Tod im Anflug
Ein Gänsekrimi
Ein spannender Vogelkrimi der obersten Gänseklasse!
Als der Reiher Neptunus mit einem Loch in der Brust gefunden wird, ist es mit der Idylle auf dem Zeltplatz vorbei. Wenig später erwischt es den Camper Alex. Angst geht um. Da...
Als der Reiher Neptunus mit einem Loch in der Brust gefunden wird, ist es mit der Idylle auf dem Zeltplatz vorbei. Wenig später erwischt es den Camper Alex. Angst geht um. Da...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Tod im Anflug “
Ein spannender Vogelkrimi der obersten Gänseklasse!
Als der Reiher Neptunus mit einem Loch in der Brust gefunden wird, ist es mit der Idylle auf dem Zeltplatz vorbei. Wenig später erwischt es den Camper Alex. Angst geht um. Da kann nur einer helfen: Gänserich Tom, der eingefleischte CSI- und Magnum-Fan.
Als der Reiher Neptunus mit einem Loch in der Brust gefunden wird, ist es mit der Idylle auf dem Zeltplatz vorbei. Wenig später erwischt es den Camper Alex. Angst geht um. Da kann nur einer helfen: Gänserich Tom, der eingefleischte CSI- und Magnum-Fan.
Lese-Probe zu „Tod im Anflug “
Tod im Anflug von Karin BergrathProlog
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Der Tod kommt auf leisen Flügeln. Das war ihm bekannt. Nie und nimmer hätte er gedacht, dass es auch ihn treffen könnte.
Schon gar nicht jetzt, auf diese Weise ...
Er fühlte sich nicht wohl an diesem späten Frühlingsabend. Nicht, dass er der Völlerei gefrönt hätte, wenn er auch sonst nie einen guten Bissen ausließ. Von einem Saufgelage konnte auch keine Rede sein. Und trotzdem - irgendetwas stimmte nicht.
Rachen und Magen schmerzten, brannten regelrecht. Dass dieses Feuer in seinem Inneren nicht mit Wasser zu löschen war, das spürte er.
Ein kleiner Spaziergang würde ihm vielleicht guttun.
Zu seinem brennenden Magen kam jetzt noch ein unerträglicher Druck im Brustkorb hinzu. Mit seiner Lunge war auch etwas nicht in Ordnung. Das Atmen fiel ihm immer schwerer.
Auf zittrigen Beinen schleppte er sich an Hecken vorbei, die seinen Weg linker Hand von hübschen Campingparzellen trennten. Zu seiner Rechten hatte er trotz Dunkelheit offene Sicht über die abschüssige Böschung hinweg auf den kleinen, schwach beleuchteten Hafen mit seinen dümpelnden Booten. Doch er würdigte sie keines Blickes. Ihm fehlte die Kraft dazu.
Ruhig und friedlich war es, wie immer um diese nächtliche Stunde. Von Zeit zu Zeit gaben aufgescheuchte Blässhühner Klicklaute von sich. Schläfrige Enten baten sogleich schnatternd um Ruhe.
Er hätte den Spaziergang genossen, wenn nur dieses Brennen und diese fürchterliche Atemnot nicht gewesen wären. Ihm wurde heiß, und sein Herz raste.
Jäh wurde eine Wohnwagentür hinter ihm aufgerissen. Streitende Stimmen schwappten in die Dunkelheit, vertrieben die wohltuende Stille. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Das hitzige Wortgefecht endete genau so abrupt, wie es begonnen hatte - mit dem heftigen Knallen der Wohnwagentür. Einzig eine immer noch erboste Stimme entfernte sich brummend und schimpfend.
Linderung brachte ihm dieser Spaziergang nicht. Im Gegenteil, er fühlte sich immer schlechter. Er mobilisierte die kläglichen Reste seiner schwindenden Energie, um nach Hilfe zu rufen. Doch seiner Kehle entwich nur noch ein leises Krächzen.
Er begann zu schwanken, sein Blick trübte sich. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Dumpf schlug er auf dem Boden auf und rutschte mit dem Kopf voran ein Stück den Hang in Richtung Wasser hinunter.
Wenige Augenblicke später tat er seinen letzten Atemzug.
1
In einer ausgedehnten Schleife überflog Tom an diesem späten Nachmittag den großen, idyllischen See. Blaues Wasser so weit das Auge reichte, umrahmt von dicht bewaldeten Ufern und smaragdgrünen Lichtungen.
Tief unter sich sah er den Campingplatz mit seinen unzähligen Wohnwagen, Vorzelten und blumenverzierten Grillstellen. Auch der kleine Yachthafen mit den in der Sonne blitzenden weißen Booten war gut zu erkennen.
Hier war sein Zuhause. Hier gehörte er hin.
Langsam drosselte er das Tempo und setzte zum Landeanflug an. Er bereitete sich auf eine Wasserlandung vor, wobei er einen Pulk von Enten und anderen Wasservögeln ansteuerte, die in der Nähe des Schilfs schwammen. Je langsamer und präziser er flog, desto weicher und sicherer war die Landung. Kurz bevor er die Wasseroberfläche erreichte, veränderte er den Winkel der Flügel zum Rumpf, der Luftstrom fing sich in den Federn und bremste ihn ab. Mit gespreizten Zehen und gespannten Schwimmhäuten schlidderte er wie ein Wasserskiläufer einige Meter über den vom Wind leicht gekräuselten See, dann setzte sein Körper auf.
In einer ausgedehnten Schleife überflog Tom an diesem späten Nachmittag den großen, idyllischen See. Blaues Wasser so weit das Auge reichte, umrahmt von dicht bewaldeten Ufern und smaragdgrünen Lichtungen.
Tief unter sich sah er den Campingplatz mit seinen unzähligen Wohnwagen, Vorzelten und blumenverzierten Grillstellen. Auch der kleine Yachthafen mit den in der Sonne blitzenden weißen Booten war gut zu erkennen.
Hier war sein Zuhause. Hier gehörte er hin.
Langsam drosselte er das Tempo und setzte zum Landeanflug an. Er bereitete sich auf eine Wasserlandung vor, wobei er einen Pulk von Enten und anderen Wasservögeln ansteuerte, die in der Nähe des Schilfs schwammen. Je langsamer und präziser er flog, desto weicher und sicherer war die Landung. Kurz bevor er die Wasseroberfläche erreichte, veränderte er den Winkel der Flügel zum Rumpf, der Luftstrom fing sich in den Federn und bremste ihn ab. Mit gespreizten Zehen und gespannten Schwimmhäuten schlidderte er wie ein Wasserskiläufer einige Meter über den vom Wind leicht gekräuselten See, dann setzte sein Körper auf.
»Hallo Tom, da bist du ja endlich. Wir haben schon auf dich gewartet«, wurde er sogleich vielstimmig begrüßt.
Während Tom kleine Wasserperlen aus dem Gefieder schüttelte und einzelne Federn mit dem Schnabel wieder an die richtige Stelle bugsierte, suchten immer mehr Artgenossen seine Nähe.
»Ist es wahr? Stimmt es? Du hast ihn gefunden?«, fragte Barkas, das Blässhuhn, ohne jegliche Zurückhaltung. Sein weißer Schnabel und das weiße Stirnschild hoben sich kontrastreich vom schwarzen Gefieder ab.
Tom, ein junger, farbenprächtiger Ganter aus der Familie der Nilgänse, nickte. Es hatte sich also herumgesprochen - eigentlich kein Wunder, schließlich waren Gänse und Enten für ihre Schnatterhaftigkeit bekannt. Wenn eine von ihnen etwas erfuhr, wusste es zwei Minuten später der ganze See.
»Erzähl mal. Klick-Klick. Wie sah er denn aus?« Bei jedem Wort nickte Barkas ganz nach Blässhuhnart mit dem Kopf vor und zurück. Kleine Klicks zwischen den Worten verrieten seine Aufregung.
Dutzende fragende Augenpaare fixierten Tom nun und er spürte, wie seine Zufriedenheit, die er soeben noch hoch oben in der Luft empfunden hatte, langsam einem unbehaglichen Gefühl wich. Im Mittelpunkt zu stehen war nicht seine Sache. Sie alle waren neugierig, wahrscheinlich sogar sensationslüstern, und wollten Details erfahren. Doch für einen jungen Ganter wie ihn, der in der Hackordnung ganz weit unten rangierte, war diese geballte Aufmerksamkeit ziemlich ungewohnt.
»Na ja, was soll ich sagen«, antwortete er zögernd. »Es stimmt, was ihr gehört habt. Neptunus, der Reiher ... ist tot.«
Ein Raunen ging über den See. Neben zahlreichen Blässhühnern, Stockenten, Grau- und Nilgänsen hatten sich auch ein paar elegante Schwäne und betroffene Reiher eingefunden. Sogar einige überaus scheue Haubentaucher unterbrachen ihre intensive Balz, um auf dem Laufenden zu bleiben. Tom schaute in die Runde, und sein Blick verharrte bei der Gruppe Reiher, die wie traurige Bestattungsunternehmer im grauen Anzug am Ufer beieinanderstanden. Sie schauten ihn erwartungsvoll an, und Tom beschloss zu sprechen. Sie hatten ein Recht darauf, zu erfahren, was er gesehen hatte, obwohl er es ihnen lieber im kleinen Kreis erzählt hätte.
»Ich habe ihn zufällig entdeckt, als ich heute Morgen zum Baden an den See kam. Da lag er ... im Gras.« Tom stockte und blickte in Richtung der Reiher. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich euch das zumuten kann«, sagte er mit belegter Stimme.
Die neugierigen Zuhörer ringsherum konnten ihre Enttäuschung kaum verbergen.
»Sprich ruhig, Tom. Wir verkraften das schon«, meldete sich Veha, der älteste Reiher, zu Wort. Die anderen Reiher nickten, und die übrigen Zuhörer wirkten wieder zufrieden.
»Ich ging dort hinten«, Tom zeigte mit seinem Schnabel in Richtung der Bootsstege, »die Böschung zum See hinunter, als ich beinahe über ihn gestolpert wäre. Er lag mit verrenkten Gliedern da, und sein Schnabel war weit aufgerissen. Ich habe einen so weit offen stehenden Schlund noch nie gesehen.«
Für einen Moment hatten sich die stets beherrschten Reiher nicht unter Kontrolle, selbst der alte Veha nicht. Sie ließen ihre Flügel flattern und tänzelten dabei aufgeregt herum.
»Es tut mir leid«, fuhr Tom mit gedämpfter Stimme fort, »aber das war noch nicht alles. Ich habe euch noch mehr zu berichten.«
»Nur zu, Tom. Je eher wir es erfahren, desto eher haben wir es hinter uns.« Veha hatte als Erster der Reiher seine Fassung wiedergefunden.
»Er hatte eine tiefe, frische Wunde in seiner Brust.«
Einige Wasservögel schnappten nach Luft, voller Abscheu, aber auch fasziniert vom Geschehen. Sie hatten so manches erwartet - und der eine oder andere vielleicht auch erhofft -, aber nicht in diesem Ausmaß. Neugierig blickten sie Tom an.
Mit so viel wohlwollender Beachtung waren ihm seine Artgenossen bisher noch nie begegnet. Langsam gab ihm dieses Interesse mehr Sicherheit. Sie hörten ihm tatsächlich zu. Ihm, der am Tag zuvor noch gedacht hatte, er würde von niemandem, außer Gleichaltrigen, wahrgenommen. Er konnte es nicht leugnen: Diese unerwartete Aufmerksamkeit schmeichelte ihm. Mehr, als er zugeben mochte.
»Und was hast du dann gemacht?« Vri Jon, ein weiterer Reiher, der auf einem Bein bis zum Kniegelenk im seichten Wasser stand, schluckte.
Tom überlegte. Er kam nun langsam in einen Gewissenskonflikt. Denn bislang wusste niemand von seiner geheimen Leidenschaft, einer Passion, die er bereits seit einiger Zeit mit sich herumtrug und die er noch keinem seiner Artgenossen anvertraut hatte. Und selbst wenn er sich jemandem anvertraut hätte, so war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihn ohnehin niemand verstand. Denn wie hätte Tom erklären sollen, dass er, ein durchschnittlicher Nilganter, wie es sie millionenfach auf der Erde gab, über gewisse kriminalistische Vorkenntnisse verfügte. Ganz zu schweigen davon, dass wahrscheinlich kein Vogel etwas mit dem Begriff kriminalistisch anfangen konnte. Nun aber wurde er direkt gefragt und mochte den Reihern nichts vorlügen. Mittlerweile ohnehin etwas mutiger geworden, entschied er sich also für die Wahrheit.
»Ich habe ihn in Augenschein genommen«, sagte er forsch. »Eine grobe Leichenschau gemacht.«
»Du hast was?« Seine Hörerschaft war maßlos überrascht. Spitzes, schockiertes Geschnatter machte die Runde.
»Na, ich habe die Leiche untersucht.« Seine Artgenossen hatten ja so was von keine Ahnung! »Ich habe mir die Wunde in seiner Brust näher angesehen. Es war ein tiefes Loch und es sah so aus, als hätte jemand mit einem kräftigen Ruck einen Teil aus der Brust herausgerupft. Leider blieb mir nicht viel Zeit zur Begutachtung, denn plötzlich kam Jupp, der Hafenmeister, auf seinem Kontrollgang vorbei und entdeckte Neptunus. Er packte ihn an den Beinen - und ... « Tom sah nicht nur die Reiher augenblicklich die Luft anhalten. Ahnten sie, was nun kommen würde? »... und warf ihn in einen der Abfallcontainer.«
Bestürzt schlossen die Reiher für einen kurzen Moment ihre Augen und schüttelten kaum wahrnehmbar die Köpfe.
»Aber eines weiß ich mit Sicherheit«, fuhr Tom fort, »kein Vogel liegt ohne Fremdverschulden tot mit einer blutenden Brustwunde im Morgentau. Unser Freund, Neptunus der Reiher, wurde er --- mor --- det! «
Nun herrschte langes, betretenes Schweigen. Goletta, eine große Graugans, fing sich als Erste. »Das ist gar nicht gut, das ist überhaupt nicht gut«, näselte sie.
»Die Frage ist nun: Wer bohrt Löcher in Reiher? Wer ist in der Lage, eine solche Grausamkeit zu begehen?«, piepste Barkas.
»Niemand von uns!«, schnatterten die Enten sofort im Chor.
»Wir alle, die wir hier anwesend sind, sind doch friedliebend und tun niemandem etwas zuleide. Niemandem«, betonte Vri Jon und hieb blitzschnell mit seinem langen, spitzen Schnabel harpunengleich ins Wasser. Er packte einen für ihn viel zu großen Fisch und drehte ihn mit beträchtlichem Geschick so, dass er ihn - wegen der Schuppenrichtung mit dem Kopf voran - unter großer Anstrengung herunterwürgen konnte. »Wir tun doch niemandem was«, wiederholte er mit vollem Schnabel, wobei die Schwanzflosse des Fisches noch immer zappelnd und für jedermann sichtbar in seinem Schlund steckte.
»Wir müssen herausfinden, was ihm zugestoßen ist. Sonst haben wir keine Ruhe«, regte die junge Ente Altena an, die ständig von ein paar dranggesteuerten Erpeln bestürmt wurde.
Einträchtiges Kopfnicken von allen Seiten.
Das war es.
Mit großem Geschnatter beschloss das gefiederte Volk - überraschend einstimmig -, eine Kommission zur Klärung des plötzlichen Ablebens von Reiher Neptunus zu gründen. Tom schüttelte den Kopf und gab ein paar missmutige Töne von sich. Hundert Köpfe, hundertfaches Geschnatter, hundert Meinungen - das führte zu nichts, da war er sich sicher.
Eine Gruppe Enten startete dagegen sofort begeistert zu einem Mitteilungsflug, um alle Wasservögel, die nicht an der Versammlung hatten teilnehmen können oder wollen, zu informieren. »Quak-quak, wir gründen eine Untersuchungskommission!« Nach einigen Beschallungsrunden über dem See und einem atemberaubenden Slalom zwischen Segelbootmasten hindurch landeten die selbsternannten Sprachrohre der Kommission wieder an der Abflugstelle und begannen sogleich mit der Federpflege.
»Für mich kommen nur die, die an der Mauser leiden, in Frage«, krächzte Barkas. »Ich meine die feder- und flügellosen Zweibeiner mit ihren hechelnden Vierbeinern, vor denen wir uns immer in Sicherheit bringen müssen. Neptunus' Tod kann nur ein Flügelloser verursacht haben, denen traue ich alles zu. Klick-Klick.«
»Ich habe gestern Nacht streitende Flügellose gehört«, untermauerte das scheue Haubentaucher-Mädchen Optima den Verdacht des Blässhuhns und tauchte sogleich verschämt ab.
»Die Flügellosen waren es!« Wieder erhoben sich die Kommissionsenten, die von Meldung zu Meldung mehr und mehr Zeitungsenten glichen, zu einem Informationsflug.
»Meine Brüder und Schwestern, einer von euch ist doch immer wach«, appellierte der alte Veha eindringlich. »Ihr müsst doch etwas gesehen oder gehört haben. Es ist doch Frühling.«
»Na ja, eben. Es ist Frühling. Da haben wir etwas anderes zu tun als nachts Reiher im Auge zu behalten!«, rief einer der jungen Erpel keck in die Runde. Unanständiges Geschnatter gab ihm recht.
»Meiner Meinung nach können es nur die Madenbader gewesen sein.« Ein lackschwarzer Kormoran mit grünen Augen und gelbem Schnabel schaltete sich in die Diskussion ein.
»Wen meinst du?«, wurde vielstimmig nachgefragt.
»Na, ist doch klar. Die Flügellosen, die bei Wind und Wetter immer still und steif am Ufer sitzen und meist erfolglos versuchen, Fische zu fangen. Madenbader eben! Sie sehen uns und auch die Reiher nur als Konkurrenten an. Für die sind nur tote Reiher gute Reiher«, antwortete der Kormoran.
»Hallo Rio, du bist ja auch hier!« Tom freute sich über die Anwesenheit seines Freundes, der mit weit ausgebreiteten Flügeln auf einem Ast saß und sein Gefieder im leichten Wind trocknen ließ.
»Natürlich«, sagte Rio. »Eine so schlimme Sache geht uns schließlich alle an.«
Beide kannten sich seit frühester Kükenzeit, sie waren etwa zur gleichen Zeit geschlüpft. Neidisch hatte Tom die ersten Flugversuche seines Freundes verfolgt, denn Kormorane werden sehr viel früher flügge als Gänse. Jedoch müssen Kormorane nach jedem Tauchgang ihre Flügel trocknen, da ihr Gefieder - zum besseren Tauchen - nicht wasserabweisend ist. Oft sah er Rio deshalb irgendwo wie einen Wappenadler mit weit gespreizten Flügeln sitzen und trocknen. Eine lästige Angelegenheit, um die er Rio wirklich nicht beneidete.
Während Tom noch mit seinem Kumpel sprach, kam unterschwellig Nervosität in die sowieso schon unruhige Gruppe. Einige Vögel tuschelten hinter vorgehaltenem Flügel.
»Vielleicht war es der Riffler. Der würde so was tun, da bin ich mir sicher!«, sprach ein Grünschnabel laut aus, was er nach Ansicht der Altvögel besser für sich behalten hätte.
Ehrfürchtiges Raunen sauste von Schnabel zu Schnabel. Köpfchen wurden blitzschnell eingezogen, wer konnte, tauchte ab.
Der Riffler!
Der Albtraum eines jeden Vogels schlechthin. Unzählige Geschichten gab es über ihn. Schon im Nest hörten nicht nur Entenküken und Gänsegössel schreckliche Dinge über ihn. Grausige Geschichten. Vom Riffler, der kam, um sie zu holen, wenn sie nicht vorsichtig wären ...
Der kam, wenn es dunkel wurde ...
Niemand hatte den Riffler je gesehen. Doch jeder hatte schon von ihm gehört. Er war ein Schatten. Ein großer, schwarzer Schatten. Allzeit bereit, einen von ihnen zu holen.
Keine Ente erhob sich dieses Mal, um die Nachricht zu verbreiten. Die Angst über die Erkenntnis, dass es vielleicht der Riffler gewesen sein könnte, saß zu tief.
Dennoch setzte allmählich wieder das übliche Palavern ein.
Fassungslos schaute Tom dem Treiben seiner Artgenossen zu. Hatte er anfangs noch geglaubt, unbändigen Tatendrang bei ihnen zu erkennen, so sah er jetzt nur einen verunsicherten Debattierclub vor sich, der nichts anderes tat, als zu schwadronieren. Er wollte keine leeren Phrasen quaken, sondern Taten schnattern lassen. Dieses andauernde »Quak-quak« ging ihm mächtig auf die Bürzeldrüse.
Außerdem glaubte Tom nicht an den Riffler, jedenfalls nicht so richtig. Tom glaubte an Fakten, an Beweise, und er kannte niemanden, der je auch nur die Spitze einer seiner Federn gesehen hatte. Jemand anderes musste daher Neptunus auf dem Gewissen haben. Aber gab es noch etwas Bedrohlicheres als den Riffler? War etwas Neues aufgetaucht, das noch dunkler und noch gefährlicher als der Riffler über den Nestern schwebte?
Mit halbem Ohr folgte Tom dem Schnattern der Kommission. Sie war sich uneins, wie nicht anders zu erwarten.
Tom dachte unterdessen an den Morgen zurück. Zu dumm, dass Jupp gekommen war und Neptunus kurzerhand entsorgt hatte, bevor er sich die Brustwunde näher hatte ansehen können. Zudem war ihm jede Möglichkeit, etwas mehr über den Zustand der Wunde - und damit vielleicht über den Verursacher - zu erfahren, durch das Vorfahren des Müllwagens und das Leeren der Abfallcontainer zunichtegemacht worden.
Außerdem beschäftigte ihn der weit aufgerissene Schnabel des Reihers, an den er sich überdeutlich erinnerte. Hatte Neptunus mit letzter Kraft um Hilfe geschrien? Oder bedeutete der weit aufgesperrte Schnabel möglicherweise eher so etwas wie Atemnot oder Sauerstoffmangel? War er beim Fressen zu gierig gewesen? Hatte etwas Unverdauliches seine Luftröhre versperrt? Neptunus war schließlich dafür bekannt gewesen, dass er nie einen guten Bissen ausließ. Andererseits gab es da ja diese Wunde, die zu einer solchen These nun einmal partout nicht passen wollte.
Toms Gedanken kreisten unentwegt um den Hergang des Unglücks, durchdachten unzählige Möglichkeiten, wie es zum Tod des jungen Reihers gekommen sein könnte. Doch er fand keine zufriedenstellenden Antworten auf seine Fragen. Jedenfalls nicht so, nicht hier, nicht mitten auf dem See unter all diesen Schnattertanten.
»Leute, Leute, hört doch mal zu. Bitte!« Es dauerte eine Weile, bis es auf dem See etwas ruhiger wurde und Tom sprechen konnte. »Ich weiß nicht, wer unseren Freund Neptunus auf dem Gewissen hat. Aber ich glaube, wir sollten es uns mit der zu offensichtlichen Riffler-Theorie nicht so einfach machen. Wir müssen nach allen Seiten hin ermitteln. Nachher hängt vielleicht der falsche Vogel am Galgen. Davon abgesehen, bin ich nicht der Meinung, dass wir den Fall mit Palavern lösen. Ihr könnt ja so weitermachen, aber ich nicht. Mir schwebt da etwas anderes vor.«
Tom sah ungläubiges Erstaunen in den Augen seiner Artgenossen. So forsch und selbstbewusst hatten sie ihn noch nie erlebt.
»Ich werde auf eigene Faust ermitteln«, redete er rasch weiter, bevor ihn der Mut verließ und das Schnattern wieder einsetzen konnte. »Wer tatsächlich etwas tun will, kann sich mir gerne anschließen.«
Noch während er so wacker daherredete, trug der Wind die Schläge einer Kirchturmuhr über den See. Unwillkürlich zählte er mit. Viertel vor sieben. Tom horchte auf. »Oh, so spät schon. Ich muss weg«, murmelte er.
»Wie, du musst weg? Und was ist jetzt mit Neptunus?«, fragte Rio verwundert von seinem Ast herunter. »Später, Rio. Später.«
»Versteh ich nicht«, monierte der Kormoran. »Wo willst du denn hin?«
Tom breitete seine Schwingen aus und startete mit kräftigen Flügelschlägen. »Du würdest es mir doch nicht glauben, selbst wenn ich es dir sagen würde ... « Und schon hatte er abgehoben.
Denn es wurde höchste Zeit. Zeit für ein gepflegtes Abendessen. Und Zeit für eine weitere Lehrstunde in Sachen kriminalistische Vorkenntnisse.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Der Tod kommt auf leisen Flügeln. Das war ihm bekannt. Nie und nimmer hätte er gedacht, dass es auch ihn treffen könnte.
Schon gar nicht jetzt, auf diese Weise ...
Er fühlte sich nicht wohl an diesem späten Frühlingsabend. Nicht, dass er der Völlerei gefrönt hätte, wenn er auch sonst nie einen guten Bissen ausließ. Von einem Saufgelage konnte auch keine Rede sein. Und trotzdem - irgendetwas stimmte nicht.
Rachen und Magen schmerzten, brannten regelrecht. Dass dieses Feuer in seinem Inneren nicht mit Wasser zu löschen war, das spürte er.
Ein kleiner Spaziergang würde ihm vielleicht guttun.
Zu seinem brennenden Magen kam jetzt noch ein unerträglicher Druck im Brustkorb hinzu. Mit seiner Lunge war auch etwas nicht in Ordnung. Das Atmen fiel ihm immer schwerer.
Auf zittrigen Beinen schleppte er sich an Hecken vorbei, die seinen Weg linker Hand von hübschen Campingparzellen trennten. Zu seiner Rechten hatte er trotz Dunkelheit offene Sicht über die abschüssige Böschung hinweg auf den kleinen, schwach beleuchteten Hafen mit seinen dümpelnden Booten. Doch er würdigte sie keines Blickes. Ihm fehlte die Kraft dazu.
Ruhig und friedlich war es, wie immer um diese nächtliche Stunde. Von Zeit zu Zeit gaben aufgescheuchte Blässhühner Klicklaute von sich. Schläfrige Enten baten sogleich schnatternd um Ruhe.
Er hätte den Spaziergang genossen, wenn nur dieses Brennen und diese fürchterliche Atemnot nicht gewesen wären. Ihm wurde heiß, und sein Herz raste.
Jäh wurde eine Wohnwagentür hinter ihm aufgerissen. Streitende Stimmen schwappten in die Dunkelheit, vertrieben die wohltuende Stille. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Das hitzige Wortgefecht endete genau so abrupt, wie es begonnen hatte - mit dem heftigen Knallen der Wohnwagentür. Einzig eine immer noch erboste Stimme entfernte sich brummend und schimpfend.
Linderung brachte ihm dieser Spaziergang nicht. Im Gegenteil, er fühlte sich immer schlechter. Er mobilisierte die kläglichen Reste seiner schwindenden Energie, um nach Hilfe zu rufen. Doch seiner Kehle entwich nur noch ein leises Krächzen.
Er begann zu schwanken, sein Blick trübte sich. Dann wurde ihm schwarz vor Augen. Dumpf schlug er auf dem Boden auf und rutschte mit dem Kopf voran ein Stück den Hang in Richtung Wasser hinunter.
Wenige Augenblicke später tat er seinen letzten Atemzug.
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In einer ausgedehnten Schleife überflog Tom an diesem späten Nachmittag den großen, idyllischen See. Blaues Wasser so weit das Auge reichte, umrahmt von dicht bewaldeten Ufern und smaragdgrünen Lichtungen.
Tief unter sich sah er den Campingplatz mit seinen unzähligen Wohnwagen, Vorzelten und blumenverzierten Grillstellen. Auch der kleine Yachthafen mit den in der Sonne blitzenden weißen Booten war gut zu erkennen.
Hier war sein Zuhause. Hier gehörte er hin.
Langsam drosselte er das Tempo und setzte zum Landeanflug an. Er bereitete sich auf eine Wasserlandung vor, wobei er einen Pulk von Enten und anderen Wasservögeln ansteuerte, die in der Nähe des Schilfs schwammen. Je langsamer und präziser er flog, desto weicher und sicherer war die Landung. Kurz bevor er die Wasseroberfläche erreichte, veränderte er den Winkel der Flügel zum Rumpf, der Luftstrom fing sich in den Federn und bremste ihn ab. Mit gespreizten Zehen und gespannten Schwimmhäuten schlidderte er wie ein Wasserskiläufer einige Meter über den vom Wind leicht gekräuselten See, dann setzte sein Körper auf.
In einer ausgedehnten Schleife überflog Tom an diesem späten Nachmittag den großen, idyllischen See. Blaues Wasser so weit das Auge reichte, umrahmt von dicht bewaldeten Ufern und smaragdgrünen Lichtungen.
Tief unter sich sah er den Campingplatz mit seinen unzähligen Wohnwagen, Vorzelten und blumenverzierten Grillstellen. Auch der kleine Yachthafen mit den in der Sonne blitzenden weißen Booten war gut zu erkennen.
Hier war sein Zuhause. Hier gehörte er hin.
Langsam drosselte er das Tempo und setzte zum Landeanflug an. Er bereitete sich auf eine Wasserlandung vor, wobei er einen Pulk von Enten und anderen Wasservögeln ansteuerte, die in der Nähe des Schilfs schwammen. Je langsamer und präziser er flog, desto weicher und sicherer war die Landung. Kurz bevor er die Wasseroberfläche erreichte, veränderte er den Winkel der Flügel zum Rumpf, der Luftstrom fing sich in den Federn und bremste ihn ab. Mit gespreizten Zehen und gespannten Schwimmhäuten schlidderte er wie ein Wasserskiläufer einige Meter über den vom Wind leicht gekräuselten See, dann setzte sein Körper auf.
»Hallo Tom, da bist du ja endlich. Wir haben schon auf dich gewartet«, wurde er sogleich vielstimmig begrüßt.
Während Tom kleine Wasserperlen aus dem Gefieder schüttelte und einzelne Federn mit dem Schnabel wieder an die richtige Stelle bugsierte, suchten immer mehr Artgenossen seine Nähe.
»Ist es wahr? Stimmt es? Du hast ihn gefunden?«, fragte Barkas, das Blässhuhn, ohne jegliche Zurückhaltung. Sein weißer Schnabel und das weiße Stirnschild hoben sich kontrastreich vom schwarzen Gefieder ab.
Tom, ein junger, farbenprächtiger Ganter aus der Familie der Nilgänse, nickte. Es hatte sich also herumgesprochen - eigentlich kein Wunder, schließlich waren Gänse und Enten für ihre Schnatterhaftigkeit bekannt. Wenn eine von ihnen etwas erfuhr, wusste es zwei Minuten später der ganze See.
»Erzähl mal. Klick-Klick. Wie sah er denn aus?« Bei jedem Wort nickte Barkas ganz nach Blässhuhnart mit dem Kopf vor und zurück. Kleine Klicks zwischen den Worten verrieten seine Aufregung.
Dutzende fragende Augenpaare fixierten Tom nun und er spürte, wie seine Zufriedenheit, die er soeben noch hoch oben in der Luft empfunden hatte, langsam einem unbehaglichen Gefühl wich. Im Mittelpunkt zu stehen war nicht seine Sache. Sie alle waren neugierig, wahrscheinlich sogar sensationslüstern, und wollten Details erfahren. Doch für einen jungen Ganter wie ihn, der in der Hackordnung ganz weit unten rangierte, war diese geballte Aufmerksamkeit ziemlich ungewohnt.
»Na ja, was soll ich sagen«, antwortete er zögernd. »Es stimmt, was ihr gehört habt. Neptunus, der Reiher ... ist tot.«
Ein Raunen ging über den See. Neben zahlreichen Blässhühnern, Stockenten, Grau- und Nilgänsen hatten sich auch ein paar elegante Schwäne und betroffene Reiher eingefunden. Sogar einige überaus scheue Haubentaucher unterbrachen ihre intensive Balz, um auf dem Laufenden zu bleiben. Tom schaute in die Runde, und sein Blick verharrte bei der Gruppe Reiher, die wie traurige Bestattungsunternehmer im grauen Anzug am Ufer beieinanderstanden. Sie schauten ihn erwartungsvoll an, und Tom beschloss zu sprechen. Sie hatten ein Recht darauf, zu erfahren, was er gesehen hatte, obwohl er es ihnen lieber im kleinen Kreis erzählt hätte.
»Ich habe ihn zufällig entdeckt, als ich heute Morgen zum Baden an den See kam. Da lag er ... im Gras.« Tom stockte und blickte in Richtung der Reiher. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich euch das zumuten kann«, sagte er mit belegter Stimme.
Die neugierigen Zuhörer ringsherum konnten ihre Enttäuschung kaum verbergen.
»Sprich ruhig, Tom. Wir verkraften das schon«, meldete sich Veha, der älteste Reiher, zu Wort. Die anderen Reiher nickten, und die übrigen Zuhörer wirkten wieder zufrieden.
»Ich ging dort hinten«, Tom zeigte mit seinem Schnabel in Richtung der Bootsstege, »die Böschung zum See hinunter, als ich beinahe über ihn gestolpert wäre. Er lag mit verrenkten Gliedern da, und sein Schnabel war weit aufgerissen. Ich habe einen so weit offen stehenden Schlund noch nie gesehen.«
Für einen Moment hatten sich die stets beherrschten Reiher nicht unter Kontrolle, selbst der alte Veha nicht. Sie ließen ihre Flügel flattern und tänzelten dabei aufgeregt herum.
»Es tut mir leid«, fuhr Tom mit gedämpfter Stimme fort, »aber das war noch nicht alles. Ich habe euch noch mehr zu berichten.«
»Nur zu, Tom. Je eher wir es erfahren, desto eher haben wir es hinter uns.« Veha hatte als Erster der Reiher seine Fassung wiedergefunden.
»Er hatte eine tiefe, frische Wunde in seiner Brust.«
Einige Wasservögel schnappten nach Luft, voller Abscheu, aber auch fasziniert vom Geschehen. Sie hatten so manches erwartet - und der eine oder andere vielleicht auch erhofft -, aber nicht in diesem Ausmaß. Neugierig blickten sie Tom an.
Mit so viel wohlwollender Beachtung waren ihm seine Artgenossen bisher noch nie begegnet. Langsam gab ihm dieses Interesse mehr Sicherheit. Sie hörten ihm tatsächlich zu. Ihm, der am Tag zuvor noch gedacht hatte, er würde von niemandem, außer Gleichaltrigen, wahrgenommen. Er konnte es nicht leugnen: Diese unerwartete Aufmerksamkeit schmeichelte ihm. Mehr, als er zugeben mochte.
»Und was hast du dann gemacht?« Vri Jon, ein weiterer Reiher, der auf einem Bein bis zum Kniegelenk im seichten Wasser stand, schluckte.
Tom überlegte. Er kam nun langsam in einen Gewissenskonflikt. Denn bislang wusste niemand von seiner geheimen Leidenschaft, einer Passion, die er bereits seit einiger Zeit mit sich herumtrug und die er noch keinem seiner Artgenossen anvertraut hatte. Und selbst wenn er sich jemandem anvertraut hätte, so war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihn ohnehin niemand verstand. Denn wie hätte Tom erklären sollen, dass er, ein durchschnittlicher Nilganter, wie es sie millionenfach auf der Erde gab, über gewisse kriminalistische Vorkenntnisse verfügte. Ganz zu schweigen davon, dass wahrscheinlich kein Vogel etwas mit dem Begriff kriminalistisch anfangen konnte. Nun aber wurde er direkt gefragt und mochte den Reihern nichts vorlügen. Mittlerweile ohnehin etwas mutiger geworden, entschied er sich also für die Wahrheit.
»Ich habe ihn in Augenschein genommen«, sagte er forsch. »Eine grobe Leichenschau gemacht.«
»Du hast was?« Seine Hörerschaft war maßlos überrascht. Spitzes, schockiertes Geschnatter machte die Runde.
»Na, ich habe die Leiche untersucht.« Seine Artgenossen hatten ja so was von keine Ahnung! »Ich habe mir die Wunde in seiner Brust näher angesehen. Es war ein tiefes Loch und es sah so aus, als hätte jemand mit einem kräftigen Ruck einen Teil aus der Brust herausgerupft. Leider blieb mir nicht viel Zeit zur Begutachtung, denn plötzlich kam Jupp, der Hafenmeister, auf seinem Kontrollgang vorbei und entdeckte Neptunus. Er packte ihn an den Beinen - und ... « Tom sah nicht nur die Reiher augenblicklich die Luft anhalten. Ahnten sie, was nun kommen würde? »... und warf ihn in einen der Abfallcontainer.«
Bestürzt schlossen die Reiher für einen kurzen Moment ihre Augen und schüttelten kaum wahrnehmbar die Köpfe.
»Aber eines weiß ich mit Sicherheit«, fuhr Tom fort, »kein Vogel liegt ohne Fremdverschulden tot mit einer blutenden Brustwunde im Morgentau. Unser Freund, Neptunus der Reiher, wurde er --- mor --- det! «
Nun herrschte langes, betretenes Schweigen. Goletta, eine große Graugans, fing sich als Erste. »Das ist gar nicht gut, das ist überhaupt nicht gut«, näselte sie.
»Die Frage ist nun: Wer bohrt Löcher in Reiher? Wer ist in der Lage, eine solche Grausamkeit zu begehen?«, piepste Barkas.
»Niemand von uns!«, schnatterten die Enten sofort im Chor.
»Wir alle, die wir hier anwesend sind, sind doch friedliebend und tun niemandem etwas zuleide. Niemandem«, betonte Vri Jon und hieb blitzschnell mit seinem langen, spitzen Schnabel harpunengleich ins Wasser. Er packte einen für ihn viel zu großen Fisch und drehte ihn mit beträchtlichem Geschick so, dass er ihn - wegen der Schuppenrichtung mit dem Kopf voran - unter großer Anstrengung herunterwürgen konnte. »Wir tun doch niemandem was«, wiederholte er mit vollem Schnabel, wobei die Schwanzflosse des Fisches noch immer zappelnd und für jedermann sichtbar in seinem Schlund steckte.
»Wir müssen herausfinden, was ihm zugestoßen ist. Sonst haben wir keine Ruhe«, regte die junge Ente Altena an, die ständig von ein paar dranggesteuerten Erpeln bestürmt wurde.
Einträchtiges Kopfnicken von allen Seiten.
Das war es.
Mit großem Geschnatter beschloss das gefiederte Volk - überraschend einstimmig -, eine Kommission zur Klärung des plötzlichen Ablebens von Reiher Neptunus zu gründen. Tom schüttelte den Kopf und gab ein paar missmutige Töne von sich. Hundert Köpfe, hundertfaches Geschnatter, hundert Meinungen - das führte zu nichts, da war er sich sicher.
Eine Gruppe Enten startete dagegen sofort begeistert zu einem Mitteilungsflug, um alle Wasservögel, die nicht an der Versammlung hatten teilnehmen können oder wollen, zu informieren. »Quak-quak, wir gründen eine Untersuchungskommission!« Nach einigen Beschallungsrunden über dem See und einem atemberaubenden Slalom zwischen Segelbootmasten hindurch landeten die selbsternannten Sprachrohre der Kommission wieder an der Abflugstelle und begannen sogleich mit der Federpflege.
»Für mich kommen nur die, die an der Mauser leiden, in Frage«, krächzte Barkas. »Ich meine die feder- und flügellosen Zweibeiner mit ihren hechelnden Vierbeinern, vor denen wir uns immer in Sicherheit bringen müssen. Neptunus' Tod kann nur ein Flügelloser verursacht haben, denen traue ich alles zu. Klick-Klick.«
»Ich habe gestern Nacht streitende Flügellose gehört«, untermauerte das scheue Haubentaucher-Mädchen Optima den Verdacht des Blässhuhns und tauchte sogleich verschämt ab.
»Die Flügellosen waren es!« Wieder erhoben sich die Kommissionsenten, die von Meldung zu Meldung mehr und mehr Zeitungsenten glichen, zu einem Informationsflug.
»Meine Brüder und Schwestern, einer von euch ist doch immer wach«, appellierte der alte Veha eindringlich. »Ihr müsst doch etwas gesehen oder gehört haben. Es ist doch Frühling.«
»Na ja, eben. Es ist Frühling. Da haben wir etwas anderes zu tun als nachts Reiher im Auge zu behalten!«, rief einer der jungen Erpel keck in die Runde. Unanständiges Geschnatter gab ihm recht.
»Meiner Meinung nach können es nur die Madenbader gewesen sein.« Ein lackschwarzer Kormoran mit grünen Augen und gelbem Schnabel schaltete sich in die Diskussion ein.
»Wen meinst du?«, wurde vielstimmig nachgefragt.
»Na, ist doch klar. Die Flügellosen, die bei Wind und Wetter immer still und steif am Ufer sitzen und meist erfolglos versuchen, Fische zu fangen. Madenbader eben! Sie sehen uns und auch die Reiher nur als Konkurrenten an. Für die sind nur tote Reiher gute Reiher«, antwortete der Kormoran.
»Hallo Rio, du bist ja auch hier!« Tom freute sich über die Anwesenheit seines Freundes, der mit weit ausgebreiteten Flügeln auf einem Ast saß und sein Gefieder im leichten Wind trocknen ließ.
»Natürlich«, sagte Rio. »Eine so schlimme Sache geht uns schließlich alle an.«
Beide kannten sich seit frühester Kükenzeit, sie waren etwa zur gleichen Zeit geschlüpft. Neidisch hatte Tom die ersten Flugversuche seines Freundes verfolgt, denn Kormorane werden sehr viel früher flügge als Gänse. Jedoch müssen Kormorane nach jedem Tauchgang ihre Flügel trocknen, da ihr Gefieder - zum besseren Tauchen - nicht wasserabweisend ist. Oft sah er Rio deshalb irgendwo wie einen Wappenadler mit weit gespreizten Flügeln sitzen und trocknen. Eine lästige Angelegenheit, um die er Rio wirklich nicht beneidete.
Während Tom noch mit seinem Kumpel sprach, kam unterschwellig Nervosität in die sowieso schon unruhige Gruppe. Einige Vögel tuschelten hinter vorgehaltenem Flügel.
»Vielleicht war es der Riffler. Der würde so was tun, da bin ich mir sicher!«, sprach ein Grünschnabel laut aus, was er nach Ansicht der Altvögel besser für sich behalten hätte.
Ehrfürchtiges Raunen sauste von Schnabel zu Schnabel. Köpfchen wurden blitzschnell eingezogen, wer konnte, tauchte ab.
Der Riffler!
Der Albtraum eines jeden Vogels schlechthin. Unzählige Geschichten gab es über ihn. Schon im Nest hörten nicht nur Entenküken und Gänsegössel schreckliche Dinge über ihn. Grausige Geschichten. Vom Riffler, der kam, um sie zu holen, wenn sie nicht vorsichtig wären ...
Der kam, wenn es dunkel wurde ...
Niemand hatte den Riffler je gesehen. Doch jeder hatte schon von ihm gehört. Er war ein Schatten. Ein großer, schwarzer Schatten. Allzeit bereit, einen von ihnen zu holen.
Keine Ente erhob sich dieses Mal, um die Nachricht zu verbreiten. Die Angst über die Erkenntnis, dass es vielleicht der Riffler gewesen sein könnte, saß zu tief.
Dennoch setzte allmählich wieder das übliche Palavern ein.
Fassungslos schaute Tom dem Treiben seiner Artgenossen zu. Hatte er anfangs noch geglaubt, unbändigen Tatendrang bei ihnen zu erkennen, so sah er jetzt nur einen verunsicherten Debattierclub vor sich, der nichts anderes tat, als zu schwadronieren. Er wollte keine leeren Phrasen quaken, sondern Taten schnattern lassen. Dieses andauernde »Quak-quak« ging ihm mächtig auf die Bürzeldrüse.
Außerdem glaubte Tom nicht an den Riffler, jedenfalls nicht so richtig. Tom glaubte an Fakten, an Beweise, und er kannte niemanden, der je auch nur die Spitze einer seiner Federn gesehen hatte. Jemand anderes musste daher Neptunus auf dem Gewissen haben. Aber gab es noch etwas Bedrohlicheres als den Riffler? War etwas Neues aufgetaucht, das noch dunkler und noch gefährlicher als der Riffler über den Nestern schwebte?
Mit halbem Ohr folgte Tom dem Schnattern der Kommission. Sie war sich uneins, wie nicht anders zu erwarten.
Tom dachte unterdessen an den Morgen zurück. Zu dumm, dass Jupp gekommen war und Neptunus kurzerhand entsorgt hatte, bevor er sich die Brustwunde näher hatte ansehen können. Zudem war ihm jede Möglichkeit, etwas mehr über den Zustand der Wunde - und damit vielleicht über den Verursacher - zu erfahren, durch das Vorfahren des Müllwagens und das Leeren der Abfallcontainer zunichtegemacht worden.
Außerdem beschäftigte ihn der weit aufgerissene Schnabel des Reihers, an den er sich überdeutlich erinnerte. Hatte Neptunus mit letzter Kraft um Hilfe geschrien? Oder bedeutete der weit aufgesperrte Schnabel möglicherweise eher so etwas wie Atemnot oder Sauerstoffmangel? War er beim Fressen zu gierig gewesen? Hatte etwas Unverdauliches seine Luftröhre versperrt? Neptunus war schließlich dafür bekannt gewesen, dass er nie einen guten Bissen ausließ. Andererseits gab es da ja diese Wunde, die zu einer solchen These nun einmal partout nicht passen wollte.
Toms Gedanken kreisten unentwegt um den Hergang des Unglücks, durchdachten unzählige Möglichkeiten, wie es zum Tod des jungen Reihers gekommen sein könnte. Doch er fand keine zufriedenstellenden Antworten auf seine Fragen. Jedenfalls nicht so, nicht hier, nicht mitten auf dem See unter all diesen Schnattertanten.
»Leute, Leute, hört doch mal zu. Bitte!« Es dauerte eine Weile, bis es auf dem See etwas ruhiger wurde und Tom sprechen konnte. »Ich weiß nicht, wer unseren Freund Neptunus auf dem Gewissen hat. Aber ich glaube, wir sollten es uns mit der zu offensichtlichen Riffler-Theorie nicht so einfach machen. Wir müssen nach allen Seiten hin ermitteln. Nachher hängt vielleicht der falsche Vogel am Galgen. Davon abgesehen, bin ich nicht der Meinung, dass wir den Fall mit Palavern lösen. Ihr könnt ja so weitermachen, aber ich nicht. Mir schwebt da etwas anderes vor.«
Tom sah ungläubiges Erstaunen in den Augen seiner Artgenossen. So forsch und selbstbewusst hatten sie ihn noch nie erlebt.
»Ich werde auf eigene Faust ermitteln«, redete er rasch weiter, bevor ihn der Mut verließ und das Schnattern wieder einsetzen konnte. »Wer tatsächlich etwas tun will, kann sich mir gerne anschließen.«
Noch während er so wacker daherredete, trug der Wind die Schläge einer Kirchturmuhr über den See. Unwillkürlich zählte er mit. Viertel vor sieben. Tom horchte auf. »Oh, so spät schon. Ich muss weg«, murmelte er.
»Wie, du musst weg? Und was ist jetzt mit Neptunus?«, fragte Rio verwundert von seinem Ast herunter. »Später, Rio. Später.«
»Versteh ich nicht«, monierte der Kormoran. »Wo willst du denn hin?«
Tom breitete seine Schwingen aus und startete mit kräftigen Flügelschlägen. »Du würdest es mir doch nicht glauben, selbst wenn ich es dir sagen würde ... « Und schon hatte er abgehoben.
Denn es wurde höchste Zeit. Zeit für ein gepflegtes Abendessen. Und Zeit für eine weitere Lehrstunde in Sachen kriminalistische Vorkenntnisse.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Karin Bergrath
Karin Bergrath ist ausgebildete Werbeassistentin und arbeitete zunächst in einer Marketingagentur. Seit 1998 ist sie in einem Ingenieurbüro tätig. Die Autorin lebt in Köln und verbringt die Ferien und Wochenenden gemeinsam mit ihrem Mann auf einem Boot im Hafen eines großen Sees in Belgien. Der »Gänsekrimi« ist ihr erster Roman, Ideen für den nächsten Krimi mit Gänserich Tom hat sie bereits.
Bibliographische Angaben
- Autor: Karin Bergrath
- 2012, 1, 304 Seiten, Maße: 13 x 19,1 cm, Flex. Einband
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009191
- ISBN-13: 9783868009194
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