Tatort Tannenbaum
Kommissare feiern Weihnachten
Was von ihr noch übrig war, sah übel aus. Haut und Fleisch waren weitgehend weggerissen, darunter kamen die Rippen zum Vorschein, das ganze Skelett. An einigen entfleischten Gelenken hing noch der Knorpel, aber die meisten der langen...
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Produktinformationen zu „Tatort Tannenbaum “
Was von ihr noch übrig war, sah übel aus. Haut und Fleisch waren weitgehend weggerissen, darunter kamen die Rippen zum Vorschein, das ganze Skelett. An einigen entfleischten Gelenken hing noch der Knorpel, aber die meisten der langen Gliederknochen waren exartikuliert. "Hättest du gern ein Stück Gans, David?", fragte Anja und trat zu mir ans Buffet.
12 Kurzgeschichten von 13 Krimiautoren.
Lesespaß und Gänsehaut unterm Tannenbaum!
- Friedrich Ani
- Simon Beckett
- Wolfgang Burger
- Petra Busch
- Åke Edwardson
- Elly Griffiths
- Hjorth & Rosenfeldt
- Inge Löhnig
- Kate Pepper
- Peter Robinson
- Helene Tursten
- Andreas Winkelmann
Klappentext zu „Tatort Tannenbaum “
Was von ihr noch übrig war, sah übel aus. Haut und Fleisch waren weitgehend weggerissen, darunter kamen die Rippen zum Vorschein, das ganze Skelett. An einigen entfleischten Gelenken hing noch der Knorpel, aber die meisten der langen Gliederknochen waren exartikuliert. "Hättest du gern ein Stück Gans, David?", fragte Anja und trat zu mir ans Buffet.12 Kurzgeschichten von 13 Krimiautoren.
Lesespaß und Gänsehaut unterm Tannenbaum!
- Friedrich Ani
- Simon Beckett
- Wolfgang Burger
- Petra Busch
- Åke Edwardson
- Elly Griffiths
- Hjorth & Rosenfeldt
- Inge Löhnig
- Kate Pepper
- Peter Robinson
- Helene Tursten
- Andreas Winkelmann
Lese-Probe zu „Tatort Tannenbaum “
Tatort Tannenbaum von Simon BeckettSimon Beckett
Ein ganz normaler Tag
Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring
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Was von ihr übrig war, sah übel aus. Haut und Fleisch waren weitgehend weggerissen, darunter kamen die Rippen zum Vorschein, das ganze Skelett. An einigen entfleischten Gelenken hing noch der Knorpel, aber die meisten der langen Gliederknochen waren exartikuliert. Rechts fehlten Elle und Speiche völlig, ebenso der rechte Oberschenkelknochen. Der linke hing nur an einem dünnen Hautfaden.
«Hättest du gern ein Stück Gans, David?», fragte Anja und trat zu mir ans Buffet. Mia, ihre kleine Tochter, hielt ihren Hals umschlungen und schlief schon halb. «Es gibt noch reichlich.»
Ich war in Gedanken weit weg gewesen. Mit einem Lächeln riss ich mich von der Leichenschau los. «Im Augenblick nicht, danke.»
«Ich weiß auch nicht, warum wir immer so einen großen Vogel kaufen. Die reine Verschwendung. Ach ja.» Sie lächelte mich an. «Egal, greif bitte zu. Im Moment sind hauptsächlich Reste im Angebot, aber es kommt gleich Nachschub. So, und jetzt bringe ich erst mal diese kleine Leiche hier ins Bett, dann muss ich gucken, wo Jason mit dem Glühwein bleibt.»
Sie drehte sich um, schlängelte sich mit ihrer todmüden Kleinen durch das Gedränge und wechselte noch kurz mit dem einen oder anderen Gast ein Wort. Anja war eine gute Gastgeberin, eine von denen, für die der Umgang mit Gästen so natürlich ist wie das Atmen. Sie kam aus Kopenhagen und war mit einem Studienfreund von mir verheiratet. Jason war Orthopäde geworden, während ich in eine ganz andere Sparte gewechselt war. Aber wir waren in Kontakt geblieben, und die Weihnachtsfeier bei ihnen zu Hause war inzwischen zu einem alljährlichen Ritual geworden. An diesem Abend hatte ich noch zu tun gehabt, und da ich deshalb das vorangegangene traditionelle dänische Weihnachtsessen verpasst hatte, war die Party schon in vollem Gange, als ich schließlich eintraf. Das Haus war geschmackvoll mit selbstgebastelten Gestecken aus Stechpalmenzweigen und Kiefernzapfen dekoriert, und an strategischen Stellen in dem weitläufigen Wohnzimmer brannten stimmungsvoll Bienenwachskerzen. Der Raum quoll über vor Menschen, und das Stimmengewirr, durchsetzt mit Lachen und Gläserklirren, übertönte beinahe, aber nur beinahe die im Hintergrund spielenden obligatorischen Weihnachtslieder. Ich schloss mit mir selbst eine Wette ab, dass vor Ende des Abends noch Nat King Cole laufen würde.
Na dann, fröhliche Weihnachten, Hunter. Ich nahm mir einen Teller und beäugte die Speisen mit mäßigem Appetit. Zu Mittag hatte es ein abgepacktes Sandwich und einen Kaffee aus einem Krankenhausautomaten gegeben, beides eine Zumutung. Anja war eine gute Köchin, und die Platten mit Bratenaufschnitt, Fisch und dänischen Weihnachtsspezialitäten sahen wie immer verlockend aus. Aber ich hatte keinen Hunger. Ich versuchte, mir einzureden, dass mir die unerfreuliche Arbeit vorhin im Leichenschauhaus nachhing, zu der ich noch nichts Weiteres gehört hatte. Doch ich wusste, dass das nur Ausflüchte waren: Meine Appetitlosigkeit hatte einen anderen Grund.
Ich war nervös.
Ich sondierte die versammelten Gesichter in der Hoffnung, das der jungen Frau darunter zu entdecken. Sie war nicht da. Vor Enttäuschung zog sich mir der Magen zusammen. Mir war klar, wie lächerlich das war. Ich wusste gar nichts über sie, kannte nicht einmal ihren Namen, sodass es doppelt und dreifach absurd war, wie sehr sich meine Hoffnungen im Laufe des Abends hochgeschaukelt hatten.
Vor lauter Unruhe wollte ich schon nachschauen gehen, ob ich neue Nachrichten auf dem Handy hatte. Eigentlich hatte ich es bewusst im Flur in der Manteltasche gelassen, aber damit hätte ich mich immerhin von der jungen Frau ablenken können. Andererseits hatte ich vor kurzem erst geschaut, und ich war Gast auf einer Weihnachtsfeier. Komm, entspann dich. Und mach ein freundliches Gesicht: Es ist Weihnachten. Ich schenkte mir nach und tat mir pro forma ein paar Stückchen Käse auf den Teller.
Dann nahm ich zur Stärkung einen Schluck Wein und mischte mich unters Volk.
* * *
«Klarer Fall, würde ich sagen. Ein tödlicher Schlag auf den Kopf. Die Autopsie hat schweres Schädeltrauma und Gehirnblutung ergeben, der Tod ist also praktisch sofort eingetreten. »
Der Ton des Polizisten war scharf und bestimmend, womit Detective Chief Superintendent Nichols überhaupt ganz gut charakterisiert war. Ich arbeitete zum ersten Mal mit ihm zusammen, aber dem Mann eilte der Ruf voraus, beinahe beleidigend brüsk zu sein, vor allem wenn ihm jemand querkam.
Ich musste nicht unbedingt wissen, ob der Ruf berechtigt war.
«Wenn der Fall so klar ist, was wollen Sie dann von mir?», fragte ich, das Telefon in der einen Hand, während ich mir mit der anderen Notizen machte.
«Die Pathologin meinte, es würde nichts schaden, Ihre Meinung einzuholen. Sie sagt, das Opfer wäre offensichtlich mit irgendeinem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen worden, aber ein Forensiker würde sich mit so Sachen besser auskennen als sie.»
«Wer ist die Pathologin?»
«Parekh.» Er zog die Nase hoch. «Ich persönlich glaube, wir verschwenden nur Ihre Zeit, aber sie will es so haben.» Ich schmunzelte. Ich kannte Riya Parekh, eine Frau mittleren Alters, die sich genauso wenig reinreden ließ wie Nichols. Das war bestimmt ein lebhafter Meinungsaustausch gewesen. Und sie musste ihre Gründe haben, mich hinzuzuziehen. «Sie sagen, Sie haben bereits einen Verdächtigen festgenommen?»
«Genau. Vierundvierzig Jahre alt, obdachlos, heißt Anthony Kingston. Alkoholiker, mehrfach aufgefallen wegen Trunkenheit und Ruhestörung, aber keine richtigen Gewalttaten. Bis jetzt.»
«Sind Sie sicher, dass er es war?»
«Er wurde am Tatort bei der Leiche aufgegriffen. Das Opfer hieß Elaine Williams, Witwe, sechsundsiebzig Jahre alt. Hatte Geschenke für ihre Enkel gekauft und war auf dem Weg nach Hause. Laut Zeugenaussagen hatte Kingston zuvor betrunken in der Gegend herumgebettelt. Anscheinend wollte er sich nicht abweisen lassen und hat der alten Frau mit einer Whiskyflasche eins übergezogen.»
«Aber er streitet es ab?» Wenn er gestanden hätte, gäbe es keinen Grund, mich zu konsultieren.
«Nicht so richtig. Als er nüchtern genug war, um vernommen zu werden, gab er an, sich an nichts zu erinnern. Könnte sogar stimmen, aber die Flasche lag neben der Leiche, voll von ihrem Blut und seinen Fingerabdrücken. Nicht ganz das Weihnachten, das ihre Angehörigen sich vorgestellt haben.»
Bestimmt nicht. «Na schön, ich werfe heute Nachmittag einen Blick drauf.»
«An Heiligabend?» Er klang verwundert. «Das kann warten bis nach den Feiertagen.»
Ich dachte an die Angehörigen der Toten und an den obdachlosen Mann in seiner Gefängniszelle. «Dürfte nicht lange dauern», sagte ich.
* * *
Ich hatte die junge Frau erst einmal gesehen, auf einer Grillparty, die Anja und Jason im Spätsommer gegeben hatten. Sie stand auf der anderen Seite der gedrängt vollen Gartenterrasse, blond und attraktiv, mit sonnengebräunten Schultern und einem Lächeln, von dem ich nur schwer den Blick losreißen konnte. Ich musste sie angegafft haben, denn plötzlich sah sie mich direkt an. Der Augenblick zog sich hin, ohne dass einer von uns wegschaute, und es war fast unheimlich, wie natürlich es sich anfühlte. Mir war sofort, als würde ich sie schon ewig kennen.
Ich war schon drauf und dran gewesen, sie anzusprechen, aber Anja suchte sich gerade diesen Moment aus, um mich einigen ihrer Kollegen vorzustellen. Als ich mich schließlich losgeeist hatte, war die junge Frau nicht mehr im Garten. Ich sah mich im Haus nach ihr um, dann wieder draußen, bis ich mich damit abfand, dass sie gegangen war.
«Blond, attraktiv?», sagte Jason, als ich ihn später zu fassen kriegte. Er bekam langsam eine Glatze und hatte den massigen Körperbau vieler Orthopäden. «Umwerfendes Lächeln?»
«Bingo. Wie heißt sie?»
«Keine Ahnung, nicht die geringste.»
«Ist sie eine Freundin von Anja?»
Er angelte sich das nächste Bier aus einem Kübel mit schmelzendem Eis und öffnete es mit einer fleischigen Hand. «Glaube ich nicht. Hätte ich mir gemerkt.»
«Warum war sie dann auf euerm Grillfest?», fragte ich ungeduldig.
«Wahrscheinlich mit jemand mitgekommen.» Er grinste über meinen Gesichtsausdruck und klopfte mir auf die Schulter. «Mann, David, dich hat's ja richtig erwischt, was? Wart mal, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie könnte im Krankenhaus arbeiten. Ich hör mich mal um, vielleicht kann ich ja was in Erfahrung bringen.»
Aber bis jetzt war er damit kläglich gescheitert. Als die Tage kürzer wurden und der Winter sich mit einem Frosthauch in der Luft ankündigte, hatte ich immer noch nichts über die junge Frau herausbekommen. Trotzdem ging mir ihr Bild nicht mehr aus dem Sinn, sodass ich mich schließlich über mich selbst ärgerte. Hör auf, dich wie ein Schuljunge zu benehmen. Du wirst sie nie wiedersehen. Schlag sie dir aus dem Kopf. Ich hatte mich nach Kräften darum bemüht, dann aber hatte Jason angerufen und mich an seine Weihnachtsfeier erinnert. Und seitdem hatte ich an kaum etwas anderes denken können.
Auf Anjas und Jasons Festen kam immer eine bunte Mischung von Leuten zusammen. Von einer Gruppe zur anderen schlendernd, heuchelte ich höfliches Interesse an den Meinungen wildfremder Personen. Ich tat so, als lauschte ich den Tiraden eines Dichters, eines verbitterten Mannes im mittleren Alter, der mit jedem Schluck Wein immer schärfer und lauter wurde. Von mir aus. Dann musste ich wenigstens keine Konversation treiben, während ich über seine Schulter hinweg möglichst unauffällig die Tür im Auge behielt und hoffte, sie möge kommen. Sie kam nicht, und meine Enttäuschung steigerte sich mit jeder Minute.
Als ich sie eintreten sah, wurde ich urplötzlich schwerelos. Der Dichter schwadronierte weiter, doch ich hörte ihn nicht mehr. Die junge Frau zögerte kurz auf der Schwelle, bevor sie das überfüllte Zimmer betrat. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, und obwohl ihre sommerliche Bräune verblasst war, kam es mir vor, als hätte ich sie erst vor wenigen Minuten zuletzt gesehen.
Sie jedoch sah mich nicht. Im nächsten Moment trat jemand hinter ihr durch die Tür. Ein Mann im schicken Anzug. Er legte ihr eine Besitzerhand auf die Schulter und flüsterte ihr grinsend etwas zu.
Sie lächelte ihn an, während sie gemeinsam in die Menge eintauchten.
Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Was von ihr übrig war, sah übel aus. Haut und Fleisch waren weitgehend weggerissen, darunter kamen die Rippen zum Vorschein, das ganze Skelett. An einigen entfleischten Gelenken hing noch der Knorpel, aber die meisten der langen Gliederknochen waren exartikuliert. Rechts fehlten Elle und Speiche völlig, ebenso der rechte Oberschenkelknochen. Der linke hing nur an einem dünnen Hautfaden.
«Hättest du gern ein Stück Gans, David?», fragte Anja und trat zu mir ans Buffet. Mia, ihre kleine Tochter, hielt ihren Hals umschlungen und schlief schon halb. «Es gibt noch reichlich.»
Ich war in Gedanken weit weg gewesen. Mit einem Lächeln riss ich mich von der Leichenschau los. «Im Augenblick nicht, danke.»
«Ich weiß auch nicht, warum wir immer so einen großen Vogel kaufen. Die reine Verschwendung. Ach ja.» Sie lächelte mich an. «Egal, greif bitte zu. Im Moment sind hauptsächlich Reste im Angebot, aber es kommt gleich Nachschub. So, und jetzt bringe ich erst mal diese kleine Leiche hier ins Bett, dann muss ich gucken, wo Jason mit dem Glühwein bleibt.»
Sie drehte sich um, schlängelte sich mit ihrer todmüden Kleinen durch das Gedränge und wechselte noch kurz mit dem einen oder anderen Gast ein Wort. Anja war eine gute Gastgeberin, eine von denen, für die der Umgang mit Gästen so natürlich ist wie das Atmen. Sie kam aus Kopenhagen und war mit einem Studienfreund von mir verheiratet. Jason war Orthopäde geworden, während ich in eine ganz andere Sparte gewechselt war. Aber wir waren in Kontakt geblieben, und die Weihnachtsfeier bei ihnen zu Hause war inzwischen zu einem alljährlichen Ritual geworden. An diesem Abend hatte ich noch zu tun gehabt, und da ich deshalb das vorangegangene traditionelle dänische Weihnachtsessen verpasst hatte, war die Party schon in vollem Gange, als ich schließlich eintraf. Das Haus war geschmackvoll mit selbstgebastelten Gestecken aus Stechpalmenzweigen und Kiefernzapfen dekoriert, und an strategischen Stellen in dem weitläufigen Wohnzimmer brannten stimmungsvoll Bienenwachskerzen. Der Raum quoll über vor Menschen, und das Stimmengewirr, durchsetzt mit Lachen und Gläserklirren, übertönte beinahe, aber nur beinahe die im Hintergrund spielenden obligatorischen Weihnachtslieder. Ich schloss mit mir selbst eine Wette ab, dass vor Ende des Abends noch Nat King Cole laufen würde.
Na dann, fröhliche Weihnachten, Hunter. Ich nahm mir einen Teller und beäugte die Speisen mit mäßigem Appetit. Zu Mittag hatte es ein abgepacktes Sandwich und einen Kaffee aus einem Krankenhausautomaten gegeben, beides eine Zumutung. Anja war eine gute Köchin, und die Platten mit Bratenaufschnitt, Fisch und dänischen Weihnachtsspezialitäten sahen wie immer verlockend aus. Aber ich hatte keinen Hunger. Ich versuchte, mir einzureden, dass mir die unerfreuliche Arbeit vorhin im Leichenschauhaus nachhing, zu der ich noch nichts Weiteres gehört hatte. Doch ich wusste, dass das nur Ausflüchte waren: Meine Appetitlosigkeit hatte einen anderen Grund.
Ich war nervös.
Ich sondierte die versammelten Gesichter in der Hoffnung, das der jungen Frau darunter zu entdecken. Sie war nicht da. Vor Enttäuschung zog sich mir der Magen zusammen. Mir war klar, wie lächerlich das war. Ich wusste gar nichts über sie, kannte nicht einmal ihren Namen, sodass es doppelt und dreifach absurd war, wie sehr sich meine Hoffnungen im Laufe des Abends hochgeschaukelt hatten.
Vor lauter Unruhe wollte ich schon nachschauen gehen, ob ich neue Nachrichten auf dem Handy hatte. Eigentlich hatte ich es bewusst im Flur in der Manteltasche gelassen, aber damit hätte ich mich immerhin von der jungen Frau ablenken können. Andererseits hatte ich vor kurzem erst geschaut, und ich war Gast auf einer Weihnachtsfeier. Komm, entspann dich. Und mach ein freundliches Gesicht: Es ist Weihnachten. Ich schenkte mir nach und tat mir pro forma ein paar Stückchen Käse auf den Teller.
Dann nahm ich zur Stärkung einen Schluck Wein und mischte mich unters Volk.
* * *
«Klarer Fall, würde ich sagen. Ein tödlicher Schlag auf den Kopf. Die Autopsie hat schweres Schädeltrauma und Gehirnblutung ergeben, der Tod ist also praktisch sofort eingetreten. »
Der Ton des Polizisten war scharf und bestimmend, womit Detective Chief Superintendent Nichols überhaupt ganz gut charakterisiert war. Ich arbeitete zum ersten Mal mit ihm zusammen, aber dem Mann eilte der Ruf voraus, beinahe beleidigend brüsk zu sein, vor allem wenn ihm jemand querkam.
Ich musste nicht unbedingt wissen, ob der Ruf berechtigt war.
«Wenn der Fall so klar ist, was wollen Sie dann von mir?», fragte ich, das Telefon in der einen Hand, während ich mir mit der anderen Notizen machte.
«Die Pathologin meinte, es würde nichts schaden, Ihre Meinung einzuholen. Sie sagt, das Opfer wäre offensichtlich mit irgendeinem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen worden, aber ein Forensiker würde sich mit so Sachen besser auskennen als sie.»
«Wer ist die Pathologin?»
«Parekh.» Er zog die Nase hoch. «Ich persönlich glaube, wir verschwenden nur Ihre Zeit, aber sie will es so haben.» Ich schmunzelte. Ich kannte Riya Parekh, eine Frau mittleren Alters, die sich genauso wenig reinreden ließ wie Nichols. Das war bestimmt ein lebhafter Meinungsaustausch gewesen. Und sie musste ihre Gründe haben, mich hinzuzuziehen. «Sie sagen, Sie haben bereits einen Verdächtigen festgenommen?»
«Genau. Vierundvierzig Jahre alt, obdachlos, heißt Anthony Kingston. Alkoholiker, mehrfach aufgefallen wegen Trunkenheit und Ruhestörung, aber keine richtigen Gewalttaten. Bis jetzt.»
«Sind Sie sicher, dass er es war?»
«Er wurde am Tatort bei der Leiche aufgegriffen. Das Opfer hieß Elaine Williams, Witwe, sechsundsiebzig Jahre alt. Hatte Geschenke für ihre Enkel gekauft und war auf dem Weg nach Hause. Laut Zeugenaussagen hatte Kingston zuvor betrunken in der Gegend herumgebettelt. Anscheinend wollte er sich nicht abweisen lassen und hat der alten Frau mit einer Whiskyflasche eins übergezogen.»
«Aber er streitet es ab?» Wenn er gestanden hätte, gäbe es keinen Grund, mich zu konsultieren.
«Nicht so richtig. Als er nüchtern genug war, um vernommen zu werden, gab er an, sich an nichts zu erinnern. Könnte sogar stimmen, aber die Flasche lag neben der Leiche, voll von ihrem Blut und seinen Fingerabdrücken. Nicht ganz das Weihnachten, das ihre Angehörigen sich vorgestellt haben.»
Bestimmt nicht. «Na schön, ich werfe heute Nachmittag einen Blick drauf.»
«An Heiligabend?» Er klang verwundert. «Das kann warten bis nach den Feiertagen.»
Ich dachte an die Angehörigen der Toten und an den obdachlosen Mann in seiner Gefängniszelle. «Dürfte nicht lange dauern», sagte ich.
* * *
Ich hatte die junge Frau erst einmal gesehen, auf einer Grillparty, die Anja und Jason im Spätsommer gegeben hatten. Sie stand auf der anderen Seite der gedrängt vollen Gartenterrasse, blond und attraktiv, mit sonnengebräunten Schultern und einem Lächeln, von dem ich nur schwer den Blick losreißen konnte. Ich musste sie angegafft haben, denn plötzlich sah sie mich direkt an. Der Augenblick zog sich hin, ohne dass einer von uns wegschaute, und es war fast unheimlich, wie natürlich es sich anfühlte. Mir war sofort, als würde ich sie schon ewig kennen.
Ich war schon drauf und dran gewesen, sie anzusprechen, aber Anja suchte sich gerade diesen Moment aus, um mich einigen ihrer Kollegen vorzustellen. Als ich mich schließlich losgeeist hatte, war die junge Frau nicht mehr im Garten. Ich sah mich im Haus nach ihr um, dann wieder draußen, bis ich mich damit abfand, dass sie gegangen war.
«Blond, attraktiv?», sagte Jason, als ich ihn später zu fassen kriegte. Er bekam langsam eine Glatze und hatte den massigen Körperbau vieler Orthopäden. «Umwerfendes Lächeln?»
«Bingo. Wie heißt sie?»
«Keine Ahnung, nicht die geringste.»
«Ist sie eine Freundin von Anja?»
Er angelte sich das nächste Bier aus einem Kübel mit schmelzendem Eis und öffnete es mit einer fleischigen Hand. «Glaube ich nicht. Hätte ich mir gemerkt.»
«Warum war sie dann auf euerm Grillfest?», fragte ich ungeduldig.
«Wahrscheinlich mit jemand mitgekommen.» Er grinste über meinen Gesichtsausdruck und klopfte mir auf die Schulter. «Mann, David, dich hat's ja richtig erwischt, was? Wart mal, ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie könnte im Krankenhaus arbeiten. Ich hör mich mal um, vielleicht kann ich ja was in Erfahrung bringen.»
Aber bis jetzt war er damit kläglich gescheitert. Als die Tage kürzer wurden und der Winter sich mit einem Frosthauch in der Luft ankündigte, hatte ich immer noch nichts über die junge Frau herausbekommen. Trotzdem ging mir ihr Bild nicht mehr aus dem Sinn, sodass ich mich schließlich über mich selbst ärgerte. Hör auf, dich wie ein Schuljunge zu benehmen. Du wirst sie nie wiedersehen. Schlag sie dir aus dem Kopf. Ich hatte mich nach Kräften darum bemüht, dann aber hatte Jason angerufen und mich an seine Weihnachtsfeier erinnert. Und seitdem hatte ich an kaum etwas anderes denken können.
Auf Anjas und Jasons Festen kam immer eine bunte Mischung von Leuten zusammen. Von einer Gruppe zur anderen schlendernd, heuchelte ich höfliches Interesse an den Meinungen wildfremder Personen. Ich tat so, als lauschte ich den Tiraden eines Dichters, eines verbitterten Mannes im mittleren Alter, der mit jedem Schluck Wein immer schärfer und lauter wurde. Von mir aus. Dann musste ich wenigstens keine Konversation treiben, während ich über seine Schulter hinweg möglichst unauffällig die Tür im Auge behielt und hoffte, sie möge kommen. Sie kam nicht, und meine Enttäuschung steigerte sich mit jeder Minute.
Als ich sie eintreten sah, wurde ich urplötzlich schwerelos. Der Dichter schwadronierte weiter, doch ich hörte ihn nicht mehr. Die junge Frau zögerte kurz auf der Schwelle, bevor sie das überfüllte Zimmer betrat. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, und obwohl ihre sommerliche Bräune verblasst war, kam es mir vor, als hätte ich sie erst vor wenigen Minuten zuletzt gesehen.
Sie jedoch sah mich nicht. Im nächsten Moment trat jemand hinter ihr durch die Tür. Ein Mann im schicken Anzug. Er legte ihr eine Besitzerhand auf die Schulter und flüsterte ihr grinsend etwas zu.
Sie lächelte ihn an, während sie gemeinsam in die Menge eintauchten.
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Autoren-Porträt von Simon Beckett, Michael Hjorth, Hans Rosenfeldt
Beckett, SimonSimon Beckett ist einer der erfolgreichsten englischen Thrillerautoren. Seine Serie um den forensischen Anthropologen David Hunter wird rund um den Globus gelesen: «Die Chemie des Todes», «Kalte Asche», «Leichenblässe», «Verwesung» und «Totenfang» waren allesamt Bestseller. «Die ewigen Toten», Teil 6 der Reihe, erreichte Platz 1 der Bestsellerliste, ebenso wie sein atmosphärischer Psychothriller "Der Hof". Simon Beckett ist verheiratet und lebt in Sheffield.Hjorth, MichaelMichael Hjorth ist ein erfolgreicher schwedischer Produzent, Regisseur und Drehbuchautor. Er schrieb u.a. Drehbücher für die Verfilmungen der Romane von Henning Mankell.Rosenfeldt, HansHans Rosenfeldt, Jahrgang 1964, ist einer der angesehensten Drehbuchautoren Schwedens und Schöpfer der bislang erfolgreichsten skandinavischen Serie «Die Brücke», die in über 170 Ländern ausgestrahlt wurde und zahlreiche Preise erhielt. Für die britische Fernsehserie «Marcella» wurde er mit dem British Screenwriters' Award in der Kategorie Best Crime Writing on Television ausgezeichnet. Als Teil des Autorenduos Hjorth & Rosenfeldt schrieb er sechs Kriminalromane der Sebastian-Bergman-Reihe, die in 34 Ländern erscheint, sich weltweit über 4 Millionen mal verkauft hat - allein in Deutschland 2,2 Millionen mal - und die von Sveriges Television in Kooperation mit dem ZDF verfilmt wird. Alle Bände befanden sich monatelang in den Top 10 der Spiegel-Bestsellerlisten, mit Band 6 gelang der Sprung auf Platz 1 sowohl auf der Spiegel-Hardcover- als auch der Taschenbuch-Liste. In seinem Heimatland Schweden ist Hans Rosenfeldt ein beliebter Radio- und Fernsehmoderator.Edwardson, ÅkeÅKE EDWARDSON, geboren 1953, arbeitete als Journalist und unterrichtete an der Universität, ehe er sich dem Schreiben widmete. Er gehört zu den erfolgreichsten schwedischen Krimiautoren. Seine Bücher um Kommissar Erik Winter wurden vielfach ausgezeichnet und in über zwanzig Sprachen übersetzt.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Simon Beckett , Michael Hjorth , Hans Rosenfeldt
- 2012, 2. Aufl., 272 Seiten, Maße: 13,4 x 21 cm, Gebunden, Deutsch
- Herausgegeben:Ney, Friederike;Mitarbeit:Beckett, Simon; Hjorth, Michael; Rosenfeldt, Hans; Edwardson, Åke; Tursten, Helene; Robinson, Peter; Ani, Friedrich; Löhnig, Inge; Busch, Petra; Pepper, Kate; Burg
- Verlag: Wunderlich
- ISBN-10: 3805250487
- ISBN-13: 9783805250481
- Erscheinungsdatum: 01.11.2012
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