Tage des Monsuns
Südindien, 1875: Katrina geht eine Vernunftehe mit dem mysteriösen Aidan Landor ein. Doch Aidan verschwindet immer wieder für einige Zeit. Und so langsam spürt Katrina, dass sie mit ihrem geheimnisvollen Ehemann mehr als nur die...
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Produktinformationen zu „Tage des Monsuns “
Südindien, 1875: Katrina geht eine Vernunftehe mit dem mysteriösen Aidan Landor ein. Doch Aidan verschwindet immer wieder für einige Zeit. Und so langsam spürt Katrina, dass sie mit ihrem geheimnisvollen Ehemann mehr als nur die Vernunft verbindet. Doch wird Aidan ihre Gefühle auch erwidern?
Lese-Probe zu „Tage des Monsuns “
Tage des Monsuns von Laila El Omari1
Ootacamund, Nilgiri-Distrikt, März 1875
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Vier Tage in einer Herberge, neben der sich das elendste Reiselager in den Bergen noch komfortabel ausnimmt, dachte Aidan Landor, während er auf dem Bett lag und, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, an die Zimmerdecke starrte. Rotes Frühlicht tastete sich in den Raum, ließ Konturen hervortreten und Schatten entstehen. Erste Schritte tappten über den Flur und die Treppe hinab, während die Stadt langsam erwachte. In dem Zimmer neben ihm weinte eine Frau in leisen Schluchzern. Zu viel Opium in der letzten Nacht. Ein weiterer Tag, an dem einem der Kopf schwamm und man in der Gewissheit trieb, dass sich nichts ändern würde. Während es im Zimmer langsam heller wurde, lauschte Aidan auf die Geräusche im Haus. Die Geschäftigkeit nahm zu, Türen wurden geöffnet und zugeschlagen. Die Frau hatte aufgehört zu weinen. Eine Absteige, in die jene Leute angeschwemmt wurden, die Ootacamund aufsuchten und sich nicht einmal zur untersten Gesellschaftsschicht der Stadt zählen konnten. Unverputzte Wände, deren Schäbigkeit auch das rotgoldene Licht des Vorabends nicht hatte kaschieren können, waren im Tageslicht grau und wirkten pockennarbig. Der Raum war nur notdürftig gesäubert worden, und der Abort im Flur verbreitete auf der Treppe einen beinahe unerträglichen Gestank. Im Gegensatz zu den unglücklichen Gestalten, die hier landeten, konnte Aidan sich jederzeit etwas Besseres leisten. Wer nach Ootacamund kam, hatte die Möglichkeit, unter zwei Hotels zu wählen: dem Dawson's Hotel, das an der Westseite der Stadt lag, wenn man diese über den Sigur-Pass betrat, und das Alexandra Chambers, ehemals Victoria - beides wäre Aidan um einiges lieber gewesen. Aber er würde ein paar Tage warten, sich in die Stadt eingliedern, unauffällig, so, wie er gekommen war. Wenn er sich ein Zimmer nahm, würde keiner wissen, wie lange er schon hier war. Brian würde dann bereits fort sein, Brian, sein bester Freund und Reisegefährte, der in eben diesem Moment den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Störe ich?« Ohne Aidans Antwort abzuwarten, trat er ein, warf die Tür hinter sich ins Schloss und ließ sich auf den einzigen Stuhl im Raum fallen. »Du hast nicht geschlafen«, schlussfolgerte er, mit Blick auf Aidan, der vollständig bekleidet auf dem Bett lag. Er wies mit dem Kinn zur Wand hin und schloss mit der Frage: »Waren wir zu laut?« »Nein.« »Thackery war gestern Abend kurz hier. Er wollte zu dir.« »Ich war nicht da.« »Das habe ich bemerkt. Er stand nämlich plötzlich unangemeldet in meinem Zimmer und wollte wissen, wo du zu fi nden bist.« Aidan hörte die unausgesprochene Frage, ging aber nicht darauf ein. »Was hast du ihm gesagt?« »Er soll heute wiederkommen.« Einen leisen Fluch ausstoßend, sah Aidan zur Decke. »Was hätte ich sagen sollen?« Brian streckte sich unbekümmert auf seinem Stuhl. »Ich werde übrigens doch schon heute weiterreisen. « »Und sie?« Aidan nickte zur Wand hin. »Bleibt hier. Ich habe es ihr heute Morgen gesagt.« »Wie immer zartfühlend, Brian. Aus dem Bett einer Frau zu steigen und ihr zu sagen, dass es vorbei ist.« Brian zuckte die Schultern. »Ich dachte, sie sei ein anständiges Mädchen«, sagte Aidan. »Sie hat ihr Elternhaus verlassen, um mit mir zu ziehen, obwohl sie mich kaum kannte«, antwortete Brian. »Nennst du das anständig? « »Was wird jetzt aus ihr?« »Ich habe ihr Geld gegeben, damit sie zu ihren Eltern zurückkehren kann.« Aidan sagte nichts weiter dazu, die Rolle des Fürsprechers verlassener Frauen stand ihm nicht besonders. Er war von Anfang an dagegen gewesen, Gillian mitzunehmen, aber Brian war allein in Kalkutta gewesen, und als sie später wieder aufeinandergetroffen waren, hatte er das Mädchen bei sich gehabt. »Wo geht es für dich hin?«, wechselte er das Thema. »Offi ziell zunächst über das West-Ghat bis zur Dekkan-Ebene.« Brian zwinkerte. »Inoffi ziell in Richtung Norden, Himalaja.« Aidan setzte sich auf und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Seine Augen brannten, hatten die ganze Nacht schon gebrannt vom Rauch der Opium-Pfeifen. »Du weißt, ich denke daran, mich hier im Distrikt niederzulassen.« »Immer noch die alte Idee von der Teeplantage? Mir war nicht bekannt, dass du neuerdings Reichtümer hortest«, spöttelte Brian. »Ich habe einiges gespart, und den Rest bekomme ich auch noch irgendwie zusammen.« »Denkst du, du wirst lange genug Ruhe haben?« »Zumindest lange genug, um alles vorzubereiten und die richtigen Kontakte zu knüpfen.« Brian stand auf und streckte sich. »Dann wünsche ich dir alles Gute«, verabschiedete er sich. »Und erzähl mir später, wie es war.« »Bis wir uns wieder sehen, interessiert es dich vermutlich ohnehin nicht mehr.« Damit spielte Aidan auf die lange Trennung und Brians immer nur kurz währendes Interesse an den Angelegenheiten anderer an. Brian blieb an der Tür stehen und drehte sich grinsend um. »Du als Teepflanzer, mein Freund, denkst du allen Ernstes, das würde ich mir entgehen lassen? Länger als zwei Monate hast du es doch nie an einem Ort ausgehalten.« »Manchmal wird es Zeit, einige Dinge zu ändern.«
Bis in den späten Vormittag hinein blieb Aidan in seinem Zimmer, lag auf dem Bett, fühlte die abgestandene Luft, die sich feucht in den Atemwegen festsetzte und die Haut mit einem Film überzog. Er hörte den lautstarken Streit aus Brians Zimmer, das Schlagen der Tür, Brians gemächlichen Schritt die Treppe hinunter. Im Zimmer nebenan ging etwas zu Bruch. Irgendwann schlief er ein und erwachte eine Stunde später. Seine Kleidung schien ihm am Körper zu kleben, aber nichtsdestotrotz war er erholt. Nachdem er sich einen Kampf mit einer der Mägde geliefert hatte - ein Mädchen mit den Ausmaßen einer Kriegsfregatte -, war ihm ein Bad bereitet worden. Später rasierte er sich, kleidete sich an und trat auf den schmutzigen Flur hinaus, in dem Bewusstsein, den ersten Schritt in ein neues Leben zu tun. Der Gedanke gefiel ihm und vertrieb die düstere Stimmung der letzten Tage. »Aidan?« Eine blonde junge Frau stand am Fuß der Treppe, an das Geländer gelehnt, so als warte sie schon länger. »Brauchst du Gesellschaft?« »Nicht in der Art, die dir vorschwebt, Gilly.« Gillian wurde brennend rot. »Brian ist fort.« Sie folgte ihm, als er an ihr vorbeiging. »Und was ist nun mit mir?« »Meines Wissens hat er dir Geld dagelassen.« »Gerade genug, um wieder nach Kalkutta zu meinen Eltern zu fahren. Als ich mit Brian weggegangen bin, hat mein Vater mir aber gesagt, ich dürfe nicht mehr heimkommen.« Aidan nickte desinteressiert. »Du wirst doch gewusst haben, worauf du dich einlässt.« »Brian hat gesagt, ich bedeute ihm etwas.«
»Aber natürlich hat er das gesagt. Oder hättest du sonst sein Bett geteilt?« Ihr stieg erneut das Blut in die Wangen, und Aidan war verwundert angesichts der Tatsache, dass sie nach all dem, was er von der Beziehung mitbekommen hatte, noch imstande war, zu erröten. Schließlich waren beide nicht gerade diskret gewesen. Die Hauswirtin stand an der Tür zur Gaststube und starrte Gillian forschend an. Wo immer sie übernachtet hatten, hatten sich Gillian und Brian als Geschwister ausgegeben. Zwar fehlte ihnen jede Ähnlichkeit, aber beide waren blond und hatten blaue Augen, so dass sich jeder, der ausreichend naiv oder willig war, ohne weiteres täuschen ließ. Dem Blick der Hauswirtin zufolge argwöhnte diese nach Brians Abreise, dass etwas nicht stimmte. »He, Mädchen«, rief sie dröhnend, »hängste dich sofort an den Nächsten?« Ihr Blick fiel auf Aidan, etwas wohlwollender, ehe sie Gillian erneut ankeifte: »Nimm deine Sachen und verschwinde! Das hier ist ein anständiges Haus.« »Mein ... Mr. Casey hat für eine weitere Übernachtung im Voraus bezahlt«, antwortete Gillian und schob das Kinn vor. »Für sich!«, widersprach die Wirtin. »Er ist fort, also kann ich das Zimmer neu vermieten.« »Er hat das Zimmer für mich bezahlt«, beharrte Gillian. »Davon, dass ich seine Hure hier weiter bewirten müsste, hat er nichts gesagt.« Die Wirtin verschränkte die stämmigen Arme vor der Brust. Aidan seufzte und drehte sich auf halbem Weg zur Haustür um. »Mr. Casey hat das Zimmer für fünf Nächte bezahlt, für sich und für die junge Dame.« »Das hab ich nur erlaubt, weil er gesagt hat, sie sei seine Schwester. « »Das mag sein, aber Sie haben sein Geld angenommen, und nun wurde er vorzeitig abberufen. Die junge Dame wird sich einer Reisegesellschaft anschließen und zu ihrer Familie zurückkehren. « »Ich dulde keine Dirnen in meinem Haus«, wiederholte die Wirtin störrisch. »Mr. Casey hat die junge Dame bis morgen unter meine Obhut gestellt, und ich meinerseits dulde es nicht, dass sie allein die Nacht auf der Straße verbringt.« Die Wirtin wollte widersprechen, blieb aber stumm, als Aidans Augen sich drohend verengten. »Nur noch bis morgen«, murmelte sie mürrisch. Gillian lief Aidan nach, als er aus der Tür hinaus auf die staubige Straße trat. »Danke.« Mit einem Schulterzucken tat er ihren Dank ab und sah sich um. Die gesamte Stadt schmiegte sich in bewaldete Bergsenken und Täler. Karren rumpelten die Straße entlang, ein junger britischer Soldat lehnte an einer Häuserwand und beobachtete das Treiben unter schweren Augenlidern hinweg. Teehandelskontore säumten die Straße, einheimische Diener eilten in die Gebäude hinein und wieder heraus, verschiedene Dialekte mischten sich. Zwei weißgekleidete Inder traten in ein Handelskontor schräg gegenüber, während sie eifrig miteinander diskutierten. Eine Gruppe junger Sepoys ging die Straße entlang, unbewaffnet, denn das Gesetz untersagte die Herausgabe von Waffen an indische Soldaten, die der britischen Armee unterstanden. Zu deutlich standen allen noch die Greuel des Sepoy-Aufstandes vor Augen, der erst nach viel Blutvergießen niedergeschlagen werden konnte und 1858 zum Ende der East India Company geführt hatte. »Ich kann trotzdem nicht nach Kalkutta zurück«, beharrte Gillian. »Das, meine Liebe, ist nicht mein Problem.« Gegenüber der Herberge vor dem Kontor mit der Aufschrift Ramsay Tea hielt die schwarze Kutsche einer sichtlich wohlhabenden Familie. Der Kutschenschlag wurde von einem weißgekleideten indischen Diener geöffnet, und ein Engländer stieg aus, der seinerseits einer Frau und einem kleinen Jungen von höchstens vier Jahren heraushalf. Der Mann war überaus korrekt gekleidet und trug einen Ausdruck blasierter Langeweile zur Schau. Der kleine Junge wurde von der Frau an die Hand genommen, als er im Begriff war, auf die Straße zu laufen, und ließ sich sichtlich widerwillig festhalten. Neben Aidan stieß Gillian einen Laut aus, der sowohl verächtlich als auch neidisch klingen mochte. Vermutlich Neid, schloss er, angesichts der Tatsache, dass die junge Frau mit dem Kind genau das darstellte, was Gillian an Brians Seite hatte werden wollen. Diese Frau lief nicht Gefahr, verlassen und der allgemeinen Verachtung preisgegeben zu werden. Das würde ihre Familie nie zulassen. Aidan sah dem jungen Paar mit dem Kind nach, als es auf das Kontor zuging, und er konnte sich angesichts dieses offen präsentierten Familienlebens ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen.
»Du solltest heiraten«, sagte Charles Ramsay zu der jungen Frau an seiner Seite, die eben ihren Sohn ermahnte, nicht mit den Füßen den Staub aufzuwirbeln. »Wirklich, ich fi nde, du solltest heiraten.« Katrina zog ihren Sohn hinter Charles her über die Türschwelle zum Teekontor. So früh am Vormittag war kaum jemand hier, was ihr nur recht sein konnte. Vorsichtig sah sie zu ihrem Bruder, aber dieser neigte sich bereits über eine Liste mit Teelieferungen und schien keine Antwort zu erwarten. Ein junger Mann kam dienstbeflissen aus dem hinteren Bereich des Lagers. »Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Sir.« »Das hoffe ich ebenso«, antwortete Charles knapp, während er die Listen auf Fehler hin absuchte. Personal konnte man nicht trauen, das hatte seine Erfahrung immer wieder bestätigt. Er war auf der Hut. »Einen schönen guten Morgen, Madam.« Der junge Mann zwinkerte nervös mit den Augen und wartete Katrinas Erwiderung des Morgengrußes nicht ab, sondern befasste sich mit einer Kiste für den Teetransport, die er zum Schutz gegen Feuchtigkeit mit Papier ausschlug. »Caleb!«, rief Katrina, als sie bemerkte, dass ihr Sohn nach der Teewaage greifen wollte. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum du ihn mitgenommen hast«, sagte Charles, ohne aufzusehen. So recht wusste Katrina das selbst nicht. Vielleicht hatte sie ihren Bruder, der mit Kindern nicht viel anfangen konnte, einfach ärgern wollen, aber nun war sie ein wenig überfordert. »Seine Ayah ist krank.« »Sie ist ständig krank. Vielleicht solltest du dich nach jemand anderem umsehen. Sie ist faul und unzuverlässig. Cynthia fragt sich immerzu, was du an ihr findest.« Seine Stimme besagte deutlich, dass er die Antwort auf diese Frage nicht geben konnte. »Caleb ist an sie gewöhnt.« Zudem fand Katrina, dass dies ihre Schwägerin überhaupt nichts anging, aber das behielt sie für sich. Während sie im Lager herumstand und nichts anderes zu tun hatte, als auf ihren Bruder zu warten, war Katrina für die Ablenkung durch ihr Kind beinahe dankbar. Sie hatte eigentlich gar nicht mitkommen wollen, aber sie konnte sich nicht ständig in ihr Zimmer einschließen, um voll Bitterkeit an Jahre zu denken, die ihr niemand zurückgeben würde. So viele verschwendete Gefühle, dachte sie, und für einen kurzen Moment wurde sie ein wenig schwermütig, was in der letzten Zeit öfter geschah. Ein Mann mittleren Alters betrat das Kontor. »Guten Morgen, Mr. Ramsay«, rief er, dann etwas kühler: »Ihr Diener, Mrs. Alardyce. «
»Mr. Jakes«, Charles sah gerade lange genug hoch, um dem Mann zu signalisieren, dass er dessen Ankunft zur Kenntnis genommen hatte. »Ich bin gleich für Sie da.« Katrina ging durch das Lager und atmete den aromatischen Duft der Tees aus den Nilgiri Hills ein. Weiter hinten lagerten auch andere Teesorten. Ihr Bruder legte großen Wert auf ein breites Sortiment, aber das meiste war Tee aus seinen eigenen Teegärten. Charles ging vollkommen im Teeanbau auf. Malzige Assamtees, feine, liebliche Tees aus Darjeeling und aromatischer Tee aus Ceylon, der dem der Nilgiri-Berge so ähnlich war, lagerten in Kisten, die gestapelt und fertig zum Transport waren. Manchmal bezog Charles sogar Tee aus China und Japan, fertigte Mischungen und verbrachte Stunden um Stunden damit, zu testen, wie viele Unzen verschiedener Tees für neue Geschmacksrichtungen vonnöten waren. Die Stimmen der Männer wurden leiser, als Katrina die hölzerne Treppe am Ende des Raumes hinaufstieg. Im oberen Stockwerk befanden sich die Wirtschaftsräume, von hier aus verwalteten Angestellte ihres Bruders sein Tee-Imperium. Katrina war sowohl mit den wichtigsten wirtschaftlichen Aspekten als auch mit vielen Feinheiten des Teeanbaus vertraut. Sie hatte gute Lehrer gehabt, erst ihren Vater, dann ... Stephen. Zwei Jahre, und sie war immer noch nicht imstande, an ihn zu denken, ohne dass ihr Herz heftig schlug und sie einen scharfen Schmerz verspürte. Von dem Fenster neben der Treppe aus hatte man einen Blick auf die von lavendelfarbenem Nebel umhüllten Berge, die sich in der Ferne abzeichneten. Der Distrikt Nilgiri gehörte zum westlichsten Teil des Tamilnads, grenzte im Westen an Kerala, im Norden an den Karnatik und im Südosten an den Coimbatore- Distrikt. Das gebirgige Plateau erstreckte sich von der Küste her, Wälder zogen sich über die Berge bis zu den Ebenen und grenzten an das tiefer gelegene Flachland. Flüsse teilten das Land und trafen wieder aufeinander, ehe sie in den Moyar mündeten. Nilgiri - neelam giri, die blauen Berge. Wie die Berge zu ihrem Namen gekommen waren, wusste niemand so richtig. Einige waren der Meinung, es liege an dem bläulichen Dunst, der die Berge umgab, andere wiederum sagten, die Bewohner der Ebenen hätten ihnen den Namen gegeben wegen der blau-violetten Blüten der Neelakurinji, jener magnolienartigen Staude, die alle zwölf Jahre erblühte. Moderne Reisende hingegen führten ihn auf die von den Briten gepfl anzten Blaugummibäume zurück. An manchen Tagen stand Katrina morgens an ihrem Fenster und sah zu den Bergen, traurig, weil ihr Leben noch dasselbe war wie am Abend zuvor. »Katrina!« Charles' Stimme drang zu ihr hoch. Sie eilte die Treppe wieder hinunter und stolperte beinahe über Caleb, der am Treppenabsatz saß und mit einem glänzenden Stein spielte. »Von Mr. Jakes«, sagte Caleb und streckte ihr die Hand mit dem Stein entgegen. Katrina wusste, dass von ihr Bewunderung erwartet wurde, und bemühte sich, dem gerecht zu werden. Obwohl sie sich an die Mutterrolle gewöhnt hatte, war es ihr manchmal beinahe unheimlich, sich in diesem Kind wiederzufinden, sowohl in dessen Temperament als auch im Aussehen mit dem hellen goldbraunen Haar und den grünen Augen. Ca- leb hatte äußerlich nichts von seinem Vater geerbt. »Katrina.« Charles klang nun etwas unduldsamer. »Das nächste Mal kümmerst du dich bitte selbst um ihn. Es kann nicht angehen, dass dein Sohn zwischen uns herumtobt, während wir geschäftliche Angelegenheiten besprechen.« »Es tut mir leid, Charles.« »Mr. Jakes sagte, er habe Stephen gestern gesehen.« Charles schien nicht zu bemerken, wie Katrinas Schultern sich plötzlich versteiften. »Seit wann ist er wieder in der Gegend?« »Da fragst du die Falsche«, antwortete sie kalt. »Ich hoffe, er bleibt nicht lange. Gerade haben die Leute aufgehört zu reden.«
Dafür ist ihre Feindseligkeit immer noch dieselbe, dachte Katrina. Ihr Bruder öffnete ihr die Tür, und sie trat auf die Straße hinaus, wo die Stimmen der Menschen sie wie ein wabernder Umhang umschlossen. Sie hätte ihren Bruder nicht begleiten sollen, dachte sie erneut, als ein Nachbar Charles auf der Straße grüßte und einen gemurmelten Gruß an sie anschloss, begleitet von einem ausweichenden Blick. Charles hatte, schon ehe sie losgefahren waren, gesagt, er wünsche keinerlei Einmischung in seine Geschäfte, es sei denn, er frage danach. Ihr Mitkommen hatte er nur angeregt, um sie endlich wieder unter die Leute zu bringen. Langsam, Schritt für Schritt, würde er sie wieder gesellschaftsfähig machen, und nun, nachdem er den Anfang gemacht hatte, konnte seine Frau sie demnächst mitnehmen, wenn Besuche anstanden. Katrina gab sich ruhig und angepasst, gehorsam der Familie ihres Bruders gegenüber, während alles in ihr schrie. Sie schaffte es, gelegentliche Anflüge von Unduldsamkeit hinter gesenkten Lidern zu verbergen, und wenn sie fürchtete, ihre Stimme nicht unter Kontrolle zu haben, schwieg sie. Sie war gefangen, und es gab keinen Weg hinaus. Ehe sie sich von Charles in die Kutsche helfen ließ, sah sie die Straße entlang, fing etwas von dem Leben auf. Gegenüber war eine heruntergekommene Herberge, vor deren Stufen ein dunkelhaariger Mann und eine blonde Frau standen. Die Frau sah zu ihnen hinüber und sagte etwas, auf das der Mann mit dem Anflug eines Lächelns eine Antwort gab, die sie sichtlich verärgerte. Sie raffte ihr Kleid, wirbelte herum und stürmte in die Herberge zurück. Der Mann machte sich nicht die Mühe, ihr nachzusehen, sondern beobachtete weiterhin das Treiben auf der Straße. Frei, dachte Katrina, als sie der blonden Frau mit den Blicken folgte, ich wünschte, ich wäre sie.
*
Ootacamund - Ooty, wie es die Engländer nannten - lag im Zentrum des Nilgiri-Distrikts. Mit seinem durch die Höhe bedingten milden Klima war es während der von April bis Juni dauernden ersten Saison die Sommerresidenz der in der Präsidentschaft Madras ansässigen Briten. Eine englische Stadt inmitten des Orients. Während Aidan von seinem Zimmer aus das Treiben auf der Straße betrachtete und sein Blick zu den sich über der Stadt erhebenden Bergen schweifte, war er sich sicher, dass es eine Gegend von dieser Schönheit in Indien kein zweites Mal gab. Über die tiefer gelegenen Regionen des Südwest- Ghats zogen sich sommergrüne feuchte Wälder, die sich entlang des Gebirgszugs des West-Ghats bis zur südlichen Spitze Indiens erstreckten und in denen Elefanten und Tiger beheimatet waren. Immergrüne Regenwälder bedeckten die höher gelegenen Gebirgsketten des Südwest-Ghats, dünnten mit zunehmender Höhe aus, so dass sie von offenem Grasland durchsetzt waren. Aidan bedauerte zutiefst, dass ihm momentan die Zeit für eine Reise dorthin fehlte. »Lieutenant Landor!« Die Stimme hinter seinem Rücken verschaffte sich wütend Gehör. Aidan drehte sich langsam vom Fenster weg, durch das er hinausgeschaut hatte, während sein Gesprächspartner stakkatoartig Wörter auf ihn abfeuerte. »Wie hausen Sie hier überhaupt?«, fuhr der Mann ungehalten fort. Aidan maß den Raum mit Blicken, als sähe er ihn zum ersten Mal, und nahm sich - wie er es seit seiner Ankunft jeden Tag tat - vor, sich eine andere Unterkunft zu suchen. Er war müde und überreizt, und als wäre das nicht genug, musste er sich bereits seit mehr als einer halben Stunde einen Vortrag seines aufgebrachten Vorgesetzten anhören. »Major Thackery, Sir, ich bedaure zutiefst, dass Sie sich wiederholt umsonst hierherbemühen mussten.« Aidan bemühte sich um eine salbungsvolle Stimme, was ihm mitnichten gelang.
»Hat Lieutenant Casey Ihnen nicht ausgerichtet, dass ich nach Ihnen gefragt habe?« »Doch, das hat er. Aber die Umstände machten es erforderlich, dass ich selten hier war.« »Die Umstände, Lieutenant?« Thackery winkte ab, als Aidan zu einer Antwort ansetzte. »Ich denke, ich möchte es nicht genauer wissen. Ist Ihnen bekannt, ob Lieutenant Casey diese Frau mitgenommen hat, als er fortging?« »Das hat er nicht, Sir.« »Gut«, sagte Thackery, »gut. Der Verweis, den ich Lieutenant Casey erteilt habe, gilt auch für Sie. Ich möchte nie wieder hören, dass Sie eine Mission in Begleitung einer Frau antreten.« Aidan lag eine Rechtfertigung auf der Zunge. Hatte er es Brian nicht viele Male gesagt? Und war Gillian denn nicht dessen Geliebte gewesen? Dann jedoch entschied er, Brian nicht in den Rücken zu fallen, und schwieg. Thackery indes schien nicht davon überzeugt zu sein, dass seiner Anweisung wirklich Folge geleistet wurde. »Wo ist das Mädchen jetzt?«, fragte er und sah die Kommode an, als erwarte er, sie aus einer der Schubladen springen zu sehen. »Ich glaube, bei ihren Eltern, Sir.« Aidan fiel ein, dass er Gillian seit dem Tag von Brians Abreise nicht mehr gesehen hatte. Am darauffolgenden Tag war sie fort gewesen. »Bei ihren Eltern? Etwas Dümmeres ist Ihnen nicht eingefallen? Ich warne Sie, Lieutenant, wenn mir zu Ohren kommt, dass Sie oder Lieutenant Casey erneut in ihrer Begleitung unterwegs sind ...« Er ließ offen, was dann geschehen würde, aber sein Blick war beredt. »Was werden Sie nun tun, bis ich Sie wieder brauche?« »Ich denke, ich werde hier bleiben.« »Hier?« Thackerys Blick maß das Zimmer erneut. »In Ootacamund, meinte ich. Es wird Zeit, sesshaft zu werden.« »Das ist mit Ihrem Lebenswandel wohl kaum vereinbar, oder planen Sie Ihren Abschied?« In Thackerys Stimme schwang unüberhörbar der Unterton mit, dass Aidan besser damit beraten war, es nicht zu tun. »Nein, Sir, natürlich nicht.« »Nun gut, wenn Sie bleiben möchten, nur zu. Sie wissen, wann Sie sich bei mir zu melden haben, bis dahin tun Sie, was Ihnen beliebt.« Ehe er das Zimmer verließ, sah er sich noch einmal um, so als suche er etwas - oder jemanden -, dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Aidan hatte nicht gewusst, dass Thackery von Gillian Kenntnis hatte - Brian hatte diesen Umstand wohlweislich verschwiegen. »Gut für dich, dass du weg bist«, murmelte er. Zwar verstand er den Unwillen seines Vorgesetzten, aber seine und Brians Mission war zur Zufriedenheit aller beendet worden. Wozu also im Nachhinein der ganze Ärger? Durch Thackery wieder an Gillian erinnert, überlegte Aidan, ob sie Brian vielleicht nachgereist war. Hatte sie mitbekommen, dass er in Richtung West-Ghat wollte? Sie konnte nicht wissen, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Vielleicht versuchte sie ja, sich durchzufragen, indem sie die Beschreibung von Brian überall weitergab. Einen Moment lang bedauerte Aidan sie. Sie würde ihn nicht weiter als bis ans Ende der Straße verfolgen können. Brian verschmolz mit der Umgebung, das hatte er immer schon meisterhaft beherrscht, ebenso wie Aidan. Anders hätten sie keine zwei Tage überlebt. Immer unsichtbar, sei es in der Kargheit der Berge oder inmitten von Menschenmengen. Zwei Schemen, die man sah, aber nicht wahrnahm. Schattenmenschen.
Langeweile. Katrina ließ das Wort lautlos über ihre Zunge rollen. Zeit, die in zähen Tropfen fiel. Um sie herum plätscherte das Gespräch zwischen ihrer Schwägerin Cynthia und deren Freundin Mrs. Lowell. Katrina lächelte, wie es von ihr erwartet wurde, während sie ruhig weiterstickte. Wieder und wieder senkte sie die Nadel in den feinen Batist, füllte eine Lilie mit weißem Seidengarn. Die Unschuld der Lilie. Hüte, was du hast, mein Kind. Eine Frau hat nicht mehr.
Sie bemühte sich aufrichtig, der Unterhaltung der beiden Frauen zu folgen, aber Cynthias hektische Stimme und ihre Angewohnheit, wenn sie etwas erzählte, im Satz einzelne Wörter zu betonen, waren entnervend, und Katrinas Gedanken schweiften fortwährend ab. Ihr Lächeln erschien ihr immer maskenhafter. Während ihr Körper starr verharrte, aufrecht, wie sich das gehörte, bewegte sich lediglich die Hand mit der Sticknadel. Sie wagte einen flüchtigen Blick unter den Wimpern hervor zur Tür. Mit Erlösung war nicht zu rechnen. Charles' Bemerkung, Stephen sei wieder in der Stadt, ging ihr nicht aus dem Kopf. In der vergangenen Nacht war sie so weit gegangen, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie morgens aufwachte und feststellte, dass die letzten zwei Jahre ein Traum gewesen wären. Sie würde die Augen aufschlagen, Stephen neben sich erblicken und glücklich sein, erleichtert, so wie man es immer war, wenn man aus einem Alptraum erwachte und wusste, dass das wirkliche Leben davon nicht berührt war. Sie war über dem Gedanken eingeschlafen. In ihrem Traum war sie wach geworden, und Stephen neigte sich über sie. Licht fi el fächerartig durch die halbgeöffneten Läden in den Raum, und sie war glücklich, war es so lange, bis ihre Ayah sie weckte. Vor zwei Jahren hatte sie sich vorgenommen, nicht mehr an Stephen zu denken. Aber wie sollte sie es verhindern, wenn sie in diesem überladenen Salon saß und sich die Bilder ihres früheren Lebens aufdrängten? Sie hatte keine Enge gekannt, es war ihr nie untersagt gewesen, auszureiten, sie hatte sich um die Teegärten gekümmert - erst gemeinsam mit ihrem Vater, dann mit Stephen. Sich frei in der Gesellschaft zu bewegen, als geachtete Tochter und Ehefrau, war ihr so selbstverständlich gewesen, dass sie schon beinahe eine gewisse Arroganz an den Tag gelegt hatte - auch das wurde nicht vergessen. Katrina nahm sich zusammen und versuchte, Anschluss an die Unterhaltung zwischen ihrer Schwägerin und Mrs. Lowell zu bekommen. Träge schwappten Worte über sie hinweg, während sie stickte, immer wieder dieselbe Bewegung. Sie hatte, seit sie hier saß, nicht damit innegehalten. Nun jedoch legte sie den kleinen Stickrahmen zur Seite und hob die Hand an die Augen. »Aber meine Liebe, ist dir nicht wohl?«, fragte Cynthia. Ich ersticke, dachte Katrina, ich ersticke. »Nur eine vorübergehende Mattigkeit«, antwortete sie. »Vielleicht legst du dich besser hin«, schlug Cynthia vor. »Das wollte ich auch eben vorschlagen«, schaltete sich Mrs. Lowell ein, hastig, als fürchte sie, nicht zu Wort zu kommen. »Sie sind in der Tat sehr blass.« Katrina zögerte keinen Moment lang, stand auf und verließ den Raum, tauschte die Monotonie des Salons gegen ihr abgedunkeltes Zimmer, wo die Läden an diesem Tag fest verschlossen waren. Manchmal ertrug sie die Weite der Landschaft nicht. Wenn sie keine Freiheit haben konnte, wollte sie sie auch nicht sehen. Als Kind hatte sie geglaubt, unsichtbar zu werden, wenn sie die Augen schloss. Katrina legte sich in ihr Bett und schloss die Augen. Nur für einen Moment unsichtbar sein, nur ein fl üchtiger Schatten.
»Dein ewiges Versinken in Selbstmitleid ist in höchstem Maße langweilig«, beschwerte sich Charles bei seiner Schwester. Diese wiederum dachte, dass sich da gerade der Richtige über Langeweile beschwerte. Er war ebenso wie Cynthia eine in ihrem vorgesehenen Stück agierende Gesellschaftspuppe. Lediglich wenn er über Tee sprach, kam Leben in ihn, die Augen bekamen einen ungewohnten Glanz, der Mund formte Wörter jenseits der gewohnten Phrasen und Ermahnungen. »Selbstmitleid«, fuhr Charles nach einer effektheischenden Pause fort, »ist genau das, was die Leute von dir erwarten. Du solltest dich selbstbewusst geben, aber mit der nötigen Zurückhaltung. Kein Schuldeingeständnis - nein, das auf keinen Fall -, aber dennoch, hm, sagen wir, reuig?« Er runzelte die Stirn, schien abzuwägen, ob die Begriffe reuig und sich keiner Schuld bewusst sein nicht einen Widerspruch bildeten, ehe er in kurzen abgehackten Worten seinen Vortrag fortsetzte, zwischendurch nach Luft ringend, wenn er sich besonders erregte. Offenbar schnürte ihm das Korsett der Gesellschaftsnormen ebenso die Luft ab wie Katrina ihres aus Stahlfedern. »Ich weiß beim besten Willen nicht, was aus dir werden soll«, war sein wenig ermutigender Schlusskommentar. »Wir müssen auch an Caleb denken. Manchmal glaube ich, es wäre das Beste gewesen, wenn Stephen ihn genommen hätte.« Zorn flammte in Katrina auf, und diesmal unternahm sie keinen Versuch, ihn zu unterdrücken. »Man muss wirklich ein Mann sein, um so etwas zu sagen.« »Er braucht einen Vater.« »Stephen hat schon vor langer Zeit entschieden, nicht der Mann zu sein, dem diese Rolle zukommt.« »Hätten wir gewusst, dass der Skandal unausweichlich ist, hätten wir mit ihm zu einer Einigung kommen können. Du solltest wieder heiraten, und mit einem Kind gestaltet sich das nun einmal schwierig.« »Fürchtest du, mich bis an mein Lebensende am Hals zu haben?« »Rede keinen Unsinn«, entgegnete Charles kalt. »Aber einer von uns muss ja mit klarem Kopf denken.« »Du könntest mich nach England schicken, bis dorthin ist der Skandal sicher nicht gedrungen.« Ein magerer Versuch der Provokation, und er rächte sich augenblicklich.
»Glaub mir, ich hätte es getan, wenn ich mir sicher gewesen wäre, dass dem so ist.« Manchmal fragte Katrina sich, ob ihr Bruder überhaupt wusste, wie viel Schaden man mit Worten anrichten konnte. Irgendwann würde sie es ihm sagen müssen. Sie könnte es jetzt tun, aber ihre Gedanken waren erfüllt von ihrem eigenen Leid.
Copyright der Originalausgabe © 2008 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Vier Tage in einer Herberge, neben der sich das elendste Reiselager in den Bergen noch komfortabel ausnimmt, dachte Aidan Landor, während er auf dem Bett lag und, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, an die Zimmerdecke starrte. Rotes Frühlicht tastete sich in den Raum, ließ Konturen hervortreten und Schatten entstehen. Erste Schritte tappten über den Flur und die Treppe hinab, während die Stadt langsam erwachte. In dem Zimmer neben ihm weinte eine Frau in leisen Schluchzern. Zu viel Opium in der letzten Nacht. Ein weiterer Tag, an dem einem der Kopf schwamm und man in der Gewissheit trieb, dass sich nichts ändern würde. Während es im Zimmer langsam heller wurde, lauschte Aidan auf die Geräusche im Haus. Die Geschäftigkeit nahm zu, Türen wurden geöffnet und zugeschlagen. Die Frau hatte aufgehört zu weinen. Eine Absteige, in die jene Leute angeschwemmt wurden, die Ootacamund aufsuchten und sich nicht einmal zur untersten Gesellschaftsschicht der Stadt zählen konnten. Unverputzte Wände, deren Schäbigkeit auch das rotgoldene Licht des Vorabends nicht hatte kaschieren können, waren im Tageslicht grau und wirkten pockennarbig. Der Raum war nur notdürftig gesäubert worden, und der Abort im Flur verbreitete auf der Treppe einen beinahe unerträglichen Gestank. Im Gegensatz zu den unglücklichen Gestalten, die hier landeten, konnte Aidan sich jederzeit etwas Besseres leisten. Wer nach Ootacamund kam, hatte die Möglichkeit, unter zwei Hotels zu wählen: dem Dawson's Hotel, das an der Westseite der Stadt lag, wenn man diese über den Sigur-Pass betrat, und das Alexandra Chambers, ehemals Victoria - beides wäre Aidan um einiges lieber gewesen. Aber er würde ein paar Tage warten, sich in die Stadt eingliedern, unauffällig, so, wie er gekommen war. Wenn er sich ein Zimmer nahm, würde keiner wissen, wie lange er schon hier war. Brian würde dann bereits fort sein, Brian, sein bester Freund und Reisegefährte, der in eben diesem Moment den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Störe ich?« Ohne Aidans Antwort abzuwarten, trat er ein, warf die Tür hinter sich ins Schloss und ließ sich auf den einzigen Stuhl im Raum fallen. »Du hast nicht geschlafen«, schlussfolgerte er, mit Blick auf Aidan, der vollständig bekleidet auf dem Bett lag. Er wies mit dem Kinn zur Wand hin und schloss mit der Frage: »Waren wir zu laut?« »Nein.« »Thackery war gestern Abend kurz hier. Er wollte zu dir.« »Ich war nicht da.« »Das habe ich bemerkt. Er stand nämlich plötzlich unangemeldet in meinem Zimmer und wollte wissen, wo du zu fi nden bist.« Aidan hörte die unausgesprochene Frage, ging aber nicht darauf ein. »Was hast du ihm gesagt?« »Er soll heute wiederkommen.« Einen leisen Fluch ausstoßend, sah Aidan zur Decke. »Was hätte ich sagen sollen?« Brian streckte sich unbekümmert auf seinem Stuhl. »Ich werde übrigens doch schon heute weiterreisen. « »Und sie?« Aidan nickte zur Wand hin. »Bleibt hier. Ich habe es ihr heute Morgen gesagt.« »Wie immer zartfühlend, Brian. Aus dem Bett einer Frau zu steigen und ihr zu sagen, dass es vorbei ist.« Brian zuckte die Schultern. »Ich dachte, sie sei ein anständiges Mädchen«, sagte Aidan. »Sie hat ihr Elternhaus verlassen, um mit mir zu ziehen, obwohl sie mich kaum kannte«, antwortete Brian. »Nennst du das anständig? « »Was wird jetzt aus ihr?« »Ich habe ihr Geld gegeben, damit sie zu ihren Eltern zurückkehren kann.« Aidan sagte nichts weiter dazu, die Rolle des Fürsprechers verlassener Frauen stand ihm nicht besonders. Er war von Anfang an dagegen gewesen, Gillian mitzunehmen, aber Brian war allein in Kalkutta gewesen, und als sie später wieder aufeinandergetroffen waren, hatte er das Mädchen bei sich gehabt. »Wo geht es für dich hin?«, wechselte er das Thema. »Offi ziell zunächst über das West-Ghat bis zur Dekkan-Ebene.« Brian zwinkerte. »Inoffi ziell in Richtung Norden, Himalaja.« Aidan setzte sich auf und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht. Seine Augen brannten, hatten die ganze Nacht schon gebrannt vom Rauch der Opium-Pfeifen. »Du weißt, ich denke daran, mich hier im Distrikt niederzulassen.« »Immer noch die alte Idee von der Teeplantage? Mir war nicht bekannt, dass du neuerdings Reichtümer hortest«, spöttelte Brian. »Ich habe einiges gespart, und den Rest bekomme ich auch noch irgendwie zusammen.« »Denkst du, du wirst lange genug Ruhe haben?« »Zumindest lange genug, um alles vorzubereiten und die richtigen Kontakte zu knüpfen.« Brian stand auf und streckte sich. »Dann wünsche ich dir alles Gute«, verabschiedete er sich. »Und erzähl mir später, wie es war.« »Bis wir uns wieder sehen, interessiert es dich vermutlich ohnehin nicht mehr.« Damit spielte Aidan auf die lange Trennung und Brians immer nur kurz währendes Interesse an den Angelegenheiten anderer an. Brian blieb an der Tür stehen und drehte sich grinsend um. »Du als Teepflanzer, mein Freund, denkst du allen Ernstes, das würde ich mir entgehen lassen? Länger als zwei Monate hast du es doch nie an einem Ort ausgehalten.« »Manchmal wird es Zeit, einige Dinge zu ändern.«
Bis in den späten Vormittag hinein blieb Aidan in seinem Zimmer, lag auf dem Bett, fühlte die abgestandene Luft, die sich feucht in den Atemwegen festsetzte und die Haut mit einem Film überzog. Er hörte den lautstarken Streit aus Brians Zimmer, das Schlagen der Tür, Brians gemächlichen Schritt die Treppe hinunter. Im Zimmer nebenan ging etwas zu Bruch. Irgendwann schlief er ein und erwachte eine Stunde später. Seine Kleidung schien ihm am Körper zu kleben, aber nichtsdestotrotz war er erholt. Nachdem er sich einen Kampf mit einer der Mägde geliefert hatte - ein Mädchen mit den Ausmaßen einer Kriegsfregatte -, war ihm ein Bad bereitet worden. Später rasierte er sich, kleidete sich an und trat auf den schmutzigen Flur hinaus, in dem Bewusstsein, den ersten Schritt in ein neues Leben zu tun. Der Gedanke gefiel ihm und vertrieb die düstere Stimmung der letzten Tage. »Aidan?« Eine blonde junge Frau stand am Fuß der Treppe, an das Geländer gelehnt, so als warte sie schon länger. »Brauchst du Gesellschaft?« »Nicht in der Art, die dir vorschwebt, Gilly.« Gillian wurde brennend rot. »Brian ist fort.« Sie folgte ihm, als er an ihr vorbeiging. »Und was ist nun mit mir?« »Meines Wissens hat er dir Geld dagelassen.« »Gerade genug, um wieder nach Kalkutta zu meinen Eltern zu fahren. Als ich mit Brian weggegangen bin, hat mein Vater mir aber gesagt, ich dürfe nicht mehr heimkommen.« Aidan nickte desinteressiert. »Du wirst doch gewusst haben, worauf du dich einlässt.« »Brian hat gesagt, ich bedeute ihm etwas.«
»Aber natürlich hat er das gesagt. Oder hättest du sonst sein Bett geteilt?« Ihr stieg erneut das Blut in die Wangen, und Aidan war verwundert angesichts der Tatsache, dass sie nach all dem, was er von der Beziehung mitbekommen hatte, noch imstande war, zu erröten. Schließlich waren beide nicht gerade diskret gewesen. Die Hauswirtin stand an der Tür zur Gaststube und starrte Gillian forschend an. Wo immer sie übernachtet hatten, hatten sich Gillian und Brian als Geschwister ausgegeben. Zwar fehlte ihnen jede Ähnlichkeit, aber beide waren blond und hatten blaue Augen, so dass sich jeder, der ausreichend naiv oder willig war, ohne weiteres täuschen ließ. Dem Blick der Hauswirtin zufolge argwöhnte diese nach Brians Abreise, dass etwas nicht stimmte. »He, Mädchen«, rief sie dröhnend, »hängste dich sofort an den Nächsten?« Ihr Blick fiel auf Aidan, etwas wohlwollender, ehe sie Gillian erneut ankeifte: »Nimm deine Sachen und verschwinde! Das hier ist ein anständiges Haus.« »Mein ... Mr. Casey hat für eine weitere Übernachtung im Voraus bezahlt«, antwortete Gillian und schob das Kinn vor. »Für sich!«, widersprach die Wirtin. »Er ist fort, also kann ich das Zimmer neu vermieten.« »Er hat das Zimmer für mich bezahlt«, beharrte Gillian. »Davon, dass ich seine Hure hier weiter bewirten müsste, hat er nichts gesagt.« Die Wirtin verschränkte die stämmigen Arme vor der Brust. Aidan seufzte und drehte sich auf halbem Weg zur Haustür um. »Mr. Casey hat das Zimmer für fünf Nächte bezahlt, für sich und für die junge Dame.« »Das hab ich nur erlaubt, weil er gesagt hat, sie sei seine Schwester. « »Das mag sein, aber Sie haben sein Geld angenommen, und nun wurde er vorzeitig abberufen. Die junge Dame wird sich einer Reisegesellschaft anschließen und zu ihrer Familie zurückkehren. « »Ich dulde keine Dirnen in meinem Haus«, wiederholte die Wirtin störrisch. »Mr. Casey hat die junge Dame bis morgen unter meine Obhut gestellt, und ich meinerseits dulde es nicht, dass sie allein die Nacht auf der Straße verbringt.« Die Wirtin wollte widersprechen, blieb aber stumm, als Aidans Augen sich drohend verengten. »Nur noch bis morgen«, murmelte sie mürrisch. Gillian lief Aidan nach, als er aus der Tür hinaus auf die staubige Straße trat. »Danke.« Mit einem Schulterzucken tat er ihren Dank ab und sah sich um. Die gesamte Stadt schmiegte sich in bewaldete Bergsenken und Täler. Karren rumpelten die Straße entlang, ein junger britischer Soldat lehnte an einer Häuserwand und beobachtete das Treiben unter schweren Augenlidern hinweg. Teehandelskontore säumten die Straße, einheimische Diener eilten in die Gebäude hinein und wieder heraus, verschiedene Dialekte mischten sich. Zwei weißgekleidete Inder traten in ein Handelskontor schräg gegenüber, während sie eifrig miteinander diskutierten. Eine Gruppe junger Sepoys ging die Straße entlang, unbewaffnet, denn das Gesetz untersagte die Herausgabe von Waffen an indische Soldaten, die der britischen Armee unterstanden. Zu deutlich standen allen noch die Greuel des Sepoy-Aufstandes vor Augen, der erst nach viel Blutvergießen niedergeschlagen werden konnte und 1858 zum Ende der East India Company geführt hatte. »Ich kann trotzdem nicht nach Kalkutta zurück«, beharrte Gillian. »Das, meine Liebe, ist nicht mein Problem.« Gegenüber der Herberge vor dem Kontor mit der Aufschrift Ramsay Tea hielt die schwarze Kutsche einer sichtlich wohlhabenden Familie. Der Kutschenschlag wurde von einem weißgekleideten indischen Diener geöffnet, und ein Engländer stieg aus, der seinerseits einer Frau und einem kleinen Jungen von höchstens vier Jahren heraushalf. Der Mann war überaus korrekt gekleidet und trug einen Ausdruck blasierter Langeweile zur Schau. Der kleine Junge wurde von der Frau an die Hand genommen, als er im Begriff war, auf die Straße zu laufen, und ließ sich sichtlich widerwillig festhalten. Neben Aidan stieß Gillian einen Laut aus, der sowohl verächtlich als auch neidisch klingen mochte. Vermutlich Neid, schloss er, angesichts der Tatsache, dass die junge Frau mit dem Kind genau das darstellte, was Gillian an Brians Seite hatte werden wollen. Diese Frau lief nicht Gefahr, verlassen und der allgemeinen Verachtung preisgegeben zu werden. Das würde ihre Familie nie zulassen. Aidan sah dem jungen Paar mit dem Kind nach, als es auf das Kontor zuging, und er konnte sich angesichts dieses offen präsentierten Familienlebens ein spöttisches Lächeln nicht verkneifen.
»Du solltest heiraten«, sagte Charles Ramsay zu der jungen Frau an seiner Seite, die eben ihren Sohn ermahnte, nicht mit den Füßen den Staub aufzuwirbeln. »Wirklich, ich fi nde, du solltest heiraten.« Katrina zog ihren Sohn hinter Charles her über die Türschwelle zum Teekontor. So früh am Vormittag war kaum jemand hier, was ihr nur recht sein konnte. Vorsichtig sah sie zu ihrem Bruder, aber dieser neigte sich bereits über eine Liste mit Teelieferungen und schien keine Antwort zu erwarten. Ein junger Mann kam dienstbeflissen aus dem hinteren Bereich des Lagers. »Ich hoffe, es ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Sir.« »Das hoffe ich ebenso«, antwortete Charles knapp, während er die Listen auf Fehler hin absuchte. Personal konnte man nicht trauen, das hatte seine Erfahrung immer wieder bestätigt. Er war auf der Hut. »Einen schönen guten Morgen, Madam.« Der junge Mann zwinkerte nervös mit den Augen und wartete Katrinas Erwiderung des Morgengrußes nicht ab, sondern befasste sich mit einer Kiste für den Teetransport, die er zum Schutz gegen Feuchtigkeit mit Papier ausschlug. »Caleb!«, rief Katrina, als sie bemerkte, dass ihr Sohn nach der Teewaage greifen wollte. »Ich verstehe überhaupt nicht, warum du ihn mitgenommen hast«, sagte Charles, ohne aufzusehen. So recht wusste Katrina das selbst nicht. Vielleicht hatte sie ihren Bruder, der mit Kindern nicht viel anfangen konnte, einfach ärgern wollen, aber nun war sie ein wenig überfordert. »Seine Ayah ist krank.« »Sie ist ständig krank. Vielleicht solltest du dich nach jemand anderem umsehen. Sie ist faul und unzuverlässig. Cynthia fragt sich immerzu, was du an ihr findest.« Seine Stimme besagte deutlich, dass er die Antwort auf diese Frage nicht geben konnte. »Caleb ist an sie gewöhnt.« Zudem fand Katrina, dass dies ihre Schwägerin überhaupt nichts anging, aber das behielt sie für sich. Während sie im Lager herumstand und nichts anderes zu tun hatte, als auf ihren Bruder zu warten, war Katrina für die Ablenkung durch ihr Kind beinahe dankbar. Sie hatte eigentlich gar nicht mitkommen wollen, aber sie konnte sich nicht ständig in ihr Zimmer einschließen, um voll Bitterkeit an Jahre zu denken, die ihr niemand zurückgeben würde. So viele verschwendete Gefühle, dachte sie, und für einen kurzen Moment wurde sie ein wenig schwermütig, was in der letzten Zeit öfter geschah. Ein Mann mittleren Alters betrat das Kontor. »Guten Morgen, Mr. Ramsay«, rief er, dann etwas kühler: »Ihr Diener, Mrs. Alardyce. «
»Mr. Jakes«, Charles sah gerade lange genug hoch, um dem Mann zu signalisieren, dass er dessen Ankunft zur Kenntnis genommen hatte. »Ich bin gleich für Sie da.« Katrina ging durch das Lager und atmete den aromatischen Duft der Tees aus den Nilgiri Hills ein. Weiter hinten lagerten auch andere Teesorten. Ihr Bruder legte großen Wert auf ein breites Sortiment, aber das meiste war Tee aus seinen eigenen Teegärten. Charles ging vollkommen im Teeanbau auf. Malzige Assamtees, feine, liebliche Tees aus Darjeeling und aromatischer Tee aus Ceylon, der dem der Nilgiri-Berge so ähnlich war, lagerten in Kisten, die gestapelt und fertig zum Transport waren. Manchmal bezog Charles sogar Tee aus China und Japan, fertigte Mischungen und verbrachte Stunden um Stunden damit, zu testen, wie viele Unzen verschiedener Tees für neue Geschmacksrichtungen vonnöten waren. Die Stimmen der Männer wurden leiser, als Katrina die hölzerne Treppe am Ende des Raumes hinaufstieg. Im oberen Stockwerk befanden sich die Wirtschaftsräume, von hier aus verwalteten Angestellte ihres Bruders sein Tee-Imperium. Katrina war sowohl mit den wichtigsten wirtschaftlichen Aspekten als auch mit vielen Feinheiten des Teeanbaus vertraut. Sie hatte gute Lehrer gehabt, erst ihren Vater, dann ... Stephen. Zwei Jahre, und sie war immer noch nicht imstande, an ihn zu denken, ohne dass ihr Herz heftig schlug und sie einen scharfen Schmerz verspürte. Von dem Fenster neben der Treppe aus hatte man einen Blick auf die von lavendelfarbenem Nebel umhüllten Berge, die sich in der Ferne abzeichneten. Der Distrikt Nilgiri gehörte zum westlichsten Teil des Tamilnads, grenzte im Westen an Kerala, im Norden an den Karnatik und im Südosten an den Coimbatore- Distrikt. Das gebirgige Plateau erstreckte sich von der Küste her, Wälder zogen sich über die Berge bis zu den Ebenen und grenzten an das tiefer gelegene Flachland. Flüsse teilten das Land und trafen wieder aufeinander, ehe sie in den Moyar mündeten. Nilgiri - neelam giri, die blauen Berge. Wie die Berge zu ihrem Namen gekommen waren, wusste niemand so richtig. Einige waren der Meinung, es liege an dem bläulichen Dunst, der die Berge umgab, andere wiederum sagten, die Bewohner der Ebenen hätten ihnen den Namen gegeben wegen der blau-violetten Blüten der Neelakurinji, jener magnolienartigen Staude, die alle zwölf Jahre erblühte. Moderne Reisende hingegen führten ihn auf die von den Briten gepfl anzten Blaugummibäume zurück. An manchen Tagen stand Katrina morgens an ihrem Fenster und sah zu den Bergen, traurig, weil ihr Leben noch dasselbe war wie am Abend zuvor. »Katrina!« Charles' Stimme drang zu ihr hoch. Sie eilte die Treppe wieder hinunter und stolperte beinahe über Caleb, der am Treppenabsatz saß und mit einem glänzenden Stein spielte. »Von Mr. Jakes«, sagte Caleb und streckte ihr die Hand mit dem Stein entgegen. Katrina wusste, dass von ihr Bewunderung erwartet wurde, und bemühte sich, dem gerecht zu werden. Obwohl sie sich an die Mutterrolle gewöhnt hatte, war es ihr manchmal beinahe unheimlich, sich in diesem Kind wiederzufinden, sowohl in dessen Temperament als auch im Aussehen mit dem hellen goldbraunen Haar und den grünen Augen. Ca- leb hatte äußerlich nichts von seinem Vater geerbt. »Katrina.« Charles klang nun etwas unduldsamer. »Das nächste Mal kümmerst du dich bitte selbst um ihn. Es kann nicht angehen, dass dein Sohn zwischen uns herumtobt, während wir geschäftliche Angelegenheiten besprechen.« »Es tut mir leid, Charles.« »Mr. Jakes sagte, er habe Stephen gestern gesehen.« Charles schien nicht zu bemerken, wie Katrinas Schultern sich plötzlich versteiften. »Seit wann ist er wieder in der Gegend?« »Da fragst du die Falsche«, antwortete sie kalt. »Ich hoffe, er bleibt nicht lange. Gerade haben die Leute aufgehört zu reden.«
Dafür ist ihre Feindseligkeit immer noch dieselbe, dachte Katrina. Ihr Bruder öffnete ihr die Tür, und sie trat auf die Straße hinaus, wo die Stimmen der Menschen sie wie ein wabernder Umhang umschlossen. Sie hätte ihren Bruder nicht begleiten sollen, dachte sie erneut, als ein Nachbar Charles auf der Straße grüßte und einen gemurmelten Gruß an sie anschloss, begleitet von einem ausweichenden Blick. Charles hatte, schon ehe sie losgefahren waren, gesagt, er wünsche keinerlei Einmischung in seine Geschäfte, es sei denn, er frage danach. Ihr Mitkommen hatte er nur angeregt, um sie endlich wieder unter die Leute zu bringen. Langsam, Schritt für Schritt, würde er sie wieder gesellschaftsfähig machen, und nun, nachdem er den Anfang gemacht hatte, konnte seine Frau sie demnächst mitnehmen, wenn Besuche anstanden. Katrina gab sich ruhig und angepasst, gehorsam der Familie ihres Bruders gegenüber, während alles in ihr schrie. Sie schaffte es, gelegentliche Anflüge von Unduldsamkeit hinter gesenkten Lidern zu verbergen, und wenn sie fürchtete, ihre Stimme nicht unter Kontrolle zu haben, schwieg sie. Sie war gefangen, und es gab keinen Weg hinaus. Ehe sie sich von Charles in die Kutsche helfen ließ, sah sie die Straße entlang, fing etwas von dem Leben auf. Gegenüber war eine heruntergekommene Herberge, vor deren Stufen ein dunkelhaariger Mann und eine blonde Frau standen. Die Frau sah zu ihnen hinüber und sagte etwas, auf das der Mann mit dem Anflug eines Lächelns eine Antwort gab, die sie sichtlich verärgerte. Sie raffte ihr Kleid, wirbelte herum und stürmte in die Herberge zurück. Der Mann machte sich nicht die Mühe, ihr nachzusehen, sondern beobachtete weiterhin das Treiben auf der Straße. Frei, dachte Katrina, als sie der blonden Frau mit den Blicken folgte, ich wünschte, ich wäre sie.
*
Ootacamund - Ooty, wie es die Engländer nannten - lag im Zentrum des Nilgiri-Distrikts. Mit seinem durch die Höhe bedingten milden Klima war es während der von April bis Juni dauernden ersten Saison die Sommerresidenz der in der Präsidentschaft Madras ansässigen Briten. Eine englische Stadt inmitten des Orients. Während Aidan von seinem Zimmer aus das Treiben auf der Straße betrachtete und sein Blick zu den sich über der Stadt erhebenden Bergen schweifte, war er sich sicher, dass es eine Gegend von dieser Schönheit in Indien kein zweites Mal gab. Über die tiefer gelegenen Regionen des Südwest- Ghats zogen sich sommergrüne feuchte Wälder, die sich entlang des Gebirgszugs des West-Ghats bis zur südlichen Spitze Indiens erstreckten und in denen Elefanten und Tiger beheimatet waren. Immergrüne Regenwälder bedeckten die höher gelegenen Gebirgsketten des Südwest-Ghats, dünnten mit zunehmender Höhe aus, so dass sie von offenem Grasland durchsetzt waren. Aidan bedauerte zutiefst, dass ihm momentan die Zeit für eine Reise dorthin fehlte. »Lieutenant Landor!« Die Stimme hinter seinem Rücken verschaffte sich wütend Gehör. Aidan drehte sich langsam vom Fenster weg, durch das er hinausgeschaut hatte, während sein Gesprächspartner stakkatoartig Wörter auf ihn abfeuerte. »Wie hausen Sie hier überhaupt?«, fuhr der Mann ungehalten fort. Aidan maß den Raum mit Blicken, als sähe er ihn zum ersten Mal, und nahm sich - wie er es seit seiner Ankunft jeden Tag tat - vor, sich eine andere Unterkunft zu suchen. Er war müde und überreizt, und als wäre das nicht genug, musste er sich bereits seit mehr als einer halben Stunde einen Vortrag seines aufgebrachten Vorgesetzten anhören. »Major Thackery, Sir, ich bedaure zutiefst, dass Sie sich wiederholt umsonst hierherbemühen mussten.« Aidan bemühte sich um eine salbungsvolle Stimme, was ihm mitnichten gelang.
»Hat Lieutenant Casey Ihnen nicht ausgerichtet, dass ich nach Ihnen gefragt habe?« »Doch, das hat er. Aber die Umstände machten es erforderlich, dass ich selten hier war.« »Die Umstände, Lieutenant?« Thackery winkte ab, als Aidan zu einer Antwort ansetzte. »Ich denke, ich möchte es nicht genauer wissen. Ist Ihnen bekannt, ob Lieutenant Casey diese Frau mitgenommen hat, als er fortging?« »Das hat er nicht, Sir.« »Gut«, sagte Thackery, »gut. Der Verweis, den ich Lieutenant Casey erteilt habe, gilt auch für Sie. Ich möchte nie wieder hören, dass Sie eine Mission in Begleitung einer Frau antreten.« Aidan lag eine Rechtfertigung auf der Zunge. Hatte er es Brian nicht viele Male gesagt? Und war Gillian denn nicht dessen Geliebte gewesen? Dann jedoch entschied er, Brian nicht in den Rücken zu fallen, und schwieg. Thackery indes schien nicht davon überzeugt zu sein, dass seiner Anweisung wirklich Folge geleistet wurde. »Wo ist das Mädchen jetzt?«, fragte er und sah die Kommode an, als erwarte er, sie aus einer der Schubladen springen zu sehen. »Ich glaube, bei ihren Eltern, Sir.« Aidan fiel ein, dass er Gillian seit dem Tag von Brians Abreise nicht mehr gesehen hatte. Am darauffolgenden Tag war sie fort gewesen. »Bei ihren Eltern? Etwas Dümmeres ist Ihnen nicht eingefallen? Ich warne Sie, Lieutenant, wenn mir zu Ohren kommt, dass Sie oder Lieutenant Casey erneut in ihrer Begleitung unterwegs sind ...« Er ließ offen, was dann geschehen würde, aber sein Blick war beredt. »Was werden Sie nun tun, bis ich Sie wieder brauche?« »Ich denke, ich werde hier bleiben.« »Hier?« Thackerys Blick maß das Zimmer erneut. »In Ootacamund, meinte ich. Es wird Zeit, sesshaft zu werden.« »Das ist mit Ihrem Lebenswandel wohl kaum vereinbar, oder planen Sie Ihren Abschied?« In Thackerys Stimme schwang unüberhörbar der Unterton mit, dass Aidan besser damit beraten war, es nicht zu tun. »Nein, Sir, natürlich nicht.« »Nun gut, wenn Sie bleiben möchten, nur zu. Sie wissen, wann Sie sich bei mir zu melden haben, bis dahin tun Sie, was Ihnen beliebt.« Ehe er das Zimmer verließ, sah er sich noch einmal um, so als suche er etwas - oder jemanden -, dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Aidan hatte nicht gewusst, dass Thackery von Gillian Kenntnis hatte - Brian hatte diesen Umstand wohlweislich verschwiegen. »Gut für dich, dass du weg bist«, murmelte er. Zwar verstand er den Unwillen seines Vorgesetzten, aber seine und Brians Mission war zur Zufriedenheit aller beendet worden. Wozu also im Nachhinein der ganze Ärger? Durch Thackery wieder an Gillian erinnert, überlegte Aidan, ob sie Brian vielleicht nachgereist war. Hatte sie mitbekommen, dass er in Richtung West-Ghat wollte? Sie konnte nicht wissen, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Vielleicht versuchte sie ja, sich durchzufragen, indem sie die Beschreibung von Brian überall weitergab. Einen Moment lang bedauerte Aidan sie. Sie würde ihn nicht weiter als bis ans Ende der Straße verfolgen können. Brian verschmolz mit der Umgebung, das hatte er immer schon meisterhaft beherrscht, ebenso wie Aidan. Anders hätten sie keine zwei Tage überlebt. Immer unsichtbar, sei es in der Kargheit der Berge oder inmitten von Menschenmengen. Zwei Schemen, die man sah, aber nicht wahrnahm. Schattenmenschen.
Langeweile. Katrina ließ das Wort lautlos über ihre Zunge rollen. Zeit, die in zähen Tropfen fiel. Um sie herum plätscherte das Gespräch zwischen ihrer Schwägerin Cynthia und deren Freundin Mrs. Lowell. Katrina lächelte, wie es von ihr erwartet wurde, während sie ruhig weiterstickte. Wieder und wieder senkte sie die Nadel in den feinen Batist, füllte eine Lilie mit weißem Seidengarn. Die Unschuld der Lilie. Hüte, was du hast, mein Kind. Eine Frau hat nicht mehr.
Sie bemühte sich aufrichtig, der Unterhaltung der beiden Frauen zu folgen, aber Cynthias hektische Stimme und ihre Angewohnheit, wenn sie etwas erzählte, im Satz einzelne Wörter zu betonen, waren entnervend, und Katrinas Gedanken schweiften fortwährend ab. Ihr Lächeln erschien ihr immer maskenhafter. Während ihr Körper starr verharrte, aufrecht, wie sich das gehörte, bewegte sich lediglich die Hand mit der Sticknadel. Sie wagte einen flüchtigen Blick unter den Wimpern hervor zur Tür. Mit Erlösung war nicht zu rechnen. Charles' Bemerkung, Stephen sei wieder in der Stadt, ging ihr nicht aus dem Kopf. In der vergangenen Nacht war sie so weit gegangen, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn sie morgens aufwachte und feststellte, dass die letzten zwei Jahre ein Traum gewesen wären. Sie würde die Augen aufschlagen, Stephen neben sich erblicken und glücklich sein, erleichtert, so wie man es immer war, wenn man aus einem Alptraum erwachte und wusste, dass das wirkliche Leben davon nicht berührt war. Sie war über dem Gedanken eingeschlafen. In ihrem Traum war sie wach geworden, und Stephen neigte sich über sie. Licht fi el fächerartig durch die halbgeöffneten Läden in den Raum, und sie war glücklich, war es so lange, bis ihre Ayah sie weckte. Vor zwei Jahren hatte sie sich vorgenommen, nicht mehr an Stephen zu denken. Aber wie sollte sie es verhindern, wenn sie in diesem überladenen Salon saß und sich die Bilder ihres früheren Lebens aufdrängten? Sie hatte keine Enge gekannt, es war ihr nie untersagt gewesen, auszureiten, sie hatte sich um die Teegärten gekümmert - erst gemeinsam mit ihrem Vater, dann mit Stephen. Sich frei in der Gesellschaft zu bewegen, als geachtete Tochter und Ehefrau, war ihr so selbstverständlich gewesen, dass sie schon beinahe eine gewisse Arroganz an den Tag gelegt hatte - auch das wurde nicht vergessen. Katrina nahm sich zusammen und versuchte, Anschluss an die Unterhaltung zwischen ihrer Schwägerin und Mrs. Lowell zu bekommen. Träge schwappten Worte über sie hinweg, während sie stickte, immer wieder dieselbe Bewegung. Sie hatte, seit sie hier saß, nicht damit innegehalten. Nun jedoch legte sie den kleinen Stickrahmen zur Seite und hob die Hand an die Augen. »Aber meine Liebe, ist dir nicht wohl?«, fragte Cynthia. Ich ersticke, dachte Katrina, ich ersticke. »Nur eine vorübergehende Mattigkeit«, antwortete sie. »Vielleicht legst du dich besser hin«, schlug Cynthia vor. »Das wollte ich auch eben vorschlagen«, schaltete sich Mrs. Lowell ein, hastig, als fürchte sie, nicht zu Wort zu kommen. »Sie sind in der Tat sehr blass.« Katrina zögerte keinen Moment lang, stand auf und verließ den Raum, tauschte die Monotonie des Salons gegen ihr abgedunkeltes Zimmer, wo die Läden an diesem Tag fest verschlossen waren. Manchmal ertrug sie die Weite der Landschaft nicht. Wenn sie keine Freiheit haben konnte, wollte sie sie auch nicht sehen. Als Kind hatte sie geglaubt, unsichtbar zu werden, wenn sie die Augen schloss. Katrina legte sich in ihr Bett und schloss die Augen. Nur für einen Moment unsichtbar sein, nur ein fl üchtiger Schatten.
»Dein ewiges Versinken in Selbstmitleid ist in höchstem Maße langweilig«, beschwerte sich Charles bei seiner Schwester. Diese wiederum dachte, dass sich da gerade der Richtige über Langeweile beschwerte. Er war ebenso wie Cynthia eine in ihrem vorgesehenen Stück agierende Gesellschaftspuppe. Lediglich wenn er über Tee sprach, kam Leben in ihn, die Augen bekamen einen ungewohnten Glanz, der Mund formte Wörter jenseits der gewohnten Phrasen und Ermahnungen. »Selbstmitleid«, fuhr Charles nach einer effektheischenden Pause fort, »ist genau das, was die Leute von dir erwarten. Du solltest dich selbstbewusst geben, aber mit der nötigen Zurückhaltung. Kein Schuldeingeständnis - nein, das auf keinen Fall -, aber dennoch, hm, sagen wir, reuig?« Er runzelte die Stirn, schien abzuwägen, ob die Begriffe reuig und sich keiner Schuld bewusst sein nicht einen Widerspruch bildeten, ehe er in kurzen abgehackten Worten seinen Vortrag fortsetzte, zwischendurch nach Luft ringend, wenn er sich besonders erregte. Offenbar schnürte ihm das Korsett der Gesellschaftsnormen ebenso die Luft ab wie Katrina ihres aus Stahlfedern. »Ich weiß beim besten Willen nicht, was aus dir werden soll«, war sein wenig ermutigender Schlusskommentar. »Wir müssen auch an Caleb denken. Manchmal glaube ich, es wäre das Beste gewesen, wenn Stephen ihn genommen hätte.« Zorn flammte in Katrina auf, und diesmal unternahm sie keinen Versuch, ihn zu unterdrücken. »Man muss wirklich ein Mann sein, um so etwas zu sagen.« »Er braucht einen Vater.« »Stephen hat schon vor langer Zeit entschieden, nicht der Mann zu sein, dem diese Rolle zukommt.« »Hätten wir gewusst, dass der Skandal unausweichlich ist, hätten wir mit ihm zu einer Einigung kommen können. Du solltest wieder heiraten, und mit einem Kind gestaltet sich das nun einmal schwierig.« »Fürchtest du, mich bis an mein Lebensende am Hals zu haben?« »Rede keinen Unsinn«, entgegnete Charles kalt. »Aber einer von uns muss ja mit klarem Kopf denken.« »Du könntest mich nach England schicken, bis dorthin ist der Skandal sicher nicht gedrungen.« Ein magerer Versuch der Provokation, und er rächte sich augenblicklich.
»Glaub mir, ich hätte es getan, wenn ich mir sicher gewesen wäre, dass dem so ist.« Manchmal fragte Katrina sich, ob ihr Bruder überhaupt wusste, wie viel Schaden man mit Worten anrichten konnte. Irgendwann würde sie es ihm sagen müssen. Sie könnte es jetzt tun, aber ihre Gedanken waren erfüllt von ihrem eigenen Leid.
Copyright der Originalausgabe © 2008 by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Bibliographische Angaben
- Autor: Laila El Omari
- 640 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006400
- ISBN-13: 9783868006407
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