Tausendschön
Thriller
Ein junges Mädchen wird vergewaltigt. 15 Jahre später stirbt ein Mann bei
einem Fahrerflucht-Unfall, doch niemand scheint ihn zu vermissen. Zeitgleich begehen ein Pfarrer und seine Frau Selbstmord. Alex Recht und Fredrika Bergman werden auf diese
bizarren Fälle angesetzt.
einem Fahrerflucht-Unfall, doch niemand scheint ihn zu vermissen. Zeitgleich begehen ein Pfarrer und seine Frau Selbstmord. Alex Recht und Fredrika Bergman werden auf diese
bizarren Fälle angesetzt.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Tausendschön “
Ein junges Mädchen wird vergewaltigt. 15 Jahre später stirbt ein Mann bei
einem Fahrerflucht-Unfall, doch niemand scheint ihn zu vermissen. Zeitgleich begehen ein Pfarrer und seine Frau Selbstmord. Alex Recht und Fredrika Bergman werden auf diese
bizarren Fälle angesetzt.
einem Fahrerflucht-Unfall, doch niemand scheint ihn zu vermissen. Zeitgleich begehen ein Pfarrer und seine Frau Selbstmord. Alex Recht und Fredrika Bergman werden auf diese
bizarren Fälle angesetzt.
Klappentext zu „Tausendschön “
"Der bestmögliche Start für diesen Krimiherbst!" (Skånska Dagbladet)Ein junges Mädchen wird am Mittsommerabend überfallen und vergewaltigt. Fünfzehn Jahre später stirbt ein Mann bei einem Unfall mit Fahrerflucht, doch niemand scheint ihn zu vermissen. Zeitgleich begehen ein Pfarrer und seine Frau Selbstmord. Oder hat es nur den Anschein?
Das Ermittlerteam um Alex Recht und Fredrika Bergman wird auf die Fälle angesetzt. Die augenscheinlichen Einzeltaten entpuppen sich als ein Geflecht der Abhängigkeiten, in dessen Zentrum eine Kirchengemeinde steht
Lese-Probe zu „Tausendschön “
Tausendschön von Kristina Ohlsson... mehr
DIE WIESE - IHR GRÜN und die Blumen - hatte immer schon ihr gehört. Es war nicht allzu schwer gewesen, sich zu einigen; sie hatte sich einfach nur einverstanden erklären müssen, dass ihre Schwester die Dachkammer im Sommerhaus bekam. Sie fand es unbegreiflich, wie die Schwester sich auf einen solchen Tausch hatte einlassen können - eine langweilige Dachkammer gegen eine Wiese -, aber sie hatte nichts gesagt, sonst wäre die Schwester womöglich auf die Idee gekommen, mehr zu fordern.
Die Wiese lag dicht und verwildert jenseits der Grundstücksgrenze. Als sie klein war, hatten ihr einige Pflanzen bis zum Kinn gereicht. Jetzt, da sie älter war, reichten sie ihr nur noch bis zur Taille. Mit leichten Bewegungen und suchendem Blick schritt sie durchs Gras und spürte die Blüten und Blätter an ihren nackten Beinen. Die Blumen mussten schweigend gepflückt werden, sonst würde nichts daraus. Sieben Arten mussten es sein, und sie sollten am Mittsommerabend gepflückt und dann unters Kopfkissen gelegt werden. Dann würde sie ihn sehen, den Mann, den sie heiraten würde.
Das hatte sie zumindest als kleines Mädchen geglaubt, als sie zum allerersten Mal an Mittsommer Blumen gepflückt hatte. Die Schwester hatte sie aufgezogen. »Du willst doch nur Viktor«, hatte sie gesagt und gelacht.
Offensichtlich war ihre Schwester schon damals dumm und naiv gewesen. Natürlich war es überhaupt nicht um Viktor gegangen, sondern um einen ganz anderen. Aber das behielt sie lieber für sich.
Seit jenem ersten Mal wiederholte sie die Prozedur jedes Jahr wieder. Natürlich war sie inzwischen zu groß, um den alten Aberglauben für bare Münze zu nehmen. Trotzdem hielt sie daran fest. Außerdem gab es, wie sie nüchtern feststellen musste, nicht gerade viele Möglichkeiten, sich hier anderweitig zu beschäftigen. Jahr für Jahr bestanden ihre Eltern darauf, Mittsommer auf dem Land zu feiern, und jedes Mal wurde es quälender für sie. Diesmal war sie sogar zum Fest ihrer Freundin Anna eingeladen, deren Eltern ein großes Mittsommerfest feierten, zu dem auch die Freunde ihrer Kinder kommen durften.
Aber ihr Vater erlaubte es nicht.
»Wir feiern, wie wir es immer getan haben«, erklärte er. »Zusammen. Und das gilt, solange du bei uns zu Hause wohnst.«
Sie war verzweifelt. Begriff er denn nicht, wie ungerecht das war? Es würde noch Jahre dauern, bis sie überhaupt darüber nachdenken konnte, von zu Hause auszuziehen. Und das illoyale Verhalten der Schwester machte es auch nicht gerade leichter. Die wurde ohnehin niemals zu irgendwelchen Partys eingeladen und vermisste in der Gesellschaft der Eltern auf dem Lande rein gar nichts. Sie schien sogar die komischen Gäste zu schätzen, die nach Einbruch der Dämmerung aus dem Keller gekrochen kamen und sich zu ihnen setzten, sobald Mama die Jalousien herunterließ, damit niemand hereinschauen konnte.
Sie verabscheute sie. Im Gegensatz zum Rest der Familie brachte sie keine Sympathie für sie auf, und sie taten ihr auch nicht leid. Zerlumpte Menschen, die stanken und keine Verantwortung für ihr eigenes Leben übernahmen. Die nichts weiter taten, als sich in einem Keller im Hinterland herumzudrücken. Die sich mit so lächerlich wenig zufriedengaben.
Sie selbst war nie zufrieden. Niemals.
»Du sollst deinen Nächsten lieben«, pflegte ihr Vater zu sagen.
»Man soll dankbar sein für das, was man hat«, sagte ihre Mutter.
Da hörte sie schon lange nicht mehr hin.
Sie entdeckte ihn, als sie gerade die vierte Blume gepflückt hatte. Er musste irgendeinen Laut von sich gegeben haben, sonst hätte sie seine Gegenwart niemals bemerkt. Sie blickte von der Wiese und den Blumen auf und wurde von der Sonne geblendet. Im Gegenlicht war er nur eine dunkle Silhouette, unmöglich zu erkennen oder vom Alter her einzuordnen.
Sie hielt die Hand über die Augen und sah zu ihm hinüber. Doch, sie kannte ihn. Ein paar Abende zuvor hatte sie ihn vom Küchenfenster aus gesehen, als Papa mit den letzten Gästen spät nach Hause gekommen war. Er war größer als die anderen. Nicht älter, aber größer. Kräftiger. Hatte ein markantes Kinn. Er sah aus wie ein amerikanischer Soldat in irgendeinem Film.
Sie standen sich reglos gegenüber und sahen einander an. »Du darfst nicht hier draußen sein«, sagte sie schließlich und richtete sich gerade auf.
Sie wusste, dass es sinnlos war. Niemand von denen im Keller hatte jemals Schwedisch gesprochen.
Als er sich nicht rührte und auch nichts sagte, seufzte sic und wandte sich wieder den Blumen zu.
Glockenblume.
Margerite.
Er bewegte sich. Sie sah zu ihm zurück und entdeckte, dass er näher gekommen war.
Sie und ihre Familie waren einmal im Ausland gewesen. Ein einziges Mal hatten sie eine normale Urlaubsreise unternommen und hatten auf den Kanaren in der Sonne gelegen
und gebadet. Die Straßen dort waren voll herrenloser Hunde gewesen, die hinter den Touristen herliefen. Ihr Vater war sehr geschickt darin gewesen, sie zu verjagen.
»Such!«, hatte er gerufen und einen Stein in die andere Richtung geworfen.
Es hatte immer geklappt. Die Hunde hatten von ihnen abgelassen und waren hinter dem Stein hergesaust.
Der Typ auf der Wiese erinnerte sie an die streunenden Hunde. In seinem Blick lag etwas Unberechenbares, das nicht zu deuten war. Vielleicht auch etwas Böses.
Plötzlich war sie unsicher, was sie als Nächstes tun sollte. Einen Stein konnte sie schlecht werfen. Ein Blick zum Sommerhaus hinüber bestätigte nur, was sie ohnehin wusste: Ihre Eltern und die Schwester waren in die Stadt gefahren, um Fisch für das Mittsommeressen zu kaufen. Noch so eine dämliche alte Tradition, an der ihre Eltern festhielten, um das Bild von einer normalen Familie aufrechtzuerhalten. Wie immer hatte sie abgelehnt mitzufahren, sie wollte lieber in aller Ruhe - und schweigend - ihre Blumen pflücken.
»Was willst du?«, fragte sie verärgert.
Verärgert und mit wachsender Furcht. Sie wusste, wie Gefahr roch; ihr Instinkt hatte sic selten getrügt. Und gerade sagten ihr all ihre Sinne, dass sie die Kontrolle über die Situation behalten musste.
Die Blumen pikten, als sie ihre Hand fester um die Stängel schloss. Nur eine Blume fehlte noch. Das Tausendschön. Kultiviertes Unkraut, wie ihr Vater es nannte.
Der Mann kam schweigend auf sie zu. Dann blieb er stehen, nur noch einen knappen Meter entfernt. Langsam breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, und im selben Moment wusste sie, wofür er gekommen war.
Die Beine waren schneller als ihre Gedanken. Ihre Nerven funkten Gefahr, und im selben Augenblick fing sie an zu rennen. Die Grundstücksgrenze war weniger als hundert Meter entfernt. Mehrmals rief sie um Hilfe. Doch die Schreie versickerten in der Stille der Wiese. Die trockene Erde dämpfte die Laute ihrer Schritte ebenso wie den dumpfen Schlag, als er sie nach nur zwanzig Metern zu Boden warf, so als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass sie ohnehin nicht entkommen würde, und sie nur hatte laufen lassen, weil es ihn erregte, sie zu jagen.
Sie kämpfte wie ein Tier, als er sie auf den Rücken drehte und derart gezielt und behände an ihren Kleider riss und zerrte, dass ihr in diesem Moment klar war: Das hier musste etwas sein, das er schon einmal getan hatte.
Und als dann alles vorüber war, als sie weinend in dem Krater lag, den ihre Körper in das Grün geschlagen hatten, wusste sie: Darüber würde sie niemals hinwegkommen. In ihrer geballten Faust, die Fingerknöchel von ihrem erfolglosen Kampf blutig gescheuert, hielt sie noch immer den Mittsommerstrauß. Sie ließ ihn fallen, als hätte sie sich daran verbrannt. Die Blumen waren nicht mehr wichtig. Sie wusste, wessen Gesicht sie in ihren Träumen sehen würde.
Als das Auto der Eltern auf das Grundstück fuhr, lag sie immer noch auf der Wiese, unfähig, sich zu erheben. Die Wolken am Himmel sahen aus, als würden sie Fangen spielen. Um sie herum schien alles seinen unveränderten Weg zu gehen, während ihre eigene Welt soeben auf ewig in Scherben geschlagen worden war. Sie blieb auf der Wiese liegen, bis man sie vermisste und sie suchen ging. Und als man sie endlich fand, war sie bereits eine andere geworden.
STOCKHOLM
Nicht ahnend, dass er bald sterben würde, hielt er mit großem Engagement den Vortrag, der sein letzter werden sollte. Der Freitag war lang gewesen, und doch waren die Stunden schnell verflogen. Die Zuhörer waren aufmerksam, und es wurde Jakob Ahlbin warm ums Herz, wenn sich so viele andere für das Thema interessierten.
Ein paar Tage später, als er sich eingestehen musste, dass alles vergebens war, dachte er noch darüber nach, ob ausgerechnet dieser letzte Vortrag vielleicht ein Fehler gewesen war. War er während der Fragestunde vielleicht zu offen gewesen, hatte er zu erkennen gegeben, dass er geheimes Wissen besaß? Doch eigentlich glaubte er das nicht. Noch im Moment seines Todes war er überzeugt davon, dass die Katastrophe unmöglich hatte verhindert werden können. Als er den Lauf der Jagdpistole an seiner Schläfe spürte, war ohnehin alles zu spät. Und doch empfand er eine große Trauer darüber, dass sein Leben auf diese Weise endete. Wo er doch immer noch so unendlich viel zu geben gehabt hätte.
Jakob Ahlbin hatte im Laufe der Jahre mehr Vorträge gehalten, als er zählen konnte, und er wusste, dass er die Gabe, ein guter Redner zu sein, exzellent genutzt hatte. Der Aufbau seiner Vorträge war oft der gleiche gewesen und die Fragen, die folgten, ebenso; nur das Publikum hatte sich geändert. Manchmal waren die Leute hinbeordert worden, manchmal suchten sie ihn spontan auf. Jakob schätzte beides, er fühlte sich in jedem Fall hinter dem Rednerpult wohl.
Meist begann er damit, dass er Bilder von den Booten zeigte. Zugegeben, ein simpler Trick, dessen man sich jedoch, wie er wohl wusste, nur schwer erwehren konnte. Ein Dutzend Menschen in einem viel zu kleinen Boot, das Tag um Tag, Woche um Woche auf dem Meer dahintreibt, während die Passagiere immer erschöpfter und verzweifelter werden. Und am Horizont die Fata Morgana Europas, wie ein Traum oder eine Fantasie, die für diese Leute doch niemals Wirklichkeit werden sollte.
»Wir glauben, dieses Phänomen wäre neu«, pflegte er einleitend zu sagen. »Wir glauben, es gehörte zu einem anderen Teil der Welt, während uns so etwas nie passiert ist und nie passieren wird.«
Dann wechselte diskret das Bild hinter ihm, und eine Europakarte erschien.
»Aber da greift unser Gedächtnis zu kurz«, seufzte er. »Wir erinnern uns lieber nicht daran, dass es nur ein paar wenige Jahrzehnte her ist, dass Europa in Flammen stand und die Menschen in Panik von einem Land ins nächste flüchteten. Und ebenso vergessen wir, dass vor einem knappen Jahrhundert mehr als eine Million Schweden sich entschieden, ihr Land zu verlassen, um in Amerika neu anzufangen.«
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, hielt einen Moment inne und kontrollierte, ob er die volle Aufmerksamkeit des Publikums besaß. Das Bild hinter ihm wechselte erneut, und nun waren da Max von Sydow und Liv Ullmann aus der Verfilmung von Vilhelm Mobergs Auswanderersaga zu sehen.
»Eine Million Menschen«, wiederholte er mit lauter Stimme. »Glauben Sie ja nicht, dass Karl Oskar und Kristina hier die Reise nach Amerika auch nur einen Augenblick lang als etwas anderes betrachteten als eine Strafe. Glauben Sie ja nicht, dass sie nicht in Schweden geblieben wären, wenn sie nur gekonnt hätten. Überlegen Sie, was es mit sich bringen würde, wenn Sie selbst aufbrechen und Ihr altes Leben hinter sich lassen müssten, um ein neues auf einem anderen Kontinent zu beginnen - ohne einen Cent in der Tasche und nur mit den Habseligkeiten versehen, die in eine erbärmliche, verdammte Reisetasche passen.«
Der Fluch war bewusst eingesetzt. Ein fluchender Pfarrer hatte immer etwas Unerhörtes.
Er wusste nur zu gut, wo er mit Widerstand rechnen konnte: manchmal schon in dem Moment, da er das Bild von Karl Oskar und Kristina, den Auswanderern, zeigte; manchmal erst später. An diesem Nachmittag geschah es, nachdem er zum ersten Mal geflucht hatte. Ein junger Kerl aus einer der vorderen Reihen fühlte sich offensichtlich provoziert, und seine Hand schoss hoch, als Jakob eben weiterreden wollte. »Entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche«, gellte der junge Mann, »aber dieser Vergleich hinkt doch, zum Teufel!«
Jakob wusste, was jetzt kommen würde, doch um der Wirkung willen runzelte er die Stirn.
»Karl Oskar und Kristina und all die anderen Schweden, die nach Amerika gegangen sind, haben dort schließlich geschuftet wie die Tiere. Sie haben dieses verdammte Land überhaupt erst aufgebaut. Sie haben die Sprache gelernt und sich der Kultur angepasst. Sie haben sich Arbeit gesucht und sich selbst versorgt. Die Menschen, die heutzutage nach Schweden kommen, machen nichts in der Art! Sie wohnen in ihren Ghettos und scheißen darauf, Schwedisch zu lernen, leben von der Sozialhilfe und denken nicht daran zu arbeiten.«
Im Saal wurde es still. Wie ein unguter Geist schwebte Sorge über den Zuschauern: die Sorge, dass es zu einem Eklat kommen könnte, aber auch die Sorge, selbst als jemand entlarvt zu werden, der die Ansichten des jungen Mannes teilte. Gedämpftes Murmeln breitete sich aus, und Jakob wartete ab. Er hatte lange versucht, den Politikern, so sie ihm überhaupt noch zuhören wollten, zu erklären, dass man diese Art von Denken und die Frustration, der der Junge soeben Luft gemacht hatte, nicht totschweigen dürfe.
Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust. Er schob das Kinn vor und wartete auf die Antwort des Pfarrers. Und Jakob ließ ihn warten. Er nahm einen Gesichtsausdruck an, der vermuten ließ, dass das, was da gerade gesagt worden war, ihm völlig neu wäre. Er sah zu dem Bild hinter sich und wandte sich dann wieder den Zuschauern zu.
»Glauben Sie wirklich, dass diese Menschen sich das so vorgestellt haben, als sie hierherkamen? Zum Beispiel diejenigen, die bis zu fünfzehntausend Dollar gezahlt haben, um aus einem in Flammen stehenden Irak nach Schweden zu kommen? Haben die von einem Leben in verkommenen, alten Städtebauprojekten aus den Sechziger- und Siebzigerjahren in isolierten Vororten geträumt? Wo sie zusammen mit zehn anderen Erwachsenen tagaus, tagein in einer Dreizimmerwohnung hocken würden, ohne Beschäftigung und ohne ihre Familien? Allein? Fünfzehntausend Dollar kostet es nämlich für eine Person hierherzukommen.« Er hielt einen langen, geraden Finger in die Luft. »Glauben Sie wirklich, dass diese Menschen sich auch nur in ihren kühnsten Träumen vorgestellt haben, dass sie von uns zu solchen Außenseitern gemacht würden? Dass jemand, der ausgebildeter Arzt ist, im besten Fall noch einen Job als Taxifahrer angeboten bekommt und jemand, der einen niedrigeren Ausbildungsgrad hat, noch nicht einmal das?«
Ohne vorwurfsvoll auszusehen, konzentrierte Jakob seinen Blick auf den jungen Mann.
»Ich glaube, dass die Menschen genauso denken wie Karl Oskar und Kristina. Ich glaube, sie erwarten, dass es so sein wird, wie vor hundert Jahren nach Amerika zu kommen: dass die Möglichkeiten für diejenigen, die bereit sind, sich abzurackern, unendlich sind und dass harte Arbeit sich bezahlt macht.«
Eine junge Frau fing Jakobs Blick auf. Ihre Augen glänzten, und in der Hand hielt sie ein Papiertaschentuch umklammert.
»Ich weiß«, fuhr er langsam fort, »dass es nur sehr wenige Menschen gibt, die sich bewusst dafür entscheiden, in einer Wohnung in einem Vorort zu sitzen und vor sich hinzustarren, solange sie das Gefühl haben, dass es noch Alternativen gibt. Zumindest habe ich das im Rahmen meiner Arbeit festgestellt«, fügte er hinzu.
Und genau an dieser Stelle ging die Veränderung vonstatten. So wie immer. Das Publikum saß schweigend da und hörte mit wachsendem Interesse zu. Die Bilder wechselten, während sein Bericht von den Einwanderern, die in den letzten Jahrzehnten nach Schweden gekommen waren, Gestalt annahm. Schmerzlich scharfe Fotografien zeigten Männer und Frauen, die in einen Lastwagen gepfercht waren, der durch die Türkei und dann weiter nach Europa fuhr.
»Für fünfzehntausend Dollar erhält ein Iraker heute Pass, Reise und Geschichte. Die Netzwerke der Schlepper erstrecken sich über ganz Europa, und sie haben Verzweigungen in sämtliche Konfliktherde, wo Menschen gezwungen sind, sich auf die Flucht zu begeben.«
»Was soll das heißen, Geschichte?«, fragte eine der Frauen aus dem Publikum.
»Eine Asylgeschichte«, erklärte Jakob. »Die Schlepper erklären dem Flüchtling, was er oder sie sagen muss, um in Schweden eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.«
»Aber fünfzehntausend Dollar«, fragte ein Mann zögernd, »das ist so unglaublich viel Geld - ist das denn wirklich so teuer?«
»Natürlich nicht«, antwortete Jakob geduldig. »Die Leute, die hinter diesen Netzwerken stehen, verdienen unglaubliche Summen. Es ist ein hart umkämpfter Markt und entsetzlich ungerecht. Gleichzeitig ist trotz der Brutalität verständlich, dass es diesen Markt gibt. Europa ist für Menschen in Not verschlossen. Der einzige Weg hinein führt durch die Illegalität, und er ist von Kriminellen kontrolliert.«
Mehrere Hände winkten, und Jakob beantwortete eine Frage nach der anderen. Am Ende war nur noch die Hand einer jungen Frau erhoben. Das Mädchen mit dem Papiertaschentuch. Ein viel zu langer roter Pony hing ihm wie eine Gardine über die Augen und ließ es fast anonym wirken. Eine Person, die man im Nachhinein nicht würde beschreiben können.
»Gibt es denn niemanden, der sich dieser Sache aus reiner Solidarität annimmt?«, fragte sie. Diese Frage war neu und bei keinem von Jakobs Vorträgen je zuvor gestellt worden. »Es gibt doch massenhaft Organisationen in Schweden und in ganz Europa, die sich mit Flüchtlingen beschäftigen? Ist denn darunter keine, die ihnen hilft, nach Schweden zu kommen?«, fuhr sie fort. »Und zwar auf eine humanere Art als über Menschenschmuggler?«
Die Frage setzte sich fest. Schlug Wurzeln. Jakob zögerte lange, ehe er antwortete. Er wusste nicht recht, wie viel er sagen durfte.
»Menschen dabei zu helfen, illegal nach Europa zu kommen, ist eine kriminelle Handlung. Ganz gleich was wir da- von halten, so ist es nun einmal. Und das bedeutet auch, dass es strafbar wäre, sich einer solchen Unternehmung anzunehmen. Das schreckt selbst den nobelsten Wohltäter ab.« Er zögerte wieder. »Aber ich habe gehört, dass diese Haltung im Wandel begriffen ist und dass es inzwischen Menschen gibt, die ausreichend Mitgefühl haben, um Flüchtlingen die Möglichkeit geben zu wollen, für entschieden kleinere Summen nach Europa zu kommen. Doch das weiß ich, wie gesagt, nur vom Hörensagen, es ist nichts, was ich sicher sagen könnte.«
Er machte eine Pause und spürte, wie sein Puls ein wenig schneller ging, während er gleichzeitig ein Stoßgebet aussandte, dass das auch stimmen möge.
Dann schloss er den Vortrag so ab, wie er es immer tat.
»Wie gesagt, ich glaube, dass wir uns davor hüten müssen zu glauben, dass es massenhaft Menschen auf der Welt gibt, die sich wünschen, ohne Arbeit und festen Wohnsitz in irgendeinem Vorort in Schweden zu leben. Hingegen sollten wir über Folgendes gründlich nachdenken: Was tut ein Vater nicht alles, um die Zukunft seiner Kinder zu sichern? Zu welchen Taten ist ein Mensch, der alles verloren hat, bereit, um eines besseren Lebens willen?«
Während Jakob Ahlbin seinen letzten Vortrag beendete und den Applaus des Publikums entgegennahm, landete auf dem Stockholmer Flughafen Arlanda eine Boeing 737, die nur wenige Stunden zuvor Istanbul verlassen hatte. Der Kapitän, der das Flugzeug zur schwedischen Hauptstadt gelenkt hatte, verkündete, dass die Außentemperatur drei Grad minus betrage und man im Laufe des Abends mit Schnee zu rechnen habe. Er wünschte den Passagieren, die er bei nächster Gelegenheit gern wieder begrüßen wollte, einen guten Tag, und dann bat eine Stewardess die Reisenden, sitzen zu bleiben, bis die Anschnallzeichen erlöschen würden.
All lauschte konzentriert, doch er verstand weder das Englische noch die andere Sprache, von der er annahm, dass es Schwedisch war. Der Schweiß lief ihm über den Rücken und ließ das Hemd, das er sich unmittelbar vor seiner Abreise gekauft hatte, auf der Haut kleben. Er versuchte, sich nicht zurückzulehnen, wollte aber auch nicht die Blicke auf sich ziehen, indem er verkrampft und vorgebeugt dasaß, so wie er es bereits auf der Reise von Bagdad nach Istanbul getan hatte. Ein paarmal hatten die Stewardessen ihn sogar gefragt, ob es ihm gut gehe, ob er etwas zu trinken oder zu essen benötige. Er hatte nur stumm den Kopf geschüttelt, sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Oberlippe gewischt und die Augen geschlossen. Und sich gewünscht, dass er bald da sei, dass alles vorüber sei und er sich sicher fühlen könne.
Unruhe bemächtigte sich seines Körpers. Er umklammerte die Armlehnen mit beiden Händen und biss die Zähne aufeinander. Zum sicher hundertsten Mal sah er sich im Flugzeug um und versuchte herauszubekommen, wer wohl seine Begleitung war. Wer war die geheime Person, die angeblich zwischen den anderen Passagieren saß, nur um darauf zu achten, dass er sich richtig verhielt und die Anweisungen befolgte? Ein von seinem Befreier ausgesandter Schatten. Um seiner selbst willen. Wegen der anderen. Damit keine Probleme für die anderen entstanden, die ebenso wie er die großzügige Möglichkeit erhalten sollten, nach Schweden einzureisen.
Der gefälschte Pass steckte in der Brusttasche seines Hemdes. Er hatte ihn erst in seinem Handgepäck gehabt, ihn dann aber herausnehmen müssen, als die Stewardess kam und ihn darauf hinwies, dass er an einem Notausgang saß. Dort durfte man kein Gepäck unter den Vordersitz legen, sondern musste es in den Fächern über dem Kopf verstauen. Ali war in Panik geraten und hatte sich geweigert, den Pass in der Gepäckablage zu verstauen. Mit zitternden Händen hatte er schließlich den Reißverschluss der Tasche geöffnet und versucht, den Pass zu finden, der ganz nach unten gerutscht war. Hatte den harten Umschlag gepackt, ihn in die Hemdtasche geschoben und dann der wartenden Stewardess die Tasche gereicht.
Die Anweisungen für die Ankunft in Schweden waren sonnenklar gewesen. Unter keinen Umständen durfte er schon am Flughafen Asyl beantragen. Außerdem durfte er weder im Flugzeug noch sonst wie vor dem Aussteigen seine Papiere hergeben. Der Pass enthielt ein Visum, das besagte, dass er Geschäftsreisender aus einem der Golfstaaten sei und berechtigt, ins Land einzureisen. Dass er kein Englisch sprach, sollte dabei kein Problem darstellen.
Das Flugzeug rollte von der Landebahn und glitt erstaunlich sanft über den harten Asphalt, in den sich der Frost festgebissen hatte. Nun näherte es sich Gate 37, wo die Passagiere aussteigen sollten.
»Was passiert, wenn es nicht klappt?«, hatte Ali seine Kontaktperson in Damaskus gefragt.
»Mach dir nicht so viele Gedanken«, hatte die Kontaktperson mit einem schmalen Lächeln geantwortet.
»Ich muss das wissen«, sagte Ali. »Was passiert, wenn ich irgendetwas falsch mache? Ich habe schon mit anderen geredet, die an denselben Ort wollen. Das geht normalerweise nicht so.«
Das Gesicht seines Gegenübers hatte sich verfinstert. »Du solltest dankbar sein, Ali ...«
»Das bin ich auch«, beeilte er sich zu sagen. »Ich frage mich nur ...«
»Frag dich mal nicht so viel«, unterbrach ihn die Kontaktperson scharf. »Und du darfst unter keinen Umständen mit irgendjemandem über dies hier reden. Niemals! Du konzentrierst dich nur auf eine einzige Sache, und das ist, auf die Art, die wir beschlossen haben, nach Schweden zu kommen und dann den Auftrag auszuführen, den wir dir dort erteilen werden. Damit du wieder mit deiner Familie zusammenkommen kannst. Das willst du doch, oder?«
»Mehr als alles andere.«
»Gut. Dann mach dir weniger Gedanken, und streng dich mehr an. Ansonsten läufst du Gefahr, unglücklicher zu werden denn je.«
»Ich kann nicht noch unglücklicher werden, als ich bereits bin«, hatte Ali mit gesenktem Kopf geflüstert.
»Doch, das kannst du«, hatte die Person mit einer Stimme geantwortet, die so kalt klang, dass Ali die Luft angehalten hatte. »Stell dir vor, du würdest deine ganze Familie verlieren, Ali. Oder sie würden dich verlieren. Einsamkeit ist das einzige wahre Unglück. Vergiss das nie, um deiner Familie willen.«
Ali schloss die Augen. Nein, das würde er nicht vergessen. Er erkannte eine Drohung, wenn sie ausgesprochen wurde.
Als er knapp zehn Minuten später die Passkontrolle hinter sich gelassen hatte, musste er erneut daran denken. Von nun an gab es keinen anderen Weg mehr als den Weg fort von jenem Leben, das - da war er sich sicher - Vergangenheit war.
...
Übersetzung: Susanne Dahmann
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Limes Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
DIE WIESE - IHR GRÜN und die Blumen - hatte immer schon ihr gehört. Es war nicht allzu schwer gewesen, sich zu einigen; sie hatte sich einfach nur einverstanden erklären müssen, dass ihre Schwester die Dachkammer im Sommerhaus bekam. Sie fand es unbegreiflich, wie die Schwester sich auf einen solchen Tausch hatte einlassen können - eine langweilige Dachkammer gegen eine Wiese -, aber sie hatte nichts gesagt, sonst wäre die Schwester womöglich auf die Idee gekommen, mehr zu fordern.
Die Wiese lag dicht und verwildert jenseits der Grundstücksgrenze. Als sie klein war, hatten ihr einige Pflanzen bis zum Kinn gereicht. Jetzt, da sie älter war, reichten sie ihr nur noch bis zur Taille. Mit leichten Bewegungen und suchendem Blick schritt sie durchs Gras und spürte die Blüten und Blätter an ihren nackten Beinen. Die Blumen mussten schweigend gepflückt werden, sonst würde nichts daraus. Sieben Arten mussten es sein, und sie sollten am Mittsommerabend gepflückt und dann unters Kopfkissen gelegt werden. Dann würde sie ihn sehen, den Mann, den sie heiraten würde.
Das hatte sie zumindest als kleines Mädchen geglaubt, als sie zum allerersten Mal an Mittsommer Blumen gepflückt hatte. Die Schwester hatte sie aufgezogen. »Du willst doch nur Viktor«, hatte sie gesagt und gelacht.
Offensichtlich war ihre Schwester schon damals dumm und naiv gewesen. Natürlich war es überhaupt nicht um Viktor gegangen, sondern um einen ganz anderen. Aber das behielt sie lieber für sich.
Seit jenem ersten Mal wiederholte sie die Prozedur jedes Jahr wieder. Natürlich war sie inzwischen zu groß, um den alten Aberglauben für bare Münze zu nehmen. Trotzdem hielt sie daran fest. Außerdem gab es, wie sie nüchtern feststellen musste, nicht gerade viele Möglichkeiten, sich hier anderweitig zu beschäftigen. Jahr für Jahr bestanden ihre Eltern darauf, Mittsommer auf dem Land zu feiern, und jedes Mal wurde es quälender für sie. Diesmal war sie sogar zum Fest ihrer Freundin Anna eingeladen, deren Eltern ein großes Mittsommerfest feierten, zu dem auch die Freunde ihrer Kinder kommen durften.
Aber ihr Vater erlaubte es nicht.
»Wir feiern, wie wir es immer getan haben«, erklärte er. »Zusammen. Und das gilt, solange du bei uns zu Hause wohnst.«
Sie war verzweifelt. Begriff er denn nicht, wie ungerecht das war? Es würde noch Jahre dauern, bis sie überhaupt darüber nachdenken konnte, von zu Hause auszuziehen. Und das illoyale Verhalten der Schwester machte es auch nicht gerade leichter. Die wurde ohnehin niemals zu irgendwelchen Partys eingeladen und vermisste in der Gesellschaft der Eltern auf dem Lande rein gar nichts. Sie schien sogar die komischen Gäste zu schätzen, die nach Einbruch der Dämmerung aus dem Keller gekrochen kamen und sich zu ihnen setzten, sobald Mama die Jalousien herunterließ, damit niemand hereinschauen konnte.
Sie verabscheute sie. Im Gegensatz zum Rest der Familie brachte sie keine Sympathie für sie auf, und sie taten ihr auch nicht leid. Zerlumpte Menschen, die stanken und keine Verantwortung für ihr eigenes Leben übernahmen. Die nichts weiter taten, als sich in einem Keller im Hinterland herumzudrücken. Die sich mit so lächerlich wenig zufriedengaben.
Sie selbst war nie zufrieden. Niemals.
»Du sollst deinen Nächsten lieben«, pflegte ihr Vater zu sagen.
»Man soll dankbar sein für das, was man hat«, sagte ihre Mutter.
Da hörte sie schon lange nicht mehr hin.
Sie entdeckte ihn, als sie gerade die vierte Blume gepflückt hatte. Er musste irgendeinen Laut von sich gegeben haben, sonst hätte sie seine Gegenwart niemals bemerkt. Sie blickte von der Wiese und den Blumen auf und wurde von der Sonne geblendet. Im Gegenlicht war er nur eine dunkle Silhouette, unmöglich zu erkennen oder vom Alter her einzuordnen.
Sie hielt die Hand über die Augen und sah zu ihm hinüber. Doch, sie kannte ihn. Ein paar Abende zuvor hatte sie ihn vom Küchenfenster aus gesehen, als Papa mit den letzten Gästen spät nach Hause gekommen war. Er war größer als die anderen. Nicht älter, aber größer. Kräftiger. Hatte ein markantes Kinn. Er sah aus wie ein amerikanischer Soldat in irgendeinem Film.
Sie standen sich reglos gegenüber und sahen einander an. »Du darfst nicht hier draußen sein«, sagte sie schließlich und richtete sich gerade auf.
Sie wusste, dass es sinnlos war. Niemand von denen im Keller hatte jemals Schwedisch gesprochen.
Als er sich nicht rührte und auch nichts sagte, seufzte sic und wandte sich wieder den Blumen zu.
Glockenblume.
Margerite.
Er bewegte sich. Sie sah zu ihm zurück und entdeckte, dass er näher gekommen war.
Sie und ihre Familie waren einmal im Ausland gewesen. Ein einziges Mal hatten sie eine normale Urlaubsreise unternommen und hatten auf den Kanaren in der Sonne gelegen
und gebadet. Die Straßen dort waren voll herrenloser Hunde gewesen, die hinter den Touristen herliefen. Ihr Vater war sehr geschickt darin gewesen, sie zu verjagen.
»Such!«, hatte er gerufen und einen Stein in die andere Richtung geworfen.
Es hatte immer geklappt. Die Hunde hatten von ihnen abgelassen und waren hinter dem Stein hergesaust.
Der Typ auf der Wiese erinnerte sie an die streunenden Hunde. In seinem Blick lag etwas Unberechenbares, das nicht zu deuten war. Vielleicht auch etwas Böses.
Plötzlich war sie unsicher, was sie als Nächstes tun sollte. Einen Stein konnte sie schlecht werfen. Ein Blick zum Sommerhaus hinüber bestätigte nur, was sie ohnehin wusste: Ihre Eltern und die Schwester waren in die Stadt gefahren, um Fisch für das Mittsommeressen zu kaufen. Noch so eine dämliche alte Tradition, an der ihre Eltern festhielten, um das Bild von einer normalen Familie aufrechtzuerhalten. Wie immer hatte sie abgelehnt mitzufahren, sie wollte lieber in aller Ruhe - und schweigend - ihre Blumen pflücken.
»Was willst du?«, fragte sie verärgert.
Verärgert und mit wachsender Furcht. Sie wusste, wie Gefahr roch; ihr Instinkt hatte sic selten getrügt. Und gerade sagten ihr all ihre Sinne, dass sie die Kontrolle über die Situation behalten musste.
Die Blumen pikten, als sie ihre Hand fester um die Stängel schloss. Nur eine Blume fehlte noch. Das Tausendschön. Kultiviertes Unkraut, wie ihr Vater es nannte.
Der Mann kam schweigend auf sie zu. Dann blieb er stehen, nur noch einen knappen Meter entfernt. Langsam breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, und im selben Moment wusste sie, wofür er gekommen war.
Die Beine waren schneller als ihre Gedanken. Ihre Nerven funkten Gefahr, und im selben Augenblick fing sie an zu rennen. Die Grundstücksgrenze war weniger als hundert Meter entfernt. Mehrmals rief sie um Hilfe. Doch die Schreie versickerten in der Stille der Wiese. Die trockene Erde dämpfte die Laute ihrer Schritte ebenso wie den dumpfen Schlag, als er sie nach nur zwanzig Metern zu Boden warf, so als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass sie ohnehin nicht entkommen würde, und sie nur hatte laufen lassen, weil es ihn erregte, sie zu jagen.
Sie kämpfte wie ein Tier, als er sie auf den Rücken drehte und derart gezielt und behände an ihren Kleider riss und zerrte, dass ihr in diesem Moment klar war: Das hier musste etwas sein, das er schon einmal getan hatte.
Und als dann alles vorüber war, als sie weinend in dem Krater lag, den ihre Körper in das Grün geschlagen hatten, wusste sie: Darüber würde sie niemals hinwegkommen. In ihrer geballten Faust, die Fingerknöchel von ihrem erfolglosen Kampf blutig gescheuert, hielt sie noch immer den Mittsommerstrauß. Sie ließ ihn fallen, als hätte sie sich daran verbrannt. Die Blumen waren nicht mehr wichtig. Sie wusste, wessen Gesicht sie in ihren Träumen sehen würde.
Als das Auto der Eltern auf das Grundstück fuhr, lag sie immer noch auf der Wiese, unfähig, sich zu erheben. Die Wolken am Himmel sahen aus, als würden sie Fangen spielen. Um sie herum schien alles seinen unveränderten Weg zu gehen, während ihre eigene Welt soeben auf ewig in Scherben geschlagen worden war. Sie blieb auf der Wiese liegen, bis man sie vermisste und sie suchen ging. Und als man sie endlich fand, war sie bereits eine andere geworden.
STOCKHOLM
Nicht ahnend, dass er bald sterben würde, hielt er mit großem Engagement den Vortrag, der sein letzter werden sollte. Der Freitag war lang gewesen, und doch waren die Stunden schnell verflogen. Die Zuhörer waren aufmerksam, und es wurde Jakob Ahlbin warm ums Herz, wenn sich so viele andere für das Thema interessierten.
Ein paar Tage später, als er sich eingestehen musste, dass alles vergebens war, dachte er noch darüber nach, ob ausgerechnet dieser letzte Vortrag vielleicht ein Fehler gewesen war. War er während der Fragestunde vielleicht zu offen gewesen, hatte er zu erkennen gegeben, dass er geheimes Wissen besaß? Doch eigentlich glaubte er das nicht. Noch im Moment seines Todes war er überzeugt davon, dass die Katastrophe unmöglich hatte verhindert werden können. Als er den Lauf der Jagdpistole an seiner Schläfe spürte, war ohnehin alles zu spät. Und doch empfand er eine große Trauer darüber, dass sein Leben auf diese Weise endete. Wo er doch immer noch so unendlich viel zu geben gehabt hätte.
Jakob Ahlbin hatte im Laufe der Jahre mehr Vorträge gehalten, als er zählen konnte, und er wusste, dass er die Gabe, ein guter Redner zu sein, exzellent genutzt hatte. Der Aufbau seiner Vorträge war oft der gleiche gewesen und die Fragen, die folgten, ebenso; nur das Publikum hatte sich geändert. Manchmal waren die Leute hinbeordert worden, manchmal suchten sie ihn spontan auf. Jakob schätzte beides, er fühlte sich in jedem Fall hinter dem Rednerpult wohl.
Meist begann er damit, dass er Bilder von den Booten zeigte. Zugegeben, ein simpler Trick, dessen man sich jedoch, wie er wohl wusste, nur schwer erwehren konnte. Ein Dutzend Menschen in einem viel zu kleinen Boot, das Tag um Tag, Woche um Woche auf dem Meer dahintreibt, während die Passagiere immer erschöpfter und verzweifelter werden. Und am Horizont die Fata Morgana Europas, wie ein Traum oder eine Fantasie, die für diese Leute doch niemals Wirklichkeit werden sollte.
»Wir glauben, dieses Phänomen wäre neu«, pflegte er einleitend zu sagen. »Wir glauben, es gehörte zu einem anderen Teil der Welt, während uns so etwas nie passiert ist und nie passieren wird.«
Dann wechselte diskret das Bild hinter ihm, und eine Europakarte erschien.
»Aber da greift unser Gedächtnis zu kurz«, seufzte er. »Wir erinnern uns lieber nicht daran, dass es nur ein paar wenige Jahrzehnte her ist, dass Europa in Flammen stand und die Menschen in Panik von einem Land ins nächste flüchteten. Und ebenso vergessen wir, dass vor einem knappen Jahrhundert mehr als eine Million Schweden sich entschieden, ihr Land zu verlassen, um in Amerika neu anzufangen.«
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, hielt einen Moment inne und kontrollierte, ob er die volle Aufmerksamkeit des Publikums besaß. Das Bild hinter ihm wechselte erneut, und nun waren da Max von Sydow und Liv Ullmann aus der Verfilmung von Vilhelm Mobergs Auswanderersaga zu sehen.
»Eine Million Menschen«, wiederholte er mit lauter Stimme. »Glauben Sie ja nicht, dass Karl Oskar und Kristina hier die Reise nach Amerika auch nur einen Augenblick lang als etwas anderes betrachteten als eine Strafe. Glauben Sie ja nicht, dass sie nicht in Schweden geblieben wären, wenn sie nur gekonnt hätten. Überlegen Sie, was es mit sich bringen würde, wenn Sie selbst aufbrechen und Ihr altes Leben hinter sich lassen müssten, um ein neues auf einem anderen Kontinent zu beginnen - ohne einen Cent in der Tasche und nur mit den Habseligkeiten versehen, die in eine erbärmliche, verdammte Reisetasche passen.«
Der Fluch war bewusst eingesetzt. Ein fluchender Pfarrer hatte immer etwas Unerhörtes.
Er wusste nur zu gut, wo er mit Widerstand rechnen konnte: manchmal schon in dem Moment, da er das Bild von Karl Oskar und Kristina, den Auswanderern, zeigte; manchmal erst später. An diesem Nachmittag geschah es, nachdem er zum ersten Mal geflucht hatte. Ein junger Kerl aus einer der vorderen Reihen fühlte sich offensichtlich provoziert, und seine Hand schoss hoch, als Jakob eben weiterreden wollte. »Entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche«, gellte der junge Mann, »aber dieser Vergleich hinkt doch, zum Teufel!«
Jakob wusste, was jetzt kommen würde, doch um der Wirkung willen runzelte er die Stirn.
»Karl Oskar und Kristina und all die anderen Schweden, die nach Amerika gegangen sind, haben dort schließlich geschuftet wie die Tiere. Sie haben dieses verdammte Land überhaupt erst aufgebaut. Sie haben die Sprache gelernt und sich der Kultur angepasst. Sie haben sich Arbeit gesucht und sich selbst versorgt. Die Menschen, die heutzutage nach Schweden kommen, machen nichts in der Art! Sie wohnen in ihren Ghettos und scheißen darauf, Schwedisch zu lernen, leben von der Sozialhilfe und denken nicht daran zu arbeiten.«
Im Saal wurde es still. Wie ein unguter Geist schwebte Sorge über den Zuschauern: die Sorge, dass es zu einem Eklat kommen könnte, aber auch die Sorge, selbst als jemand entlarvt zu werden, der die Ansichten des jungen Mannes teilte. Gedämpftes Murmeln breitete sich aus, und Jakob wartete ab. Er hatte lange versucht, den Politikern, so sie ihm überhaupt noch zuhören wollten, zu erklären, dass man diese Art von Denken und die Frustration, der der Junge soeben Luft gemacht hatte, nicht totschweigen dürfe.
Der Mann verschränkte die Arme vor der Brust. Er schob das Kinn vor und wartete auf die Antwort des Pfarrers. Und Jakob ließ ihn warten. Er nahm einen Gesichtsausdruck an, der vermuten ließ, dass das, was da gerade gesagt worden war, ihm völlig neu wäre. Er sah zu dem Bild hinter sich und wandte sich dann wieder den Zuschauern zu.
»Glauben Sie wirklich, dass diese Menschen sich das so vorgestellt haben, als sie hierherkamen? Zum Beispiel diejenigen, die bis zu fünfzehntausend Dollar gezahlt haben, um aus einem in Flammen stehenden Irak nach Schweden zu kommen? Haben die von einem Leben in verkommenen, alten Städtebauprojekten aus den Sechziger- und Siebzigerjahren in isolierten Vororten geträumt? Wo sie zusammen mit zehn anderen Erwachsenen tagaus, tagein in einer Dreizimmerwohnung hocken würden, ohne Beschäftigung und ohne ihre Familien? Allein? Fünfzehntausend Dollar kostet es nämlich für eine Person hierherzukommen.« Er hielt einen langen, geraden Finger in die Luft. »Glauben Sie wirklich, dass diese Menschen sich auch nur in ihren kühnsten Träumen vorgestellt haben, dass sie von uns zu solchen Außenseitern gemacht würden? Dass jemand, der ausgebildeter Arzt ist, im besten Fall noch einen Job als Taxifahrer angeboten bekommt und jemand, der einen niedrigeren Ausbildungsgrad hat, noch nicht einmal das?«
Ohne vorwurfsvoll auszusehen, konzentrierte Jakob seinen Blick auf den jungen Mann.
»Ich glaube, dass die Menschen genauso denken wie Karl Oskar und Kristina. Ich glaube, sie erwarten, dass es so sein wird, wie vor hundert Jahren nach Amerika zu kommen: dass die Möglichkeiten für diejenigen, die bereit sind, sich abzurackern, unendlich sind und dass harte Arbeit sich bezahlt macht.«
Eine junge Frau fing Jakobs Blick auf. Ihre Augen glänzten, und in der Hand hielt sie ein Papiertaschentuch umklammert.
»Ich weiß«, fuhr er langsam fort, »dass es nur sehr wenige Menschen gibt, die sich bewusst dafür entscheiden, in einer Wohnung in einem Vorort zu sitzen und vor sich hinzustarren, solange sie das Gefühl haben, dass es noch Alternativen gibt. Zumindest habe ich das im Rahmen meiner Arbeit festgestellt«, fügte er hinzu.
Und genau an dieser Stelle ging die Veränderung vonstatten. So wie immer. Das Publikum saß schweigend da und hörte mit wachsendem Interesse zu. Die Bilder wechselten, während sein Bericht von den Einwanderern, die in den letzten Jahrzehnten nach Schweden gekommen waren, Gestalt annahm. Schmerzlich scharfe Fotografien zeigten Männer und Frauen, die in einen Lastwagen gepfercht waren, der durch die Türkei und dann weiter nach Europa fuhr.
»Für fünfzehntausend Dollar erhält ein Iraker heute Pass, Reise und Geschichte. Die Netzwerke der Schlepper erstrecken sich über ganz Europa, und sie haben Verzweigungen in sämtliche Konfliktherde, wo Menschen gezwungen sind, sich auf die Flucht zu begeben.«
»Was soll das heißen, Geschichte?«, fragte eine der Frauen aus dem Publikum.
»Eine Asylgeschichte«, erklärte Jakob. »Die Schlepper erklären dem Flüchtling, was er oder sie sagen muss, um in Schweden eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen.«
»Aber fünfzehntausend Dollar«, fragte ein Mann zögernd, »das ist so unglaublich viel Geld - ist das denn wirklich so teuer?«
»Natürlich nicht«, antwortete Jakob geduldig. »Die Leute, die hinter diesen Netzwerken stehen, verdienen unglaubliche Summen. Es ist ein hart umkämpfter Markt und entsetzlich ungerecht. Gleichzeitig ist trotz der Brutalität verständlich, dass es diesen Markt gibt. Europa ist für Menschen in Not verschlossen. Der einzige Weg hinein führt durch die Illegalität, und er ist von Kriminellen kontrolliert.«
Mehrere Hände winkten, und Jakob beantwortete eine Frage nach der anderen. Am Ende war nur noch die Hand einer jungen Frau erhoben. Das Mädchen mit dem Papiertaschentuch. Ein viel zu langer roter Pony hing ihm wie eine Gardine über die Augen und ließ es fast anonym wirken. Eine Person, die man im Nachhinein nicht würde beschreiben können.
»Gibt es denn niemanden, der sich dieser Sache aus reiner Solidarität annimmt?«, fragte sie. Diese Frage war neu und bei keinem von Jakobs Vorträgen je zuvor gestellt worden. »Es gibt doch massenhaft Organisationen in Schweden und in ganz Europa, die sich mit Flüchtlingen beschäftigen? Ist denn darunter keine, die ihnen hilft, nach Schweden zu kommen?«, fuhr sie fort. »Und zwar auf eine humanere Art als über Menschenschmuggler?«
Die Frage setzte sich fest. Schlug Wurzeln. Jakob zögerte lange, ehe er antwortete. Er wusste nicht recht, wie viel er sagen durfte.
»Menschen dabei zu helfen, illegal nach Europa zu kommen, ist eine kriminelle Handlung. Ganz gleich was wir da- von halten, so ist es nun einmal. Und das bedeutet auch, dass es strafbar wäre, sich einer solchen Unternehmung anzunehmen. Das schreckt selbst den nobelsten Wohltäter ab.« Er zögerte wieder. »Aber ich habe gehört, dass diese Haltung im Wandel begriffen ist und dass es inzwischen Menschen gibt, die ausreichend Mitgefühl haben, um Flüchtlingen die Möglichkeit geben zu wollen, für entschieden kleinere Summen nach Europa zu kommen. Doch das weiß ich, wie gesagt, nur vom Hörensagen, es ist nichts, was ich sicher sagen könnte.«
Er machte eine Pause und spürte, wie sein Puls ein wenig schneller ging, während er gleichzeitig ein Stoßgebet aussandte, dass das auch stimmen möge.
Dann schloss er den Vortrag so ab, wie er es immer tat.
»Wie gesagt, ich glaube, dass wir uns davor hüten müssen zu glauben, dass es massenhaft Menschen auf der Welt gibt, die sich wünschen, ohne Arbeit und festen Wohnsitz in irgendeinem Vorort in Schweden zu leben. Hingegen sollten wir über Folgendes gründlich nachdenken: Was tut ein Vater nicht alles, um die Zukunft seiner Kinder zu sichern? Zu welchen Taten ist ein Mensch, der alles verloren hat, bereit, um eines besseren Lebens willen?«
Während Jakob Ahlbin seinen letzten Vortrag beendete und den Applaus des Publikums entgegennahm, landete auf dem Stockholmer Flughafen Arlanda eine Boeing 737, die nur wenige Stunden zuvor Istanbul verlassen hatte. Der Kapitän, der das Flugzeug zur schwedischen Hauptstadt gelenkt hatte, verkündete, dass die Außentemperatur drei Grad minus betrage und man im Laufe des Abends mit Schnee zu rechnen habe. Er wünschte den Passagieren, die er bei nächster Gelegenheit gern wieder begrüßen wollte, einen guten Tag, und dann bat eine Stewardess die Reisenden, sitzen zu bleiben, bis die Anschnallzeichen erlöschen würden.
All lauschte konzentriert, doch er verstand weder das Englische noch die andere Sprache, von der er annahm, dass es Schwedisch war. Der Schweiß lief ihm über den Rücken und ließ das Hemd, das er sich unmittelbar vor seiner Abreise gekauft hatte, auf der Haut kleben. Er versuchte, sich nicht zurückzulehnen, wollte aber auch nicht die Blicke auf sich ziehen, indem er verkrampft und vorgebeugt dasaß, so wie er es bereits auf der Reise von Bagdad nach Istanbul getan hatte. Ein paarmal hatten die Stewardessen ihn sogar gefragt, ob es ihm gut gehe, ob er etwas zu trinken oder zu essen benötige. Er hatte nur stumm den Kopf geschüttelt, sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Oberlippe gewischt und die Augen geschlossen. Und sich gewünscht, dass er bald da sei, dass alles vorüber sei und er sich sicher fühlen könne.
Unruhe bemächtigte sich seines Körpers. Er umklammerte die Armlehnen mit beiden Händen und biss die Zähne aufeinander. Zum sicher hundertsten Mal sah er sich im Flugzeug um und versuchte herauszubekommen, wer wohl seine Begleitung war. Wer war die geheime Person, die angeblich zwischen den anderen Passagieren saß, nur um darauf zu achten, dass er sich richtig verhielt und die Anweisungen befolgte? Ein von seinem Befreier ausgesandter Schatten. Um seiner selbst willen. Wegen der anderen. Damit keine Probleme für die anderen entstanden, die ebenso wie er die großzügige Möglichkeit erhalten sollten, nach Schweden einzureisen.
Der gefälschte Pass steckte in der Brusttasche seines Hemdes. Er hatte ihn erst in seinem Handgepäck gehabt, ihn dann aber herausnehmen müssen, als die Stewardess kam und ihn darauf hinwies, dass er an einem Notausgang saß. Dort durfte man kein Gepäck unter den Vordersitz legen, sondern musste es in den Fächern über dem Kopf verstauen. Ali war in Panik geraten und hatte sich geweigert, den Pass in der Gepäckablage zu verstauen. Mit zitternden Händen hatte er schließlich den Reißverschluss der Tasche geöffnet und versucht, den Pass zu finden, der ganz nach unten gerutscht war. Hatte den harten Umschlag gepackt, ihn in die Hemdtasche geschoben und dann der wartenden Stewardess die Tasche gereicht.
Die Anweisungen für die Ankunft in Schweden waren sonnenklar gewesen. Unter keinen Umständen durfte er schon am Flughafen Asyl beantragen. Außerdem durfte er weder im Flugzeug noch sonst wie vor dem Aussteigen seine Papiere hergeben. Der Pass enthielt ein Visum, das besagte, dass er Geschäftsreisender aus einem der Golfstaaten sei und berechtigt, ins Land einzureisen. Dass er kein Englisch sprach, sollte dabei kein Problem darstellen.
Das Flugzeug rollte von der Landebahn und glitt erstaunlich sanft über den harten Asphalt, in den sich der Frost festgebissen hatte. Nun näherte es sich Gate 37, wo die Passagiere aussteigen sollten.
»Was passiert, wenn es nicht klappt?«, hatte Ali seine Kontaktperson in Damaskus gefragt.
»Mach dir nicht so viele Gedanken«, hatte die Kontaktperson mit einem schmalen Lächeln geantwortet.
»Ich muss das wissen«, sagte Ali. »Was passiert, wenn ich irgendetwas falsch mache? Ich habe schon mit anderen geredet, die an denselben Ort wollen. Das geht normalerweise nicht so.«
Das Gesicht seines Gegenübers hatte sich verfinstert. »Du solltest dankbar sein, Ali ...«
»Das bin ich auch«, beeilte er sich zu sagen. »Ich frage mich nur ...«
»Frag dich mal nicht so viel«, unterbrach ihn die Kontaktperson scharf. »Und du darfst unter keinen Umständen mit irgendjemandem über dies hier reden. Niemals! Du konzentrierst dich nur auf eine einzige Sache, und das ist, auf die Art, die wir beschlossen haben, nach Schweden zu kommen und dann den Auftrag auszuführen, den wir dir dort erteilen werden. Damit du wieder mit deiner Familie zusammenkommen kannst. Das willst du doch, oder?«
»Mehr als alles andere.«
»Gut. Dann mach dir weniger Gedanken, und streng dich mehr an. Ansonsten läufst du Gefahr, unglücklicher zu werden denn je.«
»Ich kann nicht noch unglücklicher werden, als ich bereits bin«, hatte Ali mit gesenktem Kopf geflüstert.
»Doch, das kannst du«, hatte die Person mit einer Stimme geantwortet, die so kalt klang, dass Ali die Luft angehalten hatte. »Stell dir vor, du würdest deine ganze Familie verlieren, Ali. Oder sie würden dich verlieren. Einsamkeit ist das einzige wahre Unglück. Vergiss das nie, um deiner Familie willen.«
Ali schloss die Augen. Nein, das würde er nicht vergessen. Er erkannte eine Drohung, wenn sie ausgesprochen wurde.
Als er knapp zehn Minuten später die Passkontrolle hinter sich gelassen hatte, musste er erneut daran denken. Von nun an gab es keinen anderen Weg mehr als den Weg fort von jenem Leben, das - da war er sich sicher - Vergangenheit war.
...
Übersetzung: Susanne Dahmann
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Limes Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
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Autoren-Porträt von Kristina Ohlsson
Kristina Ohlsson, Jahrgang 1979, arbeitete im schwedischen Außen- und Verteidigungsministerium als Expertin für EU-Außenpolitik und Nahostfragen, bei der nationalen schwedischen Polizeibehörde in Stockholm und als Terrorismus-Expertin bei der OSZE in Wien. Mit ihrem Debütroman „Aschenputtel" gelang ihr sofort der internationale Durchbruch als Thrillerautorin. "Tausendschön" ist ihr zweiter Roman.
Bibliographische Angaben
- Autor: Kristina Ohlsson
- 2012, 1, 464 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Dahmann, Susanne
- Übersetzer: Susanne Dahmann
- Verlag: Limes
- ISBN-10: 3809025925
- ISBN-13: 9783809025924
Rezension zu „Tausendschön “
"Realistisch und packend - trotz des märchenhaften Titels."
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