein Gesicht gab nur allzu deutlich die Enttäuschung preis, die er empfand. In den vergangenen Jahren hatte er sich daran gewöhnt, seinen Freund, den Arzt und Priester, zu Rate zu ziehen, wann immer er ein Problem hatte. Und er war nie enttäuscht worden. Fauconers Wissen, das dieser sich durch lange Studien und als Missionar auf Reisen in ferne Länder angeeignet hatte, schien unerschöpflich. Er liebte es, knifflige Rätsel zu lösen, und bedachte Einzelheiten, die Trelawney gar nicht in den Sinn gekommen wären. Wie sollte er diesen Mord ohne Dr. Fauconers Hilfe aufklären?
Charles riss den Richter aus seinen Gedanken. »Ich überlasse Euch nun Euren Nachforschungen, Mylord. Warren wird Euch zur Hand gehen. Er hat den Toten gefunden.« Der König deutete auf den Gardisten, der Sir Orlando hergeführt hatte. »Wenn Ihr Neuigkeiten habt, wendet Euch an Chiffinch. Er ist außer mir und Warren der Einzige, der in die Sache eingeweiht ist. Viel Glück!«
Der Richter blickte Charles nach, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Seufzend wandte er sich dem am Boden liegenden Leichnam zu.
»Wo hat man den Toten gefunden?«
»Im Großen Hof«, antwortete John Warren kurz angebunden.
»Ich möchte die Stelle sehen.«
»Da ist nichts, Mylord. Nur eine Blutlache, und die habe ich beseitigt. «
Trelawney presste ärgerlich die Lippen zusammen. Die Untersuchung des Mordes würde nicht einfach werden, wenn es keine Spuren zu deuten gab.
»Nehmt das Laken ab.«
Der Gardist beugte sich zu dem Toten hinab und lüftete das Betttuch. Sir Orlando trat unwillkürlich einen Schritt zurück.
»Bei Christi Blut! Der Kopf ... wo ist der Kopf?«
Er spürte, dass er bleich geworden war. Entsetzt starrte er auf die enthauptete Leiche, die in ein dunkles bürgerliches Gewand gekleidet war. Nun verstand er auch, weshalb Charles gesagt hatte, es würde schwierig werden, den Namen des Toten zu ermitteln. Ohne Kopf ... ohne Gesicht war es tatsächlich so gut wie unmöglich, herauszufinden, wer er war und weshalb man ihn getötet hatte.
Trelawney schmeckte bitteren Gallensaft auf der Zunge und bemühte sich, den Brechreiz zu überwinden. Ein paar Mal atmete er tief durch, dann sank er in die Hocke, um die Leiche näher zu begutachten. Die rechte Hand des Toten wies Verbrennungen an den Fingern auf. Sir Orlando hob sie an und betrachtete sie. Die Haut war verkohlt und glänzte im Schein der auf dem Boden stehenden Funzel. An den Handgelenken waren Striemen zu sehen. Das Wams des Leichnams zeigte an mehreren Stellen dunkle Flecken und Risse.
»Zieht ihm die Kleider aus«, befahl der Richter.
»Mylord?«
»Da ich weder den Leichenbeschauer noch einen Wundarzt zu Rate ziehen kann, muss ich mich selbst an die Untersuchung des Opfers machen.«
Wie gerne hätte Trelawney diese Aufgabe seinem Freund überlassen, der als ehemaliger Feldscher weitaus mehr Erfahrung mit Wunden hatte als er. Doch Sir Orlando hatte Fauconer mehrere Male bei der Untersuchung einer Leiche zugesehen und hoffte, dass es ihm gelingen würde, dessen Methoden anzuwenden.
Murrend machte sich der Soldat daran, die Kleider zu entfernen. Dabei fiel Sir Orlando auf, dass die Totenstarre noch nicht eingesetzt hatte. Das Opfer konnte also noch nicht allzu lange tot sein, ein paar Stunden vielleicht.
Nacheinander durchsuchte der Richter das Wams, die Kniehosen, das Hemd des Toten, fand jedoch nichts.
»Merkwürdig! Er hat nichts bei sich, nicht das Geringste. Niemand geht ohne ein paar Münzen aus dem Haus. Man muss ihn beraubt haben.«
Sir Orlando zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die Hände ab, die von der Berührung mit den Kleidern blutbeschmiert waren. Als der Körper nackt vor ihm lag, waren die Wunden mühelos zu erkennen. Es waren drei: eine in der linken Schulter, eine in der rechten Flanke und eine im Unterbauch. Vermutlich war Letztere tödlich gewesen. Trelawney überlegte, was sie verursacht haben könnte: ein Dolch, ein Stilett?
»Ich brauche Euren Degen«, sagte er.
Widerspruchslos zog der Gardist die Waffe aus der Scheide und reichte sie Sir Orlando mit dem Griff zuerst. Der Richter ließ die Spitze der Klinge in die Bauchwunde gleiten. Sie passte!
»Also ein Degen«, murmelte er, überrascht von seinem eigenen Einfallsreichtum. Fauconer wäre sicher stolz auf ihn.
Trelawney wiederholte das Experiment an der Schulterwunde und stellte fest, dass die Klinge kaum einen Zoll durch die Muskeln glitt, bevor sie auf ein Hindernis stieß. Auch klafften die Wundränder weiter auseinander, als sei die Degenklinge im Fleisch gedreht worden. Betroffen reichte er dem Gardisten die Waffe zurück.
»Die Verletzung an der Schulter wurde dem Mann nicht zugefügt, um ihn zu töten, sondern um ihm Schmerz zuzufügen. Man hat seine Hand ins Feuer gehalten und ihn mit Degenstichen durchbohrt.« Trelawneys Gesicht verzerrte sich vor Abscheu. »Jemand hat den Unglücklichen erbarmungslos gefoltert! «
Zorn stieg in Sir Orlando auf und versengte ihm die Kehle. Grausamkeit hatte ihn von jeher krank gemacht. Als Richter ging er rücksichtslos gegen Verbrecher vor, die anderen Menschen ohne Mitleid Schaden zufügten. In diesem Fall ahnte er jedoch, dass es schwierig werden würde, den Mörder zur Rechenschaft zu ziehen. Energisch zwang sich Trelawney zur Ruhe und beugte sich erneut über den Leichnam. Er wollte sicher sein, dass ihm nichts Wichtiges entging. An den Fußgelenken fanden sich ebenfalls Striemen. Man hatte das Opfer also gefesselt, bevor man es gequält hatte. Vielleicht war es über längere Zeit festgehalten worden.
An den Armen waren Blutergüsse zu erkennen. Trelawney legte seine Hand um den rechten Oberarm des Toten und bemerkte, dass seine Finger und die dunklen Male deckungsgleich waren. Man hatte den Unbekannten also roh an den Armen gepackt. Vermutlich hatte man ihn überfallen, entführt und anschließend gefesselt irgendwo gefangen gehalten. Hatte man ihn zwingen wollen, etwas preiszugeben, was nur er wusste? Und hatte er das Geheimnis verraten, oder war er standhaft geblieben? Angesichts der Wunden konnte Sir Orlando sich die zweite Möglichkeit kaum vorstellen. Der Unglückliche musste Höllenqualen gelitten haben. Auch war zu bezweifeln, dass der Stich in den Bauch sofort tödlich gewesen war. Wunden wie diese verursachten furchtbare Schmerzen. Der Verletzte siechte mitunter über Stunden dahin, bevor er starb. Was hatte dieser Mann getan, dass man ihm solche Grausamkeiten zugefügt hatte?
Trelawney stutzte, als er an der Innenseite des rechten Unterarms eine gelbliche Verfärbung entdeckte, die ihm bisher nicht aufgefallen war. Dies war kein Bluterguss und auch keine Brandwunde. Sir Orlando strich behutsam mit der Fingerspitze darüber. Die Haut fühlte sich vernarbt an. Eine alte Wunde? Vielleicht fand sich hier der einzige Hinweis, der ihm helfen könnte, den Namen des Toten herauszufi nden.
»Wenn Ihr mit Eurer Untersuchung fertig seid, Mylord, bringe ich die Leiche weg«, bemerkte der Gardist, dem das Warten zu lang wurde.
»Wohin?«, fragte Trelawney.
»Seine Majestät sagte, ich soll sie verschwinden lassen. Also werfe ich sie in die Themse.«
Der Richter sah den Soldaten missbilligend an. »Diese arme Kreatur hat ein ordentliches Grab verdient. Schlagt ihn wieder in das Laken und bringt ihn zu meiner Kutsche. Der Pfarrer meines Kirchspiels wird ihn auf meine Bitte hin heimlich begraben.«
»Wie Ihr wünscht, Mylord.«
Zweites Kapitel
Die Ruder tauchten in regelmäßigen Abständen in das ruhig fließende Wasser der Themse. Sir Orlandos Kammerdiener Malory zog den Umhang enger um seinen Körper, doch es half nichts. Die Kälte stieg von den Fluten auf und kroch unbarmherzig in seine Glieder.
»Wollt Ihr unter der Brücke hindurchschießen?«, fragte der Fährmann, der das Boot ruderte.
»Nein, lasst mich am ›Alten Schwan‹ aussteigen.«
»Aber die Stufen sind noch nicht wieder repariert, seit das große Feuer sie zerstört hat. Es gibt nur einen vorläufigen Landungssteg. «
»Das wird schon gehen«, antwortete Malory mit klappernden Zähnen.
Als das Boot angelegt hatte, bezahlte der Kammerdiener den Flussschiffer, bat ihn aber, auf seine Rückkehr zu warten. »Ich fahre gleich wieder zur Anlegestelle des Temple zurück.«
»Meinetwegen«, brummte der Fährmann. »Aber beeilt Euch.«
Malory nahm seine Laterne und hastete an der ausgebrannten Schenke vorbei. Zu seiner Linken breiteten sich die Trümmer der Stadt London aus, die ein verheerender Brand vor nun sechs Monaten dem Erdboden gleichgemacht hatte. Zwar waren die Straßen inzwischen vom Schutt befreit worden und auch wieder mit der Kutsche befahrbar, doch der Wiederaufbau kam nur schleppend in Gang. Malory beeilte sich, das verwüstete Gelände hinter sich zu lassen, denn dort wimmelte es von Diebesgesindel und Raubmördern. Jede Nacht kam es zu Übergriffen auf unvorsichtige Passanten oder auf die mittellosen Leute, die sich in den Trümmern der Häuser eingerichtet hatten. Der Kammerdiener war erleichtert, als er die ausgebrannte Hülle von St. Magnus the Martyr hinter sich gelassen hatte und die Brücke betrat. Auch hier hatte das Feuer den nördlichen Häuserblock vernichtet. Stattdessen war zu beiden Seiten ein Lattenzaun errichtet worden, der Fußgänger davor schützen sollte, bei Sturm in die Themse gerissen zu werden. Der Rest der Brücke bis zum Südufer trug noch immer die jahrhundertealten Holzbauten, die sich an manchen Stellen über der Straße trafen, eine Bauweise, die den Bewohnern einen zusätzlichen Raum bescherte.
Malory atmete auf, als er das nördlichste Gebäude, das Kapellenhaus, erreichte. Vor dem Haus schräg gegenüber auf der Westseite blieb er stehen. Über der Tür knarrte an einem schmiedeeisernen Arm ein Holzschild, auf dem ein Zuckerhut dargestellt war. Daneben war eine rot-weiß gestreifte Stange angebracht, an deren Ende eine Aderlassschale hing, das Zunftzeichen der Wundärzte.
Malory klopfte vernehmlich an die Tür. Die Fensterläden waren geschlossen und die Bewohner bereits im Bett, doch es dauerte nicht lange, bis dem Besucher geöffnet wurde. Ein Junge von fünfzehn Jahren steckte seinen blonden Schopf durch den Türspalt und musterte den Ankömmling neugierig. Da er Malory kannte, ließ er ihn ohne Zögern eintreten.
»Ich möchte mit Dr. Fauconer sprechen«, bat der Kammerdiener.
»Ich hole ihn.«
Malory sah dem Knaben nach, der im Nachthemd und mit nackten Füßen die Stiege hinaufeilte. Kurz darauf kehrte er mit Dr. Fauconer zurück.
»Malory, ist etwas passiert?«, fragte dieser besorgt.
»Seine Lordschaft ist soeben vom König nach Whitehall gerufen worden. Und er weiß nicht, wie lange er dort festgehalten wird.«
»Ich verstehe. Er möchte seine Gemahlin in ihrem Zustand nicht so lange allein lassen. Warte hier, ich ziehe mich nur rasch an.« Der Arzt stieg wieder in den zweiten Stock hinauf, wo sich die Schlafkammern befanden.
»Was ist los, Jeremy?«, fragte der Wundarzt Alan Ridgeway, der an der Tür zu seinem Gemach stand.
Sein Freund machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Nichts, was Euch Sorge bereiten sollte. Seine Lordschaft wurde an den Hof beordert und möchte, dass ich so lange über seine Gemahlin wache.«
Alan lächelte ironisch. »Der alte Knabe macht einen ganz schönen Aufstand um seinen zukünftigen Stammhalter.«
»Ich habe Verständnis für seine Ängste. Er hat mehrere Kinder noch im Säuglingsalter verloren, und er gibt sich die Schuld am Tod seiner ersten Frau. Sollte seinem Kind oder - Gott bewahre - seiner Gemahlin etwas zustoßen, brächte ihn das wahrscheinlich um den Verstand. Deshalb muss ich alles tun, was in meiner Macht steht, damit es diesmal gutgeht.«
»Soll ich mitkommen?«, erbot sich der Wundarzt.
»Nein, das wird nicht nötig sein. Mylady Trelawneys Zeit ist noch nicht gekommen. Ich möchte nur sehen, wie es ihr geht.«
Jeremy Blackshaw, der unter dem Namen Fauconer auftrat, um seine Familie vor den möglichen Folgen seiner verbotenen Tätigkeit zu schützen, warf sich rasch seine Kleider über und verließ mit Malory das Haus. Der Fährmann hatte geduldig gewartet und ruderte sie nun stromaufwärts, entlang des vom Brand zerstörten Uferstreifens, vorbei an den Ruinen von Coldharbour, des Stahlhofs und von Baynard's Castle. Die völlige Vernichtung des alten Stadtkerns hatte einige enthusiastische Architekten dazu angeregt, Vorschläge für eine grundlegend neue Straßenplanung vorzulegen. Kluge Köpfe wie Christopher Wren, John Evelyn und Robert Hooke hatten die Vision von einer Stadt mit großen, geräumigen Plätzen, von denen strahlenförmig breite Straßen ausgingen, die die verwinkelten Gassen der vergangenen Jahrhunderte ablösen sollten. Doch die kühnen Pläne scheiterten an den unentwirrbaren Grundbesitzverhältnissen. Und so blieb letztlich alles beim Alten. Die Gassen sollten in ihrem ursprünglichen Verlauf übernommen, wenn auch verbreitert und gepflastert werden. Noch beriet das Parlament über das »Gesetz zum Wiederaufbau der Stadt London«, doch man ging davon aus, dass es vor Ende des Monats verabschiedet würde. Dann konnten die Arbeiten endlich beginnen.
Das Boot legte an den Temple-Stufen an. Malory bezahlte den Fährmann und reichte seinem Begleiter die Hand, um ihm beim Aussteigen zu helfen. Es war nicht weit bis zum Haus des Richters auf der Chancery Lane. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, schloss Malory die Dienstbotentür auf und schlüpfte, gefolgt von Jeremy, hinein.
»Soll ich Euch heißen Würzwein oder Warmbier bringen, Doktor? «, erbot sich der Kammerdiener. »Es ist ganz hübsch kalt draußen.«
Jeremy hätte Tee vorgezogen, doch das exotische Getränk, das er als Missionar in Indien kennengelernt hatte, war in England noch nicht sehr verbreitet. Eigentlich hatte nur die Königin, die aus Portugal stammte, eine Schwäche dafür.
»Heißer Würzwein würde mir jetzt guttun, danke«, entschied sich Jeremy.
Während der Kammerdiener in der Küche zurückblieb, machte sich der Arzt mit einer Kerze allein auf den Weg zu seiner Patientin. Lady Trelawney lag im Bett, schlief aber nicht. Als Jeremy in der Tür erschien, bat sie ihn lächelnd herein. Er setzte sich auf einen gepolsterten Stuhl und betrachtete die zierliche junge Frau, die in dem großen massiven Baldachinbett fast verloren wirkte. Wie viele Möbelstücke war auch dieses Bett mit seinen aufwendigen Schnitzereien und Marketeriearbeiten eine Kostbarkeit, die von Generation zu Generation weitervererbt wurde. Es war fast hundert Jahre alt und hatte einst der Familie von Richter Trelawneys Mutter gehört. Er hatte es von seinem Großvater John Langham geerbt, weshalb es als Langham-Bett bezeichnet wurde. Phantastische Gestalten der griechischen Mythologie sahen von dem Kopfbrett und den Pfosten auf den Betrachter herab. Die ursprünglich roten Bettvorhänge waren durch grüne ersetzt worden, die auf den Ton von Lady Trelawneys Augen abgestimmt waren. Die Eheleute hatten ihre Hochzeitsnacht in diesem Bett verbracht, als es noch in Sir Orlandos Landsitz Oakleigh Hall gestanden hatte. Auf Bitten seiner Gattin hatte er es in sein Haus auf der Chancery Lane bringen lassen, da sie aufgrund von Trelawneys vielen Verpflichtungen das Landhaus nur selten aufsuchen konnten.
Janes schmales Gesicht verschwand beinahe in den dicken Federkissen, auf denen ihr Kopf ruhte. Mit Jeremys Hilfe richtete sie sich nun vorsichtig auf.
»Es ist sehr freundlich von Euch, mir Gesellschaft zu leisten, Pater «, sagte sie dankbar. Da sie allein waren, konnte sie es wagen, ihn als Priester anzusprechen. Lange kannte sie sein Geheimnis noch nicht. Vor einem halben Jahr, während des verheerenden Brandes, hatte sie durch Zufall erfahren, dass der beste Freund ihres Gemahls Jesuit war und dass Orlando trotz der Gesetze, die alle katholischen Priester in England zu Freiwild machten, seine schützende Hand über ihn hielt. Dadurch war ihr Gatte nur noch mehr in ihrer Achtung gestiegen.
»Es tut mir leid, dass Ihr meinetwegen um den Schlaf gebracht werdet«, entschuldigte sich Jane. »Aber es hätte keinen Sinn gehabt, Orlando zu widersprechen, als er nach Euch schicken wollte.«
Jeremy machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich bin gerne gekommen, und sei es nur, damit er beruhigt ist. Es kann auch für Euch nicht einfach sein.«
Sie nickte ernst. »Ich fühle mich gesund, und ich fürchte mich auch nicht sehr vor der Niederkunft, aber wenn er mich so ängstlich umsorgt, dann wird mir auch ein wenig bang. Wenn er nun recht behalten sollte!«
Jeremy nahm beruhigend ihre schmale weiße Hand. »Ich weiß, er macht es Euch nicht leicht. Aber lasst Euch von seiner Sorge nicht anstecken. Ihr müsst doppelt stark sein, für Euch und für ihn. Dabei werde ich Euch, so gut ich kann, beistehen.«
»Ich wünschte, es wäre schon vorbei«, murmelte Jane, während sie eine Strähne ihres weißblonden Haares zurückstrich, die der Nachthaube entschlüpft war.
Malory erschien in der Tür und reichte dem Besucher einen Becher heißen Würzwein, an dem dieser seine noch immer klammen Finger wärmte. Jane lächelte verständnisvoll. Im Gegensatz zu ihrem sanguinischen Gatten wirkte Dr. Fauconer mit seinem hageren Gesicht, der knochigen Habichtsnase, den dünnen Lippen, dem energischen spitzen Kinn und der großen mageren Gestalt wie ein Asket, den man sich gut in Mönchskutte in einer kahlen Klosterzelle vorstellen konnte. Er war Ende dreißig. Der Blick seiner grauen Augen war scharf und durchdringend, konnte aber so sanft und gütig sein, dass man ihm ohne Zögern Vertrauen schenkte. So erging es auch Jane. Als sich die bleichen Wangen des Jesuiten unter Einwirkung des Weins zu röten begannen, fasste sie sich ein Herz und fragte scheu: »Glaubt Ihr, die heilige Mutter Gottes würde mich erhören, wenn ich sie um Beistand bäte?«
Jeremys Überraschung war nicht geheuchelt. Neugierig sah er sie an. »Natürlich würde sie das, Madam.«
Jane senkte den Blick auf ihre ineinander verflochtenen Finger.
»Orlando würde es vermutlich töricht finden, aber es fällt mir leichter, mich mit meinen Sorgen an die Mutter Maria zu wenden, auch wenn unsere Priester sagen, dass man seine Gebete an Gott den Herrn richten soll. Die Hebamme, die Ihr mir schicktet, Madame Farge, sagte, dass Eurem Glauben nach Frauen im Kindbett die Märtyrerinnen Barbara und Agathe und den heiligen Leonhard als Fürsprecher anrufen, damit das Kind gesund zur Welt kommt. Meine Urgroßmutter hat sich noch ihres Beistands versichert. Sie muss sich weniger allein gefühlt haben als ich.« Jane sah ihr Gegenüber unsicher an. »Ich weiß nicht, warum ich so empfinde, aber ich habe das Bedürfnis, meine Ängste und Sorgen den alten Heiligen anzuvertrauen. Gott ist so vollkommen und so fern.«
»Aber er ist auch barmherzig, Madam«, erinnerte Jeremy sie.
»Würdet Ihr mir von der Mutter Gottes und den Heiligen erzählen, Pater?«, bat Jane.
»Natürlich, wenn Ihr das wünscht.«
Sie lächelte ihm zu, dankbar und beruhigt.
»Seit ich weiß, dass Ihr Priester seid, frage ich mich, warum Ihr dieses gefährliche Leben führt«, gestand sie. »Die alten Gesetze sind doch nie abgeschafft worden. Man könnte Euch wegen Hochverrats hinrichten, nur weil Ihr katholischer Priester seid. Ihr setzt mit Eurer Anwesenheit in diesem Land Euer Leben aufs Spiel, Pater.«
»Da habt Ihr zweifellos recht, Madam. Aber ich bin nun einmal Engländer. Nach langen Jahren des Exils hatte ich den Wunsch, in meine Heimat zurückzukehren, auch wenn ich den meisten meiner Landsleute nicht willkommen bin. Einzig die Autorität des Königs, der nicht an der Treue seiner katholischen Untertanen zweifelt, schützt mich.«
»Ich habe nie verstanden, weshalb Seine Majestät die Strafgesetze nicht abschafft.«
»Weil er sich gegen die antikatholischen Einflüsse im Parlament nicht durchsetzen kann. Vor kurzem erst hat ein parlamentarisches Komitee eine Petition an den König gerichtet, in der die Verbannung aller ›papistischen Priester und Jesuiten‹ verlangt wird. Seine Majestät hat zugestimmt, um das Komitee zu beruhigen, auch wenn er eine solche Maßnahme nicht billigt. Er braucht Geld, um regieren und Krieg führen zu können, Geld, das nur das Parlament ihm bewilligen kann.« Er lächelte bitter. »Es heißt, dass die Musiker des Königs hungers sterben, weil Seine Majestät ihnen seit der Thronbesteigung vor sieben Jahren den Lohn schuldig geblieben ist. Und kürzlich habe der Bewahrer der Ratsprotokolle erklärt, er sei nicht mehr in der Lage, dem König Papier für die Ratssitzungen zur Verfügung zu stellen, da sein Privatvermögen aufgebraucht sei und er nie einen Penny als Ausgleich für seine Ausgaben bekommen habe.«
Janes Augen wurden groß. »Aber das ist doch nicht möglich. Steht es tatsächlich so schlimm?«
»Ich fürchte ja.«
»Mein Gatte erzählt mir nie solche Dinge«, murmelte sie bedauernd. »Er denkt wohl, eine Frau sollte sich nicht mit Staatsproblemen beschäftigen.«
»Er möchte nicht, dass Ihr Euch Sorgen macht«, sagte Jeremy in dem Versuch, seinen Freund zu entschuldigen.
Jane nickte schwach. »Ich weiß.« Sie schluckte ihre Enttäuschung hinunter und hob den Blick zu dem hageren Gesicht ihres Gegenübers. »Wisst Ihr diese Einzelheiten von Mylady St. Clair?«
»Ja«, gestand der Priester lächelnd. »Sie hält mich über den Hofklatsch auf dem Laufenden, ob ich ihn hören möchte oder nicht.«
»Sie ist Euer Beichtkind, nicht wahr?«, fragte Jane.
»Ja.«
»Es ist sicher nicht leicht, der Beichtvater einer Mätresse des Königs zu sein.«
Der Jesuit verdrehte vielsagend die Augen. »Das ist es tatsächlich nicht. Aber es war ihr Wunsch, und ich konnte es ihr nicht abschlagen. Wir kennen uns, seit sie ein Kind war. Ich war für eine Weile ein Vaterersatz für sie, nachdem ihr leiblicher Vater in der Schlacht von Worcester umgekommen war. Ihre Mutter hatte sie schon einige Jahre zuvor verloren.«
»Man hört so viel Anrüchiges über die Damen des Hofes. Aber Mylady St. Clair scheint mir ein offener und herzlicher Mensch zu sein.«
»Ihr würdet sie mögen, Madam«, bestätigte Jeremy.
Jane verzog mit einem Mal das Gesicht und stemmte die Hände in die Matratze, auf der Suche nach einer bequemeren Stellung. Fürsorglich erhob sich der Priester und schüttelte ihr die Kissen zurecht.
»Habt Ihr Rückenschmerzen, Madam?« »Ein wenig. Das Kind ist manchmal recht unruhig. Die Hebamme sagt, es wird vermutlich ein Junge, weil meine rechte Brust stärker geschwollen ist als die linke.«
Sie sah ihn lächeln. »Ihr glaubt nicht an solche Voraussagen, Pater? «
»Nun, Männer sind im Allgemeinen warm und trocken, Frauen aber kalt und feucht. Daher macht die Vermutung, dass ein Knabe auf der rechten Seite des Uterus, nahe der blutkochenden und Wärme spendenden Leber heranreift, und ein Mädchen auf der linken Seite, die der kühleren Milz zugewandt ist, schon Sinn. Dennoch glaube ich nicht, dass sich der Plan Gottes so leicht durchschauen lässt. Lasst Euch überraschen, Madam. Auch wenn Sir Orlando sich sehnlichst einen Erben wünscht, würde er eine Tochter doch ebenso lieben.«
Ein leises Geräusch verriet, dass das Hauptportal geöffnet wurde. Die Schwangere und der Priester verstummten und lauschten den Schritten, die sich die Treppe herauf näherten. Kurz darauf stand Sir Orlando Trelawney in der Tür des Schlafgemachs. Jeremy, der sich von seinem Stuhl erhoben hatte, bemerkte trotz des kümmerlichen Lichts, dass das Gesicht des Richters blass und besorgt wirkte.
»Mylord, ist alles in Ordnung?«
Sir Orlandos Blick begegnete dem seines Freundes. Wie gern hätte er das bedrückende Erlebnis der letzten Stunden mit ihm geteilt und seinen Rat eingeholt. Ärgerlich presste er die Lippen aufeinander, als er an die Worte des Königs dachte, die ihm diese Erleichterung versagten. Der Grund für das Verbot blieb ihm ein Rätsel. Seine Majestät kannte Dr. Fauconer und wusste, dass dieser alles andere als eine Klatschbase war. Das Geheimnis wäre bei ihm sicher aufgehoben. Für einen Moment verspürte Trelawney den Drang, sich über den Befehl des Königs hinwegzusetzen und Fauconer ins Vertrauen zu ziehen, doch sein Pflichtbewusstsein hinderte ihn schließlich daran.
Als der Richter seinen Freund begrüßte, spürte Jeremy dessen Unbehagen. Aufmerksam studierte der Priester Sir Orlandos Gesicht mit den wohlgeformten fleischigen Zügen, die seine vierundvierzig Jahre kaum verrieten. Seine blauen Augen blickten ernst, die Lippen waren voll und sinnlich, das hellblonde Haar verschwand ganz unter der gelockten Perücke, deren Farbe auf die dichten blonden Augenbrauen abgestimmt war. Er war ein gutaussehender Mann von hohem, schlankem Wuchs, der keine Verantwortung scheute, dem aber nur selten ein Lachen über die Lippen kam. Nie hatte es einen Zweifel an seiner Redlichkeit gegeben, ein Umstand, der sicherlich Anteil an seinem raschen Aufstieg zum Richter des Königlichen Gerichtshofs gehabt hatte.
»Weshalb hat Seine Majestät Euch rufen lassen, Mylord?«, fragte Jeremy, der seine Neugier nicht länger bezähmen konnte.
»Es gibt ein Problem bei Hof. Der König wünscht allerdings, dass über die Sache Stillschweigen bewahrt wird«, antwortete Sir Orlando ausweichend.
Jeremy gab sich zufrieden. »Ich verstehe.«
Der Richter bemühte sich, das Thema rasch zu beenden. »Wie geht es meiner Frau?«
»Es geht ihr gut. Aber nun solltet Ihr Eurer Gemahlin noch etwas Ruhe gönnen.«
»Das werde ich. Vielen Dank, dass Ihr über sie gewacht habt«, sagte Trelawney, und seine Stimme wurde wieder herzlich.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
... weniger
Autoren-Porträt von Sandra Lessmann
Sandra Lessmann wurde 1969 geboren. Nach der Schule lebte sie fünf Jahre lang in London, wo ihre Liebe zu England erwachte. Zurück in Deutschland, studierte sie Geschichte, Anglistik, Kunstgeschichte und Erziehungswissenschaften in Düsseldorf. Ihr besonderes Interesse galt englischer Geschichte. Nach dem Studium arbeitete sie am Institut für Geschichte der Medizin, doch ihre wahre Leidenschaft gilt seit der Kindheit dem Schreiben. "Sündenhof" ist nach "Die Richter des Königs" und "Die Sündentochter" ihr dritter Roman. Besuchen Sie die Autorin auf ihrer Homepage: www.sandra-lessmann.de
Bibliographische Angaben
- Autor: Sandra Lessmann
- 528 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863656504
- ISBN-13: 9783863656508
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