Sündige Versuchung
Viele Jahre schon bereist Lord Jonathan den fernen Osten - immer auf der Suche nach exotischen Schätzen und neuen Abenteuern. Doch der Diebstahl eines wertvollen Fossils zwingt ihn dazu, nach England zurückzukehren. Dort hat der Dieb den begehrten...
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Produktinformationen zu „Sündige Versuchung “
Viele Jahre schon bereist Lord Jonathan den fernen Osten - immer auf der Suche nach exotischen Schätzen und neuen Abenteuern. Doch der Diebstahl eines wertvollen Fossils zwingt ihn dazu, nach England zurückzukehren. Dort hat der Dieb den begehrten Gegenstand einer jungen Frau anvertraut; kurz darauf wird er ermordet. Als die junge Dame, Miss Anne Marsh, in höchster Gefahr schwebt, wittert der Lord seine Chance. Unter dem Vorwand, um ihre Sicherheit besorgt zu sein, bringt er sie auf sein väterliches Anwesen. Obwohl Anne bereits einem anderen versprochen ist, kann sie sich dem erotischen Knistern nicht entziehen ...
"Berauschend und sinnlich."
ROMANTIC TIMES
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Lese-Probe zu „Sündige Versuchung “
Sündige Versuchung von Julia RossKapitel 1
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Wie ein Wirrwarr aus Linien bedeckten die mit Henna gezeichneten Muster die Fußgelenke der Frauen, die ihn bis in seine Träume verfolgten. Seide verschleierte ihre verführerischen Blicke. Die Erinnerungen wärmten und störten ihn zugleich: unverantwortliche, sinnliche Gedanken, die es zu verdrängen galt, während er hier vor dem Gasthaus stand und wartete.
Regen prasselte auf die Straße nieder. Auf Fässern und Kisten glänzte Salzwasser. Hinter den Häusern am Hafen ragten die wassergetränkten Masten der Venture in den nassgrauen Himmel, des Schiffes, auf das er gewartet hatte.
Irgendjemand auf diesem Schiff hatte Schmuggelware bei sich - einen heiligen Gegenstand. Dieser Jemand brachte gleichermaßen einen Schatz als auch Probleme mit von Bord. Wenn es Jack nicht gelang, diese Person abzufangen, würde der Teufel los sein.
Die Passagiere hatten sich, getrieben vom Wind in ihrem Rücken, auf den Weg zur Stadt gemacht, doch eine Welle der Unruhe ging durch sie hindurch. Als müsste sie gegen eine Flutwelle ankämpfen, bahnte sich eine junge Frau ihren Weg den Hügel hinunter. Die ihr entgegenkommende Menschenmenge teilte sich um ihren schwarzen Regenschirm wie ein Fluss, der von einem Felsen zerschnitten wurde, und schloss sich wieder.
Das Bild der Asiatinnen mit den kohlschwarzen Augen löste sich im Dunst des englischen Regens auf.
Warum zum Teufel wartete diese junge Engländerin das Unwetter nicht einfach in einem Gasthaus ab?
Jack grinste vor sich hin. Vielleicht waren die Gasthäuser hierzulande nicht ganz der passende Ort für eine junge Dame ohne Begleitung. Auch wenn sie einen Korb über dem Arm trug, schien sie eine Lady zu sein, fest geschnürt in Fischbein und angetan mit all der Lächerlichkeit eines Kiepenhutes und englischer Unterröcke.
Der Wind frischte auf. Ihr Regenschirm blähte sich und knickte um. Während die Lady gegen den Menschenstrom und den Sturm ankämpfte, umklammerte sie mit einer Hand den Griff des Schirmes. Ihre Haube verrutschte, und der Regen schlug ihr ins Gesicht. Irgendetwas an ihr schlug Jack für einen Moment in ihren Bann, etwas, das ihn überraschte, auch wenn er nicht genau sagen konnte, was es war. Der raue Wind hatte Röte in ihre Lippen und ihre Wangen gepeitscht, dennoch sah sie kühl aus: ein zurückhaltendes, durchgefrorenes englisches Mädchen mit einer dünnen Nase, so schlicht und sittsam wie eine Sonntagspredigt.
Doch etwas an ihrem Gesichtsausdruck war seltsam verwirrend und unerwartet - etwas Leuchtendes und Kühnes und nach Leben Hungerndes. Jack zwang seine Aufmerksamkeit zurück auf die Menschenmenge - genau in dem Augenblick, als die Frau von jemandem angerempelt wurde.
Ihren Korb festhaltend, schwankte sie. Ein Seemann mit einem Seesack auf dem Rücken hatte sich mit starrer Miene zwischen den Passagieren hindurchgedrängt und die Frau zur Seite gestoßen. Jetzt stolperte sie, stürzte fast. Der Mann warf über die Schulter einen Blick auf sie, wobei er sich weiter mit den Ellbogen seinen Weg durch die Menge bahnte.
Der Regenschirm flog davon wie ein Rabe.
Vorahnung ergriff Jack, pulsierte durch sein Blut - es war dieses strömende Fließen durch die Muskeln, diese außergewöhnliche Schärfung der Sinne - und erfüllte ihn mit dem Willen zum Überleben, bereitete ihn darauf vor, falls nötig dem Tod ins Auge zu sehen. Die Reaktion lief instinktiv ab. Instinktiv und gefährlich. Und gleichzeitig fühlte er sich auf wunderbare Weise unglaublich lebendig ...
Er drängte sich in die Menge.
Die Dame mit dem Korb schaute einen Moment lang ihrem Regenschirm nach, dann zuckte sie mit den Schultern und ging weiter.
Das Tuten eines Signalhorns hallte wider. Mit zum Schutz vor dem Regen eingezogenen Köpfen hasteten die Passagiere der Venture weiter. Menschen strömten aus dem Rose and Crown. Kutschen, Karren und Reiter auf ihren Pferden kämpften um jeden freien Raum. Zum denkbar ungeeignetsten Zeitpunkt war die Postkutsche eingetroffen, und der Regen wurde zur Sintflut.
Der Seemann schaute sich hektisch um, bevor er in dem allgemeinen Durcheinander untertauchte.
Jack eilte weiter. Die Menschenmenge teilte sich vor ihm, als wäre sie mit einem Schwerthieb zerschnitten worden.
Die Leute drängten zurück. Eine Frau schrie auf.
Ausgestreckt und mit dem Gesicht nach unten lag der Seemann auf dem Straßenpflaster. Mit ruhiger Autorität beugte sich ein Gentleman in einem Umhang mit Pelerine über ihn und drehte ihn dann auf den Rücken, während die Menge um ihn herum wogte. All diese Leute, die aus großen Augen starrten, erinnerten Jack an nasse Schafe, die von einem Hund zusammengetrieben worden waren.
Jack ging weiter, sein Herz hämmerte, während sein Blick jedes Detail in sich aufnahm: Armer Teufel, armer Teufel, armer Teufel!
Seine geschärfte Aufmerksamkeit registrierte jede Einzelheit der Szene, als wäre sie in einem Gemälde festgehalten. Die Menschen, die Leiche, der Gentleman mit dem modischen Hut und dem Spazierstock, der halb über den Toten gebeugt dastand. In seiner Wahrnehmung verlangsamten sich alle Bewegungen, selbst die seiner eigenen Hand, als Jack sich niederkauerte und dem Seemann die Augen schloss.
Also war doch der flachshaarige Mann aus Bristol der Schmuggler gewesen! Er, Jack, war zu spät gekommen. Zwei der schrecklichsten Worte der englischen Sprache: zu spät!
Der Mann war mit einer Garrotte erwürgt worden. Niedergestreckt von einem Draht, der noch um seinen Hals geschlungen war. Sein Seesack war verschwunden.
»Lass niemanden merken, dass du mich kennst«, sagte Jack leise, noch immer in der Hocke sitzend. Die Menschen um sie herum glotzten nach wie vor. Manche gingen weiter, andere blieben stehen, aber sie alle waren außer Hörweite. »Auch wenn ich verdammt froh bin, dich zu sehen, Guy.«
Der Gentleman im Reiseumhang erstarrte. Regen strömte von dessen Saum, um sich zu seinen Füßen in einer Pfütze zu sammeln.
»Jack, bei allem, was heilig ist! Oder sollte ich sagen, bei allem, was unheilig ist? Großer Gott, ich hätte es ahnen müssen! Vor wem sonst teilt sich eine Menschenmenge so, wie das Rote Meer sich vor Moses geteilt hat - selbst wenn du wie ein Herumtreiber gekleidet bist?«, murmelte er.
»Im Augenblick möchte ich der Welt meine Identität noch nicht bekannt geben. Du würdest staunen, wie unsichtbar ich werden kann, wenn ich es will. Vergibst du mir, wenn wir uns nicht umarmen oder uns die Hand geben?«
»Was zur Hölle treibst du, dass du auf diese Weise nach England zurückkommst?«
Jack richtete sich auf und setzte eine leicht eingeschnappte, aber dennoch respektvolle Miene auf, so wie irgendein Seemann, der sich einem Gentleman genähert hatte. »Schwelgen im herrlichen Wirken des Zufalls natürlich: Ich brauche Hilfe und zufällig bist du da, Cousin Guy Devoran ... «
»Nicht zufällig. Ich bin gekommen, dich zu treffen.« Guy wies mit einem Kopfnicken auf den Toten. »Ein Freund von dir?«
»Nein, wenn ich auch zugeben muss, über seinen Tod ein wenig beunruhigt zu sein.«
»Weil kein Engländer jemals mit einer Garrotte töten würde, wohingegen die Mörderin ... wo auch immer du kürzlich gewesen bist ... auf genau diese Art töten?«
Ein Mann in einer grünen Jacke und von drahtiger Statur ging rasch davon, verschwand in der Menge.
Jack trat einen Schritt zurück und tippte an seine Mütze. »Guy, kümmerst du dich bitte um unsere lästigen Zuschauer und um diese bedauernswerte irdische Hülle?«
»Nur, wenn du mir später bei einem Brandy alles erklärst.«
Die sich drängelnden Menschen versperrten Jack für einen Moment den Blick auf die grüne Jacke. »Der Brandy ist dir sicher, die Erklärung weniger.«
Guy zog eine Augenbraue hoch. »Falls du lange genug überlebst, um es bis nach Wyldshay zu schaffen, wird auch der Rest deiner Familie sehr glücklich sein, dich zu sehen.«
»Ich werde mich ohne Zweifel zu gegebener Zeit im Haus meiner Ahnen sehen lassen«, erwiderte Jack. »Aber nicht, bevor ich meinen Mantel gewechselt habe. Meiner Mutter würde dieser hier nicht gefallen. Sorg dafür, dass sich niemand an den Taschen des Toten zu schaffen macht, bis ich zurück bin.«
Guy zögerte nur einen Moment, ehe er sich umwandte. »He, ihr da!«, rief er. »Tragt diesen Mann in das Rose and Crown! Es hat einen Unfall gegeben ...«
Zwei Arbeiter tippten an ihre Hüte und kamen herbei. Die Menge begann, sich zu zerstreuen. Der Mann in der grünen Jacke war verschwunden.
Jacks Pistole schmiegte sich wie eine Geliebte in seine Hand, als er von der Menge verschluckt wurde. Er folgte jetzt nur seinem Instinkt: seinem Instinkt und dem vagen Geruch nach Sandelholz, fast nicht wahrnehmbar im strömenden Regen.
Er sah den Mann in Grün in dem Augenblick wieder, als dieser in eine verlassene Seitenstraße einbog. Jack folgte leise. Seine Beute lief an einem Stapel Fässer vorbei, schaute dann zur Seite und blieb stehen: Höchstwahrscheinlich war er Malaie, jetzt allerdings eine Person ohne Identität oder Heimat, einer aus der Vielzahl entwurzelter Seemänner des weltumspannenden Empire.
Aus dem Schatten des überhängenden ersten Stockwerks eines Hauses trat eine andere Gestalt hervor: ein Mann mit einem blauen Turban.
Jack zog sich hinter einen Stapel Kisten zurück und beobachtete.
Der Malaie zog den Seesack des ermordeten Seemanns unter seiner grünen Jacke hervor. Der andere Mann riss ihn ihm aus der Hand und schüttete den Inhalt auf die Straße. Er durchsuchte sie und zischte dann einige Worte. Der Malaie zuckte mit den Schultern und hob beide Hände in einer umfassenden Geste.
Nichts!
Der Mann mit dem Turban schleuderte den leeren Seesack zur Seite und trat dichter an den Malaien heran, als wollte er seiner Frage Nachdruck verleihen. Dieser schüttelte den Kopf. Schnell wie eine Kobra packte eine offene Hand ihn an der Kehle. Der Malaie verdrehte die Augen und keuchte. Ein weiterer kurzer Wortwechsel folgte, ehe sein Angreifer die Hand sinken ließ und eine Hand voll Münzen auf das Pflaster warf.
Der Malaie bückte sich, um das Geld aufzusammeln. Der Mann mit dem blauen Turban ging davon, bog um eine Ecke und verschwand.
Die Münzen glänzten auf den Steinen. Jack bewegte sich lautlos weiter. Doch seine Beute wandte ihm den Kopf zu, die Zähne entblößt. Seine Hände bewegten sich rasch.
Noch schneller als er schlug Jack zu, traf mit der Handkante den Nacken des Mannes, brachte ihn zu Fall.
Der blaue Turban war in eine Gasse verschwunden, die zu einem Labyrinth von Lagerhäusern, Läden und Mietshäusern führte. Wo sich einige Gassen kreuzten, verloren sich die Fußspuren des Mannes in einem Sumpf von Spuren. Ihr Besitzer war verschwunden. Nicht, dass es etwas machte. Er war nur ein weiterer Handlanger, obwohl wahrscheinlich ein weitaus gefährlicherer. Ohne Zweifel war er inzwischen einige Straßen weiter und würde seinem Auftraggeber nichts zu berichten haben außer einem Fehlschlag.
Jack kehrte zu dem bewusstlosen Malaien zurück und zog ihn unter den Schutz des überhängenden Geschosses. Der Seesack war schäbig, der typische Beutel eines Seemannes. Der Stoff roch nach Salzwasser, Teer, Schweiß und Tabak. Nicht nach Sandelholz. Nicht nach dem wilden, fremdartigen Duft des Ostens. Überhaupt nicht.
Ohne viel Hoffnung leerte er die Taschen des Mannes aus, untersuchte jede Naht und jeden Zoll des Futters. Die todbringende Drahtschlinge steckte gefaltet in seinem Stoffgürtel. Sonst hatte er nichts versteckt. Die nackten Füße des Seemanns lagen verdreht auf den nassen Steinen, er wirkte seltsam verletzlich. Jack starrte hinunter in das braune Gesicht und fragte sich, warum zum Teufel er Mitleid für einen Mörder empfinden sollte.
Er schaute wieder auf und betrachtete die verstreut herumliegenden Habseligkeiten, ehe er alles -- wie ein kleiner Dieb - aufsammelte, was irgendwie von Wert zu sein schien: die Münzen, die Pfeife und das Messer des Seemanns aus Bristol, nur das Taschentuch ließ erliegen.
Nach kurzem Überlegen nahm Jack jedoch auch dieses noch an sich.
Die Postkutsche hatte ihre Reisenden ausgespuckt und neue aufgenommen und war wieder abgefahren. Die Schiffspassagiere hatten sich auf die verschiedenen Gasthäuser oder Beförderungsmittel verteilt. Die Straße war dem Regen überlassen, der im Dunst aufspritzte, als würde er aus Eimern ausgeschüttet werden.
Ein Wirbel von schwarzem Stoff trieb vor den Fenstern der Läden entlang. Jack umging Pfützen und Unrat und fing den zerbrochenen Schirm an dessen Handgriff ein.
Dann, angesichts seines jämmerlichen Versagens, lachte er.
»Mein liebes Kind, du bist ja nass bis auf die Haut«, sagte Tante Sayle, als sie die Tür öffnete. »Du musst eine schreckliche Reise hinter dir haben von Lyme hierher! Wir haben versucht, vom Fenster Ausschau nach dir zu halten, aber es war zwecklos bei diesem schrecklichen Regen und den vielen Menschen. Waren die Straßen sehr aufgeweicht?«
Miss Anne Marsh setzte ihren Korb ab, löste ihre Holzschuhe und beugte sich vor, um ihre Tante auf die Wange zu küssen. Lächerlich, noch immer dieses Zittern der Nerven zu spüren, wie von einer Gefahr, der man knapp entronnen war!
»Ein einziger Morast! Deshalb hat sich unsere Ankunft auch so erheblich verzögert.« Sie nahm ihre nasse Haube ab und versuchte, jegliches noch nachklingende Unbehagen zu verdrängen. »Ich war gerade aus Mr Trents Kutsche gestiegen und hatte begonnen, den Hügel hinunterzugehen, als ich geschüttelt und gequetscht wurde wie ein Apfel in der Presse. Ist vor Kurzem ein Schiff angekommen?«
»Die Venture ist aus dem Orient zurückgekommen. Und die Familie? Sind alle wohlauf?«
»Alle lassen dich lieb grüßen. Ich habe einige von Papas letzten Predigten für dich, und Mama schickt diesen Korb mit frischem Gemüse aus unserem Garten und dazu ein schönes fettes Huhn.«
Tante Sayle strahlte. »Außerdem hat mir mein Bruder meine Lieblingsnichte geschickt, was noch besser ist. Jetzt lass uns zusehen, dass du aus diesen nassen Kleidern herauskommst, bevor du dir den Tod holst.«
Wasser lief aus der Haube. Anne schüttelte sie aus und reichte sie Tante Sayles Zofe. Ebenso Freundin wie auch Kameradin und Dienerin, stand Edith neben ihrer Herrin und grinste, als wäre sie noch immer dafür da, ein kleines Mädchen mit einem aufgeschlagenen Knie zu trösten. Es gab einen Augenblick des Durcheinanders durch das Ablegen der Haube und das Entwirren von Annes Ridikül, der an einem Band von ihrem Handgelenk hing, ehe man ihr aus dem pelzverbrämten Mantel helfen konnte.
»Gott steh uns bei«, sagte Edith. »Er ist durch und durch nass und so schwer wie Blei.«
Anne umarmte sie rasch. »Als sich der Himmel geöffnet hat, haben alle den Kopf eingezogen. Ich bin mit jemandem zusammengestoßen und habe dabei meinen Schirm verloren.«
Jetzt war es heraus! Sie fühlte sich besser, so, als hätte sie keinen Blick auf das Gesicht des Seemannes erhascht, das vor Angst verzerrt gewesen war. Die Welt begann zu ihrer alltäglichen Normalität zurückzukehren, in der das Leben wieder sicher und ruhig verlief.
Edith ging in die Küche, während Tante Sayle missbilligend den Mund verzog. »Mr Trent hätte dich begleiten müssen.«
»Er wollte es auch, Tante. Wirklich, er hat versucht, darauf zu bestehen, aber er musste sich um die Pferde kümmern, und wir waren ohnehin schon so spät, dass ich nicht warten wollte. Sein Diener wird mir später meine Reisetasche bringen, und Arthur wird vorbeikommen, um auf Wiedersehen zu sagen, ehe er nach London fährt, seinen Vater zu besuchen.«
»Wegen des Kontraktes? Gut, gut!« Mrs Sayle ging voran in den Salon und ließ sich auf einem Sessel nahe dem Feuer nieder. »Du bist verlobt und wirst einen höchst akzeptablen jungen Mann heiraten, meine Liebe, auch wenn es solch eine stürmische Werbung war. So zurückgezogen auf dem Lande zu leben, wie du es tust, und nicht sehr viele neue Leute zu treffen, hat mich schon ein wenig fürchten lassen, du würdest niemals heiraten.«
Anne setzte sich. Kleine Wölkchen von Dampf stiegen aus ihrem nassen Kleidersaum auf. Der Zwischenfall auf der Straße war ein unbehaglicher Moment gewesen, das war alles. Wie könnte das Leben besser sein als dies hier? Man hatte ihr den Hof gemacht. Sie hatte angenommen. Sie würde in einigen wenigen Monaten verheiratet sein.
»Ich weiß, ich bin im Allgemeinen nicht sehr freundschaftlich mit Fremden«, meinte sie, »aber Mr Trent scheint schon fast ein Mitglied der Familie zu sein. Auch wenn sein Glaube strenger ist als unserer, sind er und ich seit unserer allerersten Begegnung sehr gut miteinander ausgekommen. Doch im Moment gibt es nichts Schöneres als ein Feuer, das hell im Kamin brennt, besonders, wenn der Regen an den Fenstern hinunterläuft und der Wind im Kamin heult!«
»Mir gefällt es noch immer nicht, daran zu denken, dass du dich ohne die Begleitung eines Gentleman durch solch ein Gedränge gekämpft hast.«
»Es waren nur ein paar Schritte die Straße hinunter, die ich sehr gut kenne -- nur eine kleine Übertretung.«
Mrs Sayle stieß ein kurzes Schnauben aus. »Diese Gegend ist ganz und gar nicht mehr das, was sie war, als Captain Sayle noch lebte. All dieses Gedränge und die Seeleute und das Gesindel! Selbst wenn alle Passagiere der Venture die ehrenhaftesten Menschen der Welt wären, hätte alles Mögliche passieren können. Mr Trent hat schlecht daran getan, das zu gestatten, und das werde ich ihm heute Abend sagen.«
»Ich bitte dich, es nicht zu tun, Tante! Du würdest ihn damit in sehr große Verlegenheit bringen.« Anne begann, ihre nassen Stiefel aufzubinden. »Was hätte mir denn passieren sollen, abgesehen vom Verlust meines Regenschirms und von ein bisschen Nässe in meinen Kleidern ...«
Die Tür wurde geöffnet, und Edith betrat wieder das Zimmer. Doch sie brachte nicht das Tablett mit dem Tee. Ihr Gesicht wirkte so bestürzt, als drohten die Legionen einer fremden Macht damit, in die geordnete Welt der Familie ihrer Herrin einzudringen.
»Das war in Eurem Korb unter dem Huhn, Miss Marsh«, sagte Edith. »So ein seltsames Ding! Ich weiß nicht, was man damit macht.« Das Mädchen legte ihr Problem in Annes Hände.
»Grundgütiger Gott!«, rief Anne. »Kein Wunder, dass der Korb so schwer war!«
Sie drehte den Gegenstand hin und her, strich mit einer Fingerspitze über die Oberfläche, über die roten Spuren darauf wie von Rost; sie berührte die lange scharfe Schneide, die gezackt war wie der Rand eines Blattes und die lange Zeit in der Erde konserviert worden war: Es war ein Zahn, der einem Geschöpf gehört habe musste, das größer und gefährlicher gewesen sein musste als alles, was auf der Welt existierte, und der durch den Druck der Zeit zu Stein geworden war.
Ein Schauder durchlief sie angesichts der Merkwürdigkeit dieses Fundes.
»Unter Mamas Huhn, sagst du?« Sie begegnete Tante Sayles Blick und schaute dann in Ediths besorgtes Gesicht. »Aber ich habe das noch nie im Leben gesehen!«
Jack betrat das Rose and Crown. Man hatte den toten Seemann auf einen Tisch in der hinteren Schankstube gelegt, ein Tuch bedeckte sein Gesicht. Guy hatte es sich in der Nähe auf einem Stuhl bequem gemacht, die Beine weit von sich gestreckt und die Arme über der Brust verschränkt. Eine Flasche Brandy stand neben den Füßen des Toten, daneben zwei leere Gläser.
Guy richtete sich auf, als wollte er Jack die Hand reichen, doch sein Lächeln verschwand, als er dessen Blick begegnete und sich stattdessen zurücklehnte. Einen Moment lang brachte Schmerz Jacks Entschlossenheit ins Wanken. Er ignorierte ihn, warf den Regenschirm in eine Ecke und ging zu dem Toten.
»Armer Kerl!« Jack zog das Tuch zurück, um das Gesicht des Mannes zu betrachten. »Ein Streit wegen einer Frau, meinst du nicht auch?«
»Nein«, erwiderte Guy. »Du bist viel zu sehr an seinem Tod interessiert. Wann zum Teufel bist du nach England zurückgekommen?«
Der Gesichtsausdruck des toten Seemanns war starr und leer. »Vor drei Tagen.«
»Aber ich dachte, du wärst mit der Venture gekommen?«
»Bin ich auch, doch ich habe das Schiff in Portugal verlassen. Wegen des schlechten Wetters war sie spät dran. Ich habe mir ein Fischerboot gemietet.«
»Dieser Regen ist nur das Schwanzstück eines Sturmes. Wenn du ihn in einem kleinen Boot durchfahren hast, hast du dein verdammtes Leben riskiert und überdies das von jedem, der verrückt genug war, dir zu ... «
»Nicht verrückt genug: gierig genug.« Jack zog das Tuch über das wächserne Gesicht. »Mein Gold hat lauter gesprochen als ihre Angst.«
»Kannst du mir sagen, warum du das getan hast?«
»Nein, aber ich kann dir sagen, dass der Mörder dieses Man-
nes in einer Gasse in der Nähe gefunden werden wird.«
Es gab eine kleine Pause, ehe Guy wieder zu sprechen an-
fing. »Er ist tot?«
Jack wandte dem Seemann den Rücken zu und lächelte auf seinen Cousin herunter. »Ich habe ihn nicht getötet, wenn es das ist, was du fürchtest. Ich habe ihn nur bewusstlos geschlagen.«
»Kann man den Mann befragen?«
»Er würde nicht antworten. Ich würde mein Leben darauf verwetten, dass er kaum Englisch spricht. Aber traurig für ihn ist, dass die Mordwaffe noch in seinem Gürtel steckt. Deshalb wird er gehängt werden und unter Fremden sterben, eine halbe Weltreise entfernt von seiner Heimat ... «
»Aber obwohl er dies Schicksal verdient hat, ist dir der Gedanke daran zuwider?« Guy schenkte von dem Brandy ein. »Ich gebe dir nicht die Schuld. Trink einen Brandy.«
Jack nahm das angebotene Glas und trank es leer. »Ich habe großes Interesse daran, meinen Platz im Familien-Mausoleum hier in England zu finden, wenn meine Zeit kommt. Ich habe nicht vor, in einem Fass eingelegt nach Hause geschickt zu werden.«
»Deine Mutter wird sehr froh sein, das zu hören«, bemerkte Guy. »Was geschieht jetzt?«
»Das hier ist, bis auf die Garrotte, die weltliche Habe des Mörders sowie der Inhalt des Seesacks, den unser bedauernswerter Seemann aus Bristol mit sich getragen hat.«
Er schüttete die Sammlung der kleinen Gegenstände auf den Sitz eines Stuhls und ging dann zum Fenster, um auf die nackte Wand gegenüber zu starren. Regen strömte die Scheiben herunter.
»Du bist zum Dieb geworden und hast den Galgen riskiert, nur um diesen wertlosen Plunder zu stehlen?«, fragte Guy. »Sie können mich nicht hängen, das weißt du.«
»Wenn du weiterhin solche Kleider trägst«, entgegnete Guy trocken, »könntest du am nächstbesten Baum für die Krähen aufgehängt werden, einfach nur fürs Niesen.«
Jack lachte - nicht in der ironischen Stimmung, die er sich auf der Straße gestattet hatte, sondern es war ein Lachen aus echter Heiterkeit. Die Anspannung, die übergroße Wachsamkeit begannen zu schwinden. Noch immer grinsend, drehte er sich um. »Zur Hölle, Guy, aber ich bin verdammt froh, dich zu sehen! Kein anderer sonst würde solch eine grenzenlose Selbstbeherrschung aufbringen. Ja, ich bin in eine Sache verwickelt, die der Geheimhaltung unterliegt. Nein, ich kann dir nicht erzählen, um was es geht. Ich habe gerade einen Mann bestohlen. Bitte schließt Eure tugendhaften Augen, Sir, während ich jetzt den Leichnam eines weiteren Mannes ausraube.«
»Meine Augen schließen? Bist du verrückt? Ich würde mir das um nichts in der Welt entgehen lassen. Also, was könnte unser Seemann in seinen Taschen tragen, das zu stehlen seinem Mörder nicht gelungen ist?«
Jack goss sich noch ein Glas Brandy ein, ehe er sich wieder an seinen Cousin wandte. »Das willst du gar nicht wissen. Wirklich nicht. Hier, nimm diese Karaffe und bitte den Wirt, sie mit einem guten alten Brandy aufzufüllen.«
»Kannst du mir dann wenigstens sagen, warum du all dieses Zeug gestohlen hast?«
»Sicher. Falls irgendjemand mich dabei beobachtet hat, so war ich nur ein kleiner Dieb, der an Geld interessiert gewesen ist. Einen Mann niederzuschlagen und ihn dann nicht zu berauben, hätte viel zu verdächtig ausgesehen.«
»Verdammt, Jack!« Guy grinste, während er aufstand und nach der leeren Karaffe griff. »War dir jemals jemand überlegen? Oh, antworte nicht darauf - aber ich danke Gott, dass du wenigstens zu Hause bist, auch wenn niemand glauben würde, dass ein derart verrufener Halunke so ehrenwerte Verwandtschaft hat. Ich hoffe, du bleibst lange genug am Leben, um dich bald in Wyldshay sehen zu lassen?«
»Voraussichtlich werde ich irgendwann in der kommenden Woche in das Haus meiner Vorfahren zurückkehren und nach gemästeten Kälbern und einem Freudenfest verlangen.«
»Was du in vollem Maße bekommen wirst. Du bleibst dieses Mal für immer?«
»Ich werde mit dem nächsten Schiff nach Asien zurückkehren.«
Guy blieb an der Tür stehen. »Deiner Mutter und deinen Schwestern wirst du damit das Herz brechen.«
Jack starrte in seinen Drink und hoffte, seine Verärgerung würde ihm nicht an der Stimme anzuhören sein. »Und wie geht es meinem furchteinflößenden Vater zurzeit?«
»Seiner Gnaden geht es den Umständen entsprechend recht gut«, erwiderte Guy. »Er vermisst dich.«
»Ich vermisse ihn auch. Ich vermisse sie alle.« Ein kleiner Rest der bernsteinfarbenen Flüssigkeit bedeckte den Boden seines Glases. »Gott, für einen Moment dachte ich -- als du ihn nicht zuerst nanntest -, dass der Duke während meiner Abwesenheit gestorben wäre.«
»Er war krank. Ich denke, er ist noch immer leidend. Du wusstest das sicherlich? Hat Ryder dir die Neuigkeiten nicht mitgeteilt?«
Der letzte Tropfen Brandy floss Jacks Kehle hinunter. »Liza schreibt mir, während Ryder aus der Ferne zustimmend nickt. Doch alles, was ich von ihnen höre, ist Monate alt, wenn ich den Brief bekomme ...«
Es war da, ein leichtes Zittern, das die Tiefe seiner Gefühle verriet. Jack atmete durch, um es zu kontrollieren.
»Ich werde noch Brandy holen«, meinte Guy.
Jack sah seinem Cousin nach, als er das Zimmer verließ. Sie waren gleich alt und gleich groß, größer als die meisten Männer, und sie standen sich vielleicht näher als irgendeinem anderen ihrerVerwandten. Jackwürde seinem Cousin sein Leben anvertrauen. Er würde nicht zögern, ihn in dieses Abenteuer einzubeziehen, wie gefährlich es auch war, denn er hatte absolutes Vertrauen darauf, dass Guy auf sich aufpassen konnte. Dennoch war es, als hätte die weite Leere der Wüste Gobi von seiner Seele Besitz ergriffen.
Hatte Jack Mauern wie die eines Gefängnisses um ihn errichtet - selbst Guy gegenüber -, und das nur, weil es ihm unmöglich war, das grausame Gewöhntsein an Einsamkeit und an das Auf-sich-selbst-gestellt-Sein abzulegen?
Jack durchsuchte die Taschen des toten Seemanns und kontrollierte sie dann noch einmal, wobei er auch die Nähte und die Schuhe genau prüfte. Dabei ignorierte er seinen instinktiven Widerwillen gegen dieses Tun. Bald lagen einige Gegenstände aufgereiht auf dem Tisch, ganz gewöhnliche, bedeutungslose Dinge. Jack starrte sie einige Minuten lang an. Der Seemann aus Bristol musste das Fossilienstück von der Venture heruntergebracht haben - sonst wäre der Malaie nicht angeheuert worden, ihn zu überfallen. Hatte er es vielleicht nicht mehr bei sich gehabt, als er getötet worden war?
Er schloss die Augen und versuchte, sich an jedes Detail der Szene zu erinnern: die Menschenmenge, der verzweifelte Seemann, eine junge Lady mit einem Korb ...
Guy betrat das Zimmer. »Hast du gefunden, was du gesucht hast?«
Jack sah auf. »Nein.«
»Dann komm jetzt mit mir nach Wyldshay. Meine Kutsche ist hier, mit dem schönsten Paar Pferde, die Tattersall je zum Verkauf angeboten hat.«
»Ich kann nicht.«
»Der Duke ist krank, Jack.« Der Brandy funkelte, als Guy die Gläser wieder füllte. »Nicht lebensbedrohlich, denke ich, doch alle sehnen sich verzweifelt danach, dich zu sehen. Wäre es nach ihnen gegangen, wären deine Schwestern jetzt hier, um dich zu bestürmen.«
»Wer hat sie davon abgehalten?«
»Die Duchesse hielt es nicht für sonderlich passend, ihren Töchtern zu erlauben, wie eine Schar Bauernmädchen in einem gewöhnlichen Gasthaus zu warten.«
»Also wurde dir diese Aufgabe übertragen?« Jack lächelte seinen Cousin gequält an. »Gott segne meine Mutter! Sie ist eine kluge Frau - und danke auch dir, Guy.«
»Was zum Teufel soll ich ihnen sagen?«
»Dass ich nicht auf der Venture gewesen bin und dass du mich nicht gesehen hast.« Der Brandy brannte. Jack stellte das leere Glas ab. Es war Zeit aufzuhören, ehe er betrunken sein würde. »Sag ihnen, du hast herausgefunden, dass ich in Portugal von Bord gegangen bin und jetzt auf dem Landweg reise. Und dass ich einem anderen Passagier eine Nachricht mitgegeben habe: Da Napoleon jetzt fort ist, ist das für mich die Gelegenheit, mir Europa anzusehen.«
Schweigen trat ein. Guy wandte sich ab, seine Schultern wirkten steif.
»Ich bin mir sehr wohl im Klaren darüber, dass eine solche
Nachricht die Menschen verletzen wird, die mich am meisten
lieben«, fügte Jack ruhig hinzu. »Aber ich kann nicht anders.« Guyfuhrherum. »Du bittest mich darum, für dich zu lügen.« »Ja.«
»Ist diese Sache so wichtig?«
»Sie ist so wichtig.«
»Und du überlässt es mir, mich um diese arme Kreatur«, Guy deutete auf den Leichnam, »und deren Mörder zu kümmern?«
»Ja.«
»Du bist ein verdammt kaltblütiger Hund geworden, Jack.«
Es wurde ganz ohne Bosheit gesagt, doch die Worte brannten in seinem Herzen wie der Brandy in seiner Kehle. Noch nie zuvor hatten er und Guy sich nach einer so langen Zeit der Trennung wiedergetroffen, ohne sich zumindest die Hand zu geben ...
»Ich vertraue darauf, dass du diese Nachricht weniger hart klingen lassen wirst, wenn du sie überbringst, Guy. Es tut mir leid, dass ich es dir nicht erklären kann. Könnte ich es, wärst du der Erste, dem ich davon erzählen würde.«
»Ich denke, vielleicht schuldest du als Erster deiner Mutter diese Erklärung«, entgegnete Guy. »Was wirst du jetzt unternehmen?«
Jack bückte sich, um den Regenschirm aufzuheben. Dort, wo das Wasser vom Stoff getropft war, hatte sich eine kleine Pfütze auf dem Boden gebildet. Erinnerungen schimmerten auf wie Reflektionen in einem See: die Lady, die darum kämpfte, den Schirm gegen den Wind zu stemmen; ihr kühnes Gesicht unter der englischen Strohhaube, nass vom Regen; ihr Korb, den sie über dem Arm getragen hatte, als sie im Gedränge von diesem Seemann angerempelt worden war ...
Jeder, der das sonst noch beobachtet hatte, musste es auch gesehen haben. Früher oder später würden sie zu derselben Schlussfolgerung kommen wie er. Furcht erfüllte sein Herz.
Er schüttelte die Nässe von dem schwarzen Stoff und schloss den Schirm. »Den hier der Dame zurückgeben, die ihn verloren hat«, antwortete er.
...
Übersetzung: Susanne Kregeloh
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Wie ein Wirrwarr aus Linien bedeckten die mit Henna gezeichneten Muster die Fußgelenke der Frauen, die ihn bis in seine Träume verfolgten. Seide verschleierte ihre verführerischen Blicke. Die Erinnerungen wärmten und störten ihn zugleich: unverantwortliche, sinnliche Gedanken, die es zu verdrängen galt, während er hier vor dem Gasthaus stand und wartete.
Regen prasselte auf die Straße nieder. Auf Fässern und Kisten glänzte Salzwasser. Hinter den Häusern am Hafen ragten die wassergetränkten Masten der Venture in den nassgrauen Himmel, des Schiffes, auf das er gewartet hatte.
Irgendjemand auf diesem Schiff hatte Schmuggelware bei sich - einen heiligen Gegenstand. Dieser Jemand brachte gleichermaßen einen Schatz als auch Probleme mit von Bord. Wenn es Jack nicht gelang, diese Person abzufangen, würde der Teufel los sein.
Die Passagiere hatten sich, getrieben vom Wind in ihrem Rücken, auf den Weg zur Stadt gemacht, doch eine Welle der Unruhe ging durch sie hindurch. Als müsste sie gegen eine Flutwelle ankämpfen, bahnte sich eine junge Frau ihren Weg den Hügel hinunter. Die ihr entgegenkommende Menschenmenge teilte sich um ihren schwarzen Regenschirm wie ein Fluss, der von einem Felsen zerschnitten wurde, und schloss sich wieder.
Das Bild der Asiatinnen mit den kohlschwarzen Augen löste sich im Dunst des englischen Regens auf.
Warum zum Teufel wartete diese junge Engländerin das Unwetter nicht einfach in einem Gasthaus ab?
Jack grinste vor sich hin. Vielleicht waren die Gasthäuser hierzulande nicht ganz der passende Ort für eine junge Dame ohne Begleitung. Auch wenn sie einen Korb über dem Arm trug, schien sie eine Lady zu sein, fest geschnürt in Fischbein und angetan mit all der Lächerlichkeit eines Kiepenhutes und englischer Unterröcke.
Der Wind frischte auf. Ihr Regenschirm blähte sich und knickte um. Während die Lady gegen den Menschenstrom und den Sturm ankämpfte, umklammerte sie mit einer Hand den Griff des Schirmes. Ihre Haube verrutschte, und der Regen schlug ihr ins Gesicht. Irgendetwas an ihr schlug Jack für einen Moment in ihren Bann, etwas, das ihn überraschte, auch wenn er nicht genau sagen konnte, was es war. Der raue Wind hatte Röte in ihre Lippen und ihre Wangen gepeitscht, dennoch sah sie kühl aus: ein zurückhaltendes, durchgefrorenes englisches Mädchen mit einer dünnen Nase, so schlicht und sittsam wie eine Sonntagspredigt.
Doch etwas an ihrem Gesichtsausdruck war seltsam verwirrend und unerwartet - etwas Leuchtendes und Kühnes und nach Leben Hungerndes. Jack zwang seine Aufmerksamkeit zurück auf die Menschenmenge - genau in dem Augenblick, als die Frau von jemandem angerempelt wurde.
Ihren Korb festhaltend, schwankte sie. Ein Seemann mit einem Seesack auf dem Rücken hatte sich mit starrer Miene zwischen den Passagieren hindurchgedrängt und die Frau zur Seite gestoßen. Jetzt stolperte sie, stürzte fast. Der Mann warf über die Schulter einen Blick auf sie, wobei er sich weiter mit den Ellbogen seinen Weg durch die Menge bahnte.
Der Regenschirm flog davon wie ein Rabe.
Vorahnung ergriff Jack, pulsierte durch sein Blut - es war dieses strömende Fließen durch die Muskeln, diese außergewöhnliche Schärfung der Sinne - und erfüllte ihn mit dem Willen zum Überleben, bereitete ihn darauf vor, falls nötig dem Tod ins Auge zu sehen. Die Reaktion lief instinktiv ab. Instinktiv und gefährlich. Und gleichzeitig fühlte er sich auf wunderbare Weise unglaublich lebendig ...
Er drängte sich in die Menge.
Die Dame mit dem Korb schaute einen Moment lang ihrem Regenschirm nach, dann zuckte sie mit den Schultern und ging weiter.
Das Tuten eines Signalhorns hallte wider. Mit zum Schutz vor dem Regen eingezogenen Köpfen hasteten die Passagiere der Venture weiter. Menschen strömten aus dem Rose and Crown. Kutschen, Karren und Reiter auf ihren Pferden kämpften um jeden freien Raum. Zum denkbar ungeeignetsten Zeitpunkt war die Postkutsche eingetroffen, und der Regen wurde zur Sintflut.
Der Seemann schaute sich hektisch um, bevor er in dem allgemeinen Durcheinander untertauchte.
Jack eilte weiter. Die Menschenmenge teilte sich vor ihm, als wäre sie mit einem Schwerthieb zerschnitten worden.
Die Leute drängten zurück. Eine Frau schrie auf.
Ausgestreckt und mit dem Gesicht nach unten lag der Seemann auf dem Straßenpflaster. Mit ruhiger Autorität beugte sich ein Gentleman in einem Umhang mit Pelerine über ihn und drehte ihn dann auf den Rücken, während die Menge um ihn herum wogte. All diese Leute, die aus großen Augen starrten, erinnerten Jack an nasse Schafe, die von einem Hund zusammengetrieben worden waren.
Jack ging weiter, sein Herz hämmerte, während sein Blick jedes Detail in sich aufnahm: Armer Teufel, armer Teufel, armer Teufel!
Seine geschärfte Aufmerksamkeit registrierte jede Einzelheit der Szene, als wäre sie in einem Gemälde festgehalten. Die Menschen, die Leiche, der Gentleman mit dem modischen Hut und dem Spazierstock, der halb über den Toten gebeugt dastand. In seiner Wahrnehmung verlangsamten sich alle Bewegungen, selbst die seiner eigenen Hand, als Jack sich niederkauerte und dem Seemann die Augen schloss.
Also war doch der flachshaarige Mann aus Bristol der Schmuggler gewesen! Er, Jack, war zu spät gekommen. Zwei der schrecklichsten Worte der englischen Sprache: zu spät!
Der Mann war mit einer Garrotte erwürgt worden. Niedergestreckt von einem Draht, der noch um seinen Hals geschlungen war. Sein Seesack war verschwunden.
»Lass niemanden merken, dass du mich kennst«, sagte Jack leise, noch immer in der Hocke sitzend. Die Menschen um sie herum glotzten nach wie vor. Manche gingen weiter, andere blieben stehen, aber sie alle waren außer Hörweite. »Auch wenn ich verdammt froh bin, dich zu sehen, Guy.«
Der Gentleman im Reiseumhang erstarrte. Regen strömte von dessen Saum, um sich zu seinen Füßen in einer Pfütze zu sammeln.
»Jack, bei allem, was heilig ist! Oder sollte ich sagen, bei allem, was unheilig ist? Großer Gott, ich hätte es ahnen müssen! Vor wem sonst teilt sich eine Menschenmenge so, wie das Rote Meer sich vor Moses geteilt hat - selbst wenn du wie ein Herumtreiber gekleidet bist?«, murmelte er.
»Im Augenblick möchte ich der Welt meine Identität noch nicht bekannt geben. Du würdest staunen, wie unsichtbar ich werden kann, wenn ich es will. Vergibst du mir, wenn wir uns nicht umarmen oder uns die Hand geben?«
»Was zur Hölle treibst du, dass du auf diese Weise nach England zurückkommst?«
Jack richtete sich auf und setzte eine leicht eingeschnappte, aber dennoch respektvolle Miene auf, so wie irgendein Seemann, der sich einem Gentleman genähert hatte. »Schwelgen im herrlichen Wirken des Zufalls natürlich: Ich brauche Hilfe und zufällig bist du da, Cousin Guy Devoran ... «
»Nicht zufällig. Ich bin gekommen, dich zu treffen.« Guy wies mit einem Kopfnicken auf den Toten. »Ein Freund von dir?«
»Nein, wenn ich auch zugeben muss, über seinen Tod ein wenig beunruhigt zu sein.«
»Weil kein Engländer jemals mit einer Garrotte töten würde, wohingegen die Mörderin ... wo auch immer du kürzlich gewesen bist ... auf genau diese Art töten?«
Ein Mann in einer grünen Jacke und von drahtiger Statur ging rasch davon, verschwand in der Menge.
Jack trat einen Schritt zurück und tippte an seine Mütze. »Guy, kümmerst du dich bitte um unsere lästigen Zuschauer und um diese bedauernswerte irdische Hülle?«
»Nur, wenn du mir später bei einem Brandy alles erklärst.«
Die sich drängelnden Menschen versperrten Jack für einen Moment den Blick auf die grüne Jacke. »Der Brandy ist dir sicher, die Erklärung weniger.«
Guy zog eine Augenbraue hoch. »Falls du lange genug überlebst, um es bis nach Wyldshay zu schaffen, wird auch der Rest deiner Familie sehr glücklich sein, dich zu sehen.«
»Ich werde mich ohne Zweifel zu gegebener Zeit im Haus meiner Ahnen sehen lassen«, erwiderte Jack. »Aber nicht, bevor ich meinen Mantel gewechselt habe. Meiner Mutter würde dieser hier nicht gefallen. Sorg dafür, dass sich niemand an den Taschen des Toten zu schaffen macht, bis ich zurück bin.«
Guy zögerte nur einen Moment, ehe er sich umwandte. »He, ihr da!«, rief er. »Tragt diesen Mann in das Rose and Crown! Es hat einen Unfall gegeben ...«
Zwei Arbeiter tippten an ihre Hüte und kamen herbei. Die Menge begann, sich zu zerstreuen. Der Mann in der grünen Jacke war verschwunden.
Jacks Pistole schmiegte sich wie eine Geliebte in seine Hand, als er von der Menge verschluckt wurde. Er folgte jetzt nur seinem Instinkt: seinem Instinkt und dem vagen Geruch nach Sandelholz, fast nicht wahrnehmbar im strömenden Regen.
Er sah den Mann in Grün in dem Augenblick wieder, als dieser in eine verlassene Seitenstraße einbog. Jack folgte leise. Seine Beute lief an einem Stapel Fässer vorbei, schaute dann zur Seite und blieb stehen: Höchstwahrscheinlich war er Malaie, jetzt allerdings eine Person ohne Identität oder Heimat, einer aus der Vielzahl entwurzelter Seemänner des weltumspannenden Empire.
Aus dem Schatten des überhängenden ersten Stockwerks eines Hauses trat eine andere Gestalt hervor: ein Mann mit einem blauen Turban.
Jack zog sich hinter einen Stapel Kisten zurück und beobachtete.
Der Malaie zog den Seesack des ermordeten Seemanns unter seiner grünen Jacke hervor. Der andere Mann riss ihn ihm aus der Hand und schüttete den Inhalt auf die Straße. Er durchsuchte sie und zischte dann einige Worte. Der Malaie zuckte mit den Schultern und hob beide Hände in einer umfassenden Geste.
Nichts!
Der Mann mit dem Turban schleuderte den leeren Seesack zur Seite und trat dichter an den Malaien heran, als wollte er seiner Frage Nachdruck verleihen. Dieser schüttelte den Kopf. Schnell wie eine Kobra packte eine offene Hand ihn an der Kehle. Der Malaie verdrehte die Augen und keuchte. Ein weiterer kurzer Wortwechsel folgte, ehe sein Angreifer die Hand sinken ließ und eine Hand voll Münzen auf das Pflaster warf.
Der Malaie bückte sich, um das Geld aufzusammeln. Der Mann mit dem blauen Turban ging davon, bog um eine Ecke und verschwand.
Die Münzen glänzten auf den Steinen. Jack bewegte sich lautlos weiter. Doch seine Beute wandte ihm den Kopf zu, die Zähne entblößt. Seine Hände bewegten sich rasch.
Noch schneller als er schlug Jack zu, traf mit der Handkante den Nacken des Mannes, brachte ihn zu Fall.
Der blaue Turban war in eine Gasse verschwunden, die zu einem Labyrinth von Lagerhäusern, Läden und Mietshäusern führte. Wo sich einige Gassen kreuzten, verloren sich die Fußspuren des Mannes in einem Sumpf von Spuren. Ihr Besitzer war verschwunden. Nicht, dass es etwas machte. Er war nur ein weiterer Handlanger, obwohl wahrscheinlich ein weitaus gefährlicherer. Ohne Zweifel war er inzwischen einige Straßen weiter und würde seinem Auftraggeber nichts zu berichten haben außer einem Fehlschlag.
Jack kehrte zu dem bewusstlosen Malaien zurück und zog ihn unter den Schutz des überhängenden Geschosses. Der Seesack war schäbig, der typische Beutel eines Seemannes. Der Stoff roch nach Salzwasser, Teer, Schweiß und Tabak. Nicht nach Sandelholz. Nicht nach dem wilden, fremdartigen Duft des Ostens. Überhaupt nicht.
Ohne viel Hoffnung leerte er die Taschen des Mannes aus, untersuchte jede Naht und jeden Zoll des Futters. Die todbringende Drahtschlinge steckte gefaltet in seinem Stoffgürtel. Sonst hatte er nichts versteckt. Die nackten Füße des Seemanns lagen verdreht auf den nassen Steinen, er wirkte seltsam verletzlich. Jack starrte hinunter in das braune Gesicht und fragte sich, warum zum Teufel er Mitleid für einen Mörder empfinden sollte.
Er schaute wieder auf und betrachtete die verstreut herumliegenden Habseligkeiten, ehe er alles -- wie ein kleiner Dieb - aufsammelte, was irgendwie von Wert zu sein schien: die Münzen, die Pfeife und das Messer des Seemanns aus Bristol, nur das Taschentuch ließ erliegen.
Nach kurzem Überlegen nahm Jack jedoch auch dieses noch an sich.
Die Postkutsche hatte ihre Reisenden ausgespuckt und neue aufgenommen und war wieder abgefahren. Die Schiffspassagiere hatten sich auf die verschiedenen Gasthäuser oder Beförderungsmittel verteilt. Die Straße war dem Regen überlassen, der im Dunst aufspritzte, als würde er aus Eimern ausgeschüttet werden.
Ein Wirbel von schwarzem Stoff trieb vor den Fenstern der Läden entlang. Jack umging Pfützen und Unrat und fing den zerbrochenen Schirm an dessen Handgriff ein.
Dann, angesichts seines jämmerlichen Versagens, lachte er.
»Mein liebes Kind, du bist ja nass bis auf die Haut«, sagte Tante Sayle, als sie die Tür öffnete. »Du musst eine schreckliche Reise hinter dir haben von Lyme hierher! Wir haben versucht, vom Fenster Ausschau nach dir zu halten, aber es war zwecklos bei diesem schrecklichen Regen und den vielen Menschen. Waren die Straßen sehr aufgeweicht?«
Miss Anne Marsh setzte ihren Korb ab, löste ihre Holzschuhe und beugte sich vor, um ihre Tante auf die Wange zu küssen. Lächerlich, noch immer dieses Zittern der Nerven zu spüren, wie von einer Gefahr, der man knapp entronnen war!
»Ein einziger Morast! Deshalb hat sich unsere Ankunft auch so erheblich verzögert.« Sie nahm ihre nasse Haube ab und versuchte, jegliches noch nachklingende Unbehagen zu verdrängen. »Ich war gerade aus Mr Trents Kutsche gestiegen und hatte begonnen, den Hügel hinunterzugehen, als ich geschüttelt und gequetscht wurde wie ein Apfel in der Presse. Ist vor Kurzem ein Schiff angekommen?«
»Die Venture ist aus dem Orient zurückgekommen. Und die Familie? Sind alle wohlauf?«
»Alle lassen dich lieb grüßen. Ich habe einige von Papas letzten Predigten für dich, und Mama schickt diesen Korb mit frischem Gemüse aus unserem Garten und dazu ein schönes fettes Huhn.«
Tante Sayle strahlte. »Außerdem hat mir mein Bruder meine Lieblingsnichte geschickt, was noch besser ist. Jetzt lass uns zusehen, dass du aus diesen nassen Kleidern herauskommst, bevor du dir den Tod holst.«
Wasser lief aus der Haube. Anne schüttelte sie aus und reichte sie Tante Sayles Zofe. Ebenso Freundin wie auch Kameradin und Dienerin, stand Edith neben ihrer Herrin und grinste, als wäre sie noch immer dafür da, ein kleines Mädchen mit einem aufgeschlagenen Knie zu trösten. Es gab einen Augenblick des Durcheinanders durch das Ablegen der Haube und das Entwirren von Annes Ridikül, der an einem Band von ihrem Handgelenk hing, ehe man ihr aus dem pelzverbrämten Mantel helfen konnte.
»Gott steh uns bei«, sagte Edith. »Er ist durch und durch nass und so schwer wie Blei.«
Anne umarmte sie rasch. »Als sich der Himmel geöffnet hat, haben alle den Kopf eingezogen. Ich bin mit jemandem zusammengestoßen und habe dabei meinen Schirm verloren.«
Jetzt war es heraus! Sie fühlte sich besser, so, als hätte sie keinen Blick auf das Gesicht des Seemannes erhascht, das vor Angst verzerrt gewesen war. Die Welt begann zu ihrer alltäglichen Normalität zurückzukehren, in der das Leben wieder sicher und ruhig verlief.
Edith ging in die Küche, während Tante Sayle missbilligend den Mund verzog. »Mr Trent hätte dich begleiten müssen.«
»Er wollte es auch, Tante. Wirklich, er hat versucht, darauf zu bestehen, aber er musste sich um die Pferde kümmern, und wir waren ohnehin schon so spät, dass ich nicht warten wollte. Sein Diener wird mir später meine Reisetasche bringen, und Arthur wird vorbeikommen, um auf Wiedersehen zu sagen, ehe er nach London fährt, seinen Vater zu besuchen.«
»Wegen des Kontraktes? Gut, gut!« Mrs Sayle ging voran in den Salon und ließ sich auf einem Sessel nahe dem Feuer nieder. »Du bist verlobt und wirst einen höchst akzeptablen jungen Mann heiraten, meine Liebe, auch wenn es solch eine stürmische Werbung war. So zurückgezogen auf dem Lande zu leben, wie du es tust, und nicht sehr viele neue Leute zu treffen, hat mich schon ein wenig fürchten lassen, du würdest niemals heiraten.«
Anne setzte sich. Kleine Wölkchen von Dampf stiegen aus ihrem nassen Kleidersaum auf. Der Zwischenfall auf der Straße war ein unbehaglicher Moment gewesen, das war alles. Wie könnte das Leben besser sein als dies hier? Man hatte ihr den Hof gemacht. Sie hatte angenommen. Sie würde in einigen wenigen Monaten verheiratet sein.
»Ich weiß, ich bin im Allgemeinen nicht sehr freundschaftlich mit Fremden«, meinte sie, »aber Mr Trent scheint schon fast ein Mitglied der Familie zu sein. Auch wenn sein Glaube strenger ist als unserer, sind er und ich seit unserer allerersten Begegnung sehr gut miteinander ausgekommen. Doch im Moment gibt es nichts Schöneres als ein Feuer, das hell im Kamin brennt, besonders, wenn der Regen an den Fenstern hinunterläuft und der Wind im Kamin heult!«
»Mir gefällt es noch immer nicht, daran zu denken, dass du dich ohne die Begleitung eines Gentleman durch solch ein Gedränge gekämpft hast.«
»Es waren nur ein paar Schritte die Straße hinunter, die ich sehr gut kenne -- nur eine kleine Übertretung.«
Mrs Sayle stieß ein kurzes Schnauben aus. »Diese Gegend ist ganz und gar nicht mehr das, was sie war, als Captain Sayle noch lebte. All dieses Gedränge und die Seeleute und das Gesindel! Selbst wenn alle Passagiere der Venture die ehrenhaftesten Menschen der Welt wären, hätte alles Mögliche passieren können. Mr Trent hat schlecht daran getan, das zu gestatten, und das werde ich ihm heute Abend sagen.«
»Ich bitte dich, es nicht zu tun, Tante! Du würdest ihn damit in sehr große Verlegenheit bringen.« Anne begann, ihre nassen Stiefel aufzubinden. »Was hätte mir denn passieren sollen, abgesehen vom Verlust meines Regenschirms und von ein bisschen Nässe in meinen Kleidern ...«
Die Tür wurde geöffnet, und Edith betrat wieder das Zimmer. Doch sie brachte nicht das Tablett mit dem Tee. Ihr Gesicht wirkte so bestürzt, als drohten die Legionen einer fremden Macht damit, in die geordnete Welt der Familie ihrer Herrin einzudringen.
»Das war in Eurem Korb unter dem Huhn, Miss Marsh«, sagte Edith. »So ein seltsames Ding! Ich weiß nicht, was man damit macht.« Das Mädchen legte ihr Problem in Annes Hände.
»Grundgütiger Gott!«, rief Anne. »Kein Wunder, dass der Korb so schwer war!«
Sie drehte den Gegenstand hin und her, strich mit einer Fingerspitze über die Oberfläche, über die roten Spuren darauf wie von Rost; sie berührte die lange scharfe Schneide, die gezackt war wie der Rand eines Blattes und die lange Zeit in der Erde konserviert worden war: Es war ein Zahn, der einem Geschöpf gehört habe musste, das größer und gefährlicher gewesen sein musste als alles, was auf der Welt existierte, und der durch den Druck der Zeit zu Stein geworden war.
Ein Schauder durchlief sie angesichts der Merkwürdigkeit dieses Fundes.
»Unter Mamas Huhn, sagst du?« Sie begegnete Tante Sayles Blick und schaute dann in Ediths besorgtes Gesicht. »Aber ich habe das noch nie im Leben gesehen!«
Jack betrat das Rose and Crown. Man hatte den toten Seemann auf einen Tisch in der hinteren Schankstube gelegt, ein Tuch bedeckte sein Gesicht. Guy hatte es sich in der Nähe auf einem Stuhl bequem gemacht, die Beine weit von sich gestreckt und die Arme über der Brust verschränkt. Eine Flasche Brandy stand neben den Füßen des Toten, daneben zwei leere Gläser.
Guy richtete sich auf, als wollte er Jack die Hand reichen, doch sein Lächeln verschwand, als er dessen Blick begegnete und sich stattdessen zurücklehnte. Einen Moment lang brachte Schmerz Jacks Entschlossenheit ins Wanken. Er ignorierte ihn, warf den Regenschirm in eine Ecke und ging zu dem Toten.
»Armer Kerl!« Jack zog das Tuch zurück, um das Gesicht des Mannes zu betrachten. »Ein Streit wegen einer Frau, meinst du nicht auch?«
»Nein«, erwiderte Guy. »Du bist viel zu sehr an seinem Tod interessiert. Wann zum Teufel bist du nach England zurückgekommen?«
Der Gesichtsausdruck des toten Seemanns war starr und leer. »Vor drei Tagen.«
»Aber ich dachte, du wärst mit der Venture gekommen?«
»Bin ich auch, doch ich habe das Schiff in Portugal verlassen. Wegen des schlechten Wetters war sie spät dran. Ich habe mir ein Fischerboot gemietet.«
»Dieser Regen ist nur das Schwanzstück eines Sturmes. Wenn du ihn in einem kleinen Boot durchfahren hast, hast du dein verdammtes Leben riskiert und überdies das von jedem, der verrückt genug war, dir zu ... «
»Nicht verrückt genug: gierig genug.« Jack zog das Tuch über das wächserne Gesicht. »Mein Gold hat lauter gesprochen als ihre Angst.«
»Kannst du mir sagen, warum du das getan hast?«
»Nein, aber ich kann dir sagen, dass der Mörder dieses Man-
nes in einer Gasse in der Nähe gefunden werden wird.«
Es gab eine kleine Pause, ehe Guy wieder zu sprechen an-
fing. »Er ist tot?«
Jack wandte dem Seemann den Rücken zu und lächelte auf seinen Cousin herunter. »Ich habe ihn nicht getötet, wenn es das ist, was du fürchtest. Ich habe ihn nur bewusstlos geschlagen.«
»Kann man den Mann befragen?«
»Er würde nicht antworten. Ich würde mein Leben darauf verwetten, dass er kaum Englisch spricht. Aber traurig für ihn ist, dass die Mordwaffe noch in seinem Gürtel steckt. Deshalb wird er gehängt werden und unter Fremden sterben, eine halbe Weltreise entfernt von seiner Heimat ... «
»Aber obwohl er dies Schicksal verdient hat, ist dir der Gedanke daran zuwider?« Guy schenkte von dem Brandy ein. »Ich gebe dir nicht die Schuld. Trink einen Brandy.«
Jack nahm das angebotene Glas und trank es leer. »Ich habe großes Interesse daran, meinen Platz im Familien-Mausoleum hier in England zu finden, wenn meine Zeit kommt. Ich habe nicht vor, in einem Fass eingelegt nach Hause geschickt zu werden.«
»Deine Mutter wird sehr froh sein, das zu hören«, bemerkte Guy. »Was geschieht jetzt?«
»Das hier ist, bis auf die Garrotte, die weltliche Habe des Mörders sowie der Inhalt des Seesacks, den unser bedauernswerter Seemann aus Bristol mit sich getragen hat.«
Er schüttete die Sammlung der kleinen Gegenstände auf den Sitz eines Stuhls und ging dann zum Fenster, um auf die nackte Wand gegenüber zu starren. Regen strömte die Scheiben herunter.
»Du bist zum Dieb geworden und hast den Galgen riskiert, nur um diesen wertlosen Plunder zu stehlen?«, fragte Guy. »Sie können mich nicht hängen, das weißt du.«
»Wenn du weiterhin solche Kleider trägst«, entgegnete Guy trocken, »könntest du am nächstbesten Baum für die Krähen aufgehängt werden, einfach nur fürs Niesen.«
Jack lachte - nicht in der ironischen Stimmung, die er sich auf der Straße gestattet hatte, sondern es war ein Lachen aus echter Heiterkeit. Die Anspannung, die übergroße Wachsamkeit begannen zu schwinden. Noch immer grinsend, drehte er sich um. »Zur Hölle, Guy, aber ich bin verdammt froh, dich zu sehen! Kein anderer sonst würde solch eine grenzenlose Selbstbeherrschung aufbringen. Ja, ich bin in eine Sache verwickelt, die der Geheimhaltung unterliegt. Nein, ich kann dir nicht erzählen, um was es geht. Ich habe gerade einen Mann bestohlen. Bitte schließt Eure tugendhaften Augen, Sir, während ich jetzt den Leichnam eines weiteren Mannes ausraube.«
»Meine Augen schließen? Bist du verrückt? Ich würde mir das um nichts in der Welt entgehen lassen. Also, was könnte unser Seemann in seinen Taschen tragen, das zu stehlen seinem Mörder nicht gelungen ist?«
Jack goss sich noch ein Glas Brandy ein, ehe er sich wieder an seinen Cousin wandte. »Das willst du gar nicht wissen. Wirklich nicht. Hier, nimm diese Karaffe und bitte den Wirt, sie mit einem guten alten Brandy aufzufüllen.«
»Kannst du mir dann wenigstens sagen, warum du all dieses Zeug gestohlen hast?«
»Sicher. Falls irgendjemand mich dabei beobachtet hat, so war ich nur ein kleiner Dieb, der an Geld interessiert gewesen ist. Einen Mann niederzuschlagen und ihn dann nicht zu berauben, hätte viel zu verdächtig ausgesehen.«
»Verdammt, Jack!« Guy grinste, während er aufstand und nach der leeren Karaffe griff. »War dir jemals jemand überlegen? Oh, antworte nicht darauf - aber ich danke Gott, dass du wenigstens zu Hause bist, auch wenn niemand glauben würde, dass ein derart verrufener Halunke so ehrenwerte Verwandtschaft hat. Ich hoffe, du bleibst lange genug am Leben, um dich bald in Wyldshay sehen zu lassen?«
»Voraussichtlich werde ich irgendwann in der kommenden Woche in das Haus meiner Vorfahren zurückkehren und nach gemästeten Kälbern und einem Freudenfest verlangen.«
»Was du in vollem Maße bekommen wirst. Du bleibst dieses Mal für immer?«
»Ich werde mit dem nächsten Schiff nach Asien zurückkehren.«
Guy blieb an der Tür stehen. »Deiner Mutter und deinen Schwestern wirst du damit das Herz brechen.«
Jack starrte in seinen Drink und hoffte, seine Verärgerung würde ihm nicht an der Stimme anzuhören sein. »Und wie geht es meinem furchteinflößenden Vater zurzeit?«
»Seiner Gnaden geht es den Umständen entsprechend recht gut«, erwiderte Guy. »Er vermisst dich.«
»Ich vermisse ihn auch. Ich vermisse sie alle.« Ein kleiner Rest der bernsteinfarbenen Flüssigkeit bedeckte den Boden seines Glases. »Gott, für einen Moment dachte ich -- als du ihn nicht zuerst nanntest -, dass der Duke während meiner Abwesenheit gestorben wäre.«
»Er war krank. Ich denke, er ist noch immer leidend. Du wusstest das sicherlich? Hat Ryder dir die Neuigkeiten nicht mitgeteilt?«
Der letzte Tropfen Brandy floss Jacks Kehle hinunter. »Liza schreibt mir, während Ryder aus der Ferne zustimmend nickt. Doch alles, was ich von ihnen höre, ist Monate alt, wenn ich den Brief bekomme ...«
Es war da, ein leichtes Zittern, das die Tiefe seiner Gefühle verriet. Jack atmete durch, um es zu kontrollieren.
»Ich werde noch Brandy holen«, meinte Guy.
Jack sah seinem Cousin nach, als er das Zimmer verließ. Sie waren gleich alt und gleich groß, größer als die meisten Männer, und sie standen sich vielleicht näher als irgendeinem anderen ihrerVerwandten. Jackwürde seinem Cousin sein Leben anvertrauen. Er würde nicht zögern, ihn in dieses Abenteuer einzubeziehen, wie gefährlich es auch war, denn er hatte absolutes Vertrauen darauf, dass Guy auf sich aufpassen konnte. Dennoch war es, als hätte die weite Leere der Wüste Gobi von seiner Seele Besitz ergriffen.
Hatte Jack Mauern wie die eines Gefängnisses um ihn errichtet - selbst Guy gegenüber -, und das nur, weil es ihm unmöglich war, das grausame Gewöhntsein an Einsamkeit und an das Auf-sich-selbst-gestellt-Sein abzulegen?
Jack durchsuchte die Taschen des toten Seemanns und kontrollierte sie dann noch einmal, wobei er auch die Nähte und die Schuhe genau prüfte. Dabei ignorierte er seinen instinktiven Widerwillen gegen dieses Tun. Bald lagen einige Gegenstände aufgereiht auf dem Tisch, ganz gewöhnliche, bedeutungslose Dinge. Jack starrte sie einige Minuten lang an. Der Seemann aus Bristol musste das Fossilienstück von der Venture heruntergebracht haben - sonst wäre der Malaie nicht angeheuert worden, ihn zu überfallen. Hatte er es vielleicht nicht mehr bei sich gehabt, als er getötet worden war?
Er schloss die Augen und versuchte, sich an jedes Detail der Szene zu erinnern: die Menschenmenge, der verzweifelte Seemann, eine junge Lady mit einem Korb ...
Guy betrat das Zimmer. »Hast du gefunden, was du gesucht hast?«
Jack sah auf. »Nein.«
»Dann komm jetzt mit mir nach Wyldshay. Meine Kutsche ist hier, mit dem schönsten Paar Pferde, die Tattersall je zum Verkauf angeboten hat.«
»Ich kann nicht.«
»Der Duke ist krank, Jack.« Der Brandy funkelte, als Guy die Gläser wieder füllte. »Nicht lebensbedrohlich, denke ich, doch alle sehnen sich verzweifelt danach, dich zu sehen. Wäre es nach ihnen gegangen, wären deine Schwestern jetzt hier, um dich zu bestürmen.«
»Wer hat sie davon abgehalten?«
»Die Duchesse hielt es nicht für sonderlich passend, ihren Töchtern zu erlauben, wie eine Schar Bauernmädchen in einem gewöhnlichen Gasthaus zu warten.«
»Also wurde dir diese Aufgabe übertragen?« Jack lächelte seinen Cousin gequält an. »Gott segne meine Mutter! Sie ist eine kluge Frau - und danke auch dir, Guy.«
»Was zum Teufel soll ich ihnen sagen?«
»Dass ich nicht auf der Venture gewesen bin und dass du mich nicht gesehen hast.« Der Brandy brannte. Jack stellte das leere Glas ab. Es war Zeit aufzuhören, ehe er betrunken sein würde. »Sag ihnen, du hast herausgefunden, dass ich in Portugal von Bord gegangen bin und jetzt auf dem Landweg reise. Und dass ich einem anderen Passagier eine Nachricht mitgegeben habe: Da Napoleon jetzt fort ist, ist das für mich die Gelegenheit, mir Europa anzusehen.«
Schweigen trat ein. Guy wandte sich ab, seine Schultern wirkten steif.
»Ich bin mir sehr wohl im Klaren darüber, dass eine solche
Nachricht die Menschen verletzen wird, die mich am meisten
lieben«, fügte Jack ruhig hinzu. »Aber ich kann nicht anders.« Guyfuhrherum. »Du bittest mich darum, für dich zu lügen.« »Ja.«
»Ist diese Sache so wichtig?«
»Sie ist so wichtig.«
»Und du überlässt es mir, mich um diese arme Kreatur«, Guy deutete auf den Leichnam, »und deren Mörder zu kümmern?«
»Ja.«
»Du bist ein verdammt kaltblütiger Hund geworden, Jack.«
Es wurde ganz ohne Bosheit gesagt, doch die Worte brannten in seinem Herzen wie der Brandy in seiner Kehle. Noch nie zuvor hatten er und Guy sich nach einer so langen Zeit der Trennung wiedergetroffen, ohne sich zumindest die Hand zu geben ...
»Ich vertraue darauf, dass du diese Nachricht weniger hart klingen lassen wirst, wenn du sie überbringst, Guy. Es tut mir leid, dass ich es dir nicht erklären kann. Könnte ich es, wärst du der Erste, dem ich davon erzählen würde.«
»Ich denke, vielleicht schuldest du als Erster deiner Mutter diese Erklärung«, entgegnete Guy. »Was wirst du jetzt unternehmen?«
Jack bückte sich, um den Regenschirm aufzuheben. Dort, wo das Wasser vom Stoff getropft war, hatte sich eine kleine Pfütze auf dem Boden gebildet. Erinnerungen schimmerten auf wie Reflektionen in einem See: die Lady, die darum kämpfte, den Schirm gegen den Wind zu stemmen; ihr kühnes Gesicht unter der englischen Strohhaube, nass vom Regen; ihr Korb, den sie über dem Arm getragen hatte, als sie im Gedränge von diesem Seemann angerempelt worden war ...
Jeder, der das sonst noch beobachtet hatte, musste es auch gesehen haben. Früher oder später würden sie zu derselben Schlussfolgerung kommen wie er. Furcht erfüllte sein Herz.
Er schüttelte die Nässe von dem schwarzen Stoff und schloss den Schirm. »Den hier der Dame zurückgeben, die ihn verloren hat«, antwortete er.
...
Übersetzung: Susanne Kregeloh
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Julia Ross
Julia Ross wuchs in England auf und studierte in Edinburgh, Schottland, woher ihr Vater stammt. Nun lebt sie im Westen der USA, wo sie mit ihren historischen Liebesromanen sehr erfolgreich ist. Für zwei ihrer Romane hat sie bisher Preise erhalten.Mehr Informationen über die Autorin und ihre Bücher erhalten Sie auf ihrer Homepage unter www.juliaross.net.
Bibliographische Angaben
- Autor: Julia Ross
- 2012, 1, 480 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008799
- ISBN-13: 9783868008791
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